Die Kraft des freien Denkens - Osho - E-Book

Die Kraft des freien Denkens E-Book

OSHO

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Beschreibung

Worum geht es? Zu einem freien Geist gehört auch die Fähigkeit, Fragen zu stellen und sich mit etablierten Systemen kritisch auseinanderzusetzen. In diesem dritten Band der Authentisch-Leben-Reihe widmet sich Osho grundsätzlichen Fragen zu traditionellen Glaubenssystemen und analysiert diese in radikaler Weise auf religiöser, politischer und sozialer Ebene. Was ist besonders? Hier werden Fragen gestellt, die eine aktuelle Dringlichkeit für jeden von uns haben – keine philosophischen Fragen, sondern Fragen, die von existenzieller Bedeutung sind.

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Das Buch

»Der Mensch wird mit Fragen geboren – und das ist gut so.«

Eine der bemerkenswertesten Fähigkeit Oshos ist es, allgemein akzeptiertes Wissen und nicht hinterfragte Konzepte aus einer komplett anderen Perspektive zu betrachten. Indem er sie von innen nach außen wendet, dringt er zu ihrem Kern vor und offenbart ihre wahren Wirkungsweisen und Einflüsse auf die Menschen und das Leben. Er lehrt uns, die Welt und ihre Weisheiten nicht als gegeben hinzunehmen, sondern immer zu hinterfragen und kritisch zu bleiben.

Osho gelingt es, neue radikale Visionen dem Leser anschaulich und einfach zu vermitteln. Durch seinen kritischen Blick auf die Welt, durch seine Erfahrungen und seine Spiritualität gibt er in diesem Buch Unterstützung bei der persönlichen Entwicklung. Sie werden viel von dem wiederfinden, was Sie schon immer gespürt, aber bisher noch nicht ausgedrückt haben.

Die Bücher der Serie »Authentisch leben« beruhen auf Aufzeichnungen von Meditationsveranstaltungen, in denen Osho Fragen seiner Zuhörerschaft beantwortet.

Der Autor

Osho ist einer der bekanntesten und provokativsten spirituellen Lehrer des 20. Jahrhunderts. Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Tod haben seine Worte ihre Kraft nicht verloren. Heute ist die Bedeutung von Osho auf der ganzen Welt unumstritten, und die aus seinen Vorträgen zusammengestellten Bücher sind in 47 Sprachen übersetzt. Osho ist 1990 verstorben. Er stammte aus Indien und war Universitätsprofessor, bis er sich entschloss, seine Einsichten in öffentlichen Vorträgen zu verbreiten. Das von ihm begründete Meditationszentrum in Poona zieht auch heute noch zehntausende Besucher aus aller Welt an. Weitere Informationen: www.osho.com

Von Osho sind in unserem Haus erschienen:

Die Kraft der Selbstachtung

Intimität

Die Kraft der Wahrheit

Intuition

Der Vogel im Wind

Bewusstsein

Vom Leben und vom Sterben

Kreativität

Der Gott, den es nicht gibt

Freude

Jetzt oder nie

Reife

Autobiographie

Das Buch der Frauen

Mitgefühl

Das Buch der Männer

Intelligenz

Das Buch der Kinder

Mut

Das Buch der Heilung

Freiheit

Das Buch vom Ego

Mut – Die Freude, gefährlich zu leben (CD)

Mut – Der Mut der Liebe (CD)

OSHO

Die Kraftdes freien Denkens

Authentisch leben

Aus dem Amerikanischen von Rajmani H. Müller

Allegria

Titel der amerikanischen Originalausgabe: BORN WITH A QUESTION MARK IN YOUR HEART, by OSHO

Dieses Buch ist eine Transkription von Originalaufnahmen Oshos vor Livepublikum. Die Aufnahmen in diesem Buch wurden im Original veröffentlicht in From Personality to Individuality (Kapitel 1–10). Alle Vorträge von Osho wurden bereits vollständig in Buchform publiziert, sind aber genauso als Originalhörbücher und/oder Videoaufnahmen erhältlich.

Weitere Informationen entnehmen Sie bitte dem Angebot der Osho-Onlinebibliothek auf www.osho.com.

OSHO ist eingetragener Markenname der OSHO International Foundation, www.osho.com/trademarks.

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem Buch befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1243-9

Es handelt sich um eine originalgetreue Übersetzung. Radikale Aussagen und Formulierungen Oshos macht sich der Verlag nicht zu eigen, sieht sich aber zur unveränderten Wiedergabe verpflichtet.

© der deutschen Ausgabe 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin© der Originalausgabe 1985, 2012 by OSHO International Foundation, Switzerland, www.osho.com/copyrightsÜbersetzung: Rajmani H. MüllerLektorat: Marita BöhmUmschlaggestaltung: FranklDesign, MünchenTitelabbildungen: Terry Jeavons

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Über die Serie »Authentisch leben«

Vorwort

1 Das Fragezeichen im Herzen des Menschen

2 Definieren heißt begrenzen – und die Existenz ist grenzenlos

3 Vorsicht! Ich bin hier, um eure Träume zu zerstören

4 Neid – das Prinzip von Teilen und Herrschen

5 Die Odyssee des Alleinseins

6 Seelenqual oder Qual der Wahl?

7 Der erleuchtete Duft der Revolution

8 Ein Nährboden für Transformation

9 Eine Verschwörung der Priester, um euer Denken zu manipulieren

10 Ein Außenseiter, nur ein Gast

Über Osho

OSHO International Meditation Resort

Weitere Informationen

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Über die Serie »Authentisch leben«

»Authentisch leben« ist der Name einer Serie von Büchern, in denen Osho Fragen seiner internationalen Zuhörerschaft in Meditationsveranstaltungen beantwortet. Über den Vorgang des Fragenstellens sagt er selbst:

»Wie kannst du eine Frage stellen, die wirklich bedeutsam ist? Eine Frage, die nicht bloß intellektuell, sondern existenziell ist? Eine Frage, bei der es nicht bloß um verbales Wissen, sondern um authentisches Leben geht? Dazu gibt es ein paar Dinge zu beachten:

Was auch immer du fragst: Stelle nie eine Allerweltsfrage, stelle nie eine stereotype Frage. Stelle eine Frage, die unmittelbar etwas mit dir zu tun hat, eine Frage, die für dich persönlich bedeutsam ist, die eine transformierende Botschaft für dich enthält. Stelle die Frage, von der dein ganzes Leben abhängt!

Stelle keine gelehrten Fragen, keine Fragen aus zweiter Hand. Und bringe keine Frage aus der Vergangenheit mit, denn sie wird aus deinem Gedächtnis kommen, nicht aus dir. Wenn du eine geborgte Frage stellst, kannst du nie zu einer authentischen Antwort kommen. Selbst wenn dir eine Antwort gegeben wird, bekommst du sie nicht mit oder sie kommt nicht bei dir an. Eine geborgte Frage ist sinnlos. Frage etwas, was du wirklich wissen willst. Und wenn ich »du« sage, meine ich das Du, das du in diesem Augenblick bist, hier und jetzt, unmittelbar. Wenn du etwas fragst, was unmittelbar ist, was hier und jetzt ist, dann wird es existenziell. Dann bezieht es sich nicht auf deine Erinnerung, sondern auf dein lebendiges Sein.

Stelle keine Frage, deren Beantwortung dich nicht verändern würde. Zum Beispiel könnte jemand fragen, ob es einen Gott gibt: ›Existiert Gott?‹ Eine solche Frage solltest du nur stellen, wenn die Antwort eine Wandlung in dir bewirken würde. Wenn du ein anderer Mensch wirst, je nachdem, ob es einen Gott gibt oder nicht. Wenn es jedoch keinen Unterschied für dich machen würde, ob Gott existiert oder nicht, dann ist diese Frage sinnlos. Dann hast du nur aus Neugierde gefragt, aber nicht aus Verlangen nach der Wahrheit.

Also vergiss nicht: Frage nur etwas, das dir wirklich am Herzen liegt. Nur dann wird die Antwort für dich bedeutsam sein.«

Vorwort

Die Persönlichkeit ist nur ein Mischmasch: Einiges stammt von deiner Mutter, einiges von deinem Vater, manches von deinen Nachbarn, von Freunden, der Ehefrau, den Lehrern, Priestern, Leitfiguren. Sie ist nur Flickwerk, kein unteilbares Ganzes. Sie fällt fast auseinander – jeden Augenblick … ein kleiner Stoß, und schon kann sie auseinanderfallen. Sie hat keine Seele, die alle Teile miteinander verbindet. Sie hat keine Ganzheit; sie besteht nur aus Einzelteilen.

Als Kontrast zur Persönlichkeit benutze ich das Wort Individualität im Sinne von Unteilbarkeit. Individuum bedeutet das »Unteilbare« – du kannst es nicht teilen, es gibt keine Teile, es kann nicht auseinanderfallen. Im Vergleich zur Persönlichkeit ist sie ein solider Fels, aus einem Stück. Aber das ist nur der eine Aspekt.

Vom Universellen aus betrachtet, bist du auch kein Individuum mehr. Selbst dieses bisschen Abgrenzung verschwindet dann: Du bist das Ganze. Die Winde, die Bäume, der Mond existieren nicht irgendwo getrennt – so wenig wie du. Du atmest jeden Augenblick. Die Existenz ist nicht von dir getrennt, selbst wenn du denkst, getrennt zu sein.

Wenn du weißt, dass du nicht abgetrennt bist, ist das eine ungeheure Erkenntnis. Dann verschwindet alle Angst, du könntest dein Gesicht verlieren, alle Angst, du könntest deine Persönlichkeit verlieren – die dir ohnehin ständig entgleitet. Du bist bei den Ursprüngen angelangt. Du bist beim Ewigen angelangt, beim Universellen. Das ist es, was ich Erleuchtung nenne.

OshoJenseits von Psychologie

1

Das Fragezeichen im Herzen des Menschen

? Welchen Platz hat die Mystik in deiner Religion?

Meine Religion ist die reine Mystik, es geht um nichts anderes. Andere Religionen haben keinen Platz für Mystik. Sie können keinen Platz dafür haben, weil sie auf jede Frage schon Antworten wissen – Scheinantworten ohne jeden Beweis, ohne stichhaltige Begründung. Sie sind aber eine Beruhigung für diese leichtgläubige Menschheit; sie entmystifizieren das Dasein. Alles Wissen entmystifiziert das Dasein.

Ich lehre euch kein Scheinwissen. Genau das tun aber die Religionen: Sie machen euch scheinwissend. Sie haben einen Gott als Schöpfer. Und sie haben Boten Gottes, die euch sämtliche Antworten liefern – direkt von Gott, aus erster Quelle, unbestreitbar und unfehlbar. Diese Religionen haben es verstanden, die Menschheit auszubeuten, einfach weil der Mensch ein inneres Unbehagen fühlt, wenn es Fragen gibt, auf die sich keine Antworten finden lassen. Und Fragen gibt es. Der Mensch wird mit Fragen geboren, mit einem großen Fragezeichen im Herzen – und das ist gut so.

Es ist ein Glück, dass der Mensch mit einem Fragezeichen geboren wird, sonst wäre er nur eine andere Tiergattung. Büffel haben keine Fragen – sie akzeptieren alles, wie es ist, ohne es zu hinterfragen; sie sind wirklich gläubig und fromm. Bäume haben keine Fragen, Vögel haben keine Fragen. Nur der Mensch hat Fragen, und das ist sein Vorrecht, sein menschliches Privileg. Er allein in der ganzen Schöpfung ist fähig, Fragen zu stellen.

Die alten Religionen haben es schon immer darauf angelegt, euch eures Vorrechts zu berauben. Sie wollten euch gewaltsam auf dem Niveau der Tiere halten. Das nennen sie »Glauben«, unerschütterlichen Glauben. Sie sähen euch lieber als Büffel, als Esel, aber nicht als Menschen. Aber gerade diese einzigartige Eigenschaft ist es, die den Menschen vom Tier unterscheidet: das Fragezeichen.

Ja, es bringt Chaos. Ohne zu fragen lebt es sich viel friedlicher. Ein solcher Friede ist aber ein toter Friede, in ihm ist kein Leben. Eine solche Stille ist die eines Friedhofs, einer Grabstätte. Lieber ist mir der Mensch im Chaos, aber lebendig.

Ich möchte den Menschen nicht als Grabstätte. Diese Art Friede, diese Art Stille hat einen hohen Preis: Ihr verliert eure ganze Lebendigkeit, verliert eure Intelligenz, verliert jede Möglichkeit, eine ekstatische Lebensart für euch zu entdecken. Dass der Mensch mit einem Fragezeichen geboren wird, ist nicht unerheblich. Dass jedes Kind mit dem Zweifel geboren wird und nicht mit dem Glauben, ist nicht das Werk des Teufels.

Es ist natürlich, zu zweifeln. Jedes Kind stellt tausenderlei Fragen. Und je mehr es fragt, umso mehr zeigt sich sein Potenzial, etwas entdecken zu können. Es gibt auch stumme Kinder – nicht dass sie stumm wären, ihre Seele ist nur verstummt. Den Eltern sind sie sehr genehm, weil sie keine Probleme machen, keine peinlichen Fragen stellen. Jedes Kleinkind könnte eure ganze Wissensfassade zum Einsturz bringen.

Dazu fällt mir vieles aus meiner Kindheit ein, was euch die Schönheit des Fragezeichens verstehen lässt. Erst wenn ihr versteht, dass das Fragezeichen euer Menschsein ausmacht, eure Würde, erst dann könnt ihr verstehen, was Mystik bedeutet.

Mystifizierung ist nicht Mystik. Mystifizierung ist die Vernebelungstaktik der Priester. Sie haben euch eures Fragezeichens beraubt. Sie haben jede Möglichkeit aus dem Weg geräumt, das Mysterium der Existenz selbst ergründen zu können. Sie mussten euch aber einen Ersatz liefern, irgendein einlullendes Trostpflaster. Dazu dienen die religiösen Schriften, und die grundlegende Methode war und ist überall die Gleiche.

Im Hinduismus zum Beispiel sind die Schriften in Sanskrit verfasst, einer äußerst schwierigen Sprache. Kein einziger Inder redet in Sanskrit; es ist eine tote Sprache. Was mich betrifft, habe ich mir große Mühe gegeben, herauszufinden, ob diese Sprache jemals lebte, doch ich habe keinen einzigen Beweis dafür gefunden. Sanskrit war schon immer tot, von Anfang an. Diese Sprache ist eine Totgeburt, eine Erfindung der Priester. Das Volk hat diese Sprache nie verwendet; man kann sie nicht verwenden. Sie ist viel zu kompliziert – in puncto Grammatik, Mathematik, Phonetik –, als dass das Volk sie verwenden könnte.

Im Gebrauch durch die Menschen wird eine Sprache mit der Zeit weniger grammatikalisch, aber lebendiger, weniger logisch, aber bedeutungsträchtiger. Sie wird direkter, weniger abstrakt, weniger kultiviert. Und sie entwickelt sich weiter. Sanskrit hat sich nie weiterentwickelt. Etwas Totes kann sich nicht weiterentwickeln. Sanskrit ist genau dort stehen geblieben, wo es schon vor fünftausend Jahren war, ohne jedes Wachstum. Aber etwas Totes kann natürlich nicht wachsen.

Eine lebende Sprache wächst im Gebrauch durch die Menschen ständig weiter. Ihre Wörter schleifen sich ab und werden runder, genau wie Steine, die in einem Fluss landen und mit der Zeit immer runder werden. Durch die Strömung, den ständigen Zusammenprall mit Felsen und anderen Steinen werden sie allmählich ganz rund. Man kann es sehen, wenn eine Sprache weiterwächst. Man kann sofort erkennen und definieren, welche Sprachen tot und welche lebendig sind.

Tote Sprachen werden immer perfekt sein, lebende Sprachen können nie perfekt sein. Denn lebende Sprachen werden von unperfekten, fehlbaren Menschen gesprochen und verändern sich von Mund zu Mund. Sie werden immer besser verwendbar.

Beispielsweise kam Englisch von außen nach Indien. Manche Wörter gingen zwangsläufig in den allgemeinen Sprachgebrauch ein, etwa das Wort station, Bahnhof oder Station. Nun hatte es in Indien nie so etwas wie eine »Station« gegeben. Dafür mussten erst die Engländer kommen, und als dann die Eisenbahn eingeführt wurde, gab es das Wort station bereits. Wenn man aber in Indien durchs ganze Land reist, findet man in den Dörfern, wo achtundneunzig Prozent der Leute kein Englisch sprechen, nicht einen einzigen Inder, der das Wort station verwendet. Es klingt einfach zu schwierig, zu kultiviert. Im Gebrauch wurde daraus tesan, ohne das Zutun von irgendjemandem. Durch bloßen Gebrauch entstand das neue Wort tesan. Es ist einfacher. Station war zu kompliziert, zu mühsam, darum tesan.

Oder das Wort report, berichten, sich melden … Es kam mit der Sprache der Engländer, mit ihren Polizeistationen und der Pflicht, sich dort zu melden. Auf dem Land verwendet aber erstaunlicherweise keiner das Wort report. Alle sagen rapat. Es ist runder geworden, abgeschliffen: rapat. Was an report schwierig war, schwer auszusprechen war, ist nicht mehr da. Rapat klingt irgendwie menschlicher. So gibt es viele Wörter, die eine interessante Geschichte haben. Wenn Wörter von den Menschen gebraucht werden, nehmen sie allmählich ihre eigene Form an. Allein durch den Gebrauch verändern sie sich ständig.

Doch Sanskrit bleibt immer gleich. Hebräisch, Arabisch, Altgriechisch, Latein existieren alle unverändert, weit über dem Horizont der Leute, weitab von ihrer Realität. Sanskrit war nie die Sprache des Volkes. Daher rührt seine mystifizierende, faszinierende Wirkung. Das ganze Land war von der Priesterschaft abhängig, doch was die Priester sagten, war reiner Schwachsinn – auf Sanskrit. Wenn man lernt, es zu verstehen, kann man sich nur wundern: Was soll daran heilig sein? Wenn aber etwas in Sanskrit rezitiert wird und man keine Ahnung hat, was es bedeutet, ist man fasziniert.

Um die Heiligkeit der Schriften zu bewahren, war es nötig, sie geheim zu halten. Sie sollten nicht in die Hände des Volkes gelangen; die Leute sollten sie nicht lesen können. Wenn es gebraucht wurde, war der Priester da; er konnte die Schriften lesen. Als der Buchdruck eingeführt wurde, lehnten die Hindus es ab, ihre Schriften drucken zu lassen: Was würde sonst aus ihrer Geheimnistuerei werden, die sie seit Jahrtausenden betrieben hatten?

Die Hindu-Priester haben das ganze Land mit der Vorstellung eingenebelt, sämtliche Geheimnisse würden in ihren heiligen Büchern stehen – aber diese heiligen Bücher sind zu neunundneunzig Prozent einfach nur Kuhdung! Den Hindus mag er heilig sein, aber sonst ist er für niemanden heilig. Als diese geheiligten Bücher in andere Sprachen übersetzt wurden, hörte diese ganze Mystifizierung auf; der Hinduismus verlor seinen Nimbus, seine Glorie, denn nun konnte man es in jeder Sprache nachlesen – die Schriften wurden allen zugänglich.

Mahavira redete nie in Sanskrit, Gautama Buddha redete nie in Sanskrit – allein schon der Priesterschaft zum Trotz. Sie redeten in der Sprache des Volkes. Die Priesterschaft verurteilte sie deswegen: »Das ist nicht die rechte Art. Ihr solltet in Sanskrit reden. Ihr seid beide hochgebildet« – denn beide waren Söhne großer Könige – »und ihr beherrscht das Sanskrit. Weshalb redet ihr also in der Sprache der gewöhnlichen Leute?«

Sie sagten: »Das hat einen bestimmten Grund: Wir wollen den Menschen klarmachen, dass diese Geheimnistuerei ein Ende haben muss. An euren Schriften ist gar nichts dran, aber weil sie in einer Sprache sind, die keiner versteht, ist alles der Fantasie der Leute überlassen.«

Wahrscheinlich versteht nicht mal der Priester, was er da rezitiert. Sanskrit lernt man durch Auswendiglernen, nicht durch Verstehen. Das ist ein großer Unterschied. Sanskrit wird rein mechanisch, durch Nachsprechen gelernt, bis man es auswendig kann. Was zählt, ist das Gedächtnis, nicht das Verständnis. Um die Bedeutung braucht man sich nicht zu kümmern; es geht nur darum, wie es rezitiert wird.

Zweifellos ist Sanskrit eine sehr schöne Sprache, mit einer Qualität von Singsang. Ein Lied ist leichter auswendig zu lernen als ein ebenso langes Stück Prosa. Poesie ist viel leichter im Gedächtnis zu behalten. Darum sind diese Sprachen, die auf dem Gedächtnis beruhen, wie Poesie und klingen sehr schön. Was es bedeutet, sollte man besser nicht fragen. Der Sinn kann so belanglos sein wie eine x-beliebige Zeitung von heute – oder noch schlimmer, weil es eine fünftausend Jahre alte Zeitung ist.

Wenn man einen Brahmanen singen hört, ist man fasziniert; mit seinem Gesang erzeugt er eine besondere Atmosphäre. Aber was singt er da eigentlich? Vielleicht sind die Strophen, die er gerade singt, ein Gebet zu Gott: »Bitte vernichte die Ernte meines Feindes und gib mir eine doppelt so reiche Ernte als letztes Jahr! Bitte sorge dafür, dass die Kühe meines Nachbarn keine Milch geben und die ganze Milch zu meinen Kühen kommt!« Wenn man den Sinn versteht, sagt man: »Was für ein Schwachsinn! Wo bleibt die ganze Heiligkeit? Wo bleibt die Religion? Soll das etwa Religion sein?« – Auf den Sinn sollte man also besser nichts geben.

Wer den Ruf des Muezzins vom Minarett hört, ist bezaubert vom Singsang seiner Stimme. Das Arabische ist sehr berührend, es geht mitten ins Herz. Dort soll es auch hingehen, es bewegt nicht den Intellekt, den Verstand. Es soll die Gefühle anrühren, und das tut es gewiss. Wer Arabisch hört, ist begeistert von der ungeheuren Schönheit, die darin anklingt. Wenn allein schon der Klang eine solche Faszination und Erregung bewirkt, wie tief muss erst der dahinterliegende Sinn sein? Aber fragt lieber nicht nach dem Sinn!

Darum darf man den Leuten nicht die geheime, die heilige Sprache beibringen. Sie bleibt der Priesterschaft vorbehalten – es ist ihr Monopol.

Dies ist unter Mystifizierung zu verstehen. Sie dient als Ersatz, um euch ruhigzustellen. Man hat den Menschen ein ungeheures Potenzial genommen: das Fragezeichen. Es würde die ganze Schöpfung zum Mysterium machen. Sie mussten euch einen Ersatz geben, ein Spielzeug, um euch abzulenken. Und die Priester halten schon alle möglichen Antworten bereit. Noch ehe das Kind überhaupt zu fragen beginnt, fangen sie an, ihm die Antworten einzutrichtern. Seht doch nur, wie das abläuft! Wenn die Frage noch nicht gestellt wurde, ist die Antwort völlig witzlos.

Was ich euch nun erzählen wollte …

In meiner Kindheit fing man an, mir Antworten zu liefern … Es gab da im Jainismus einen speziellen Unterricht im Jaina-Tempel, den jedes Kind besuchen musste, jeden Abend eine Stunde lang. Ich weigerte mich.

Ich sagte zu meinem Vater: »Erstens einmal habe ich gar nicht die Fragen, auf die man die Antworten liefert. Das ist doch idiotisch. Wenn ich Fragen habe, werde ich hingehen und mir ihre Antworten holen, und dann werde ich herausfinden, ob sie recht haben oder nicht. Im Moment interessiert mich nicht einmal die Frage: Wer hat die Welt erschaffen? Du meine Güte! – Was interessiert mich das? Ich weiß nur eines: Ich war’s nicht!«

Mein Vater sagte: »Du bist ein sonderbarer Knabe. Alle Kinder unserer Familie gehen hin, und die aus der Nachbarschaft gehen auch alle hin.«

Die Jainas leben zusammen in ihrem Viertel, in enger Nachbarschaft. Minderheiten haben Angst vor der Mehrheit und wohnen oft eng zusammen, um besser geschützt zu sein. Der Jaina-Tempel liegt mitten im Viertel, und alle Kinder aus der Nachbarschaft gehen hin. Es dient zum Schutz, denn würde ihr Tempel mitten in einem Viertel von Hindus oder Muslimen liegen, könnte er jederzeit in Flammen aufgehen. Und auch sonst wäre es schwierig, weil der Tempel nicht erreichbar wäre, wenn Unruhen ausbrechen.

Es gab da Leute, die kein Essen zu sich nahmen, ohne vorher in den Tempel zu gehen. Sie müssen zuerst im Tempel ihre Gebete verrichten, bevor sie etwas zu sich nehmen können. So leben die Jainas in kleinen Enklaven in der Stadt, im Ort, im Dorf, mit ihrem Tempel in der Mitte und der ganzen Gemeinde drum herum.

»Sie gehen alle hin«, sagte mein Vater.

Ich sagte: »Kann ja sein, dass sie Fragen haben. Oder sie sind Dummköpfe. Ich bin kein Dummkopf, und ich habe auch keine solchen Fragen. Ich weigere mich, dort hinzugehen. Und außerdem weiß ich, dass der Lehrer den Kindern einen totalen Schwachsinn erzählt.«

Mein Vater sagte: »Kannst du das beweisen? Du willst immer, dass ich dir alles beweise. Jetzt frage ich dich: Kannst du beweisen, dass es Schwachsinn ist, was er sagt?«

Ich sagte nur: »Komm mit mir.« Er musste oft mit mir an die verschiedensten Orte gehen, bis wir unseren Streit beilegen konnten.

Als wir zum Unterricht kamen, lehrte der Lehrer gerade die drei Eigenschaften von Mahavira (Begründer des Jainismus – Anm. d. Übers.): Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart. Mahavira, so sagte er, sei allmächtig, allwissend, allgegenwärtig.

Ich sagte: »Du hast gehört, was er gesagt hat. Jetzt komm mit mir in den Tempel.« Der Unterricht fand in einem angrenzenden Raum direkt neben dem Tempel statt. Ich sagte: »Geh jetzt mit in den Tempel.«

Er sagte: »Wozu denn?«

Ich sagte: »Komm, ich werde dir den Beweis liefern.«

Zuvor hatte ich auf die Statue von Mahavira ein Laddu gelegt – das ist eine indische Süßigkeit, rund wie eine Kugel. Solch ein Laddu hatte ich auf Mahaviras Kopf gelegt. Und natürlich saßen zwei Ratten oben auf Mahaviras Kopf und knabberten an dem Laddu. Ich sagte: »Da hast du deinen allmächtigen Mahavira! Ich hab auch schon gesehen, wie die Ratten ihm auf den Kopf gepinkelt haben.«

Mein Vater sagte: »Du bist unmöglich. Hast du das alles veranstaltet, nur um den Beweis zu liefern?«

Ich sagte: »Was hätte ich sonst machen sollen? Wie soll ich es dir sonst beweisen? Dieser Mahavira ist ja nirgends aufzutreiben. Hier ist seine Statue. Das ist der einzige Mahavira, den ich kenne, den du kennst und den der Lehrer kennt. Wenn er allgegenwärtig sein soll, dann wird er auch hier gegenwärtig sein. Und dann wird er auch die Ratten sehen und das, was sie mit ihm veranstalten. Er hätte doch die Ratten vertreiben und mein Laddu runterwerfen können. Ich konnte nicht hierbleiben, weil ich dich abholen musste. Ich musste ja alles vorbereiten. Jetzt beweise du mir bitte, dass dieser Typ allgegenwärtig ist. Aber im Grunde ist mir das völlig egal – vielleicht ist er’s ja. Was habe ich damit zu schaffen?«

Noch bevor ein Kind überhaupt zu fragen beginnt, stopft man ihm schon das Hirn mit allen möglichen Antworten voll. Dieses grundlegende und schwerwiegende Verbrechen begehen alle Religionen. Es kommt einer Programmierung gleich; das versteht man unter Konditionierung. Doch die Religionen verurteilen mich und behaupten, ich würde die Menschen konditionieren. Tatsächlich dekonditioniere ich euch. Die Konditionierung haben eure Religionen schon längst erledigt: Sie haben euch all diese Antworten eingetrichtert. Ich räume nur mit all den Antworten auf, damit ihr eure Frage finden könnt. Sie haben die Frage völlig zugedeckt – so vollständig, dass ihr vergessen habt, dass ihr je eine Frage hattet.

Tatsächlich habt ihr nie Fragen gestellt. Ihr hattet gar keine Chance, in Kontakt zu kommen mit eurer Frage und mit jener Intelligenz, die alles infrage zu stellen vermag. So sehr fürchten die Religionen, ihr könntet beginnen, die Dinge zu hinterfragen – und sei es nur ein einziges Mal. Dann hätten sie größte Schwierigkeiten, euch ihre Antworten gegen euren Willen aufzuzwingen. Diese forschende Intelligenz würde jede Menge Zweifel erheben, und nach jeder Antwort würden noch mehr Fragen auftauchen, als man sich vorstellen kann.

Der beste Weg besteht darin, dieses grundlegende Verbrechen zu begehen: das Kind so früh wie möglich in die Hand zu bekommen – je früher, desto besser – und ihm den ganzen theologischen, dogmatischen, doktrinären Katechismus löffelchenweise einzuflößen. Bevor das Kind überhaupt Fragen stellt, kennt es schon alle Antworten.

Wenn du Christ bist, woher willst du wissen, dass es eine Dreifaltigkeit gibt? – Dass diese drei – Gottvater, der Heilige Geist, Gottes Sohn – die höchste Macht darstellen, das absolute Monopol der Macht? Dass sie die Herrscher über die ganze Welt sind, die wahren Diktatoren? Wie kannst du das wissen? Man hat es dir so erzählt. Vielleicht hast du vergessen, wer es dir erzählt hat. Man hat es dir schon so früh erzählt, dass du, wenn du nicht tief nachgräbst und ganz weit zurückgehst, wohl kaum darauf kommen wirst, wer dieser Typ war, der deinen Verstand korrumpiert hat.

Und diese jungfräuliche Geburt … Wenn du kein Christ bist, wirst du sofort einhaken: Wie kommt denn die Jungfrau zum Kind? Bist du aber Christ, wirst du es nicht infrage stellen, weil du die Antwort schon bekommen hast, ehe du zu fragen anfingst. Man ist mit dir umgegangen, als wärst du ein Computer, den man ständig mit Antworten füttern muss. Aber wehe, jemand sagt irgendetwas gegen das Christentum: Dann wärst du auf der Stelle bereit, ihn zu töten oder dich töten zu lassen. Wegen eines solchen Schwachsinns, für den du nicht einmal verantwortlich bist. Er ist nicht auf deinem Mist gewachsen. Und diejenigen, die dir diesen Krampf aufgezwungen haben, hatten selbst keine Ahnung, weil man es mit ihnen genauso gemacht hat.

Und das geht jahrhundertelang immer so weiter. Jede Generation wiederholt immer wieder das Gleiche: Sie gibt ihren ganzen Unsinn und Aberglauben an die neue Generation weiter in dem Glauben, ihren Wissensschatz weiterreichen zu müssen. Wenn ihr aber erst einmal scheinwissend geworden seid, bleiben euch die Tore zur Mystik verschlossen.

Mystik bedeutet, der Existenz ohne vorgefasste Meinung zu begegnen.

Darum behaupte ich, dass keine der sogenannten Religionen mystisch sein kann – mystifizierend ja, aber keinesfalls mystisch – weil sie die grundlegende Voraussetzung für die Mystik nicht erfüllen: Du musst dein ganzes Wissen loslassen, musst alles, was du in gutem Glauben übernommen hast, über Bord werfen. Nichts davon hat irgendeinen Wert. Mach dir keine Sorgen! – Es ist kein Schatz, sondern ein einziges Trauerspiel. Sobald du dich dessen entledigt hast, fühlst du dich plötzlich ganz leicht, wie von einer schweren Last befreit. Du schaust mit den frischen Augen eines Kindes.

Alle diese Krusten von Wissen: hinduistisch, christlich, islamisch, jüdisch … Schicht um Schicht von Wissen – und es spielt keine Rolle, wer das Verbrechen an dir begangen hat. Die Religionen sitzen alle im selben Boot, alle machen sich des gleichen Verbrechens schuldig. Und weil sie alle das gleiche Verbrechen begehen, erhebt niemand Widerspruch dagegen. Sie haben die ganze Menschheit in ihrem Griff.

Und wenn jemand wie ich etwas dagegen sagt, wird er von allen verurteilt, von allen kritisiert – ohne dass man ihm eine Antwort gibt. Niemand hat mir je darauf geantwortet. Von Kindheit an habe ich permanent Fragen gestellt. Niemand hat mir auch nur eine einzige Frage beantwortet – es kommen keine Antworten. Wenn ihr versteht, dass alle Antworten willkürlich sind und von diversen Leuten bloß geschaffen wurden, um euch ruhigzustellen …

Es ist so, wie wenn die Mutter zum Kind, das nicht allein im Zimmer schlafen will, sagt: »Mach dir keine Sorgen, Jesus ist bei dir. Du kannst ruhig schlafen, du bist nicht allein.« Käme das Kind auf die Idee, dass seine Mutter es belügt, die eigene Mutter? Oder käme die Mutter auf die Idee, dass sie lügt? Sie glaubt ja selbst daran. Ihre Mutter gab ihr dieses Gift, jetzt tut sie das Gleiche mit ihrem Kind. Natürlich, was sonst?

Das Kind fürchtet sich vor dem Alleinsein. Es muss aber lernen, allein zu bleiben, allein zu schlafen. Bald kommt es in die Schule, ins Internat, und dann muss es allein zurechtkommen. Wie lange kann es am Rockzipfel seiner Mutter hängen? Sie hat also einen guten Grund, zu denken: »Wenn ihm das Gefühl, dass Jesus oder Gott bei ihm ist, hilft, um einzuschlafen …« Und das Kind beruhigt sich und ist weniger ängstlich. Nichts hat sich geändert – dasselbe Zimmer, und es ist allein im Dunkeln. Aber jetzt ist es ein bisschen getröstet, weil Jesus nach ihm schaut, weil Gott nach ihm schaut, weil Gott überall ist. Wenn die eigene Mutter das sagt, wenn sein Vater es sagt, wenn die Lehrerin es sagt, wenn der Priester es sagt – sie können ja nicht alle falsch liegen! Und Gott ist unsichtbar, du kannst ihn nicht sehen – aber eine gewisse Beruhigung ist es doch.

Das ist bei all deinem Wissen herausgekommen: Es erspart dir, selbst nachzuforschen, und eigenes Nachforschen ist mühsam. In dieser Welt wird einem nichts geschenkt, wenn man nicht bereit ist, etwas dafür zu riskieren. Ihr habt Gott so billig bekommen, ohne überhaupt danach zu fragen. Was für einen Wert kann dieser Gott haben? Ihr habt die Religion so billig bekommen … Diese Religion, dieser Gott sind nur Mittel zur Mystifizierung des Daseins, damit euer Fragen unterdrückt wird. Mein Anliegen ist es, den Schleier der Mystifizierung zu lüften.

Vielleicht ist die Frage, welchen Platz die Mystik in meiner Religion hat, deshalb aufgetaucht – denn ich bin ständig damit zugange, die Nebel der Mystifizierung zu vertreiben. Der Fragesteller versteht nicht den Unterschied zwischen Mystik und Mystifizierung. Er meint, sie seien gleichbedeutend, aber das sind sie nicht. Sie schließen sich gegenseitig aus. Gerade durch Mystifizierung wird die Entfaltung der Mystik verhindert. Es bleibt also nichts anderes übrig, als diese ganze Vernebelung zu entlarven und mitsamt ihren Wurzeln auszureißen.

Im Grunde ist es unnötig, dir eine Antwort zu liefern. Deine Frage ist da, und die ganze Existenz ist da. Wer bin ich, dass ich mich einmische und dazwischentrete? Schau der Existenz direkt ins Auge! Sieh den Sonnenaufgang, den Sonnenuntergang. Du wirst keine Antworten bekommen. Du wirst nur sehen, was ist – dieser wundervolle Sonnenuntergang!

Es wird so überwältigend für dich sein, dass du singen, tanzen, malen oder einfach im Gras liegen und nichts tun möchtest, als zu schauen. Es kommt zu einer Art Kommunion zwischen dir und der Schönheit des Sonnenuntergangs. Etwas überträgt sich … das ist Mystik. Du weißt gar nichts – und dennoch weißt du.

Da ist ein Wissen, das nichts weiß, und eine Unwissenheit, die alles weiß. Denn Unwissenheit ist Unschuld.

Darum kann ich zu euch sagen: »Selig die Unwissenden …«, aber ich kann diesen Satz nicht so beenden (wie im englischen Text): »… denn sie werden das Reich Gottes erben.« Das wäre ein nebulöses Versprechen, eine Mystifizierung. Deshalb sage ich: »Selig die Unwissenden, denn ihrer ist das Reich Gottes, schon jetzt und hier.« Nicht dass sie es irgendwann erben werden, in einem Leben nach dem Tod – das wäre Mystifikation.

Mystik ist bares Geld, Mystifikation ein Schuldschein, ein Versprechen.

Keiner weiß, ob er diesen Schuldschein tatsächlich gegen Bares wird eintauschen können. Der Staat kann pleitegehen, die Bank kann Bankrott machen. Nur Banken können Bankrott machen, wer sonst? Doch der Haken ist, dass dieses Versprechen erst nach dem Tod eingelöst werden kann. Unter der Bedingung: »Wir glauben an Gott, wir vertrauen auf Gott …« Und der Papst verspricht euch alles Mögliche, was ihr nach dem Tod bekommen werdet! Aber immer erst nach dem Tod, nie vorher. Man hat die Menschen mit so simplen Tricks ausgebeutet, dass jeder, der nur ein bisschen Intelligenz besitzt, es sehen könnte.

Das Leben ist ein Mysterium. Die Schriften mystifizieren es nur. Die Schriften sind tot, doch die Priesterschaft lebt von diesen toten Schriften. Der wahre, authentische Mensch lebt das Leben, nicht die Schriften. Durchs volle Leben, total und intensiv gelebt, findet er sich überall vom Mysterium umgeben. Jeder Augenblick ist ein unergründliches Geheimnis. Du hast einen Geschmack davon, kannst aber kein objektives Wissen daraus ableiten. Das bedeutet »Mysterium«: Du kennst es, aber es lässt sich nicht auf Faktenwissen reduzieren. Es bleibt immer ein geheimnisvolles inneres Wissen, für den Verstand unfassbar. Du fühlst, dass du weißt, aber wenn jemand darauf besteht: »Gib mir die Antwort, wenn du sie weißt!«, dann wirst du als echter, wahrhaftiger Mensch sagen: »Ich habe das Gefühl, es zu wissen, aber ein anderes Gefühl sagt mir, dass man es nicht auf faktisches Wissen reduzieren kann.«

Aus diesem Grund hat Laotse es sein Leben lang abgelehnt, etwas niederzuschreiben. Sobald man es niederschreibt, wird es zu etwas anderem. Das kann aber nur entdecken, wer selbst schon mit dem Mysterium Bekanntschaft gemacht hat.

Es ist also keine Frage von Gelehrtheit. Ein Gelehrter kann an Laotse nichts Falsches entdecken. Konfuzius war ein Zeitgenosse Laotses und einer der größten Gelehrten jener Zeit. Die Welt weiß mehr von Konfuzius als von Laotse, das ist klar, denn er war ein großer Gelehrter, ein weithin bekannter Weiser. Große Kaiser suchten seinen Rat. Der Kaiser von China – er muss der mächtigste Herrscher seiner Zeit gewesen sein, denn China war immer ein Kontinent für sich – ernannte Konfuzius zu seinem Premierminister, um ihn als ständigen Ratgeber zur Seite zu haben. Einmal stattete Konfuzius dem Laotse einen Besuch ab, und wisst ihr, was da geschah? Als er zurückkam, war er einem Nervenzusammenbruch nahe …

Laotse war zumindest jenen bekannt, die auf der Suche waren. Als die Schüler des Konfuzius erfuhren, dass er Laotse besuchen kam, warteten sie draußen vor der Berghöhle, in der Laotse lebte.

Konfuzius wollte nicht, dass ihn jemand begleitete, denn er wusste, dass dieser Mann seltsam und nur schwer auszumachen war. Wie er sich verhalten würde, was er tun oder sagen würde, konnte keiner wissen. Möglicherweise würde er ihn völlig auseinandernehmen vor seinen eigenen Schülern. Es war also besser, zuerst allein hinzugehen.

Er sagte zu seinen Schülern: »Wartet hier draußen. Lasst mich allein hineingehen.« Als er wieder herauskam, zitterte er.

Die Schüler fragten: »Was ist passiert?«

Er sagte: »Bringt mich heim. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Dieser Mann ist ein Drache. Haltet euch bloß von ihm fern!«

Was geschah dort in der Höhle? Auch Schüler von Laotse waren anwesend, daher wissen wir von dieser wichtigen Begegnung, die uns sonst entgangen wäre. Laotses Schüler waren ebenfalls schockiert – sogar sie, denn Konfuzius war älter als Laotse, viel berühmter und angesehener. Wer kannte schon Laotse? Nur ganz wenige.

Doch wie Laotse mit Konfuzius umging, war unerhört. Aber nicht für Laotse. Er war ein schlichter Mann, weder überheblich noch unterwürfig – einfach ein Mensch. Und wenn seine Schlichtheit, seine Unvoreingenommenheit und seine unprätentiöse Art dem Konfuzius einen schweren Schlag versetzten, was konnte er dafür?

Wenn du vor einen Spiegel trittst und der Spiegel zeigt dir dein hässliches Gesicht, ist der Spiegel daran schuld? Dann kannst du nur entweder alle Spiegel meiden und in keinen Spiegel mehr schauen – oder du legst dir einen Spiegel zu, der dich schön aussehen lässt. Das lässt sich machen. Es gibt hunderterlei Spiegel – konkav, konvex und was nicht noch alles –, und sie können dich größer aussehen lassen, als du bist, oder dicker oder kleiner, aber auch schöner.

Vielleicht täuschen dich die Spiegel, die du hast. Vielleicht werden die Spiegel so hergestellt, dass sie dir schmeicheln – wie schön du bist! Besonders Frauen vor dem Spiegel vergessen alles um sich herum. Eine Frau vom Spiegel wegzubekommen ist äußerst schwierig; sie kann nur schwer den Blick davon abwenden. Das liegt wahrscheinlich an den Spiegeln, denn normalerweise sehen die Leute ziemlich hausbacken aus.

Laotses Schüler fragten: »Was hast du mit ihm gemacht?«

Er sagte: »Ich habe gar nichts gemacht, ich habe ihn nur gespiegelt. Das war meine Antwort an ihn. Dieser Schwachkopf hält sich für wissend; er ist aber nur ein Gelehrter. Was kann ich machen? Ich habe ihm nur klargemacht, dass all diese Gelehrtheit zwecklos ist. Ich fragte ihn: ›Was weißt du wirklich?‹«

Wer einem Menschen wie Laotse gegenübersteht, kann nichts vortäuschen, zumindest nicht Auge in Auge mit ihm. Konfuzius erstarrte zu einer Statue, denn es stimmte, was Laotse sagte: »Gelehrtheit ist nicht Wissen. Du zitierst ja nur andere. Hast du nichts Eigenes zu sagen?« Doch Konfuzius hatte nichts Eigenes zu sagen. Er war ein großer Gelehrter und hätte sämtliche alten Schriften zitieren können – aber etwas Eigenes? Er hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, dass ihn einmal jemand fragen könnte: »Hast du denn nichts Eigenes zu sagen?«

Und so, wie Laotse ihn anschaute, wusste Konfuzius: Diesem Mann konnte man nichts vormachen. Er fragte ihn etwas, aber Laotse sagte: »Nein, ich weiß überhaupt nichts.«

Dann stellte Konfuzius die Frage: »Was geschieht nach dem Tod?«

Da flackerte es in Laotse auf wie eine Flamme, und er sagte: »Schon wieder! Willst du deine Beschränktheit nun aufgeben oder nicht? Du lebst jetzt – kannst du sagen, was das Leben ist? Du lebst jetzt – kannst du die Erfahrung deines Lebens in objektives Wissen packen und eine Aussage darüber treffen, was das Leben ist? Und bedenke, dass du jetzt lebst, also müsstest du es eigentlich wissen! Du weißt aber nichts vom Leben, während du lebst, und machst dir Gedanken über den Tod! In deinem Grab wirst du dafür noch genug Zeit haben. Dann kannst du über den Tod nachdenken. Lebe jetzt, im Moment! Und lebe nicht halbherzig.«

Viele Menschen leben ihr Leben auf Sparflamme. Sie leben so, als würden sie ihren Lichtschalter immer weiter herunterdimmen. Sie sterben noch nicht, aber sie drehen ihr Lebenslicht immer mehr zurück, bis es schließlich verlöscht. Den Tod erleben nur ganz wenige – nur die, die wirklich gelebt und leidenschaftlich gelebt haben. Sie kennen den Unterschied zwischen Leben und Tod, weil sie das Leben ausgekostet haben, und ihre Lebenserfahrung versetzt sie in die Lage, auch den Tod auszukosten. Weil sie das Leben erfahren haben, können sie auch den Tod erfahren. Wenn ihr im Leben das Leben verpasst habt, werdet ihr auch im Sterben den Tod verpassen.

»Du verschwendest nur deine Zeit. Geh hinaus und lebe!«, sagte Laotse zu Konfuzius. »Eines Tages wirst du tot sein, mach dir darüber keine Sorgen. Ich habe noch nie gehört, dass jemand ewig gelebt hätte. Eines Tages wirst du tot sein. Der Tod macht keine Ausnahme, auch nicht für große Gelehrte oder Premierminister. Du wirst sterben, diese Voraussage kann ich für dich treffen. Nichts anderes lässt sich voraussagen, aber das ist leicht vorauszusagen: Du wirst sterben. Und in deinem Grab, in der Stille, kannst du dann darüber meditieren, was der Tod ist.« Konfuzius war am Zittern.

Auch der Kaiser fragte ihn: »Du warst doch bei Laotse – wie war es?«

Konfuzius sagte: »Alles, was ich befürchtet hatte, ist eingetreten. Er ließ mich so idiotisch aussehen, dass ich achtundvierzig Stunden später immer noch zittere. Das Gesicht dieses Mannes flößt mir immer noch Schrecken ein – zwei Nächte lang hatte ich Albträume! Dieser Mann verfolgt mich, und so, wie es aussieht, wird er mich weiterverfolgen. Und seine Augen! Wie Schwerter, die einen durchbohren.« Und dann sagte er weiter: »Als dein Ratgeber will ich Euch eines sagen: Schlagt Euch den Gedanken aus dem Kopf, diesen Mann treffen zu wollen. Das ist ein Drache, kein Mensch!«

Mystik bedeutet, das Leben zu erfahren, ohne dass zwischen dir und dem Leben das Wissen steht.

Aber ihr lebt ständig ein geborgtes Leben, als würde jemand anderer an eurer Stelle leben. Ihr seid wie Zombies, wie Schlafwandler, Somnambulen. Und diese ganze Situation geht auf das Konto der Religionen. Das Problem ist: Die Menschen meinen, die Religionen seien ein großer Segen für die Welt. Ganz im Gegenteil – sie waren und sind der größte Fluch für die Menschheit. Sie haben alles Lebendige in euch zerstört und durch etwas Totes ersetzt. Deine Frage war ein lebendiges Phänomen. Dein Zweifel hat geatmet und pulsiert in deinem Herzschlag. Man hat dir aber beigebracht: »Hege keinen Zweifel, sonst wirst du leiden.«

Mein Vater sagte oft zu mir: »Ich mache mir Sorgen um dich. Du gebrauchst so starke Worte gegen die Religion und Gott, gegen den Himmel und andere Dogmen, dass ich besorgt bin, es könnte dir dadurch Leid entstehen.«

Ich sagte ihm: »Darauf bin ich gefasst. Aber bevor es dazu kommt, lass mich mein Leben leben. Dann habe ich nichts zu bereuen und werde mich nicht beklagen. Eigentlich sollte ich mir Sorgen um dich machen, denn all das Wissen ist nur Hokuspokus. Du glaubst, dass dieses Papierschiffchen dich ans andere Ufer bringen wird. Aber ich sage dir, du wirst untergehen!

Ich habe mich von Anfang an bemüht, selbst zu schwimmen. Ich verlasse mich auf keine Papierschiffchen. Falls ich untergehe … okay, dann ist es meine eigene Entscheidung. Niemand außer mir ist dafür verantwortlich, und ich habe nichts zu beklagen. Ich habe mein Leben genossen. Dann war es mir eine Freude, alles zurückzuweisen, was verlogen und geborgt war. Es war mir eine Freude, ich selbst zu sein. Und wenn das die Belohnung ist, die das Leben für authentische Menschen bereithält, dann werde ich sie dankbar annehmen.

Aber was wird aus dir, wenn dein Boot – aus Papier gemacht, aus heiligem Papier, heiligen Schriften – zu sinken beginnt? Dann hast du dein Leben verfehlt. Du wirst keine Dankbarkeit fühlen, denn wofür könntest du dankbar sein? Das Leben, das dir ein Gefühl von Dankbarkeit hätte geben können, ist dir zwischen den Fingern zerronnen. Du gehst unter, denn du kannst nicht schwimmen, weil du das Boot nie infrage gestellt hast. Wenn ich aber selbst schwimmen kann, habe ich gute Chancen, das andere Ufer zu erreichen.«

Er war selbst ein guter Schwimmer. Und ich liebte das Schwimmen so sehr, dass meine Familie mich am Flussufer suchen musste, wenn sie etwas von mir wollte, denn ich war immer irgendwo im Fluss. Ich verbrachte täglich vier bis sechs Stunden im Fluss. Hier und da gingen wir auch gemeinsam schwimmen. Ich habe ihn öfter dazu eingeladen, vor allem in der Regenzeit.

Er sagte dann: »Lass das lieber bleiben«, denn während der Regenzeit wurde der Fluss zu einem reißenden Strom. Er wurde plötzlich ganz breit und mächtig, während es sonst nur ein kleines Flüsschen war. Im Sommer konnte man sich nicht vorstellen, dass dieses Rinnsal so breit werden konnte, mindestens hundertmal breiter. Die Strömung war so stark, dass ich beim Durchqueren des Flusses – und das geschah in der Regenzeit Hunderte Male – mindestens zwei, drei Meilen stromabwärts getrieben wurde, bis ich das andere Ufer erreichte. Es war unmöglich, vom Ausgangspunkt in direkter Linie zur anderen Seite zu schwimmen. Die Strömung war so stark, dass ich mindestens drei Meilen stromabwärts gezogen wurde.

Ich sagte aber: »Ich schaffe das. Und du bist mit Sicherheit ein viel besserer Schwimmer und viel stärker als ich. Ich bin ja noch ein Kind. Du bist doch ein starker Mann, du kannst das schaffen.« Er kam nur ein einziges Mal mit und auch nur deshalb, weil ich eine Situation eingefädelt hatte, in der er nicht anders konnte.

Meine Schwester hatte geheiratet, und ihr Ehemann war bei uns zu Besuch. Er war Ringer, der Champion der Universität. An der Uni witzelten sie darüber, dass wir zwei … Als ich zu studieren begann, war er gerade im letzten Jahr vor seinem Mastergrad, und ich wohnte bei ihm im Zimmer. Man witzelte also darüber, dass wir zwei Champions – er als Ringer und ich als Sieger des universitären Debattierwettbewerbs – zusammenwohnten.

Alle machten sich Sorgen, wie wir das regeln würden, denn ich war ständig am Argumentieren, und er kannte nur ein einziges Argument: Kämpfen. Die Universität hatte ihn aufgenommen, und er schaffte auch alle Prüfungen, aber nicht, weil er sie wirklich bestand … Die Universität wollte ihn gerne halten, denn er hatte die Ringermeisterschaft von ganz Indien gewonnen. Solche Champions sind begehrt; sie erhöhen das Prestige einer Universität.

Er hatte keine Ahnung, worum es in den Prüfungen ging. Frühmorgens begann er mit seinen Trainingsstunden, und abends trainierte er wieder. Und ständig machte er Ringkämpfe mit anderen, auch mit seinem Lehrer. Er war zweifellos ein hervorragender Ringer. Ich habe ihn kämpfen gesehen. Er wurde schließlich einer von unseren Sannyasins, aber leider starb er sehr früh. Er war nicht älter als fünfundfünfzig, als er starb.

Er war mit mir von der Universität gekommen, und ich sagte zu meinem Vater: »Heute gehen wir schwimmen. Er ist nicht nur Ringer, sondern auch ein guter Schwimmer. Und du musst auch mitkommen.« Vor seinem Schwiegersohn konnte er nicht Nein sagen – das hätte ausgesehen, als hätte er Angst. Der Schwiegersohn konnte auch nichts sagen, weil sein Schwiegervater mitkam, ein alter Mann. Ich war noch ganz jung, und er war Ringer-Champion von ganz Indien. Wie hätte er zeigen können, dass er Angst hatte?

Als er den Fluss sah, sagte er nur: »Wollen wir da wirklich hinüber?«

»Na klar«, sagte ich.

Meine Mutter versuchte, uns davon abzuhalten; meine Schwester versuchte, ihren Mann davon abzuhalten, aber ich ließ nicht locker. Ich sagte: »So eine Gelegenheit kommt nie wieder! Lasst uns sehen, was passiert. Wir werden höchstens drei oder vier Meilen stromabwärts getrieben und müssen dann vier Meilen wieder hochlaufen.« Als ich dann hineinsprang, mussten sie auch springen.

Es war furchtbar – die Strömung war so stark, dass mein Schwager sagte: »Ich hätte lieber zugeben sollen, dass ich Angst habe. Jetzt ist an Umkehr nicht mehr zu denken. Wir sind erst in der Mitte, aber ich sehe keine Hoffnung, das andere Ufer zu erreichen.«

Mein Vater sagte: »Ich hab’s ja immer gewusst, dass dieser Junge uns eines Tages alle in Schwierigkeiten bringt!«

Aber ich sagte: »Wenn wir schon bis zur Mitte gekommen sind, werden wir die zweite Hälfte auch noch schaffen.« Mehrmals waren sie drauf und dran, umzukehren, aber ich sagte: »Jetzt umzukehren wäre absolut dumm, denn es ist die gleiche Entfernung. Und außerdem würde man euch für den Rest eures Lebens als Feiglinge bezeichnen. Was bringt es, jetzt umzukehren? In der gleichen Zeit, mit der gleichen Energie können wir das andere Ufer erreichen. Aber selbst wenn ihr zurückschwimmt: Ich schwimme ans andere Ufer!«

Damit konnte ich sie umstimmen. Sie dachten wohl: »Das schafft er auch, denn er schwimmt ja ständig hin und her. Wenn er weitermacht und das andere Ufer erreicht – und das wird er … Wenn wir jetzt umkehren, wird er in der ganzen Stadt das Gerücht verbreiten: ›Seht, das ist der indische Meister im Ringen! Und das ist mein Vater, der schon sein Leben lang schwimmt! Sie haben mitten im Fluss umgedreht und mich kleines Kind ganz allein ans andere Ufer schwimmen lassen!‹«

Da sagten sie: »Egal, was passiert und wenn es der Tod sei: Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er kehrt sicher nicht um.« Mein Vater sagte zu meinem Schwager: »Du kennst ihn nicht! Er ist keiner, der das Handtuch wirft. Lieber stirbt er – und wir mit ihm. Wir haben uns unnötig in Schwierigkeiten gebracht. Ich habe das jahrelang vermieden. Nur deinetwegen habe ich mich darauf eingelassen.«

Und mein Schwager sagte: »Und ich habe mich nur deinetwegen darauf eingelassen. Er hat uns beide ausgetrickst.«

Als wir schließlich das andere Ufer erreichten, sagte ich: »Nun, was sagt ihr jetzt? Es braucht nur ein bisschen Mut und Risikobereitschaft, um sich auf das Unbekannte einzulassen! Ihr wolltet zurückschwimmen, obwohl es genauso weit war, aber ihr kanntet die Strecke schon. Weil euch diese Seite des Flusses bekannt war, dachtet ihr, das sei leichter, als ins Unbekannte weiterzuschwimmen. Das Unbekannte hat euch Angst gemacht, sonst hättet ihr euch das ausrechnen können.«

Wir erreichten das andere Ufer. Wir liefen die paar Meilen stromaufwärts, aber sie wollten nicht zurückschwimmen. Wenn wir wieder an derselben Stelle ankommen wollten, von wo wir gestartet waren, mussten wir noch einmal vier Meilen laufen. Doch sie sagten: »Noch mal vier Meilen zu Fuß? Um noch mal zu erleben, wie wir beinahe draufgehen? Lasst uns lieber von hier das Boot nehmen!« – Denn wir waren an der Stelle, von wo eine Fähre die Leute zum anderen Ufer übersetzte.

Sie sagten: »Mach, was du willst. Wenn du noch mal vier Meilen gehen willst, dann geh. Wir beide haben beschlossen, dass wir nicht mitkommen. Egal, was passiert – selbst auf die Gefahr hin, dass man uns Feiglinge nennt.«

Ich sagte: »Ich werde kein Gerücht über euch verbreiten und nicht die vier Meilen weiterlaufen, nur um euch als Feiglinge dastehen zu lassen. Normalerweise gehe ich noch ein Stück weiter und schwimme dann weiter oben los, damit ich genau an der Stelle ankomme, wo ich meine Kleider gelassen habe. Das werde ich jetzt aber nicht tun; das wäre zu viel.

Ich habe schon mehr getan, als man von einem Sohn erwarten kann. Das genügt. Aber merkt euch eines: Es ist besser, selbst zu schwimmen, als auf Boote zu warten, die unzuverlässig sind. Es ist besser, sich auf die eigenen Hände zu verlassen als auf ein Wissen, das irgendwelche schlauen Leute sich vielleicht nur ausgedacht haben.«

Die Mystik verlangt keine andere Qualifikation als einen offenen Geist.

Du bist nicht Hindu noch Christ noch Muslim noch Jaina noch Buddhist noch Jude – du bist einfach du. Und dann sieh! – Das Leben kennt keine Antworten. Sie verschleiern immer nur.

Das Leben kann gelebt werden, geliebt werden, getanzt werden, getrunken werden, geschmeckt werden. Du kannst so viele Dinge im Leben anstellen. Aber lebe nicht im Sparmodus. Lebe es in vollen Zügen – nicht nur ein bisschen, sondern total! Dann wird das Leben sofort zu einem Mysterium. Meine Religion ist die reine Mystik.

?Vieles, was dem Menschen früher ein Gefühl von Zugehörigkeit gab, verschwindet heute: der Stamm,die Familie, die Ehe, sogar die Freundschaft. Was geschieht da? Und was kommt danach?

Etwas Schönes passiert, etwas wirklich Großartiges. Ja, der Stamm verschwindet. Die Sippe, die Familie verschwindet, die Ehe verschwindet, die Freundschaft verschwindet … So weit, so gut – das gibt dir die Möglichkeit, allein und du selbst zu sein.

Im Stamm ist der Einzelne nur einer von vielen. Der Stammesbewohner ist der primitivste, am wenigsten entwickelte Mensch, den Tieren näher als dem Menschen. Er lebt im Stamm nur als eine Nummer. Dass die Stämme verschwunden sind, ist gut. Durch das Verschwinden des Stammes entstanden Familien. In dieser Phase erwies die Familie sich als vorteilhafter, denn der Stamm war eine große Horde, die Familie hingegen eine kleine, überschaubare Einheit. In der Familie hatte der Mensch mehr Freiheit als im Stamm. Der Stamm war sehr diktatorisch und sehr mächtig. Sein Oberhaupt, der Stammeshäuptling, war allmächtig, ja er durfte seine Leute sogar töten.

Bis heute leben noch einzelne Stämme in den am wenigsten entwickelten Gebieten. Auch in Indien gibt es ein paar Stämme von Naturvölkern. Ich bin bei diesen Stämmen gewesen. Als ich mich um eine Professor in Raipur bewarb, war es deshalb, weil nicht weit von Raipur der am nächsten liegende ursprünglichste Stamm Indiens lebte, in Bastar. Es ist ein kleiner Staat, ein Stammesstaat. Die Bewohner leben nackt und essen rohes Fleisch. Vielleicht sind sie Nachkömmlinge aus einer Zeit, als der Mensch das Feuer noch nicht entdeckt hatte, und haben deshalb die Gewohnheit beibehalten, rohes Fleisch zu essen.

Es sind ganz einfache, unschuldige Leute, aber was den Stamm und seine Konventionen und Traditionen angeht, sind sie absolut orthodox. Es steht völlig außer Frage, dass einer von ihnen sich gegen den Stamm auflehnt. Man würde ihn sofort töten, um ihn dem Gott zu opfern. Jegliche Rebellion gegen den Stamm würde den Gott erzürnen – und der Stamm kann es sich nicht leisten, Gottes Zorn auf sich zu ziehen.

Der Stamm führt die Tradition fort, die unmittelbar von seinem Gott ausging. Es gibt keine Schriften, keine geschriebene Sprache. Dadurch kommt dem Priester, der gleichzeitig der Häuptling ist, alle Macht zu. In einem solchen Stamm ist es unmöglich, zu rebellieren und am Leben zu bleiben.

Man kann nicht fliehen, weil man außerhalb des Stammes nirgendwo angenommen wird. Die Stammesleute kennen keine Sprachen, die anderswo gesprochen werden, und sie sind nackt … Nur einmal im Jahr, wenn eine kleine Abordnung von ihnen nach Delhi fährt, um an den Feierlichkeiten zum Tag der Republik teilzunehmen, am 26. Januar, dem Jahrestag der Gründung der indischen Republik, bekleiden sie sich mit einer Art Lendenschurz und wickeln sich in Tücher.

Sie haben einer kleinen Gruppe beigebracht, ein bisschen Hindi zu sprechen und ein paar Kleidungsstücke anzuziehen: »Ihr könnt nicht nackt nach Delhi fahren, wenn ihr vor dem Präsidenten, dem Premierminister und sämtlichen Botschaftern und geladenen Gästen aus aller Welt erscheint. Wenigstens an diesem Tag solltet ihr anständig gekleidet sein.« Also hat man eine kleine Gruppe darauf trainiert, und diese Gruppe fährt jedes Jahr hin, weil die anderen sich dieser Mühe gar nicht unterziehen wollen.

Raipur war so nah, dass ich öfter nach Bastar fahren konnte, um zu sehen, wie der Stamm seinen Einfluss über die Leute ausübte. Er hatte die absolute Kontrolle und ließ niemandem die Möglichkeit, sich aufzulehnen. Man konnte den Stamm verlassen, doch außerhalb des Stammes konnte keiner überleben. Sie kannten nur die Lebensart ihres Stammes. Wurde jemand außerhalb des Stammes beim Essen von rohem Fleisch ertappt – sie töteten einfach ein Tier und aßen davon –, schritt sofort die Polizei ein. Außerhalb konnte sich niemand nackt bewegen – er wurde sofort geschnappt.

Sie konnten keine anderen Sprachen, hatten keine Kenntnisse außer denen, die dem Nutzen ihres Stammes dienten – zum Beispiel ein bestimmter Tanz, eine bestimmte Art zu trommeln –, die sie aber nirgendwo anders verwenden konnten als in ihrem Stamm. Darum konnte sich niemand außerhalb des Stammes bewegen. Jede Mobilität war unmöglich.

Innerhalb des Stammes zu leben und gegen den Stamm und seine Gepflogenheiten zu revoltieren war ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn der Häuptling davon erfuhr, wurde Gott ein Opfer vollbracht. Dann versammelte sich der ganze Stamm; sie tanzten um ein großes Feuer und machten viel Lärm. Dabei wurde der Mensch ins Feuer gestoßen, um ihn Gott zu opfern. Der Stamm lebte im kollektiven Bewusstsein.

In unserem kollektiven Unbewussten sind diese Dinge noch vorhanden.

Die Familie war eine Weiterentwicklung. Sie machte den Einzelnen zu einem Teil einer kleineren Einheit und gab ihm größere Freiheit. Und die Familie bot Schutz für den Einzelnen. Heute verschwindet allmählich die Familie, weil das, was einerseits als Schutz dient, sich andererseits hemmend auf die Entwicklung auswirken muss.

Es ist, wie wenn ihr eine kleine Pflanze zum Wachsen bringen wollt und sie deshalb mit einem Schutzgitter umzäunt. Ihr dürft aber nicht vergessen, das Gitter zu entfernen, wenn der Baum in die Höhe und Breite wächst, sonst wird der Zaun den Baum am Wachsen hindern. Als der Zaun errichtet wurde, war der Baum noch so dünn wie ein Finger. Also umgab man ihn mit dem Gitter, um ihn vor Tieren und Kindern zu schützen. Wenn aber der Baumstamm kräftiger wird, erweist sich der Zaun, der einst ein Schutz war, als Hemmnis und muss entfernt werden.

Die Zeit dafür ist heute gekommen. Die Familie ist kein Schutz mehr. Sie ist ein Hemmnis geworden. Aus dem Stamm herauszutreten war ein großer Schritt. Jetzt muss ein weiterer Schritt unternommen werden: von der Familie zur Kommune.

Die Kommune kann euch alle Freiheit geben, die ihr benötigt, und sie kann euch allen Schutz geben, den ihr braucht, um ungehindert wachsen zu können.

Darum sage ich: Es ist gut, dass der Stamm sich überlebt hat und dass die Familie allmählich verschwindet. Gewiss, ihr werdet sie vermissen, denn ihr seid süchtig geworden, seid in eine Abhängigkeit geraten. Ihr werdet Vater und Mutter vermissen, aber das ist nur in der Übergangsphase. Sobald es auf der ganzen Welt Kommunen gibt, werdet ihr erstaunt sein, wie viele Onkel und Tanten ihr hinzugewonnen habt, auch wenn Mutter und Vater fehlen. Was für ein Gewinn!

Die Kleinfamilie mit Vater und Mutter ist, psychologisch gesehen, problematisch, weil das Kind sich den Vater zum Vorbild nimmt, wenn es ein Junge ist, oder die Mutter, wenn es ein Mädchen ist. Daraus entstehen erhebliche psychologische Probleme.

Das Mädchen imitiert die Mutter, aber es hasst sie auch, denn das Mädchen ist eine Frau und liebt den Vater. Das ist eine biologisch fundierte, wissenschaftlich erwiesene Tatsache: Das Mädchen liebt den Vater und hasst die Mutter. Als Mädchen kann es sich aber nicht den Vater zum Vorbild nehmen; es muss die Mutter imitieren.

Der Junge liebt die Mutter, denn er ist ein Mann, und sie ist eine Frau, die erste Frau in seinem Leben. Er liebt die Mutter, aber gleichzeitig hasst er den Vater. Er ist eifersüchtig auf den Vater, weil Vater und Mutter sich lieben; das kann er nicht hinnehmen. Kleine Kinder zeigen das auf vielerlei Art. Wenn Vater und Mutter in ihrem Bett schlafen, kommt der Junge und legt sich zum Schlafen zwischen sie. Aber nicht, weil er beide für sich haben will. Nein, er will sie trennen: »Hau ab!«

Das Mädchen ist auch eifersüchtig auf die Mutter. Es würde lieber den Platz der Mutter einnehmen und Papis Geliebte sein. Aber nicht nur das Kind reagiert so. Wenn der Vater allzu liebevoll mit seiner Tochter umgeht, fängt die Mutter an, ihm Kopfschmerzen zu bereiten. Ist die Mutter besonders liebevoll zu ihrem Sohn, fühlt sich der Vater schnell ausgeschlossen.

Mit der Zeit treten Vater und Mutter in den Hintergrund und verschwinden schließlich von der Bildfläche. In ihren Kindern hinterlassen sie aber dieses ganze psychologische Chaos. Die Tochter wird ihr Leben lang die Mutter hassen. Alles, was der Mutter gleicht, ist ihr verhasst. Komischerweise verhält sie sich oft genau wie die Mutter, und dafür hasst sie auch sich selbst. Wenn sie ihr eigenes Gesicht im Spiegel sieht, fällt ihr die Mutter ein. Wenn sie ihr eigenes Verhalten beobachtet, erkennt sie darin ihre Mutter wieder. Und ähnlich ergeht es dem Jungen. Dieses Chaos ist weltweit für fast die Hälfte der psychischen Krankheiten bei Männern und Frauen verantwortlich.

Eine Kommune wird eine erfrischend neue psychische Gesundheit hervorbringen. In einer Kommune hat das Kind bessere Startbedingungen … Natürlich wird es von der Mutter geboren und hat einen Vater, aber das ist nicht der einzige Schutz, den es genießt. Es kann sich innerhalb der ganzen Kommune bewegen, und alle Männer im Alter seines Vaters werden zu seinen Onkeln. Onkel sind nette, angenehme Leute. Der Vater ist immer ein bisschen gemein, das bringt schon seine Rolle mit sich. Er ist ein mächtiger Mann und sollte seine Macht auch zeigen; er denkt, er müsse den Jungen disziplinieren.

Das Gleiche gilt für die Mutter: Sie soll das Mädchen richtig erziehen und macht sich Sorgen, was aus dem Mädchen werden könnte, wenn sie es nicht nach dem gesellschaftlich akzeptierten Ideal formt. Also diszipliniert sie ihre Tochter – aus Liebe, mit den allerbesten Absichten. Doch ein Onkel wird nicht versuchen, dem Mädchen etwas aufzuzwingen. Und wenn so viele Onkel und Tanten da sind, kommt ein großartiges Phänomen zustande: Die Kinder sind nicht mehr vom Bild einer einzigen Person geprägt.

Ein Junge verinnerlicht das Bild seiner Mutter und möchte eine Frau finden, die genau wie sie ist. Aber wo findet man schon eine Frau wie die eigene Mutter? Also verliebt er sich in eine Frau, die der Mutter irgendwie ähnlich sieht, aber das allein genügt nicht. Männer finden die seltsamsten Dinge attraktiv: Haarfarbe, Gang, Augenfarbe, Nasenform, Profil. Da ist eine gewisse Ähnlichkeit. Aber was ist mit allen anderen Eigenschaften?

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