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Freiheit. Krise. Verantwortung. – Jetzt mit aktualisiertem Vorwort der Autorin im Hinblick auf die Corona-Krise.
»Ich war schon immer der Meinung, dass Krisen zum Leben gehören. Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, dass ein gelingendes Leben nur dann möglich ist, wenn ich das Leben in seiner ganzen Bandbreite annehme. Mit all seinen Höhen und Tiefen. Mit seinen Licht- und seinen Schattenseiten. Und deshalb macht es für mich auch keinen Sinn, sich eine Krise schönzureden oder noch schlimmer – über sie zu klagen. Ich bin ja nicht auf die Welt gekommen, um zu jammern. Ich bin auf die Welt gekommen, um etwas Sinnvolles aus meinem Leben zu machen. Meinem Leben Sinn zu geben. Im Denken und vor allem auch im Handeln. Und so kann es durchaus Sinn machen, das Beste aus einer Krise zu machen, wenn man sie schon hat.«
Tamara Dietl erzählt in diesem Buch über Schwierigkeiten als Herausforderung für ein erfülltes Leben. Beruflich seit Jahren damit beschäftigt, als Sinn- und Wertecoach anderen Menschen in Krisensituationen beizustehen, geriet sie 2015 durch die schwere Krankheit ihres Mannes, des Filmregisseurs Helmut Dietl, selbst in eine große Krise. Wie es gelingen kann, trotz Krise ein sinnvolles Leben zu führen, davon berichtet sie in diesem Buch. Es ist eine große Liebeserklärung an ihren Mann, an die Kraft des Augenblicks und an das Leben.
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Seitenzahl: 342
Zum Buch
Tamara Dietl, Sinn- und Wertecoach, erzählt in diesem Buch über Schwierigkeiten als Herausforderung für ein erfülltes Leben. Beruflich seit Jahren damit beschäftigt, anderen Menschen in Krisensituationen beizustehen, geriet sie durch die schwere Krankheit ihres Mannes, des Filmregisseurs Helmut Dietl, selbst in eine große Krise. Wie es gelingen kann, dennoch ein sinnvolles Leben zu führen, davon berichtet sie in ihrem Buch. Es ist eine große Liebeserklärung an ihren Mann, an die Kraft des Augenblicks und das Leben.
Zur Autorin
TAMARA DIETL begann ihre journalistische Laufbahn als Gerichtsreporterin bei der Hamburger Morgenpost. 1988 wechselte sie zu »SPIEGEL TV«, produzierte dort über zehn Jahre lang u.a. Portraits über Willy Brandt, Romy Schneider und Marlene Dietrich. Daneben war sie als freie Autorin und Beraterin tätig, u. a. für ARD, DIE ZEIT, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, und unterrichtete als Dozentin an Journalisten- und Filmhochschulen. Heute arbeitet Tamara Dietl als Consultant und Business-Coach mit Verantwortlichen aus Wirtschaft, Politik und Medien. Sie absolvierte eine Zusatzausbildung zum Sinn- und Wertecoach nach Viktor Frankl. Ihr Mann, der Filmemacher Helmut Dietl, war lange schwer krank und verstarb schließlich im März 2015. Die Autorin lebt mit ihrer Tochter in München.
Tamara Dietl
Die Kraft liegt in mir
Wie wir Krisensinnvoll nutzen können
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Copyright © 2015 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Umschlaggestaltung: semper smile München
Umschlagmotiv: © Dagmar Morath
ISBN 978-3-641-15284-0V002
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Für Serafina
Prolog
»Krise ist ein produktiver Zustand«, hat Max Frisch einmal gesagt, »man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.« Das ist natürlich angesichts der Corona-Krise wesentlich leichter gesagt, als getan. Und doch hat Max Frisch recht. Dieses Buch ist ein gutes Beispiel dafür. Ein Beispiel dafür, wie ich eine Krise durch das Schreiben in einen produktiven Zustand transformierte, ihr damit den Beigeschmack der Katastrophe nahm und kraftvoll aus ihr hervorging. Eine Krise, die zu den größten Krisen meines Lebens gehört. Innerhalb von einem Jahr habe ich meine Mutter und meinen Mann verloren. Beide starben an Krebs.
Als Anfang März 2020 die Corona-Pandemie in Europa ankam und unser Leben in einen Ausnahmezustand versetzte, starb mein Vater. Wieder eine Krise in meinem Leben – doch diesmal war sie anders. Meine persönliche Krise war eingebunden in die große gesellschaftliche Krise, die jeden betraf und mir die Möglichkeit des Abschiednehmens nahm: die bereits geplante Trauerfeier für meinen Vater musste aufgrund des »social distancing« kurzfristig abgesagt werden. Der Trost, den einem die Gemeinschaft der Trauernden spenden kann, blieb mir verwehrt. Darüber war ich im ersten Moment wütend, im zweiten noch trauriger als ich es sowieso schon war – und im dritten Moment wusste ich, dass ich einen Weg finden würde, damit umzugehen. Ich wusste es deshalb, weil ich inzwischen weiß, was eine Krise ist und die Erfahrung gemacht habe, wie man gestärkt aus ihr hervorgehen kann.
Damit wir Krisen meistern können, ist es wichtig zu verstehen, was eine Krise eigentlich ist. Denn sie ist weit mehr als ein unüberwindbar scheinendes Problem. Sie ist ein Ausnahmezustand, eine Unterbrechung der Kontinuität. Sie ist ein belastender, temporärer, in seinem Verlauf und seinen Folgen offener Veränderungsprozess. Jede Krise ist dadurch gekennzeichnet, dass die vertrauten Bewältigungsstrategien, die wir bisher für das Lösen von Problemen parat hatten und die uns immer weitergeholfen haben, jetzt nicht mehr zur Verfügung stehen. Jedem Menschen, jeder Gemeinschaft und jeder Gesellschaft ist es aber immer wieder möglich, neue Bewältigungsstrategien zu entwickeln und neue Ressourcen zu entdecken. Wege, die uns stark machen können.
Natürlich noch nicht in der ersten Phase einer Krise. Diese ist davon geprägt, dass wir unter Schock stehen und die Krise als solche erst einmal gar nicht wahrhaben wollen. Die Augen vor der Situation zu verschließen führt nur leider nirgendwo hin. Also gilt es, die Schockstarre zu überwinden und die Krise langsam anzunehmen, zu akzeptieren, dass sie da ist. Denn sie ist da – ob wir nun wollen oder nicht. In dem Moment, in dem wir sie in unser Leben integrieren, kann es dann sehr sinnvoll sein, das Beste aus ihr zu machen. Denn wir sind auf der Welt, um unserem Leben Sinn zu geben – auch in Krisenzeiten. Oder vielleicht gerade dann besonders intensiv.
Der Anspruch, dass das Leben uns etwas zu bieten hätte, der Anspruch, dass es einen Garantieschein auf ein sicheres, gesundes oder gar glückliches Leben gibt – dieser Anspruch ist in Wahrheit ganz schön verdreht. Die Perspektive ist nämlich genau andersherum. Die Unsicherheit ist der Normalfall. Und zwar immer. Nicht nur in der Krise. In Phasen aber, die über einen langen Zeitraum (relativ) stabil sind, bilden wir uns ein, wir seien sicher und unser schönes Leben würde immer so weitergehen. Doch das ist eine Illusion.
Viktor Frankl, nach dessen Sinn-Theorie ich eine Zusatzausbildung zum Krisencoach gemacht habe, hat dazu gesagt: »Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu ver-antworten hat.« Das zutiefst Befriedigende an dieser Form der Eigenverantwortung dem Leben gegenüber ist die Selbstbestimmtheit, die mit ihr einhergeht, und die gerade in Krisen elementar wichtig ist. Denn diese Selbstbestimmtheit macht uns frei. Auch den Begriff der Freiheit hat Frankl so definiert, dass er uns gerade in Krisen wirklich weiterhelfen kann: »Die Freiheit des Menschen ist selbstverständlich nicht eine Freiheit von Bedingungen«, sagt Frankl. »Sie ist überhaupt nicht eine Freiheit von etwas, sondern eine Freiheit zu etwas, nämlich die Freiheit zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen.«
In dieser »positiven Freiheit« zu etwas liegt der Schlüssel zum sinnvollen Umgang mit Krisen. Auch der jetzigen Corona-Krise. Wie wollen wir uns zu dieser Krise stellen? Wir als Individuen? Aber auch wir als Gemeinschaft? Es gibt drei Möglichkeiten, aus einer Krise hervorzugehen:
Erstens die Wiederherstellung des alten Gleichgewichts.
Zweitens eine negative Veränderung, die eine Fehlentwicklung zur Folge hat.
Und drittens eine positive Veränderung, die durch eine sinnvolle Weiterentwicklung gekennzeichnet ist.
In all meinen Krisen habe ich mich immer für diese dritte Möglichkeit entschieden: die Kraft in mir zu entdecken, die mir hilft, an der Krise zu wachsen. Welche Haltung es dafür braucht und welche emotionalen und mentalen Werkzeuge wir dafür trainieren müssen – davon handelt dieses Buch. Hier habe ich beschrieben, welche Mechanismen wir brauchen, um die Chance und den Sinn in der Krise zu entdecken. Denn nur so können wir sie in einen produktiven Zustand verwandeln und ihr damit den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.
Tamara Dietl
München im April 2020
Frühling im Februar
»Krise ist ein produktiver Zustand, man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.«
Max Frisch
Es war Frühling im Februar. Einer der sonnigsten Tage meines Lebens. Jedenfalls im Winter. Es war der Tag, an dem ich fünfzig wurde. Der Tag, der ein halbes Jahrhundert Leben markiert und auf den ich mich schon seit langem gefreut hatte. Seitdem ich denken kann, liebe ich Geburtstage, habe jeden einzelnen davon mit großer Vorfreude erwartet und mit noch größerer Freude gefeiert. Und so sollte natürlich gerade dieser Fünfzigste ein ganz besonderes, ein großes, ja rauschendes Fest werden. Eine großartige Party, mit vielen, vielen Gästen, die von überallher kämen, mich reich beschenkten und mit mir bis in die frühen Morgenstunden feierten. So jedenfalls hatte ich es mir vorgestellt. Doch es kam anders, ganz anders.
An dem Tag, als ich fünfzig wurde, lag eine unendlich schwere Zeit hinter mir, vielleicht sogar die schwerste Zeit meines Lebens. Zumindest meines bisherigen Lebens. Wobei ich das so eigentlich nicht wirklich sagen kann, denn woran sollte ich es messen? An dem, was mir zugestoßen war – ganz objektiv? Oder an meinem Erleben und Empfinden für das, was mir zugestoßen war – sehr subjektiv?
Die »objektiven« Fakten kann ich in ein paar erschreckend nüchternen Sätzen zusammenfassen: Fünf Monate vor meinem fünfzigsten Geburtstag wurde bei meinem Mann Lungenkrebs entdeckt. Eigentlich unheilbar und wenn dann nur mit einer zehnprozentigen Überlebenschance.
Acht Wochen nach der Diagnose meines Mannes fanden Ärzte bei meiner Mutter ebenfalls einen bösartigen Krebs-Tumor. Ihre Überlebenschancen sahen anfänglich besser aus als die meines Mannes. Aber das sollte sich als tragischer Irrtum erweisen. Auf den Tag genau zwei Monate nach meinem fünfzigsten Geburtstag starb meine Mutter.
Vergiss deinen fünfzigsten Geburtstag, sagte ich mir immer wieder. In deiner Situation kannst du nicht feiern. Jetzt gibt es wahrlich Wichtigeres zu tun. Kümmere dich um deinen Mann und um deine Mutter. Und vor allem, kümmere dich um deine Tochter! Sie braucht dich jetzt dringender als je zuvor.
Und natürlich tat ich das. Kümmerte mich mit all meiner Kraft um unser elfjähriges Kind und um meinen Mann. Um meine Mutter konnte ich mich nicht so kümmern, wie ich es gerne wollte. Wir lebten nicht in derselben Stadt. Sie lebte an der Nordsee. Ich mit meiner Familie in München.
In all diesen Monaten des intensiven Kümmerns, in all dieser Zeit, die einer Achterbahn glich, einer Achterbahn des Hoffens und Bangens und von der später noch ausführlich die Rede sein wird, in all dieser Zeit also, dachte ich immer wieder an meinen bevorstehenden Geburtstag. Ich konnte ihn nicht vergessen und, so gestand ich mir irgendwann endlich auch ein, ich wollte ihn gar nicht vergessen. Im Gegenteil. Je näher er rückte, desto stärker wurde mein Wunsch, ihn zu feiern.
Die Freiheit des Menschen, kam es mir in den Sinn, ist selbstverständlich nicht eine Freiheit von Bedingungen … sie ist überhaupt nicht eine Freiheit von etwas, sondern eine Freiheit zu etwas, nämlich die Freiheit zu einer Stellungnahme gegenüber all den Bedingungen. Und so wird sich denn auch ein Mensch erst dann als ein wirklicher Mensch erweisen, wenn er sich in die Dimension dieser Freiheit aufschwingt.
Wie oft hatte ich diese Sätze von Viktor Frankl, diesem großartigen Psychiater, in den vergangenen Jahren zitiert? Für mich selbst, für meine Klienten, in meinen Vorträgen und den vielen Seminaren, die ich gab. Wie oft hatte ich andere dazu ermuntert, sich in diese Dimension der Freiheit des Menschen aufzuschwingen? Und wie oft hatte ich es selbst getan?
Die Dimension dieser Freiheit war mir vertraut. Seit Jahren arbeitete ich als sogenannter »Sinn- und Wertecoach«, hatte eine Ausbildung nach der Lehre von Viktor Frankl absolviert und mich auf intensivste Weise mit seiner Theorie vom »Lebens-Sinn« auseinandergesetzt.
Und so war diese »Freiheit zu etwas« im Laufe der Zeit immer mehr zum Leitmotiv meines Lebens geworden. Sowohl im Denken als auch im Handeln.
Und als ich nun zu Beginn des Jahres 2014 immer wieder darüber nachdachte, wie ich sinnvollerweise mit meinem bevorstehenden fünfzigsten Geburtstag umgehen sollte, wurde mir wieder einmal sehr deutlich, was diese »Freiheit zu etwas« überhaupt bedeutete.
Denn diese Freiheit des »zu etwas« ist – genau wie jede andere Freiheit auch – eine Freiheit, die man sich immer wieder neu erobern muss. Und manchmal muss man buchstäblich um sie ringen, für sie kämpfen. Diese Freiheit wird einem nicht einmal – und damit für alle Ewigkeit – geschenkt. Sich diese Freiheit zu bewahren, bedeutet, sie Tag um Tag immer wieder neu im praktischen Handeln zu leben.
Und was bedeutete diese Erkenntnis nun für mich und meinen fünfzigsten Geburtstag? Natürlich war ich nicht frei von den schwierigen und traurigen Bedingungen, die mein Leben gerade so sehr bestimmten. Natürlich war ich nicht frei von der Tatsache, dass sowohl mein Mann als auch meine Mutter an einer lebensbedrohlichen Krankheit litten. Aber ich war frei, darüber zu entscheiden, wie ich mich zu diesen Bedingungen stellen wollte. Und so machte ich mich auf, meine Haltung gegenüber diesen Bedingungen zu finden.
Ich begann meine Suche nach der richtigen Haltung mit einem intensiven Reflektieren über meine eigenen Gedanken: »In deiner Situation kannst du nicht feiern!«. Warum eigentlich nicht?, fragte ich mich. Wieso kannst du nicht feiern? Oder willst du nicht feiern? Oder … darfst du nicht feiern? Je länger ich darüber nachdachte, umso klarer wurde mir, dass ich mich nicht in einer Dimension der Freiheit bewegte, wenn ich so dachte, sondern in einer Dimension der Moral. Nach dem Motto: Wenn andere leiden, darfst du nicht feiern. Mit dieser Moral kam ich auf meiner Suche nach der richtigen Haltung nicht weiter. Denn diese Moral machte mich unfrei. Unfrei deshalb, weil ich den Umständen eine zu große Macht über mich einräumen würde. Weil ich damit den Umständen die Entscheidung über mein Handeln überlassen würde. Oder anders ausgedrückt: Diese moralische Dimension würde mich zum Opfer der Umstände machen. Und das wollte ich auf keinen Fall sein – ein Opfer. Mit dieser Opferrolle war niemandem geholfen. Den Leidenden nicht und auch nicht mir selbst. Und die Wahrheit war: Ich wollte ja feiern.
Wenn ich also feiern wollte, war der nächste, folgerichtige Schritt die Suche nach einer Antwort auf die Frage: »Wie will ich meinen fünfzigsten Geburtstag feiern?« Ich überlegte hin und her, und je länger ich über die Frage grübelte, desto ratloser wurde ich. Ich wusste es nicht. Immer und immer wieder horchte ich in mich hinein, und schien mich damit von einer Antwort nur umso weiter zu entfernen. Das war erstaunlich. Denn ich hatte doch so oft meinen Geburtstag gefeiert und immer gewusst wie. Hatte immer eine geradezu intuitive Vorstellung davon gehabt, wie dieser besondere Tag, an dem ich, wie man so schön sagt, das Licht der Welt erblickt hatte, aussehen sollte. Und nun plötzlich verließ mich meine Intuition. Ich wollte feiern, aber ich wusste nicht wie. Das irritierte mich zutiefst. Wieso konnte ich mich in dieser Situation auf meine Intuition plötzlich nicht mehr verlassen? Darüber dachte ich lange nach und begriff schließlich, dass Intuition eben nicht aus heiterem Himmel einfach so über einen kommt. Und schon gar aus dem sogenannten »Bauchgefühl« heraus, wie gerne behauptet wird. Wobei ich mich immer frage, was das eigentlich sein soll, dieses »Bauchgefühl«? Und wenn es ein »Bauchgefühl« gibt, müsste es doch auch ein »Kopfgefühl« geben, oder? Und was sollte das dann sein? »Bauchgefühl« jedenfalls ist etwas sehr Schwammiges, Unklares.
Und weil ich Klarheit so liebe, liebe ich das Denken so sehr, und deshalb brauche ich den präzisen Umgang mit der Sprache. Denn Sprache formt unser Denken – und umgekehrt. Je präziser ich in der Sprache bin, desto klarer wird mein Denken – und umgekehrt.
Mit dem »Bauchgefühl« kam ich hier also nicht weiter. Und was war mit meiner Intuition, die mich im Stich ließ? Intuition, das wurde mir in dieser Situation klar, speist sich aus Erfahrungen. Sie meldet sich umso eindeutiger, je mehr Erfahrungen ich mache. Und genau das hatte ich in diesem Fall nicht: Erfahrungen. Ich hatte das einfach noch nicht erlebt – meinen fünfzigsten Geburtstag in so einer komplizierten Situation.
Wenn du auf die Frage »Wie willst du deinen fünfzigsten Geburtstag feiern?« keine Antwort findest, sagte ich mir, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder es gibt keine Antwort, oder aber die Frage ist falsch gestellt.
Dass es eine Antwort auf die Frage gab, dessen war ich mir sicher – ich kannte sie nur noch nicht. Aber dafür kannte ich etwas anderes – und zwar das Phänomen der »falschen Frage«. Denn um richtige Antworten zu bekommen, muss man auch die richtigen Fragen stellen.
Die richtigen Fragen stellen – das ist für mich seit jeher eine der größten Herausforderungen des Lebens. Es ist eine noch viel höhere Kunst, als richtige Antworten zu geben. Nicht zuletzt deshalb bin ich Journalistin geworden. Und später Coach. Denn bei genauer Betrachtung sind die Kernkompetenzen des Journalisten und die des Coaches ein und dieselben: präzise beobachten und die richtigen Fragen stellen. Besonders hilfreich in dieser Hinsicht waren meine frühen Jahre als Gerichtsreporterin bei einer Tageszeitung.
Dort konnte ich Menschen dabei beobachten, wie sie im Ringen um die Wahrheit Fragen stellen. Und wie oft konnte ich erleben, dass man auf falsche Fragen durchaus richtige Antworten bekommt, die aber dennoch falsch sind, weil schon die Frage falsch war …
Doch zurück in den Januar 2014, zurück zu meinem nahenden fünfzigsten Geburtstag und meiner Suche nach der richtigen Haltung. Wenn ich also auf die Frage »Wie will ich meinen fünfzigsten Geburtstag feiern?« keine Antwort gefunden hatte, musste die Frage falsch gewesen sein. Was aber war die richtige Frage?
Ich versuchte es über einen anderen Weg. Einen, der mich in meiner Coaching-Praxis oft weitergebracht hatte. Ich stellte mir die gegenteilige Frage: »Wie willst du deinen Geburtstag auf gar keinen Fall feiern?« Die Antwort kam verblüffenderweise sofort: »Mit einer großen Party! Die kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen!« Das war interessant – denn ursprünglich war ja genau das mein großer Wunsch gewesen. Von dem rauschenden Fest hatte ich ja so lange geträumt. Ich registrierte meine Antwort, ohne sie besonders zu bewerten, und setzte den inneren Dialog mit mir selbst fort: »Was kannst du denn im Moment gebrauchen?«, fragte ich mich.
Auch die Antwort auf diese Frage kam prompt, ohne lange Überlegungen: »Was ich jetzt in meiner Situation am dringendsten brauche, ist doch klar: ich brauche Kraft, sehr viel Kraft.« Und in dem Moment, als ich mir diese Antwort gab, wurde mir klar, dass ich auf meiner Suche nach der richtigen Haltung kurz vor dem Ziel stand. Ich hatte einen wesentlichen, ja existentiellen Unterschied ignoriert. Die Frage lautete nicht: »Was will ich?«, sondern: »Was brauche ich?«
Oder präzise formuliert: »Wie kann ich meinen Geburtstag so feiern, dass ich kraftvoll aus ihm hervorgehen werde?« Endlich hatte ich sie gefunden, die richtige Frage für diese Situation. Und die Antwort kannte ich auch. Denn was mir Kraft gab, das wusste ich. Damit hatte ich Erfahrung.
Seit ich denken kann, habe ich immer nach meinen Kraftquellen gesucht. Und sie im Laufe der Jahre auch immer öfter und leichter gefunden. Vor allem in Krisenzeiten. Denn diese Krise war ja nicht die erste in meinem Leben, und sie wird auch nicht die letzte sein. Aber vermutlich die, die mich am meisten herausforderte und die ich am wenigsten gebraucht hätte. Weiß Gott, diese Krise hatte ich nicht gebraucht. Und mein Mann und meine Mutter brauchten sie noch viel weniger. Von unserer Tochter ganz zu schweigen. Was hätte ich darum gegeben, ihr dieses Schicksal ersparen zu können.
Diese Krise war unendlich anstrengend, diese Krankheit so grausam und voller Leid. Nur zu gerne hätten wir alle darauf verzichtet. Aber die Krankheit war nun einmal da und mit ihr die Krise.
Es soll ja Menschen geben, die sich regelrecht auf ihre Krisen freuen. Und in letzter Zeit scheint es mir, als sei es geradezu in Mode gekommen, Krisen sogar als »Geschenk« willkommen zu heißen. Diese Haltung ist mir ein Rätsel. Ich empfinde sie als eine kitschig-esoterische Verklärung der Realität. Das Gefühl der Freude verbinde ich mit ganz anderen Zuständen als mit denen einer Krise. Und auch Geschenke sehen für mich vollkommen anders aus. Allerdings war ich schon immer der Meinung, dass Krisen zum Leben gehören. So wie die Sonne morgens aufgeht und abends wieder unter. So wie geboren wird und auch gestorben. Genauso sind Krisen ein Bestandteil des Lebens. Punkt.
Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, dass ein gelingendes Leben nur dann möglich ist, wenn ich das Leben in seiner ganzen Bandbreite annehme. Mit all seinen Höhen und Tiefen. Mit seinen Licht- und seinen Schattenseiten. Und deshalb macht es für mich auch keinen Sinn, sich eine Krise schönzureden oder noch schlimmer – über sie zu klagen. Ich bin ja nicht auf die Welt gekommen, um zu jammern. Und schon gleich gar nicht, wenn ich das schicksalhafte Glück gehabt habe, in diesem privilegierten Teil der Welt geboren worden zu sein.
Ich bin auf die Welt gekommen, um etwas Sinnvolles aus meinem Leben zu machen. Meinem Leben Sinn zu geben. Im Denken und vor allem auch im Handeln. Und so kann es durchaus Sinn machen, das Beste aus einer Krise zu machen, wenn man sie schon hat.
Für mich stellt sich aus diesem Grunde auch nicht die allgemeine, so unendlich abstrakte Frage nach dem Sinn des Lebens. Sondern sehr konkret nach dem Sinn meines Lebens. Und zwar immer wieder neu – in jeder konkreten Situation. Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gibt es für mich eine klare Antwort: Der Sinn des Lebens ist das Leben. Oder anders ausgedrückt: Ich lebe, weil ich geboren bin.
Als ich jünger war, gab es Zeiten, in denen ich jene beneidete, die einen weniger nüchternen Blick auf das Leben hatten. Diejenigen, die religiös waren und in ihrem Glauben all jene Antworten fanden, die ich mir sehr mühsam im Laufe meines Lebens selbst gegeben hatte. Mit dem Glauben an Gott ist das bei mir so eine Sache. Seit jeher habe ich mich schwer damit getan. Und es will mir bis heute einfach nicht gelingen.
Möglicherweise liegt das an meiner tiefen Abneigung gegen die Institution Kirche und gegen das, was in ihrem Namen an Unheil angerichtet worden ist. Auch der Fanatismus, der aus dem Glauben entspringen kann, stößt mich ab. Was vermutlich aber noch viel schwerer wiegt in Bezug auf meine ablehnende Haltung dem religiösen Glauben gegenüber, ist etwas anderes. Ich bin nicht zum Glauben erzogen worden. Religion und Glaube haben in meiner Familie eine komplizierte Tradition.
Da sind zum einen die historische Zeit und die soziale Schicht, in der ich aufgewachsen bin. Geboren Mitte der 1960er-Jahre, Tochter aus einem intellektuellen Mittelschicht-Milieu, das stark geprägt war von den sogenannten »68er«-Linken. Der Satz von Karl Marx Religion ist Opium für das Volk hing lange bei uns in der Küche. Das war zu der Zeit, als unsere Wohnung Anfang der 1970er-Jahre eine Wohngemeinschaft beherbergte. Die Lehrer an meiner Schule gingen sonntags nicht in die Kirche, sondern zu ihren Gewerkschaftssitzungen und mindestens einmal im Jahr zur Erste-Mai-Demonstration auf die Straße. Sogar unsere Religionslehrerin, eine überzeugte Christin, erzählte lieber von ihrem Engagement in der Solidaritätshilfe für Nicaragua, anstatt Bibelkunde mit uns zu betreiben.
Zum anderen war es aber auch schlicht die Tatsache, dass es für meine Eltern nicht leicht gewesen wäre, sich für eine Religion zu entscheiden. Mein Großvater väterlicherseits war kroatischer Jude und ein Großneffe von Theodor Herzl, dem Begründer des modernen Zionismus. Mein Großvater mütterlicherseits kam aus Ägypten und war Moslem.
Die Mutter meines Vaters hatte sich als junge Frau den Anthroposophen angeschlossen und war zeit ihres Lebens eine glühende Verehrerin Rudolf Steiners geblieben. Die Mutter meiner Mutter entstammte einer sozialistischen Arbeiterfamilie, die an den Sieg der Sozialdemokratie glaubte, aber nicht an den lieben Gott.
Es war also diese ungewöhnlich bunte Mischung aus verschiedenen Religionen in meiner Familie, die auf eine Sozialisation traf, in der man über den Glauben an Gott eher die Nase rümpfte, als aus ihm Kraft zu schöpfen. Der Glaube an Gott, so hatte mich meine Erziehung gelehrt, war in Wahrheit ein Ausdruck von Schwäche – nicht von Stärke. Wenn es einem nicht gelingt, Kraft aus sich selbst heraus zu schöpfen, sondern wenn man die Quelle der Kraft an eine übergeordnete Instanz abgeben muss, dann ist das ein Armutszeugnis und kein Zeichen von innerem Reichtum. Ob diese Haltung nun stimmt oder nicht – darüber kann ich nicht urteilen. Und das will ich auch gar nicht. Denn eigentlich stimmt ja beides. Man kann aus dem Glauben viel Kraft schöpfen, oder eben auch nicht.
Mir selbst ist das mit dem lieben Gott, wie bereits erwähnt, bis heute nicht gelungen. Aber das mit der Kraft – das ist mir im Laufe meines Lebens immer besser geglückt. Heute habe ich ein hohes Bewusstsein für das, was mich stark macht. Ich kenne die Quellen meiner Kraft. Meine größte Kraftquelle ist der Sinn, den ich meinem Leben gebe. Aber was das in letzter, ganz wunderbarer Konsequenz wirklich bedeutet, das habe ich erst sehr spät verstanden. Erst als ich schon lange erwachsen war und auf Viktor Frankl stieß. Von ihm werde ich später noch ausführlicher erzählen, weil er aus seinem Schicksal heraus, das ihn vier Konzentrationslager überleben ließ, auf faszinierend authentische Weise seine Sinntheorie entwickelt hat …
Was ich in Bezug auf meine Kraftquellen hingegen schon sehr früh spüren konnte, war etwas viel Konkreteres als die Frage nach dem Lebenssinn. Es waren die liebevollen Beziehungen zu anderen Menschen. Diese Beziehungen übten eine erstaunlich stabilisierende Wirkung auf mich aus. Ob ich mir der Bedeutung dieser Bindungen schon als Kind wirklich bewusst war, vermag ich nicht zu sagen. Und das spielt auch keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass ich ihre kraftspendende Wirkung schon damals empfinden konnte. Und an diese Empfindung kann ich mich sehr deutlich erinnern. Bis heute. Denn ich fühle ihre Stärke noch immer. Oder besser gesagt: meine gelungenen Beziehungen zu anderen Menschen sind eine unerschöpfliche Quelle meiner Kraft.
Vom Gestalten gelungener Beziehungen zu anderen Menschen soll es in diesem Buch ebenfalls gehen. Davon, wie man darin Sinn finden kann. Und wie daraus Glück entsteht. Davon, dass Glück immer nur die Folge vom Gestalten gelingenden Lebens ist. Das bloße Streben nach Glück um seiner selbst willen ist sinnlos. Es geht mir um die Verantwortung, die man selber für dieses Gelingen übernehmen muss und die man nicht abgeben kann an eine höhere oder auch an eine niedere Macht. Es geht darum, dass man etwas dafür tun muss. Dass man bereit sein muss, es zu lernen. Denn die Fähigkeit, kraftspendende und erfüllende Beziehungen zu anderen Menschen zu gestalten, ist uns nicht automatisch in die Wiege gelegt.
Angeboren ist uns hingegen aber die Fähigkeit, diese Beziehungsfähigkeit zu erlernen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man das auch will. Und wenn man es will, dann muss man sehr intensiv dafür trainieren. Dann heißt es üben, üben und immer wieder üben. Das hat etwas mit harter Arbeit zu tun und zuweilen mit noch härterer Disziplin.
Es ist ein Lernprozess, der einem viel abverlangt, der das ganze Leben lang anhält und der nie endet. Ein Lernprozess, der einem immer wieder neu die Freiheit der Selbstbestimmung schenkt, und die innere Kraft, das Leben voll auszuschöpfen und es sinnvoll zu leben.
Ich kann mich noch sehr gut an jene schlaflose und für die Jahreszeit ungewöhnlich laue Nacht erinnern, als mir genau diese Gedanken durch den Kopf gingen. Gedanken an den nicht enden wollenden und oft so unendlich anstrengenden Lernprozess, den man Leben nennt. Es war eine Nacht Anfang Februar des Jahres 2014. Mein Mann lag neben mir und schlief fest. Seit seiner Krebsdiagnose nahm er regelmäßig Schlaftabletten, damit er wenigstens nachts zur Ruhe kam. Ich hingegen konnte in dieser Nacht kein Auge zutun. Und zwar buchstäblich. Unermüdlich kreisten meine Gedanken um die Wochen, die uns bevorstanden. Die vor allem ihm bevorstanden. Ich dachte an die Therapie, die er in wenigen Tagen beginnen würde. An diese harte Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie. Und ich dachte an meine krebskranke Mutter, die sich nun bald einer Operation unterziehen musste, so wie es ihr die Ärzte mehr als dringend geraten hatten.
Sowohl die Therapie bei meinem Mann als auch die OP meiner Mutter würden einerseits die Überlebenschancen für beide erhöhen, andererseits stand uns allen damit eine extrem harte Zeit bevor.
Und je länger ich mir vorzustellen versuchte, was da alles auf uns zukommen könnte, desto klarer wurde mir – wieder einmal –, dass ich mit dem Grübeln über eine ungewisse Zukunft nicht weiterkam. Ich befand mich in einer Situation, von der niemand sagen konnte, wie sie tatsächlich ausgehen würde. Und zwar ganz konkret. Ich konnte mir zwar all die unendlich vielen und möglichen Horror-Szenarien vorstellen, die mir meine Phantasie erlaubte. Aber wirklich wissen konnte ich es natürlich nicht. Ich bewegte mich mit meinen Gedanken also nur im Konjunktiv. Nach dem Motto: es könnte dieses oder jenes passieren … möglicherweise wird es so oder so verlaufen … möglicherweise aber auch ganz anders … Und wenn es nun so oder ganz anders verlaufen wird, was sollte ich dann tun? …
Mein Grübeln in dieser Nacht wurde immer uferloser. So wie konzentrische Kreise, die entstehen, wenn man einen Stein in einen ruhigen See wirft, dehnten sie sich mit aller Macht und immer zwangsläufiger aus, und begannen mir Angst zu machen. Wenn ich so weitermache, wird diese Angst unerträglich, sagte ich mir. Was aber noch viel unerträglicher wird, ist die Tatsache, dass mein Grübeln noch nicht einmal zu einem Ergebnis führt.
In Wahrheit war nämlich das genaue Gegenteil der Fall. Ich war ungeheuer angestrengt und obendrein auch noch enorm frustriert. Dieses end- und ergebnislose Grübeln, so wurde mir immer klarer, war bei genauer Betrachtung am Ende nichts anderes als pure Energieverschwendung. Denn je länger ich im Konjunktiv grübelte, desto mehr zerrte das an meinen Nerven und raubte mir immer gründlicher den Schlaf. Da lag ich nun mit offenen Augen und dieser wichtigen Erkenntnis mitten in der Nacht im Bett – und konnte immer noch nicht schlafen.
Ich muss mir von mir selbst nicht alles gefallen lassen … Wieder so ein Satz von Viktor Frankl. Einer meiner Lieblingssätze von ihm. Seit Jahren summt er wie das hartnäckig wiederkehrende Leitmotiv einer beglückenden Lieblingsmelodie durch mein Leben … Ich muss mir von mir selbst nicht alles gefallen lassen … Genau. Denn, und das hatte Frankl wunderbar erkannt: Zur Fähigkeit des Menschen, über den Dingen zu stehen, gehört nun auch die Fähigkeit, über sich selbst zu stehen.
Und das konnte ich natürlich auch jetzt, in dieser zergrübelten Nacht, die sich nun schon langsam dem Ende zuneigte. Und nach langem innerem Ringen mit mir selbst, gelang es mir schließlich, mich über mich selbst zu stellen – mir von mir selbst nicht alles gefallen zulassen. Ich entschied mich bewusst dazu, die angsteinflößenden und kraftraubenden Gedanken loszulassen.
Dafür bediente ich mich einer Technik, die ich seit langem immer wieder trainiert hatte: Ich lenkte meine Gedanken auf das, was sinnvoll war und vor allem planbar. Konzentrierte mich auf das Machbare. Nicht auf das Ungewisse. Gab das Grübeln im Konjunktiv auf und dachte an meinen bevorstehenden fünfzigsten Geburtstag. »Wie kann ich meinen Geburtstag so feiern, dass ich kraftvoll aus ihm hervorgehen werde?«, erinnerte ich mich selbst wieder an meine Frage, nach der ich in den letzten Wochen so intensiv gesucht hatte. Eine Frage, deren Antwort nun, angesichts der sich zuspitzenden Situation, noch wichtiger wurde. Denn je schwerer die Zeiten würden, desto mehr Kraft brauchte ich. Denn eines war ja sicher: leichter würde es erst mal nicht werden …
Wenn es stimmte, dass ich mein Leben lang meine Kraft aus den gelungenen und liebevollen Beziehungen zu anderen Menschen gezogen hatte – war es dann nicht naheliegend, mich an meinem Geburtstag mit eben jenen Menschen zu umgeben? Irgendwann in den frühen Morgenstunden nach meinem erfolgreich absolvierten mentalen Ablenkungsmanöver kamen mir diese fast schon banal anmutenden Gedanken in den Sinn.
Das war es, schlicht und einfach. Ich musste mich mit all jenen Menschen umgeben, zu denen mir liebevolle Beziehungen gelungen waren. Je länger ich allerdings darüber nachdachte, wie ich diesen Gedanken nun konkret in die Tat umsetzen sollte, desto weniger banal erschien er mir, und desto mehr Fragezeichen gesellten sich zu ihm.
Wer genau waren denn eigentlich die Menschen, mit denen mir liebevolle Beziehungen gelungen waren, und aus denen ich – und das war ja für diese Situation das Entscheidende – wirklich Kraft schöpfen konnte? Was machte diese Beziehungen aus? Und gab es nicht auch viele Beziehungen, die zwar durchaus liebevoll, zugleich aber nicht so wichtig für mich waren? Und was war mit all jenen, ebenfalls liebevollen Beziehungen, die mir im Laufe der Zeit in Wahrheit immer mehr Kraft geraubt hatten und von denen ich selbst nicht mehr wirklich etwas Erfüllendes zurückbekam?
Nach reiflicher Überlegung schienen sich all diese Fragen auf eine zentrale Frage zuzuspitzen, deren Beantwortung das Gegenteil von jener Banalität hatte, mit der ich meine Geburtstags-Überlegungen in jener denkwürdigen Nacht begonnen hatte.
Die Schlüsselfrage lautete: Wen wollte ich an diesem fünfzigsten Geburtstag eigentlich wirklich um mich haben? Und – wen davon konnte ich in dieser schwierigen Situation meinem Mann zumuten? Konnte ich ihm überhaupt jemanden zumuten? Wenn ich meinen Geburtstag feiern würde, lagen bereits zwei Wochen einer enorm anstrengenden Chemo- und Strahlentherapie hinter ihm und noch fünf weitere vor ihm. In welchem Zustand er an meinem Geburtstag sein würde, sowohl körperlich als auch seelisch, das wussten wir nicht. Ebenso wenig wussten wir, wie es meiner Mutter gehen würde, wo zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal klar war, wann sie operiert werden und wie die Operation ausgehen würde.
Wen also wollte ich um mich haben? Und wen davon konnte ich meinem Mann zumuten? Zwei Fragen, deren Antworten sich irgendwann in die Quere kommen würden, würde ich sie in dieser Kombination belassen. Denn es ging hier um zwei verschiedene Perspektiven. Und damit auch um zwei unterschiedliche Interessen. Die erste Frage bezog sich auf mich, die zweite auf meinen Mann. Würde ich sie miteinander verknüpfen, würde ich bei der Suche nach einer Antwort auf Frage Nummer eins mit großer Wahrscheinlichkeit Frage Nummer zwei bereits schon mitdenken und somit auch mitberücksichtigen. Das wiederum würde bedeuten, dass mich die Verknüpfung dieser beiden Fragen unfrei machte.
Ich würde mich einschränken müssen, wenn ich beide Fragen im Zusammenhang lassen und auch so beantworten würde. Aber ich wollte frei sein in der Antwort auf die Frage, wen ich um mich haben wollte – unabhängig davon, ob das mit meinem Mann in seiner Situation ging oder nicht. Auf der anderen Seite wollte ich aber auch gleichzeitig alle nur denkbare Rücksicht auf ihn nehmen. Denn ihm stand eine so harte Zeit bevor, und er war in der weitaus schwächeren Position als ich.
So begann ich, die beiden Fragen erst einmal – und somit rein theoretisch – voneinander zu trennen. Wobei mir die Antwort auf die Frage, wen ich meinem Mann zumuten konnte, sehr viel leichter fiel als die darauf, wen ich gerne um mich haben würde. Unabhängig davon, ob es mir nun passte oder nicht – die Wahrheit war: Ich konnte ihm eigentlich niemanden zumuten. Diese Tatsache hatte ihre Ursache allerdings nicht primär in seiner Krankheit und der Therapie, sondern auch in meinem Mann selbst.
Mein Mann hielt sein Leben lang nicht viel von dem sogenannten »geselligen Beisammensein« – weder im Allgemeinen und noch viel weniger im Besonderen. Gäste zu haben, lag ihm einfach nicht. Geschweige denn Gäste, mit denen man auch noch den eigenen Geburtstag feiern sollte. Während unserer gemeinsamen fünfzehn Jahre haben wir seinen Geburtstag so gut wie nie gefeiert, und meine Feiern hat er mehr oder weniger in disziplinierter, aber deutlich zum Ausdruck gebrachter, höchst angestrengter Duldsamkeit über sich ergehen lassen. Bei der Vorstellung, wie sich seine grundsätzliche Abneigung gegen das Feiern von Geburtstagen nun auch noch unter diesen enorm erschwerten Bedingungen verschärfen würde – bei dieser Vorstellung wurde mir nicht nur schlagartig übel, sondern auch überdeutlich klar, dass ich meinen fünfzigsten Geburtstag eigentlich gar nicht feiern konnte. Jedenfalls nicht sofern ich ihn dabeihaben wollte. Und das wollte ich auf jeden Fall. Dieses Mal noch mehr als je zuvor. Denn erstens war es ja dieser besondere Geburtstag, und zweitens konnte ich nicht wissen, ob es möglicherweise mein letzter sein würde, an dem er teilnehmen konnte.
»Weil du todkrank bist und obendrein auch noch Geburtstage hasst, kann ich nicht so feiern, wie ich gerne möchte!«, schoss es mir durch den Kopf. Ich fühlte Wut in mir aufsteigen. Wut darüber, ungerecht behandelt zu werden. Von meinem Mann und auch vom Schicksal. Wenn du nicht etwas dagegen tust, wird das Gefühl stärker, sagte ich mir, und mit ziemlicher Sicherheit werden noch andere Gefühle dazukommen, wie zum Beispiel Enttäuschung.
Impulskontrolle heißt das in der Fachsprache. Oder neuerdings auch Achtsamkeit. Ein Begriff, der in letzter Zeit überstrapaziert und damit ausgeleiert worden ist – so sehr ist er in Mode gekommen. Die Technik, die sich dahinter verbirgt, ist in Wahrheit alles andere als modern. Sie ist über Tausende von Jahren alt und wird in anderen Kulturen, wie zum Beispiel dem Buddhismus, höchst erfolgreich praktiziert. Und da es sich um eine Technik handelt, kann man sie auch praktizieren, ohne sich einer Religion oder philosophischen Richtung verschreiben zu müssen. Das macht sie mir besonders sympathisch, weil ich mit Religion ja aus bereits genannten Gründen nicht viel am Hut habe.
Und mit Philosophie eigentlich auch nicht so viel. Jedenfalls nicht, solange sie in den Elfenbeintürmen einiger weniger Besserwisser zelebriert wird. Wenn sie wie so oft als unverständlich verschlüsseltes Herrschaftswissen sehr abgehoben daherkommt, bringt sie mir im praktischen Leben nämlich rein gar nichts.
Und da es das konkrete Leben ist, das mich so herausfordert, und nicht das theoretische, muss ich es im Handeln bewältigen, im Tun, und nicht im »Darüber philosophieren«. Es sei denn, das praktische Leben lässt mir bei all dem, was ich tagtäglich zu bewältigen habe, doch noch ein wenig Zeit übrig. Dann kann philosophisches Fachsimpeln sicher sehr vergnüglich sein. Leider hatte ich in meinem Leben nur sehr selten wirklich Zeit für die reine Theorie. Dafür naturgemäß umso mehr für die gelebte Praxis. Und genau darin befand ich mich ja eigentlich immer: im täglichen Leben mit meinen Gefühlen.
So wie eben auch Anfang Februar 2014, als ich dasaß mit meiner sehr konkreten Wut auf meinen Mann und unser Schicksal und der offenen Frage zu meinem fünfzigsten Geburtstag.
Aber ich wusste ja: Der erste Schritt im selbstbestimmten Umgang mit Gefühlen heißt: innehalten. So wie bei einem Muskel, der automatisch wächst, wenn er regelmäßig trainiert wird, war auch meine Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen, systematisch gewachsen. Was bedeutet, sich dem Affekt, der von dem Gefühl ausgelöst wird, nicht automatisch zu unterwerfen. Mit meiner Wut tat ich also nun genau das: Ich hielt inne, gab der Wut nicht nach, sondern nahm sie einfach nur wahr. Wahrnehmen in diesem Sinne bedeutet so viel wie: »Ich merke, dass ich wütend bin.« Punkt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Es bedeutet, das Gefühl weder zu verstärken noch zu unterdrücken. So wie man ein Feuer auch sich selbst überlassen kann. Und zwar ohne es durch das Hinzugießen von Öl zu einer Stichflamme werden zu lassen oder aber es unter einer Decke zu ersticken. Das ist deshalb so wichtig, weil so das Feuer irgendwann von alleine ausgeht. Vielleicht hinkt der Vergleich mit dem Feuer am Ende ein bisschen – aber er ist dennoch sehr hilfreich, um dem Umgang mit den eigenen Gefühlen ein Stück weit näherzukommen. Denn lernen tun wir meist etwas anderes. Zum Beispiel, dass man seine Gefühle nur kontrollieren kann, indem man sie gar nicht erst zulässt. Sie also unterdrückt. Was der erstickenden Wirkung der Decke gleichkommt. Im Unterschied zu dem Feuer, das unter der Decke ausgeht, sind die Gefühle aber nicht zwangsläufig verschwunden, wenn ich sie unterdrücke. Auf meine Wut bezogen würde das bedeuten, dass ich mir selber vormache, gar nicht wütend zu sein, obwohl ich es eigentlich bin.
Oder wir lernen das Gegenteil. Dass der richtige Umgang mit Gefühlen darin besteht, sie eben auf gar keinen Fall kontrollieren zu wollen. Sie im Gegenteil richtig »rauszulassen«. Das käme der verstärkenden Wirkung des Öls gleich, das man auf das Feuer gießt, um es erst so richtig schön zu entfachen. Mit ungefähr dieser Überzeugung bin ich beispielweise groß geworden. Sie war eine der zentralen Leitlinien der antiautoritären Erziehung der 68er-Jahre, und sie wirkt bis heute fort. Wenn auch auf andere, dafür umso subtilere und intensivere Weise. Denn die Kinder von damals sind die Eltern von heute. Und mir scheint, dass sie nicht selten sehr unreflektiert das an ihren eigenen Nachwuchs weitergegeben haben, was sie einst selbst mit der Muttermilch aufsogen.
Es spiegelt sich heute in einer narzisstisch gefärbten und medial verstärkten Spaßkultur wider, in der das zählt, wozu man Lust hat – und weniger das, was wirklich Sinn macht. Zwei Bestseller aus dem Jahr 1985 sind mir in diesem Zusammenhang besonders im Gedächtnis geblieben. Allein ihre beiden Titel sprechen Bände: »Wir amüsieren uns zu Tode« von Neil Postman und »Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden« von Georg Heinzen und Uwe Koch.
Im Gegensatz zu den hedonistischen 1980er-Jahren war die 68er-Bewegung mit ihrer bewusst zur Schau gestellten, übersteigerten Spontanität und maßlosen Disziplinlosigkeit ein Protest, der historisch seine Berechtigung hatte. War es doch der Protest gegen preußische Tugenden wie Gehorsam, Drill und Disziplin und der daraus resultierenden gnadenlosen Gefühlskälte, die den unfassbaren Horror des Nationalsozialismus mit möglich machen halfen. Und später dann auch die total verklemmte und zutiefst gefühlsfeindliche Atmosphäre der 1950er-Jahre prägten.
Das Problematische der historischen Gegenbewegung der 68er war aus meiner Sicht ihre Radikalität. Sie erlaubte nur ein »Entweder – oder«, aber kein »Sowohl – als auch«. In den Selbsthilfegruppen jener Jahre ging es beispielsweise eben nur darum, seine Gefühle so richtig und oft mit Hilfstechniken wie zum Beispiel dem »Urschrei« rauszulassen. Der Verstand, der uns als Kontrollinstanz unserer Gefühle dient, wurde zum ultimativen Feind erklärt. Und für die, die auf den Verstand setzten, war jede impulsiv-emotionale Ausgelassenheit pure infantile Gefühlsduselei.
Mir hat dieser Krieg zwischen »Bauch« und »Kopf« nie eingeleuchtet. Das habe ich ja schon angedeutet. Für mich gehört beides zusammen. Mein klarer Verstand und meine intensiven Gefühle. Erst diese wunderbare Kombination macht mein Leben so richtig schön.
Und deshalb habe ich in der »Achtsamkeitstechnik« eine für mich sehr wirksame Methode gefunden, sowohl mit meinen Gefühlen, aber eben auch mit meinem Verstand sinnvoll umzugehen. Sinnvoll deshalb, weil sie mich auf verblüffend einfache Weise unterstützt, gelingende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu erhalten. Sowohl mit meinem Kopf als auch mit meinem Bauch.