Die Krankheit zum Tode - Søren Kierkegaard - E-Book

Die Krankheit zum Tode E-Book

Sóren Kierkegaard

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Beschreibung

Verzweiflung ist eine der existentiellen Grundgegebenheiten menschlichen Daseins. Kierkegaard analysiert in dem 1881 unter Pseudonym erschienenen philosophischen Klassiker diesen Zustand und interpretiert ihn in christlicher Perspektive: Die Verzweiflung ist eine Krankheit des Geistes, an der jeder Mensch leidet. Die Ausgabe dieses Spätwerks von Kierkegaard wurde vollständig durchgesehen und überarbeitet. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Søren Kierkegaard

Die Krankheit zum Tode

Aus dem Dänischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Gisela PerletNachwort von Uta Eichler

Reclam

Dänischer Originaltitel: Sygdommen til Døden

 

Die Edition wurde durch das Dänische Literaturinformationszentrum, Kopenhagen, gefördert.

 

1997, 2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962150-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014325-4

www.reclam.de

Inhalt

Die Krankheit zum Tode

Eine christlich-psychologische Darlegungzur Erbauung ...

Herr! gib uns blöde ...

Vorwort

Eingang

Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung

Dass Verzweiflung die Krankheit zum Tode ist

Die Allgemeinheit dieser Krankheit (der Verzweiflung)

Die Erscheinungsformen dieser Krankheit (der Verzweiflung)

Verzweiflung ist die Sünde

Verzweiflung ist die Sünde

Die Fortsetzung der Sünde

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Verzweiflung und Selbst

I

II

III

IV

V

VI

[5]Die Krankheit zum Tode

Eine christlich-psychologische Darlegungzur Erbauung und Erweckung

 

vonANTI-CLIMACUS

[6]Herr! gib uns blöde Augen

für Dinge, die nichts taugen,

und Augen voller Klarheit

in alle deine Wahrheit.

[7]Vorwort

Vielen wird die Form dieser »Darlegung« vielleicht sonderbar erscheinen; sie wird ihnen zu streng vorkommen, um erbaulich, und zu erbaulich, um streng wissenschaftlich zu sein. Was das Letzte betrifft, so habe ich darüber keine Meinung. Dagegen ist meine Meinung über das Erste eine andere; und wäre diese Darlegung tatsächlich zu streng, um erbaulich zu sein, so wäre das für meine Begriffe ein Fehler. Dass sie nicht für jeden erbaulich sein kann, weil nicht jeder die Voraussetzungen dafür hat, ihr zu folgen, ist das eine; dass sie den Charakter des Erbaulichen besitzt, das andere. Christlich gesehen, sollte nämlich alles, alles der Erbauung dienen. Jene Art Wissenschaftlichkeit, die nicht letztendlich erbaulich ist, ist gerade dadurch unchristlich. Alles Christliche muss in seiner Darstellung dem ärztlichen Bericht am Krankenbett ähneln; auch wenn nur der Heilkundige ihn verstehen kann, ist doch niemals zu vergessen, dass er am Krankenbett gegeben wird. Dies ist das Verhältnis des Christlichen zum Leben (im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Ferne vom Leben), oder diese ethische Seite des Christlichen ist eben das Erbauliche, und diese Art Darstellung, wie streng sie ansonsten auch sein mag, ist vollkommen anders, qualitativ anders, als jene Art Wissenschaftlichkeit, die »gleichgültig« ist, deren erhabener Heroismus, christlich gesehen, so wenig mit Heroismus zu tun hat, dass er, christlich, eine Art unmenschlicher Neugier darstellt. Christlicher Heroismus ist – und wahrlich, man sieht ihn wohl selten genug –, das Wagnis zu unternehmen, ganz man selbst zu werden, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch, allein vor Gott, allein in dieser ungeheuren Anstrengung und mit dieser ungeheuren [8]Verantwortung; dagegen ist christlicher Heroismus nicht, Narretei mit dem reinen Menschen oder Ratespiele mit der Weltgeschichte zu treiben. Alles christliche Erkennen, und wenn seine Form noch so streng ist, sollte besorgt sein; doch diese Besorgnis ist gerade das Erbauliche. Die Besorgnis ist das Verhältnis zum Leben, zur Wirklichkeit der Persönlichkeit und solcherart, christlich, der Ernst; die Erhabenheit des gleichgültigen Wissens ist, christlich, durchaus kein Ernst mehr, sie ist, christlich, Scherz und Eitelkeit. Der Ernst aber ist wieder das Erbauliche.

Diese kleine Schrift ist daher in einem gewissen Sinn so beschaffen, dass auch ein Seminarist sie schreiben könnte; in einem anderen Sinn jedoch vielleicht so, dass nicht jeder Professor dazu fähig wäre.

Dass aber die Einkleidung der Abhandlung ist, wie sie ist, das ist zumindest wohl bedacht und sicherlich auch psychologisch richtig. Es gibt einen feierlicheren Stil, der ist so feierlich, so feierlich, dass er nicht sehr treffend ist und, da man sich nur allzu sehr an ihn gewöhnt hat, leicht nichtssagend wird.

Ansonsten nur eine Bemerkung, gewiss etwas Überflüssiges, dessen ich mich dennoch schuldig machen will: Ich will ein für alle Mal darauf aufmerksam machen, dass Verzweiflung in dieser gesamten Schrift, wie der Titel ja sagt, als Krankheit verstanden wird, nicht als Heilmittel. Auf solche Art ist Verzweiflung nämlich dialektisch. So ist der Tod in christlicher Terminologie ja auch Ausdruck des größten geistigen Elends und die Heilung doch gerade: sterben, absterben.

 

Im Jahre 1848

[9]Eingang

»Diese Krankheit ist nicht zum Tode« (Joh 11,4). Und doch starb Lazarus; als die Jünger missverstanden, was Christus später hinzufügte: »Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, dass ich ihn aufwecke« (11,11), sagte er ihnen rundheraus: »Lazarus ist gestorben« (11,4). Lazarus ist also gestorben, und doch war diese Krankheit nicht zum Tode; er war tot, und doch ist diese Krankheit nicht zum Tode. Nun wissen wir wohl, dass Christus an jenes Wunder dachte, das die Zeitgenossen, »so sie glauben könnten, die Herrlichkeit Gottes sollte sehen« (11,40) lassen, jenes Wunder, durch das er Lazarus von den Toten auferweckte, so dass »diese Krankheit« nicht nur nicht zum Tode war, sondern, wie Christus voraussagte, »zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehret werde« (11,4): Oh, und selbst wenn Christus den Lazarus nicht auferweckt hätte, trifft es denn nicht doch zu, dass diese Krankheit, der Tod selbst, nicht zum Tode ist? Wenn Christus ans Grab tritt und mit lauter Stimme ruft: »Lazarus, komm heraus« (11,43), unterliegt es doch keinem Zweifel, dass »diese« Krankheit nicht zum Tode ist. Und selbst wenn Christus es nicht einmal gesagt hätte – allein dass Er, »die Auferstehung und das Leben« (11,25), an das Grab herantritt, bedeutet das nicht, dass diese Krankheit nicht zum Tode ist; allein dass es Christus gibt, bedeutet das nicht, dass diese Krankheit nicht zum Tode ist? Und was hätte es Lazarus geholfen, von den Toten auferweckt zu sein, wenn er am Ende ja doch sterben müsste – was hätte es Lazarus geholfen, wenn Er nicht wäre, Er, der die Auferstehung und das Leben für einen jeden ist, der an Ihn glaubt! Nein, nicht deshalb, weil Lazarus von den [10]Toten auferweckt wurde, kann man sagen, dass diese Krankheit nicht zum Tode ist; sondern weil es Ihn gibt, deshalb ist diese Krankheit nicht zum Tode. Denn menschlich gesprochen ist der Tod das Letzte von allem, und menschlich gesprochen gibt es nur Hoffnung, solange es Leben gibt. Doch christlich verstanden ist der Tod keineswegs das Letzte von allem, sondern auch nur ein kleines Ereignis in dem, was alles ist, in einem ewigen Leben; und christlich verstanden ist im Tod unendlich viel mehr Hoffnung, als wenn da, menschlich gesprochen, nicht nur Leben ist, sondern obendrein ein Leben in vollster Kraft und Gesundheit.

Also christlich verstanden ist nicht einmal der Tod »die Krankheit zum Tode«, noch weniger alles, was da irdisch und zeitlich heißt: Leiden, Not, Krankheit, Elend, Bedrängnis, Unglück, Pein, Seelenqual, Trauer, Kummer. Und wäre dergleichen noch so schwer und qualvoll, so dass wir Menschen oder zumindest der Leidende sagten: »Dies ist schlimmer als der Tod« – all das, was sich, sofern es nicht Krankheit ist, mit einer Krankheit vergleichen ließe, ist christlich verstanden doch nicht die Krankheit zum Tode.

So großmütig hat das Christentum den Christen von allem Irdischen und Weltlichen, den Tod inbegriffen, denken gelehrt. Fast scheint es, als dürfte sich der Christ damit brüsten, dass er sich so stolz über alles erhebt, was der Mensch sonst als Unglück, über alles, was der Mensch sonst als das größte Übel bezeichnet. Aber dafür hat das Christentum wieder ein Elend entdeckt, von dem der Mensch als solcher nichts weiß; dieses Elend ist die Krankheit zum Tode. Was der natürliche Mensch an Entsetzlichem aufzählt – wenn er dann alles aufgezählt hat und nichts mehr zu nennen weiß: dies ist für den Christen wie ein Spaß. Solcherart [11]ist das Verhältnis zwischen dem natürlichen Menschen und dem Christen, es gleicht dem Verhältnis zwischen einem Kind und einem Mann: Wovor das Kind erschauert, das ist in den Augen des Mannes nichts. Das Kind weiß nicht, was das Entsetzliche ist; der Mann weiß es und erschauert davor. Die Unvollkommenheit des Kindes besteht zuerst darin, das Entsetzliche nicht zu kennen, und da wiederum, was hierin enthalten ist, vor dem zu erschauern, das nicht entsetzlich ist. Und so auch mit dem natürlichen Menschen, er hat keine Ahnung, was das Entsetzliche in Wahrheit ist, doch das befreit ihn nicht vom Erschauern, nein, er erschauert vor dem, was nicht das Entsetzliche ist. Das ist wie mit dem Gottesverhältnis des Heiden: Nicht genug damit, dass er den wahren Gott nicht kennt, er betet als Gott einen Götzen an.

Nur der Christ weiß, was unter der Krankheit zum Tode zu verstehen ist. Als Christ ist er mit einem Mut versehen, von dem der natürliche Mensch nichts weiß – diesen Mut hat er bekommen, indem er die Furcht vor dem noch Entsetzlicheren lernte. Auf solche Weise wird ein Mensch immer mutig; wenn man eine größere Gefahr befürchtet, hat man stets den Mut, sich in eine kleinere zu begeben; wenn man eine Gefahr unendlich fürchtet, ist es, als wären die anderen Gefahren gar nicht vorhanden. Das Entsetzliche aber, das der Christ kennen lernte, ist »die Krankheit zum Tode«.

[13]Erster Abschnitt

Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung

A

Dass Verzweiflung die Krankheit zum Tode ist

A

Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann so ein Dreifaches sein: verzweifelt nicht sich bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen

Der Mensch ist Geist. Doch was ist Geist? Geist ist das Selbst. Doch was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder es ist in diesem Verhältnis jenes, dass dieses sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält. Der Mensch ist eine Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit, aus dem Zeitlichen und dem Ewigen, aus Freiheit und Notwendigkeit, kurz: eine Synthese. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So gesehen ist der Mensch noch kein Selbst.

Im Verhältnis zwischen zweien ist das Verhältnis als negative Einheit das Dritte, und die zwei verhalten sich zum Verhältnis und in dem Verhältnis zum Verhältnis; so ist das [14]Verhältnis zwischen Seele und Körper unter der Bestimmung Seele ein Verhältnis. Verhält sich dagegen das Verhältnis zu sich selbst, dann ist dieses Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst.

Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein Anderes gesetzt sein.

Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Anderes gesetzt, dann ist das Verhältnis zwar das Dritte, doch dieses Verhältnis, das Dritte, ist dann wiederum ein Verhältnis und verhält sich zu dem, was das ganze Verhältnis gesetzt hat.

Ein solcherart abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und im Verhalten zu sich selbst zu einem Anderen verhält. Daher kommt es, dass zwei Formen von eigentlicher Verzweiflung möglich sind. Hätte sich das Selbst des Menschen selbst gesetzt, dann könnte nur von einer Form die Rede sein, der, nicht man selbst sein, sich selbst loswerden zu wollen; dagegen könnte nicht die Rede davon sein, dass man verzweifelt man selbst sein will. Diese Formel ist nämlich der Ausdruck für die Abhängigkeit des ganzen Verhältnisses (des Selbst), ist der Ausdruck dafür, dass das Selbst nicht durch sich selbst zu Gleichgewicht und Ruhe gelangen oder sich darin befinden kann, sondern nur dadurch, dass es sich im Verhalten zu sich selbst zu dem verhält, was das ganze Verhältnis gesetzt hat. Ja, diese andere Form von Verzweiflung (verzweifelt man selbst sein wollen) ist so weit davon entfernt, nur eine eigene Art von Verzweiflung zu bezeichnen, dass sich, im Gegenteil, alle Verzweiflung schließlich darin auflösen [15]und darauf zurückgeführt werden kann. Wenn ein Verzweifelter meint, auf seine Verzweiflung aufmerksam zu sein, nicht sinnlos darüber redet, als würde ihm etwas widerfahren (etwa so, wie jemand, der an Schwindel leidet, durch eine Täuschung der Nerven von einem Druck auf den Kopf oder von einer Empfindung spricht, als fiele etwas auf ihn herab usw., während diese Schwere und dieser Druck doch nichts Äußeres, sondern ein umgekehrter Reflex seines Inneren ist) – und nun mit aller Macht durch sich selbst und allein durch sich selbst die Verzweiflung aufheben will, dann ist er noch in der Verzweiflung und arbeitet sich mit all seinem vermeintlichen Arbeiten nur umso tiefer in eine tiefere Verzweiflung hinein. Das Missverhältnis der Verzweiflung ist kein einfaches Missverhältnis, sondern ein Missverhältnis in einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und durch ein Anderes gesetzt ist, so dass sich das Missverhältnis in jenem für sich seienden Verhältnis zugleich im Verhältnis zu jener Macht, die es setzte, unendlich reflektiert.

Dies nämlich ist die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung vollkommen getilgt ist: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in jener Macht, die es setzte.

[16]B

Möglichkeit und Wirklichkeit der Verzweiflung

Ist Verzweiflung ein Vorzug oder ein Mangel? Rein dialektisch ist sie beides. Wollte man sie, ohne sich einen Verzweifelten vorzustellen, als einen abstrakten Gedanken festhalten, dann müsste man sagen: Sie ist ein ungeheurer Vorzug. Die Möglichkeit einer solchen Krankheit ist der Vorzug des Menschen vor dem Tier, und dieser Vorzug zeichnet ihn ganz anders aus als der aufrechte Gang, denn er deutet auf jene unendliche Aufrechtheit oder Erhabenheit hin, dass der Mensch Geist ist. Die Möglichkeit einer solchen Krankheit ist der Vorzug des Menschen vor dem Tier; auf diese Krankheit aufmerksam zu sein, ist der Vorzug des Christen vor dem natürlichen Menschen; von dieser Krankheit geheilt zu sein des Christen Seligkeit.

Also ist es ein unendlicher Vorzug, verzweifeln zu können; und doch ist Verzweifeltsein nicht nur das größte Unglück und Elend, nein, es ist Verdammnis. Sonst ist das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit anders; ist es ein Vorzug, dies und jenes sein zu können, dann ist es ein noch größerer Vorzug, es zu sein, was bedeutet, das Sein verhält sich wie eine Steigerung zum Seinkönnen. Wenn es dagegen um Verzweiflung geht, so verhält sich das Verzweifeltsein wie ein Abfall zu dem, es sein zu können; so unendlich der Vorzug der Möglichkeit ist, so tief ist der Fall. In Bezug auf Verzweiflung besteht die Steigerung also darin, nicht verzweifelt zu sein. Diese Bestimmung ist jedoch wiederum zweideutig. Nicht verzweifelt sein ist etwas anderes, als nicht lahm, blind u. Ä. sein. Wenn Nichtverzweifeltsein weder mehr noch weniger bedeutet, als es [17]nicht zu sein, dann ist das gerade Verzweifeltsein. Nicht verzweifelt sein muss die vernichtete Möglichkeit bedeuten, es sein zu können; wenn es wahr sein soll, dass ein Mensch nicht verzweifelt ist, dann muss er die Möglichkeit in jedem Augenblick vernichten. Sonst ist das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit anders. Zwar sagen die Denker, dass Wirklichkeit die vernichtete Möglichkeit sei, aber das stimmt nicht ganz, sie ist die ausgefüllte, die wirksame Möglichkeit. Hier dagegen ist die Wirklichkeit (nicht verzweifelt zu sein), die deshalb auch eine Verneinung ist, die ohnmächtige, vernichtete Möglichkeit; sonst ist Wirklichkeit im Verhältnis zur Möglichkeit eine Bestätigung, hier ist sie eine Verneinung.

Verzweiflung ist das Missverhältnis im Verhältnis einer Synthese, das sich zu sich selbst verhält. Doch nicht die Synthese ist das Missverhältnis, sie ist nur die Möglichkeit, oder: in der Synthese liegt die Möglichkeit des Missverhältnisses. Wäre die Synthese das Missverhältnis, dann wäre Verzweiflung gar nicht vorhanden, dann wäre Verzweiflung etwas, was in der Menschennatur als solcher läge, das heißt, dann handelte es sich nicht um Verzweiflung, sondern um etwas, was dem Menschen widerführe, etwas, was er erlitte, wie eine Krankheit, die ihn befällt, oder wie den Tod, der das Los aller ist. Nein, das Verzweifeln liegt im Menschen selbst; doch wenn er keine Synthese wäre, könnte er gar nicht verzweifeln, und wenn die Synthese nicht ursprünglich von Gottes Hand im rechten Verhältnis wäre, könnte er auch nicht verzweifeln.

Woher kommt die Verzweiflung dann? Aus dem Verhältnis, worin sich die Synthese zu sich selbst verhält, indem Gott, der den Menschen zu einem solchen Verhältnis [18]machte, es gleichsam aus seiner Hand entlässt, das heißt, indem sich das Verhältnis zu sich selbst verhält. Und darin, dass dieses Verhältnis Geist ist, das Selbst ist, darin liegt die Verantwortung, die auf aller Verzweiflung ruht, und zwar in jedem Augenblick, den es sie gibt – mag der Verzweifelte noch so viel und sich selbst und andere noch so sinnreich täuschend von seiner Verzweiflung als einem Unglück reden, wobei er sie verwechselt wie in jenem angeführten Fall von Schwindel, mit dem Verzweiflung, obgleich qualitativ verschieden, vieles gemeinsam hat, denn Schwindel ist unter der Bestimmung Seele, was Verzweiflung unter der Bestimmung Geist ist, und schwanger von Analogien zur Verzweiflung.

Wenn das Missverhältnis, die Verzweiflung, nun eingetreten ist, ergibt es sich dann von selbst, dass dieses bestehen bleibt? Nein, das ergibt sich nicht von selbst; wenn das Missverhältnis bestehen bleibt, ergibt sich das nicht aus dem Missverhältnis, sondern aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Dies besagt, dass es jedes Mal, wenn sich das Missverhältnis äußert, und in jedem Augenblick seines Bestehens notwendig ist, zu dem Verhältnis zurückzugehen. Also, man spricht davon, dass sich ein Mensch eine Krankheit zuzieht, z. B. durch Unvorsichtigkeit. Dann tritt die Krankheit ein, und von diesem Augenblick an macht sie sich geltend und ist nun eine Wirklichkeit, deren Ursprung mehr und mehr Vergangenheit wird. Es wäre grausam und unmenschlich, wollte man unentwegt und unablässig sagen: »In diesem Augenblick ziehst du, der Kranke, dir diese Krankheit zu« – das hieße, in jedem Augenblick die Wirklichkeit der Krankheit in ihre Möglichkeit auflösen zu wollen. Es stimmt zwar, dass er sich diese [19]Krankheit zugezogen hat, aber er hat es nur einmal getan, und das hatte die einfache Folge, dass sie weiter besteht, ihr Fortschreiten ist nicht in jedem Augenblick auf ihn als Ursache zurückzuführen; er hat sie sich zugezogen, doch kann man nicht sagen, dass er sie sich zuzieht. Anders ist es mit dem Verzweifeln; jeder wirkliche Augenblick der Verzweiflung ist zurückzuführen auf eine Möglichkeit, in jedem Augenblick, den ein Mensch verzweifelt ist, zieht er sich das Verzweifeln zu; es ist ständig Gegenwart, die im Verhältnis zur Wirklichkeit nicht zurückgelegtes Vergangenes wird; in jedem wirklichen Augenblick der Verzweiflung trägt der Verzweifelte alles Vorhergehende als ein Gegenwärtiges in der Möglichkeit. Dies kommt daher, dass Verzweifeln eine Bestimmung des Geistes ist und sich zum Ewigen im Menschen verhält. Und der Mensch kann das Ewige nicht abschütteln, nein, in alle Ewigkeit nicht; er kann es nicht ein für alle Mal abwerfen, nichts ist unmöglicher; er muss es in jedem Augenblick, da er es nicht hat, von sich geworfen haben oder von sich werfen – doch es kehrt wieder, das heißt, in jedem Augenblick, den er verzweifelt ist, zieht er sich das Verzweifeln zu. Denn die Verzweiflung ergibt sich nicht aus dem Missverhältnis, sondern aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Und das Verhältnis zu sich selbst kann ein Mensch so wenig loswerden wie sein Selbst, was nun im Übrigen ein und dasselbe ist, denn das Selbst ist ja das Verhältnis zu sich selbst.

[20]C

Verzweiflung ist: »Die Krankheit zum Tode«

Dieser Begriff, die Krankheit zum Tode, ist jedoch auf eine besondere Weise zu verstehen. Unmittelbar bezeichnet er eine Krankheit, deren Ende, deren Ausgang der Tod ist. So spricht man von einer tödlichen Krankheit gleichbedeutend mit einer Krankheit zum Tode. In diesem Sinn kann Verzweiflung nicht die Krankheit zum Tode genannt werden. Doch christlich verstanden ist der Tod selbst ein Durchgang zum Leben. Insofern ist, christlich, keine irdische, physische Krankheit zum Tode. Denn der Tod ist zwar das Letzte der Krankheit, aber er ist nicht das Letzte. Wenn im strengsten Sinn von einer Krankheit zum Tode die Rede sein soll, dann muss sie so beschaffen sein, dass das Letzte der Tod und der Tod das Letzte ist. Und ebendies ist Verzweiflung.

Verzweiflung ist in einem anderen Sinn jedoch noch bestimmter die Krankheit zum Tode. Es ist nämlich ganz und gar nicht so, dass man, unmittelbar verstanden, an dieser Krankheit stirbt oder dass diese Krankheit mit dem physischen Tod endet. Im Gegenteil, die Qual der Verzweiflung besteht gerade darin, nicht sterben zu können. Auf solche Art hat sie mehr mit dem Zustand des Todkranken gemein, der sich mit dem Tod herumquält und nicht sterben kann. In diesem Sinn bedeutet krank zum Tode sein: nicht sterben können, jedoch nicht so, als gäbe es Hoffnung auf Leben, nein, die Hoffnungslosigkeit besteht darin, dass es nicht einmal die letzte Hoffnung, den Tod, gibt. Wenn der Tod die größte Gefahr ist, dann hofft man auf das Leben; wenn man aber die noch schrecklichere Gefahr kennen [21]lernt, hofft man auf den Tod. Ist die Gefahr dann so groß, dass der Tod die Hoffnung geworden ist, dann ist Verzweiflung jene Hoffnungslosigkeit, nicht einmal sterben zu können.

In dieser letzten Bedeutung ist nun Verzweiflung die Krankheit zum Tode, jener qualvolle Widerspruch, jene Krankheit im Selbst, ewig zu sterben, zu sterben und doch nicht zu sterben, den Tod zu sterben. Denn sterben bedeutet, dass es vorbei ist, doch den Tod sterben bedeutet, dass man das Sterben erlebt; und wenn sich dieses in einem einzigen Augenblick erleben lässt, dann lässt es sich damit auf ewig erleben. Würde ein Mensch an Verzweiflung sterben, wie man an einer Krankheit stirbt, dann müsste das Ewige in ihm, das Selbst, in dem gleichen Sinn sterben können, wie der Körper an der Krankheit stirbt. Dies aber ist eine Unmöglichkeit; das Sterben der Verzweiflung setzt sich ständig in ein Leben um. Der Verzweifelte kann nicht sterben; »so wenig wie der Dolch Gedanken töten kann«, so wenig kann die Verzweiflung das Ewige verzehren, das Selbst, das der Verzweiflung zugrunde liegt, deren Wurm nicht stirbt und deren Feuer nicht verlöscht. Aber Verzweiflung ist gerade eine Selbstverzehrung, jedoch eine ohnmächtige Selbstverzehrung, die nicht vermag, was sie selber will. Und was sie selber will, sich selbst verzehren, das vermag sie nicht, und diese Ohnmacht ist eine neue Form von Selbstverzehrung, in der die Verzweiflung jedoch auch nicht vermag, was sie will, nämlich sich selbst verzehren, was eine Potenzierung oder das Gesetz der Potenzierung ist. Dies ist das Erhitzende, oder es ist der kalte Brand in der Verzweiflung, dieses Nagende, dessen Bewegung sich ständig nach [22]innen richtet, tiefer und tiefer in ohnmächtiger Selbstverzehrung. Dass die Verzweiflung ihn nicht verzehrt, ist für den Verzweifelten alles andere als ein Trost, eher genau das Gegenteil, dieser Trost ist gerade die Qual, ist gerade das, was den nagenden Schmerz am Leben und das Leben im nagenden Schmerz erhält; denn gerade darüber – verzweifelte er nicht, sondern – verzweifelt er: dass er nicht sich selbst verzehren, nicht sich selbst loswerden, dass er nicht zu nichts werden kann. Das ist die potenzierte Formel für die Verzweiflung, das Steigen des Fiebers in dieser Krankheit des Selbst.

Ein Verzweifelnder verzweifelt über etwas. So sieht es für einen Augenblick aus, doch nur für einen Augenblick; im gleichen Augenblick zeigt sich die wahre Verzweiflung oder die Verzweiflung in ihrer Wahrheit. Indem er über etwas verzweifelte, verzweifelte er eigentlich über sich selbst und will sich nun selbst loswerden. Wenn also der Herrschsüchtige, dessen Losung »Cäsar oder nichts« lautet, nicht Cäsar wird, dann verzweifelt er darüber. Das aber bedeutet etwas anderes: Gerade weil er nicht Cäsar wurde, ist es ihm jetzt unerträglich, er selbst zu sein. Er verzweifelt also eigentlich nicht darüber, dass er nicht Cäsar geworden ist, sondern über sich selbst, weil er nicht Cäsar wurde. Dieses Selbst, das ihm, wäre es Cäsar geworden, all seine Lust bedeutet hätte, in einem anderen Sinn übrigens genauso verzweifelt, dieses Selbst ist ihm nun das Unerträglichste von allem. Nicht dass er nicht Cäsar wurde, sondern dieses Selbst, das nicht Cäsar wurde, ist das Unerträgliche für ihn, oder noch richtiger, das für ihn Unerträgliche ist, dass er sich selbst nicht loswerden kann. Wenn er Cäsar geworden wäre, dann wäre er verzweifelt sich selbst losgeworden; [23]jetzt aber wurde er nicht Cäsar und kann sich verzweifelt nicht selbst loswerden. Wesentlich ist er gleich verzweifelt, denn er hat nicht sein Selbst, er ist nicht er selbst. Auch wenn er Cäsar geworden wäre, wäre er doch nicht er selbst geworden, sondern sich selbst losgeworden; und weil er nicht Cäsar wurde, verzweifelt er darüber, sich nicht selbst loswerden zu können. Daher ist es eine oberflächliche Betrachtung (der Betrachter hat vermutlich nie einen Verzweifelten, geschweige denn sich selbst gesehen), wenn jemand von einem Verzweifelten sagt, als ob dies für ihn eine Strafe wäre: »Er verzehrt sich selbst.« Denn gerade darüber ist er verzweifelt, und gerade das ist es, was er zu seiner Qual nicht vermag, denn durch die Verzweiflung hat etwas Feuer gefangen, was nicht brennen oder nicht verbrennen kann, das Selbst.

Über etwas zu verzweifeln ist also noch nicht eigentlich Verzweiflung. Es ist der Anfang oder damit zu vergleichen, dass der Arzt von einer Krankheit sagt, sie sei noch ungeklärt. Das Nächste ist die erklärte Verzweiflung, über sich selbst zu verzweifeln. Ein junges Mädchen verzweifelt aus Liebe, also verzweifelt sie über den Verlust des Geliebten, der gestorben ist oder ihr untreu wurde. Das ist keine erklärte Verzweiflung, nein, sie verzweifelt über sich selbst. Dieses ihr Selbst, das sie, wäre es »sein« Liebstes geworden, auf die beglückendste Weise aufgegeben oder verloren hätte, dieses Selbst ist ihr nun eine Plage, wenn es ein Selbst ohne »ihn« sein soll; dieses Selbst, das, in einem anderen Sinn übrigens genauso verzweifelt, ihr Reichtum geworden wäre, ist für sie nun zu einer widerwärtigen Leere geworden, weil »er« gestorben ist, oder sie hegt nun einen Abscheu dagegen, weil es sie daran erinnert, dass er sie [24]betrogen hat. Wenn du nun zu einem solchen Mädchen zu sagen versuchst: »Du verzehrst dich selbst«, dann wirst du von ihr als Antwort hören: »O nein, die Qual besteht gerade darin, dass ich es nicht kann.«

Über sich verzweifeln, verzweifelt sich selbst loswerden wollen, das ist die Formel für alle Verzweiflung, weshalb sich die zweite Form von Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein wollen, auf die erste, verzweifelt nicht man selbst sein wollen, zurückführen lässt, so wie wir im Vorhergehenden die Form »verzweifelt nicht man selbst sein wollen« in jene aufgelöst haben: »verzweifelt man selbst sein wollen« (vgl. A). Ein Verzweifelnder will verzweifelt er selbst sein. Wenn er aber verzweifelt er selbst sein will, dann will er sich doch nicht selbst loswerden. Ja, so hat es den Anschein; sieht man jedoch genauer hin, dann erkennt man, dass der Widerspruch trotzdem derselbe ist. Jenes Selbst, das er verzweifelt sein will, ist ein Selbst, das er nicht ist (denn jenes Selbst sein wollen, das er in Wahrheit ist, das ist ja gerade das Gegenteil von Verzweiflung), er will sein Selbst nämlich von jener Macht losreißen, die es setzte. Das aber vermag er trotz allen Verzweifelns nicht; trotz aller Anstrengung der Verzweiflung ist diese Macht stärker und zwingt ihn, jenes Selbst zu sein, das er nicht sein will. So aber will er sich selbst, dieses Selbst, das er ist, ja doch loswerden, um jenes Selbst zu sein, das er selbst erfunden hat. Er selber sein nach seinem Wunsch, das würde ihm, wenngleich in einem anderen Sinn genauso verzweifelt, seine ganze Lust bedeuten; doch gezwungenermaßen er selber sein, wie er es nicht sein will, das ist seine Qual, die darin besteht, dass er sich selbst nicht loswerden kann.

[25]Sokrates bewies die Unsterblichkeit der Seele damit, dass die Krankheit der Seele (die Sünde) diese nicht verzehrt, wie die Krankheit des Körpers den Körper verzehrt. Solcherart kann man das Ewige in einem Menschen auch damit beweisen, dass die Verzweiflung sein Selbst nicht verzehren kann, dass eben dies die Qual des Widerspruchs in der Verzweiflung ist. Wäre nichts Ewiges in einem Menschen, dann würde er gar nicht verzweifeln können; könnte jedoch die Verzweiflung sein Selbst verzehren, dann gäbe es dennoch keine Verzweiflung.

So ist Verzweiflung, diese Krankheit im Selbst, die Krankheit zum Tode. Der Verzweifelte ist todkrank. Diese Krankheit hat in einem ganz anderen Sinn, als es sonst bei einer Krankheit der Fall ist, die edelsten Teile angegriffen; und doch kann der Betroffene nicht sterben. Der Tod ist nicht das Letzte der Krankheit, der Tod ist fortwährend das Letzte. Von dieser Krankheit durch den Tod erlöst zu werden ist unmöglich, denn sie und ihre Qual – und der Tod – bestehen gerade darin, nicht sterben zu können.

Dies ist der Zustand in Verzweiflung. Und wenn der Verzweifelte noch so wenig davon spürt, wenn es dem Verzweifelten noch so sehr gelingt (was dann vor allem für jene Art Verzweiflung gelten muss, die in Unwissenheit darüber besteht, Verzweiflung zu sein), sein Selbst ganz und zwar so verloren zu haben, dass es nicht in geringster Weise zu merken ist: Die Ewigkeit wird es dann doch offenbaren, dass sein Zustand Verzweiflung war, und ihm sein Selbst festnageln, so dass die Qual, es nicht loswerden zu können, bleibt und offenbar wird, dass es nur eine Einbildung war, es sei ihm gelungen. Und so muss die Ewigkeit tun, denn ein Selbst zu haben, ein Selbst zu sein, das ist das größte, [26]das unendliche Zugeständnis, das dem Menschen gemacht ist, doch zugleich auch die Forderung, die ihm die Ewigkeit stellt.

B

Die Allgemeinheit dieser Krankheit (der Verzweiflung)

So wie der Arzt wohl sagen muss, dass es vielleicht keinen einzigen vollkommen gesunden Menschen gebe, müsste man mit rechter Menschenkenntnis sagen, es lebe kein einziger Mensch, ohne ein wenig verzweifelt zu sein, ohne dass in seinem tiefsten Inneren doch eine Unruhe, ein Unfriede, eine Disharmonie, eine Angst vor einem unbekannten Etwas oder vor einem Etwas wohne, mit dem er nicht einmal Bekanntschaft zu stiften wage, eine Angst vor einer Möglichkeit des Daseins oder eine Angst vor sich selbst, so dass er doch, wie der Arzt davon spricht, dass eine Krankheit im Körper stecke, eine Krankheit des Geistes mit sich herumtrage, die sich nur hin und wieder, in und mit einer ihm selbst unerklärlichen Angst, in seinem Inneren bemerkbar mache. Und auf jeden Fall gab und gibt es außerhalb der Christenheit keinen Menschen und in der Christenheit keinen, sofern er nicht ein wahrer Christ ist, der nicht verzweifelt wäre; und ist er es auch nicht vollkommen, so ist er doch etwas verzweifelt.

Diese Betrachtung wird vielen gewiss als ein Paradox, eine Übertreibung und überdies als eine finstre und verstimmende Anschauung erscheinen. Doch nichts von [27]alledem ist sie. Sie ist nicht finster, sondern im Gegenteil bemüht, Licht in das zu bringen, was man gemeinhin in einer gewissen Dunkelheit verbleiben lässt; sie ist nicht verstimmend, sondern gerade erhebend, denn sie betrachtet jeden Menschen unter der Bestimmung der höchsten Forderung an ihn, nämlich Geist zu sein; sie ist auch kein Paradox, sondern, im Gegenteil, eine durch und durch konsequente Grundanschauung und insofern auch keine Übertreibung.

Dagegen bleibt die allgemeine Betrachtung von Verzweiflung bei der Erscheinung stehen und ist also eine oberflächliche, das heißt keine Betrachtung. Sie nimmt an, dass jeder Mensch ja am besten selber wissen müsse, ob er verzweifelt sei oder nicht. Wer von sich selber sagt, dass er es sei, den hält man für verzweifelt, wer keine solche Meinung von sich hat, der wird auch nicht dafür gehalten. Als Folge davon wird Verzweiflung zu einem selteneren Phänomen, anstatt das ganz Allgemeine zu sein. Das Seltene ist nicht, dass jemand verzweifelt ist; nein, das Seltene, das überaus Seltene ist es, dass jemand es in Wahrheit nicht ist.