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Eine Einführung in die Vipassana-Meditation Vipassana bedeutet »die Dinge so sehen, wie sie sind«. Es ist die Essenz der Lehre Buddhas und eine der ältesten Meditationstechniken Indiens. Dieses Buch zeigt, wie man sich mit ihrer Hilfe von geistigen Verspannungen und Konditionierungen freimacht, wie man Probleme löst, die Gesundheit verbessert, zu Harmonie und innerem Frieden findet und das eigene kreative Potenzial entfaltet. Vipassana ist die Kunst zu leben.
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Seitenzahl: 303
Vipassana, die Erkenntnis-Meditation, ist eine der ältesten Meditationstechniken Indiens. Sie besteht im aufmerksamen Beobachten aller Daseinsphänomene. Eine wichtige Rolle nimmt dabei der Edle Achtfache Pfad ein, der gleichermaßen Voraussetzung und Folge der Meditation ist. William Hart behält immer den praktischen Bezug zum Meditationsalltag und macht so den Edlen Achtfachen Pfad für jeden verständlich. Durch konsequente Selbsterforschung führt die Vipassana-Meditation auf einfache Weise zu Frieden und Harmonie.
William Hart
Vipassana-Meditation nach S.N. Goenka
Aus dem Englischen von Heinz Bartsch
Weisheit ist das Wichtigste;
deshalb bemühe dich um Weisheit:
und mit all deinen Bemühungen
lass dein Verständnis wachsen.
Altes Testament, Buch der Sprichwörter 4, 7
Ich werde für immer voll Dankbarkeit sein für die Veränderungen, die die Vipassana-Meditation in mein Leben gebracht hat. Als ich diese Technik gelernt hatte und meine ersten Schritte auf dem Weg machte, hatte ich das Gefühl, nach einem Gewirr von Sackgassen endlich den richtigen Weg, den Königsweg, gefunden zu haben. In all den folgenden Jahren bin ich diesem Weg weiter gefolgt, und mit jedem Schritt ist das Ziel klarer geworden: Befreiung von allem Leiden, vollkommene Erleuchtung. Ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, das letzte Ziel erreicht zu haben, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass dieser Weg dorthin führt.
Dass mir dieser Weg aufgezeigt wurde, dafür werde ich für immer meinem Lehrer Sayagyi U Ba Khin zu Dank verpflichtet sein – und der langen Folge von Lehrern, die diese Technik von der Zeit Buddhas über Jahrtausende hinweg bis heute lebendig gehalten haben. In ihrer aller Namen möchte ich andere Menschen ermutigen, sich diesem Weg anzuvertrauen, damit auch sie aus dem Leiden herausfinden.
Obwohl bereits viele tausend Menschen aus westlichen Ländern diese Technik gelernt haben, ist bisher noch kein Buch erschienen, das diese Form von Vipassana präzise und in aller Ausführlichkeit beschreibt. Ich freue mich sehr, dass ein ernsthafter Meditierer es schließlich unternommen hat, diese Lücke zu schließen.
Möge dieses Buch das Verständnis derjenigen vertiefen, die Vipassana-Meditation praktizieren, und möge es andere dazu ermutigen, diese Technik auszuprobieren, damit auch sie das Glück der Befreiung erfahren. Mögen alle Leser die Kunst zu leben lernen, um inneren Frieden und innere Harmonie zu finden und Frieden und Harmonie auch in das Leben anderer zu bringen.
Mögen alle Wesen glücklich sein!
Bombay, April 1986 S.N. Goenka
Vipassana ist eine uralte Meditationstechnik Indiens. Aufgrund ihres ausgesprochen wissenschaftlichen und praktischen Charakters ist sie von großer Relevanz für die moderne Welt, sowohl im Osten wie im Westen. Viele englischsprachige Leser haben in The Art of Living, der amerikanischen Originalausgabe dieses Buches, eine interessante und wertvolle Lektüre gefunden. Es freut mich sehr, dass das Buch jetzt durch Übersetzungen in andere Sprachen, u.a. ins Deutsche, immer weitere Verbreitung findet.
Mögen die deutschsprachigen Leser durch die Lektüre inspiriert zu eigenen Erfahrungen mit Vipassana kommen und die segensreichen Auswirkungen erleben, die diese Technik im täglichen Leben nach sich ziehen wird.
Mögen alle Wesen glücklich sein!
November 1995 S.N. Goenka
Unter den vielen Arten von Meditation, die es heute in der Welt gibt, nimmt die Vipassana-Methode, die von S.N. Goenka gelehrt wird, eine besondere Stellung ein. Diese Technik ist ein einfacher, logischer Weg, um Frieden des Geistes zu erlangen und ein glückliches, nützliches Leben zu führen. Vipassana ist innerhalb der buddhistischen Gemeinde Burmas über Jahrhunderte hinweg bewahrt und lebendig gehalten worden. Es enthält nichts, was als konfessionsgebunden angesehen werden könnte oder was nur Menschen bestimmter Religionszugehörigkeit ansprechen würde. Vipassana kann von Menschen jeglicher Herkunft geübt werden.
S.N. Goenka stammt aus einer konservativen Hindu-Familie. Er war ein sehr erfolgreicher Unternehmer und Leiter der indischen Gemeinde in Burma. Jetzt lebt er im Ruhestand. Seit seiner Jugend litt er an starker Migräne. Die Suche nach Heilung brachte ihn 1955 zu Sayagyi U Ba Khin, einem hohen Staatsbeamten und Meditationslehrer. In Vipassana, gelehrt von Sayagyi U Ba Khin, fand S.N. Goenka eine Methode, die weit über die Linderung der Symptome körperlicher Erkrankungen hinausging und sowohl kulturelle wie religiöse Grenzen überschritt. In den darauffolgenden Jahren der Praxis und des Studiums unter der Anleitung seines Lehrers verwandelte Vipassana sein Leben.
1969 wurde S.N. Goenka von Sayagyi U Ba Khin zum Vipassana-Lehrer ernannt. Im gleichen Jahr reiste S.N. Goenka nach Indien und begann dort diese Technik in ihrem Ursprungsland wieder bekanntzumachen und von neuem zu verbreiten. In einem Land, das noch immer streng in Kasten und Religionen gespalten ist, haben die Kurse von S.N. Goenka Tausende von Menschen aller Schichten und Bekenntnisse angezogen. Ebenso haben auch Tausende aus westlichen Ländern, die sich von dem praktischen Charakter der Technik angesprochen fühlten, an Vipassana-Kursen teilgenommen.
Das beste Beispiel, die positiven Aspekte Vipassanas zu veranschaulichen, ist S.N. Goenka selbst. Er ist ein pragmatischer Mensch, mit den Realitäten des Lebens vertraut und der Fähigkeit, klar und bestimmt die richtigen Entscheidungen zu treffen, ohne seine außergewöhnliche Gelassenheit zu verlieren. Diese Ruhe geht einher mit einem tiefen Mitgefühl für andere, seiner Fähigkeit, sich in Menschen einzufühlen. Trotz allem ist nichts Formelles, Strenges oder feierlich Ernstes an ihm. Er besitzt einen mitreißenden Humor, der in seinen Lehrvorträgen immer wieder zum Vorschein kommt. An sein Lächeln und sein herzerfrischendes Lachen wird sich jeder Kursteilnehmer noch lange erinnern, ebenso wie an seinen oft wiederholten Leitspruch: »Be happy!« Es ist offensichtlich, dass Vipassana ihm Glück gebracht hat und dass er aus seinem tiefsten Inneren heraus wünscht, dieses Glück mit anderen zu teilen.
Trotz seiner fesselnden Erscheinung und seines Charismas hat S.N. Goenka nicht das geringste Interesse daran, ein Guru zu sein, der seine Schüler in Abhängige verwandelt. Er lehrt stattdessen Selbstverantwortlichkeit. Wirklich testen, so sagt er, läßt sich Vipassana erst dadurch, dass man die Technik anwendet. Er ermutigt die Meditierenden, anstatt ihm zu Füßen zu sitzen, hinaus in die Welt zu gehen und dort glücklich zu leben. Jeder Form der Verehrung seiner Person weicht er aus. Wichtig ist ihm, dass seine Schüler und Schülerinnen ihre Hingabe und ihr Vertrauen in die Technik legen und mit Vipassana zu der Wahrheit in sich selbst finden.
Es war in Burma früher das Vorrecht der Mönche, Meditation zu lehren. S.N. Goenka ist zwar wie sein Lehrer Laie und Oberhaupt einer großen Familie, doch die Klarheit seiner Lehre und die Wirksamkeit der Technik wird von vielen angesehenen Mönchen und einflußreichen Ordensälteren in Burma, Indien und Sri Lanka hochgeschätzt.
S.N. Goenka besteht nachdrücklich darauf, dass Meditation, wenn sie ihre Reinheit bewahren soll, niemals zum Geschäft werden darf. Kurse und Zentren, die unter seiner Leitung geführt werden, arbeiten vollständig ohne Profitorientierung. Er selbst erhält keinerlei Vergütung für seine Arbeit, weder direkt noch indirekt, ebensowenig wie die Assistenzlehrer. Er verbreitet die Vipassana-Technik ausschließlich, um der Menschheit zu dienen und um jenen zu helfen, die Hilfe brauchen.
S.N. Goenka ist einer der wenigen spirituellen Lehrer Indiens, die gleichermaßen in Indien wie im Westen großes Ansehen genießen.
Ohne Wirbel um seine Person zu veranstalten, hat er darauf gebaut, dass sich das Interesse an Vipassana durch Empfehlung verbreitet. Dazu betont er immer wieder die Wichtigkeit der Praxis gegenüber dem bloßen Schreiben und Studieren von Büchern und Artikeln über Meditation.
Dieses Buch ist die erste vollständige Studie über seine Lehre, entstanden unter seiner Anleitung und mit seiner Zustimmung. Als Quellenmaterial dienten im wesentlichen die Vorträge, die S.N. Goenka während eines zehntägigen Vipassana-Kurses hält, zu einem geringeren Teil wurden auch seine in Englisch geschriebenen Artikel hinzugezogen. Ich habe sehr freizügig von diesem Material Gebrauch gemacht und dabei nicht nur Argumentationslinien und die Art und Weise der Darlegung bestimmter Punkte übernommen, sondern auch Beispiele verwendet, die in den Vorträgen gegeben wurden, und hin und wieder wortgetreue Wiedergaben, stellenweise sogar ganze Sätze daraus entnommen. Für diejenigen, die schon einmal an einem von ihm oder einem seiner Assistenten geleiteten Kurs teilgenommen haben, wird vieles in diesem Buch sehr vertraut klingen, und es mag sein, dass sie sogar bestimmte Vorträge oder Artikel wiedererkennen.
Während eines Kurses werden die Erklärungen des Lehrers Schritt für Schritt begleitet von den Erfahrungen der Teilnehmer in der Meditation. Hier soll das Material jedoch in einer etwas veränderten Ordnung präsentiert werden. Mit Blick auf den Leser wurde der Versuch unternommen, die Lehre so vorzustellen, wie sie tatsächlich erfahren wird: als ein logisches, ununterbrochenes Fortschreiten vom ersten Schritt bis zum letzten Ziel. Diese organische Ganzheit ist für den Meditierenden offenkundig und leicht erkennbar, die vorliegende Arbeit versucht jedoch, auch Nichtmeditierenden eine Idee dessen zu geben, was sich demjenigen enthüllt, der Vipassana übt.
In einigen Abschnitten wurde bewußt versucht, den Klang des gesprochenen Wortes zu erhalten, um einen lebendigen Eindruck von der Art und Weise zu vermitteln, wie S.N. Goenka lehrt. Dazu gehören die Geschichten zwischen den Kapiteln sowie die Fragen und Antworten am Schluß jedes Kapitels, die aus Diskussionen mit Schülern während eines Kurses oder bei privaten Interviews stammen. Einige der Geschichten gehen auf Begebenheiten aus dem Leben Buddhas zurück, andere entstammen dem reichen Erbe volkstümlicher indischer Erzählungen, wieder andere beruhen auf seinen persönlichen Erfahrungen. S.N. Goenka erzählt in seinen eigenen Worten, nicht in der Absicht, das Original aufzubessern, sondern um die Erzählungen lebendig zu präsentieren und dabei ihre Bedeutung für die Meditationspraxis hervorzuheben. Diese Geschichten lockern die ernsthafte Atmosphäre eines Vipassana-Kurses auf und laden dazu ein, sich inspirieren zu lassen, indem sie die zentralen Punkte in einer Weise illustrieren, die leicht im Gedächtnis haften bleibt. Aus der großen Palette der Geschichten, die in einem 10-Tage-Kurs erzählt werden, wurde hier nur eine kleine Auswahl zusammengestellt.
Die Zitate im Text sind der ältesten und am weitesten akzeptierten Aufzeichnung der Worte des Buddha entnommen, der Sammlung der Lehrreden (Sutta Piṭaka), so wie sie in der alten Pāli-Sprache in den Ländern des Theravada-Buddhismus erhalten geblieben ist. Um einen einheitlichen Stil im Gesamttext zu bewahren, habe ich den Versuch unternommen, alle zitierten Passagen noch einmal neu zu übersetzen. Ich habe mich dabei an den Arbeiten führender zeitgenössischer Übersetzer orientiert. Da dies jedoch keine wissenschaftliche Arbeit ist, habe ich keine genaue Wort-für-Wort-Übersetzung des Pāli-Textes angestrebt. Statt dessen habe ich mich bemüht, in einfacher und direkter Sprache den Sinn jeder Passage zu vermitteln, so wie er sich Vipassana-Schülern im Licht ihrer Meditationserfahrung erschließt. Vielleicht erscheint die Übertragung bestimmter Worte oder Textpassagen darum manchem Leser unorthodox, doch ich hoffe, dass die Übersetzung, was die Essenz, den inhaltlichen Kern angeht, der Aussage der Originaltexte in ihrer tatsächlichen, wortgetreuesten Bedeutung gerecht wird.
Aus Gründen der Übereinstimmung und der Genauigkeit sind die buddhistischen Begriffe, die im Text benutzt werden, in ihrer Pāli-Form wiedergegeben, obwohl in einigen Fällen dem Leser die Sanskrit-Form geläufiger sein mag. So wird zum Beispiel der Pāli-Begriff Dhamma anstelle der Sanskrit-Form Dharma, Kamma anstelle von Karma, Nibbāna anstelle von Nirvana, Saṅkhāra anstelle von Samskāra verwendet. Um den Text leichter verständlich zu machen, ist der Plural von Pāli-Wörten (wie im Englischen und teilweise auch im Deutschen) durch das Anhängen eines s gekennzeichnet. Im allgemeinen ist die Verwendung von Pāli-Ausdrücken im Text jedoch auf ein Minimum beschränkt, um unnötige Verwirrung und Unklarheiten zu vermeiden. Oft bieten sie jedoch eine bequeme Kurzform zur Bezeichnung von Konzepten, die dem westlichen Denken nicht vertraut sind und sehr schwer durch einen einzelnen Begriff in unserer Sprache ausgedrückt werden können. Daher schien es sinnvoll, an einigen Stellen auf das Pāli-Wort anstatt auf eine längere deutsche Erklärung zurückzugreifen. Alle im Text kursiv gedruckten Pāli-Begriffe sind im Glossar am Ende des Buches erläutert.
Die Vipassana-Technik führt bei allen Übenden, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Gesellschaftsschicht oder Geschlecht, zu den gleichen positiven Ergebnissen. Um diesem Anspruch auch formal gerecht zu werden, habe ich versucht, eine einseitig geschlechtsspezifische Sprache im Text zu vermeiden. An bestimmten Stellen habe ich jedoch das männliche Fürwort er benutzt, wenn ich mich, unabhängig vom Geschlecht, allgemein auf einen Menschen beziehen wollte, der Meditation praktiziert. Ich bitte den Leser, diese Verwendung als geschlechtlich unbestimmt zu betrachten; Frauen auszuschließen oder Männer ungerechtfertigterweise herauszustellen, wurde nicht beabsichtigt, denn solche Voreingenommenheit würde der grundlegenden Lehre und dem Geist Vipassanas widersprechen.
Ich danke den vielen Menschen, die mir bei dieser Arbeit geholfen haben. Im besonderen möchte ich S.N. Goenka meine tiefe Dankbarkeit dafür ausdrücken, dass er sich trotz seines vollen Terminkalenders die Zeit nahm, die Arbeit im Verlauf ihres Entstehungsprozesses immer wieder durchzusehen; und mehr noch möchte ich ihm dafür danken, dass er mich dahin führte, ein paar anfängliche Schritte auf dem hier beschriebenen Weg zu gehen.
In einem tieferen Sinne ist S.N. Goenka der eigentliche Autor dieser Arbeit, denn meine Absicht ist lediglich, seine Übermittlung der Lehre des Buddha vorzustellen. Das Verdienst an dieser Arbeit gebührt ihm. Für alle Mängel oder Fehler trage ich allein die Verantwortung.
Nehmen Sie einmal an, Sie hätten die Möglichkeit, sich für zehn Tage von allen Verantwortungen des täglichen Lebens freizumachen, und es gäbe einen ruhigen, abgeschiedenen Ort, abgeschirmt von störenden Einflüssen der Außenwelt, an den Sie sich zurückziehen könnten. An diesem Ort wäre für die grundlegenden Erfordernisse an Unterkunft und Verpflegung gesorgt, und Helfer stünden bereit, damit es Ihnen an nichts Wesentlichem mangelt. Als Gegenleistung würde von Ihnen lediglich erwartet, dass Sie für eine bestimmte Zeit den Kontakt mit anderen meiden und dass Sie, abgesehen von den unerläßlichen täglichen Verrichtungen, die wachen Stunden des Tages mit geschlossenen Augen verbringen und dabei Ihren Geist auf ein bestimmtes Objekt der Aufmerksamkeit richten. Würden Sie das Angebot annehmen?
Nehmen Sie an, Sie hätten von einer solchen Möglichkeit gehört und davon, dass Menschen wie Sie selbst größte Anstrengungen unternehmen, um ihre freie Zeit auf diese Weise verbringen zu können. Wie würden Sie diese Beschäftigung beschreiben? Nabelschau, würden Sie vielleicht sagen, oder Kontemplation; Wirklichkeitsflucht oder geistige Einkehr; Selbstberauschung oder Selbstsuche; introvertierte Innenschau oder Selbstbeobachtung. Ob die Assoziationen nun negativ oder positiv sind, die allgemeine Vorstellung von Meditation ist, dass es sich dabei um einen Rückzug aus der Welt handelt. Natürlich gibt es Techniken, die so arbeiten. Aber Meditation muß nicht Flucht sein. Sie kann auch ein Mittel sein, der Welt zu begegnen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, um sie und sich selbst verstehen zu lernen.
Jedes menschliche Wesen ist darauf konditioniert anzunehmen, dass die wirkliche Welt außen ist, dass Kontakt mit einer äußeren Realität, also die Suche nach körperlichen oder geistigen Impulsen von außen, die angemessene Art zu leben ist. Die meisten von uns haben es nie in Betracht gezogen, sich einmal von äußeren Kontakten abzuschneiden, um zu sehen, was in ihrem Innern vor sich geht. Schon diese Idee klingt für manche wahrscheinlich so, als würde man sich dazu entschließen, Stunden damit zu verbringen, das Testbild des Fernsehapparates anzustarren. Wir neigen dazu, eher die dunkle Seite des Mondes oder den Grund des Ozeans zu erforschen als die verborgenen Tiefen in uns selbst.
Aber tatsächlich existiert das Universum nur, wenn wir es mit Körper und Geist erfahren. Es ist niemals irgendwo anders, es ist stets hier und jetzt. Durch das Erforschen des »hier und jetzt« in uns können wir die Welt erforschen. Ohne die Welt im Innern zu untersuchen, werden wir niemals die Realität kennenlernen – nur unsere Ansichten und Meinungen über ihre Beschaffenheit. Erst durch die Beobachtung von uns selbst können wir die Realität direkt erfahren und lernen, mit ihr auf eine positive, kreative Weise umzugehen.
Eine Methode, die innere Welt zu erforschen, ist die Vipassana-Meditation, wie sie von S.N. Goenka gelehrt wird. Es ist ein praktischer Weg, die Wirklichkeit seines eigenen Körpers und Geistes zu untersuchen, die dort verborgen liegenden Probleme, gleich welcher Art, aufzudecken und zu lösen, ungenutzte Potentiale zu entwickeln und diese für sein eigenes Wohl und das Wohl anderer nutzbar zu machen.
Vipassanā bedeutet im altindischen Pāli »Einsicht«. Es ist die Essenz der Lehre des Buddha, die tatsächliche Erfahrung der Wahrheiten, von denen er sprach. Der Buddha selbst erlangte diese Erfahrung durch Meditation, und deshalb ist die Meditationspraxis das Hauptanliegen seiner Lehre. Seine Worte sind gleichermaßen Zeugnisse seiner Erfahrungen in der Meditation wie detaillierte Anweisungen darüber, wie praktiziert werden sollte, um das Ziel zu erreichen, das er erlangt hatte: die Erfahrung der Wahrheit.
Insoweit ist man sich weitgehend einig. Das Problem ist jedoch, wie man die Anweisungen des Buddha zu verstehen hat und wie man ihnen folgen soll. Während seine Worte in allgemein als authentisch anerkannten Texten erhalten geblieben sind, ist die Interpretation seiner Meditationsanweisungen ohne den Kontext einer lebendigen Praxis schwierig. Aber wenn eine Technik existiert, die über unzählige Generationen hinweg aufrechterhalten worden ist und genau die vom Buddha beschriebenen Ergebnisse zeigt, und wenn sie darüber hinaus genau mit seinen Anweisungen übereinstimmt und Punkte in ihnen erhellt, die lange Zeit unklar oder schwer verständlich schienen, dann ist diese Technik sicherlich wert, näher untersucht zu werden. Vipassana ist eine solche Methode. Es ist eine in ihrer Einfachheit, dem Fehlen jeglichen Dogmas und vor allem hinsichtlich der Ergebnisse außergewöhnliche Technik.
Vipassana-Meditation wird in zehntägigen Kursen gelehrt, die jedem offenstehen, der den ernsthaften Wunsch hat, die Technik zu lernen und körperlich und geistig dazu in der Lage ist. Während der zehn Tage halten sich die Teilnehmer ausschließlich innerhalb des Kursgeländes auf und haben keinen Kontakt mit der Außenwelt. Sie verzichten auf Lesen und Schreiben, vermeiden jegliche religiösen oder sonstigen Praktiken und arbeiten genau so, wie es die erteilten Anleitungen vorgeben. Während der gesamten Dauer des Kurses gelten einige grundlegende ethische Verhaltensregeln, wozu auch der Verzicht auf alle sexuellen Aktivitäten und die Einnahme von berauschenden oder aufputschenden Mitteln zählt. Darüber hinaus befolgen sie während der ersten neun Tage des Kurses das Schweigegebot untereinander. Davon ausgenommen ist die Möglichkeit, Probleme, die die Meditation betreffen, mit dem Lehrer zu besprechen oder sich bei praktischen Problemen an die Kursorganisatoren zu wenden.
Während der ersten dreieinhalb Tage praktizieren die Teilnehmer eine Übung zur Konzentration des Geistes. Das ist die Vorbereitung auf die eigentliche Vipassana-Technik, die am vierten Tag des Kurses vorgestellt wird. An den folgenden Tagen werden jeweils weitere Schritte innerhalb der Praxis eingeführt, so dass schließlich am Ende des Kurses die gesamte Technik im Umriß vermittelt worden ist. Am zehnten Tag endet das Schweigen, und die Meditierenden wechseln wieder über zu einem mehr nach außen orientierten Leben. Der Kurs endet am Morgen des elften Tages.
Während der zehn Tage macht der Meditierende mit großer Wahrscheinlichkeit eine Reihe von überraschenden Erfahrungen. Die erste ist, dass Meditation harte Arbeit bedeutet. Man findet sehr bald heraus, dass die allgemein verbreitete Ansicht, es handele sich dabei um eine Art von Untätigkeit oder Erholung, falsch ist. Kontinuierliches Praktizieren ist notwendig, um den geistigen Prozessen bewußt eine bestimmte Richtung zu geben. In den Anleitungen wird gesagt, man solle mit ganzem Eifer, jedoch ohne jegliche Anspannung arbeiten. Doch bis man das gelernt hat, kann die Übung sowohl frustrierend wie anstrengend sein.
Eine andere Überraschung ist, dass im Anfangsstadium die durch die Selbstbeobachtung gewonnenen Einsichten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur angenehm und erhebend sind. Normalerweise sind wir selektiv, was unsere Sichtweise von uns selbst betrifft. Wenn wir in einen Spiegel schauen, achten wir darauf, die vorteilhafteste Haltung anzunehmen und den gefälligsten Gesichtsausdruck aufzusetzen. In gleicher Weise hat jeder von uns auch ein geistiges Bild von sich, das die bewunderungswürdigen Eigenschaften betont, nachteiligere in den Hintergrund schiebt und einige Seiten unseres Charakters völlig außer acht läßt. Wir sehen das Bild, das wir gern sehen möchten, nicht die Wirklichkeit. Vipassana-Meditation ist jedoch eine Technik zur Beobachtung der Realität aus allen Blickwinkeln. Anstatt ein sorgfältig entworfenes Selbstbild zu betrachten, steht der Meditierende der unzensierten Wahrheit gegenüber, die mit Sicherheit oft schwer zu akzeptieren ist.
Zu manchen Zeiten mag es scheinen, als ob man in der Meditation statt des erhofften inneren Friedens nichts als Unruhe und Aufgewühltheit findet. Alles, was den Kurs betrifft, kann in solchen Momenten als unakzeptabel oder als Überforderung erscheinen: der anstrengende Zeitplan, die äußeren Bedingungen, die Regeln, die Anweisungen und Ratschläge des Lehrers, die Technik selbst.
Eine andere Überraschung jedoch ist, dass die Schwierigkeiten vorübergehen. An einem bestimmten Punkt lernen die Meditierenden, sich ohne große Anstrengungen zu bemühen und eine entspannte Aufmerksamkeit, ein losgelöstes, unverhaftetes Beteiligtsein aufrechtzuerhalten. Anstatt zu kämpfen, gehen sie vollkommen in der Praxis auf. Jetzt erscheinen alle Unzulänglichkeiten bezüglich der äußeren Bedingungen unwichtig, die Regeln werden zu einer hilfreichen Unterstützung, die Stunden vergehen schnell und unbemerkt. Der Geist wird ruhig wie ein Bergsee in der Morgendämmerung, der seine Umgebung perfekt widerspiegelt und gleichzeitig jenen, die näher hinsehen, seine Tiefen offenbart. Wenn diese Klarheit kommt, ist jeder Augenblick voller Bejahung, Schönheit und Frieden.
Jetzt entdeckt der Meditierende, dass die Technik tatsächlich funktioniert. Jeder neue Schritt kann wie ein gewaltiger Sprung erscheinen, und doch macht man die Erfahrung, dass man ihn schaffen kann. Am Ende der zehn Tage wird deutlich, was für eine lange Reise es seit Beginn des Kurses war. Der Meditierende hat sich einem Prozeß unterzogen, der einer chirurgischen Operation vergleichbar ist, dem Öffnen einer eitergefüllten Wunde. Die Wunde aufzuschneiden und auszudrücken, um den Eiter zu entfernen, ist schmerzhaft, aber solange das nicht getan ist, kann die Wunde nicht heilen. Sobald der Eiter entfernt ist, ist man von ihm und dem Leiden, das er verursacht hat, befreit und kann wieder gesund werden. In gleicher Weise befreit der Meditierende beim Durchlaufen eines 10-Tage-Kurses den Geist von einigen seiner Verspannungen und kann sich einer größeren geistigen Gesundheit erfreuen. Vipassana bewirkt tiefe Veränderungen im Innern, die nach dem Ende des Kurses fortdauern. Der Meditierende erfährt, dass alles, was er an geistiger Stärke während des Kurses gewonnen hat, was immer er gelernt hat, im täglichen Leben anwendbar ist – für das eigene Wohlergehen und zum Wohle anderer. Das Leben wird harmonischer, fruchtbarer und glücklicher.
Die Technik, die S.N. Goenka lehrt, lernte er von seinem Lehrer Sayagyi U Ba Khin aus Burma, der wiederum Schüler von Saya U Thet war, einem bekannten burmesischen Meditationslehrer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Saya U Thet war ein Schüler von Ledi Sayadaw, einem berühmten burmesischen Mönch und Gelehrten des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Weiter lassen sich die Namen der Lehrer dieser Technik nicht zurückverfolgen, da entsprechende Aufzeichnungen fehlen. Doch diejenigen, die sie praktizieren, sind überzeugt, dass Ledi Sayadaws Lehrer die Technik über Generationen hinweg – seit die Lehre des Buddha nach Burma kam – in der traditionellen Überlieferung bewahrt haben.
Ohne Zweifel stimmt die Technik mit den Anweisungen des Buddha zur Meditation überein, mit der einfachsten, wörtlichsten (und direktesten) Bedeutung seiner Worte. Und, was das Wichtigste ist, sie liefert greifbare Ergebnisse, die gut, persönlich, handfest und unmittelbar erfahrbar sind.
Dieses Buch ist kein »Do-it-yourself«-Handbuch für die Praxis der Vipassana-Meditation, und diejenigen, die es in der Weise anwenden, tun dies ganz und gar auf eigene Gefahr. Die Technik sollte nur im Rahmen eines Kurses gelernt werden, wo entsprechend geschulte Lehrer für eine geeignete Umgebung und angemessene Bedingungen sorgen. Meditation ist eine ernsthafte Angelegenheit, ganz besonders die Vipassana-Technik, die sich mit den Tiefen des Geistes befaßt. Man sollte nie unbesonnen oder leichtfertig an sie herangehen. Wenn das Lesen dieses Buches Sie inspirieren sollte, Vipassana auszuprobieren, können Sie sich an die am Ende des Buches aufgeführten Adressen wenden.
Der vorliegende Text hat lediglich die Absicht, einen Überblick über die Vipassana-Methode zu geben, wie sie von S.N. Goenka gelehrt wird, in der Hoffnung, dass dadurch das Verständnis der Lehren des Buddha und das Verständnis der Meditationstechnik, die die Essenz dieser Lehren ist, erweitert und vertieft wird.
Ein junger Professor unternahm eine Seereise. Er war ein hochgebildeter Mann mit einer langen Reihe von Titeln, aber mit nur wenig Lebenserfahrung. Zu der Mannschaft des Schiffes, auf dem er reiste, gehörte ein ungebildeter älterer Seemann, der nie Lesen und Schreiben gelernt hatte. Der machte es sich zur Gewohnheit, jeden Abend den jungen Professor in seiner Kabine aufzusuchen, um seinen Vorträgen zu lauschen, in denen er sich über viele verschiedene Fachgebiete ausließ. Er war beeindruckt von der Gelehrtheit des jungen Mannes.
Eines Abends, als der Seemann nach mehreren Stunden die Kabine verlassen wollte, fragte ihn der Professor:
»Alter Mann, hast du Geologie studiert?«
»Was ist das, Sir?«
»Die Wissenschaft, die sich mit der Erde befaßt.«
»Nein, Sir, ich bin nie auf irgendeiner Schule oder gar Universität gewesen. lch habe nie irgend etwas Besonderes gelernt und schon gar nicht studiert.«
»Alter Mann, du hast ein Viertel deines Lebens verschwendet.«
Mit einem langen Gesicht ging der Seemann davon. »Wenn ein solch gebildeter Mann das sagt, dann muß es zweifellos wahr sein«, dachte er. »lch habe ein Viertel meines Lebens vertan!«
Am nächsten Abend, als der Seemann wieder die Kabine verlassen wollte, befragte ihn der Professor wiederum: »Alter Mann, hast du Ozeanographie studiert?«
»Was ist das, Sir?«
»Die Wissenschaft, die sich mit dem Meer befaßt.«
»Nein, Sir, ich habe nie irgend etwas studiert.«
»Alter Mann, du hast dein halbes Leben vergeudet.«
Mit einem noch längeren Gesicht als am Vorabend ging der Seemann davon: »Ich habe mein halbes Leben verschwendet; dieser gelehrte Mann sagt es.«
Am darauffolgenden Abend befragte der junge Professor den alten Seemann wieder: »Alter Mann, hast du Meteorologie studiert?«
»Was ist das, Sir? Ich habe bis jetzt noch nicht einmal dieses Wort gehört.«
»Es ist die Wissenschaft, die sich mit dem Wind, dem Regen, dem Wetter befaßt.«
»Nein, Sir. Wie ich ihnen bereits sagte, ich war nie auf irgendeiner Schule. Ich habe nie irgend etwas gelernt oder studiert.«
»Du hast dich nicht mit der Wissenschaft von der Erde befaßt, auf der du lebst! Du weißt nichts über die Wissenschaft, die sich mit dem Meer beschäftigt, auf dem du deinen Lebensunterhalt verdienst! Und nun sagst du, du hast auch nicht die Wissenschaft vom Wetter studiert, mit dem du tagtäglich zu tun hast? Alter Mann, du hast drei Viertel deines Lebens vergeudet.«
Der alte Seemann war sehr unglücklich: »Dieser gelehrte Mann sagt, dass ich drei Viertel meines Lebens vergeudet habe! Ohne Zweifel, ich muß drei Viertel meines Lebens vertan haben.«
Am nächsten Tag kam die Reihe an den alten Seemann. Er kam zu der Kabine des jungen Mannes gerannt und rief: »Herr Professor, haben Sie Schwimmologie studiert?«
»Schwimmologie? Was soll das sein?«
»Können Sie schwimmen, Sir?«
»Nein, Schwimmen habe ich nie gelernt.«
»Herr Professor, Sie haben ihr ganzes Leben vergeudet! Das Schiff ist auf einen Felsen gelaufen und sinkt. Diejenigen, die schwimmen können, haben die Chance, das naheliegende Ufer zu erreichen, aber diejenigen, die nicht schwimmen können, werden ertrinken. Es tut mir so leid, Herr Professor, Sie haben ihr Leben vertan.«
Sie können alle »logien« der Welt studieren, aber wenn Sie nichts von Schwimmologie verstehen, sind all ihre Studien nutzlos. Sie können Abhandlungen übers Schwimmen lesen oder Bücher übers Schwimmen schreiben, Sie können über die subtilen theoretischen Aspekte der Schwimmkunst mit anderen debattieren, aber wie kann Ihnen das weiterhelfen, wenn Sie es ablehnen, selbst ins Wasser zu steigen? Sie müssen die Kunst des Schwimmens in der Praxis lernen.
Jeder von uns sucht Frieden und Harmonie, denn das ist es, woran es in unserem Leben mangelt. Wir möchten alle glücklich sein; wir betrachten das als unser Recht. Doch Glück ist ein Ziel, das wir öfter anstreben, als wir es erreichen. Hin und wieder machen wir alle die Erfahrung des Leidens – wir fühlen uns ruhelos, gereizt, unausgeglichen und unzufrieden. Auch wenn wir in diesem Moment vielleicht frei sind von derartigen leidvollen Zuständen, so können wir uns doch alle an Phasen erinnern, in denen wir von ihnen geplagt wurden, und wir können schon jetzt voraussehen, dass es ganz sicher Zeiten geben wird, wo sie wiederkehren werden. Schließlich müssen wir alle einmal dem Tod ins Auge sehen.
Dazu kommt, dass unser persönliches Leiden keineswegs auf uns selbst begrenzt bleibt, wir streuen es vielmehr aus. Die Atmosphäre um einen unglücklichen Menschen wird aufgeladen mit Unruhe und Anspannung, so dass alle, die in diesen Umkreis geraten, ebenfalls ruhelos, bedrückt und unglücklich werden. Auf diese Weise verbinden sich individuelle Spannungen miteinander und erzeugen die Spannungen innerhalb der Gesellschaft.
Dies ist das grundlegende Problem des Lebens: seine unbefriedigende Natur. Es geschehen Dinge, die wir nicht wollen, und andere, die wir uns wünschen, geschehen nicht. Und wir wissen nicht, wie oder warum dieser Prozeß abläuft, genauso wie wir nichts über unseren eigenen Anfang und unser Ende wissen.
Vor 2500 Jahren machte sich in Nordindien ein Mann daran, dieses Problem des menschlichen Leidens zu erforschen. Nach Jahren der Suche und des Ausprobierens unterschiedlichster Methoden entdeckte er einen Weg, Einsicht in die Wirklichkeit seines eigenen Wesens zu gewinnen und wirkliche Freiheit vom Leiden zu erfahren. Nachdem er so das höchste Ziel, die Befreiung von Leiden und Spannungen, erreicht hatte, widmete er den Rest seines Lebens seinen Mitmenschen: Er zeigte ihnen den Weg, auf dem sich jeder selbst befreien kann.
Dieser Mann – Siddhattha Gotama, bekannt als der Buddha, »der Erleuchtete« – behauptete niemals, irgend etwas anderes zu sein als ein Mensch. Wie alle großen Lehrer wurde er zum Gegenstand von Legenden. Aber was auch immer an phantastischen Geschichten über seine früheren Existenzen oder seine wundersamen Kräfte erzählt worden ist, alle Berichte sind sich darin einig, dass er niemals behauptet hat, göttlich zu sein oder nach göttlichen Eingebungen zu handeln. Welche besonderen Qualitäten er auch immer besaß, es waren in erster Linie menschliche Qualitäten, die er zur Vollkommenheit gebracht hat. Deshalb ist alles, was er erreichte, für jedes menschliche Wesen erreichbar.
Der Buddha lehrte nicht irgendeine Religion, Philosophie oder ein Glaubenssystem. Er nannte seine Lehre Dhamma, das »Gesetz« oder das Gesetz der Natur. Dogmen oder Spekulationen interessierten ihn nicht. Statt dessen bot er eine universelle, praktische Lösung für ein universelles Problem an. »Ich lehre und lehrte stets nur über das Leiden und die Auflösung des Leidens.«[1] Er lehnte es ab, über irgend etwas anderes zu diskutieren.
Er betonte immer wieder, dass diese Lehre nicht von ihm erfunden wurde und ihm auch nicht von göttlichen Wesen offenbart worden war. Es war ganz einfach die Wahrheit, die Wirklichkeit, die er durch seine eigenen Bemühungen erkannt hatte, so wie viele Menschen vor ihm und viele nach ihm. Er beanspruchte kein alleiniges Recht auf die Wahrheit.
Darüber hinaus machte er keine besondere Autorität für seine Lehre geltend – weder das Vertrauen, das die Menschen in ihn setzten, noch die offensichtliche logische Natur dessen, was er lehrte, könnten eine solche Autorität begründen. Im Gegenteil, er erklärte, dass es richtig sei, zu zweifeln und alles, was jenseits der eigenen Erfahrung liegt, einer Prüfung zu unterziehen:
»Glaube nicht einfach, was dir gesagt wird oder was immer von früheren Generationen überliefert worden ist oder was der allgemeinen Meinung entspricht oder was die Schriften behaupten. Akzeptiere eine Sache nicht allein aufgrund logischer Schlußfolgerungen als wahr, noch aufgrund der Bewertung ihrer äußeren Erscheinung oder weil du Vorlieben für eine bestimmte Ansicht hegst oder aufgrund ihrer Plausibilität oder weil dein Lehrer dir sagt, dass es so ist. Aber wenn du selbst aufgrund direkter Erfahrung sicher weißt, ›diese Grundsätze sind unheilsam, tadelnswert und werden von den Weisen verurteilt, nimmt man sie für sich an und führt sie aus, richten sie nur Schaden an und erzeugen Leiden‹, dann solltest du sie aufgeben. Und wenn du selbst aus direkter Erfahrung weißt, ›diese Grundsätze sind heilsam, untadelig und werden von den Weisen gepriesen; nimmt man sie für sich an und führt sie aus, führen sie zu Wohlergehen und Glück‹, dann solltest du sie akzeptieren und in die Praxis umsetzen.«[2]
Die höchste Autorität ist die eigene Erfahrung der Wahrheit. Nichts sollte nur auf der Basis von Vertrauen oder Glauben akzeptiert werden. Wir müssen alles zunächst untersuchen, um zu sehen, ob es auch logisch, praktisch und nutzbringend ist. Es reicht aber nicht aus, eine Lehre, die man mit den Mitteln des Verstandes überprüft hat, nur auf der intellektuellen Ebene zu akzeptieren. Wenn uns die Wahrheit von Nutzen sein soll, müssen wir sie direkt erfahren. Nur dann können wir wissen, dass sie wirklich wahr ist. Der Buddha betonte immer wieder, dass er nur das lehre, was er durch direktes Erkennen erfahren habe, und er ermutigte andere, selbst solches Wissen zu entwickeln, damit jeder zur Autorität für sich werde: »Mache ein jeder von euch sich selbst zu einer Insel, macht euch selbst zu eurer Zuflucht; es gibt keine andere Zuflucht. Macht die Wahrheit zu eurer Insel, macht die Wahrheit zu eurer Zuflucht; es gibt keine andere Zuflucht.«[3]
Die einzige wirkliche Zuflucht im Leben, der einzige feste Boden, auf dem man stehen kann, die einzige Autorität, die uns wirklich leiten und Schutz gewähren kann, ist die Wahrheit: Dhamma, das Gesetz der Natur, von uns selbst erfahren und bewiesen. Deshalb legte der Buddha in seiner Lehre immer das größte Gewicht auf die direkte Erfahrung der Wahrheit. Was er erfahren hatte, erläuterte er so klar wie irgend möglich, um anderen eine Richtschnur an die Hand zu geben, mit deren Hilfe sie auf ihre eigene Realisierung der Wahrheit hinarbeiten konnten. Er erklärte: »Die Lehre, die ich dargelegt habe, kennt keine Trennung von innen und außen. Nichts bleibt in der Faust des Lehrers versteckt.«[4] Es ist keine esoterische Lehre für wenige Auserwählte. Im Gegenteil, er wollte das Gesetz der Natur so einfach und klar und so umfassend wie möglich bekanntmachen, weil es so vielen Menschen wie möglich helfen sollte.
Der Buddha wollte keine Sekte oder einen Persönlichkeitskult mit sich selbst als Zentrum etablieren. Er vertrat stets die Meinung, dass die Persönlichkeit dessen, der lehrt, im Vergleich zur Lehre von untergeordneter Bedeutung sei, und er wollte anderen zeigen, wie sie sich selbst befreien können, nicht, wie sie zu einer blinden Gefolgschaft werden. Zu einem seiner Anhänger, der eine übertriebene Verehrung für ihn an den Tag legte, sagte er einmal: »Was nützt es dir, diesen Körper zu sehen, der dem Verfall ausgeliefert ist? Derjenige, der das Dhamma sieht, sieht mich; derjenige, der mich sieht, sieht das Dhamma.«[5]
Ehrfurcht und Ergebenheit einem anderen Menschen gegenüber, egal wie verehrungswürdig oder heilig er sein mag, ist nicht ausreichend, um irgend jemanden zu befreien; es kann keine Befreiung oder Erlösung ohne die direkte Erfahrung der Wirklichkeit geben. Deshalb hat die Wahrheit Vorrang, nicht derjenige, der sie spricht. Demjenigen, der die Wahrheit lehrt, gebührt all unser Respekt. Der beste Weg, diesen Respekt zu zeigen, ist jedoch, daran zu arbeiten, die Wahrheit selbst zu erfahren. Als dem Buddha gegen Ende seines Lebens übertriebene Ehrbezeigungen entgegengebracht wurden, bemerkte er dazu: »Dies ist nicht die Art, wie ein Erleuchteter auf rechte Weise geehrt wird oder ihm Respekt gezeigt oder Ehrerbietung entgegengebracht oder Achtung erwiesen oder Anerkennung gezollt wird. Vielmehr sind es der Mönch oder die Nonne, der Laienanhänger oder die Laienanhängerin, die unerschütterlich auf dem Pfad Dhammas gehen, von den ersten Schritten bis hin zum letztendlichen Ziel, die Dhamma praktizieren und auf rechte Weise arbeiten, welche dem Erleuchteten die größte Ehre erweisen und mit der größten Hochschätzung Respekt zeigen, Ehrerbietung entgegenbringen, Achtung erweisen und Anerkennung zollen.«[6]
Was der Buddha lehrte, war ein Weg, dem jeder Mensch folgen kann. Er nannte diesen Weg, der das Praktizieren von acht miteinander zusammenhängenden Teilbereichen umfaßt, den Edlen Achtfachen Pfad. Der Pfad ist edel in dem Sinn, dass jeder, der diesen Weg beschreitet, dazu bestimmt ist, ein edler, ja, heiliger Mensch zu werden, der sich vom Leiden befreit hat.
Es ist ein Weg der Einsicht in die Natur der Wirklichkeit, ein Pfad der Wahrheitserkenntnis. Um unsere Probleme zu lösen, müssen wir unsere Situation so sehen, wie sie wirklich ist. Wir müssen lernen, oberflächliche, scheinbare Wirklichkeiten zu erkennen, und die Fähigkeit entwickeln, über diese äußeren Erscheinungen hinauszugehen und tiefer vorzudringen, um über immer subtilere Wahrheiten die letztendliche Wahrheit zu ergründen und schließlich die Wahrheit der Freiheit vom Leiden zu erfahren. Welchen Namen wir dieser Wahrheit von der Befreiung auch immer geben wollen, sei es nun Nibbāna, »Himmel« oder irgendein anderes Wort, ist unwichtig. Wichtig ist nur die Erfahrung.
Der einzige Weg, Wahrheit direkt zu erfahren, ist die Innenschau, die Selbstbeobachtung. Unser ganzes Leben lang haben wir nach außen geschaut. Wir waren immer daran interessiert, was außen geschieht, was andere tun. Falls überhaupt, haben wir nur sehr selten versucht, uns selbst zu untersuchen, unsere eigene geistige und körperliche Struktur, unsere Handlungen, unsere Wirklichkeit. Deshalb kennen wir uns selbst nicht. Wir erkennen nicht, wie sehr diese Unwissenheit uns schadet, in welchem Ausmaß wir die Sklaven von Kräften in unserem Innern bleiben, derer wir uns nicht bewußt sind.
Diese innere Finsternis muß vertrieben werden, damit die Wahrheit deutlich wird. Wir müssen Einsicht in unsere eigene Natur gewinnen, um die Natur des Daseins zu verstehen. Daher ist der Weg, den der Buddha aufzeigte, ein Weg des Nach-Innen-Schauens, der Selbstbeobachtung. Er erklärte: »Innerhalb dieses nur sechs Fuß langen Körpers, der den Geist mit seinen Wahrnehmungen enthält, ergründe ich das Universum, seinen Ursprung, sein Ende und den Weg, der zu seinem Ende führt.«[7] Das gesamte Universum und die Gesetze der Natur, die es regieren, müssen in uns selbst erfahren werden. Sie können nur in uns selbst erfahren werden.
Dieser Weg ist auch ein Weg der Reinigung. Wir untersuchen die Wahrheit über uns selbst nicht aus müßiger intellektueller Neugier, sondern mit einer bestimmten Absicht. Indem wir uns selbst beobachten, werden wir uns zum erstenmal der konditionierten Reaktionen[1]