Die Kunst, nicht zu lernen - Fritz Simon - E-Book

Die Kunst, nicht zu lernen E-Book

Fritz Simon

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Beschreibung

In unserem Handeln erleben wir permanent den Unterschied zwischen Absicht und Wirkung, zwischen Wollen und Können. Diese Paradoxien in autonomen Systemen sorgen dafür, dass Erziehen, Kurieren und Regieren zu "unmöglichen" Berufen werden und zeigen dass unsere Vorstellungen von Macht und Ohnmacht revidiert werden müssen. Fritz B. Simon beschreibt diese Revision aus systemischer Sicht und entfaltet ungewöhnliche Ideen und Anregungen, die unseren Alltag und unser Handeln in einem neuen Licht erscheinen lassen.

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Die Kunst, nicht zu lernen

Fritz B. Simon

Und andere Paradoxien in Psychotherapie, Management, Politik …

Siebte Auflage, 2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin ✝ (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

unter Verwendung des Bildes „Mona Lisa“

von Leonardo da Vinci (um 1503-06)

Satz: Paul Richardson

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Siebte Auflage, 2022

ISBN 978-3-89670-613-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8354-9 (ePUB)

© 1997, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Einleitung – „Kunst“ kommt von „können“

1. Warum Psychotherapie unmöglich ist und trotzdem funktioniert

Systemtheoretische Aspekte der psychotherapeutischen Praxis

2. Die Kunst, ein guter Analysand zu sein

Das Paradox der „Übertragung“

3. Emanzipation durch Anpassung

Soziale Perspektivenübernahme in der systemischen Therapie

4. Das verlorene Vertrauen und der Ruf nach Kontrolle

Komplexitätsreduktion durch Ausgrenzung

5. Die Kunst der Chronifizierung

Über die Anpassung von System und Umwelt

6. Linearität und Puritanismus

Über die Verwirrung des Kausalitätsbegriffs

7. Sich einmischen oder sich raushalten

Zur Verantwortung des Familientherapeuten

8. Wer entscheidet, wer entscheidet?

Macht und Ohnmacht in Zweierbeziehungen

9. Auf Gandhis Spuren?

Gewaltfreie Machtstrategien zwischen Widerstand und Herrschaftsanspruch

10. Die Organisation der Selbstorganisation

Thesen zum „systemischen Management“

11. Die Kunst, nicht zu lernen

Warum Ignoranz eine Tugend ist

12. Ohnmacht der Macht

Über den Unterschied von Absicht und Wirkung

Literatur

Quellennachweis

Über den Autor

Einleitung – „Kunst“ kommt von „können“ …

… und nicht von „wollen“,sonst hieße es „Wulst“!

(Graffiti, Autor unbekannt)

Werde ich gefragt, wie ich als Psychiater und Psychotherapeut dazu kam, mich an system- und kommunikationstheoretischen Modellen zu orientieren, so gebe ich manchmal folgende, einigermaßen wahr klingende Begründung:

Als junger Arzt arbeitete ich in einer großen psychiatrischen Anstalt. Meine Rolle brachte es mit sich, daß ich unter einem ständigen Handlungsdruck stand. Tobende Patienten wurden unter Gewaltanwendung von der Polizei eingeliefert, Ehefrauen brachten ihre gerade für eine viertel Stunde zu einer Entziehungskur motivierten, wie immer betrunkenen Ehemänner, depressive Hausfrauen wollten wieder in die Klinik, weil es ihnen nirgends so gut gegangen sei, wie vor einem halben Jahr bei ihrem letzten Aufenthalt, Bildzeitungs-Reporter – stets an vorderster Front, wenn es darum geht, für das Wohl der Mitbürger zu kämpfen – brachten potentielle Selbstmörder, die ihre Abschiedsbriefe zur Veröffentlichung eingereicht hatten, Passanten lieferten verwirrt und verloren wirkende, vollgetoxte Jugendliche ein usw. Meine Kollegen und ich wurden stets mit großen, erwartungsvollen Augen angeblickt, jedermann wartete darauf, daß wir endlich „etwas tun“, schließlich „mußte etwas geschehen“, denn „so konnte es nicht weitergehen“. Wir sollten oder mußten ständig Schicksal spielen, ob wir wollten oder nicht. Die Situation wurde für uns dadurch erschwert (oder erleichtert – das hing jeweils von der individuellen Einstellung ab), daß wir de facto über ein gehöriges Maß an Macht zu verfügen schienen.

Mir wurde sehr schnell bewußt, daß ich in meiner Rolle fast alles tun konnte (und meist auch tat), ohne irgend etwas zu verstehen. Mein persönlicher Rettungsversuch bestand darin, mich in eine psychoanalytische Ausbildung zu begeben. Ich verband damit die Hoffnung, anschließend meine Patienten besser verstehen zu können. Und – um allen Mißverständnissen gleich zu Beginn vorzubeugen: Ich habe viel davon profitiert. Als ich meine Ausbildung zum Psychoanalytiker aber abgeschlossen hatte und mit derselben psychiatrischen Klientel arbeitete, fand ich mich plötzlich in der umgekehrten Situation wie zuvor: Ich „verstand“ nunmehr nahezu alles, und trotzdem, oder noch schlimmer: Gerade deswegen konnte ich nun nichts mehr tun. Ich konnte und durfte das Verhalten meiner Patienten psychodynamisch nur noch deuten, ich konnte aus diesen Interpretationen ihres Innenlebens aber keine schlüssigen Strategien für mein eigenes Verhalten als Rollenträger innerhalb einer Institution ableiten. Es nützte mir recht wenig, Hypothesen über den vermeintlichen „Gegenstand“ meiner Erkenntnis, die Psyche meiner Patienten, erstellen zu können, was ich brauchte, waren Anleitungen für die alltägliche Kommunikation mit ihnen. Und die war offensichtlich nicht allein vom jeweiligen Patienten oder seiner Psyche bestimmt und auch nicht von mir oder meiner Psyche, nicht einmal von den Besonderheiten unserer Zweierbeziehung, sondern vom kulturellen, gesellschaftlichen, institutionellen und organisatorischen Rahmen unseres Zusammentreffens. Was ich für mein Alltagshandeln brauchte, war eine Theorie, in der ich selbst vorkam und die mir erklärte, welche Folgen meine eigenen Handlungen für mich selbst hatten.

System- und Kommunikationstheorie eröffneten mir diese Möglichkeit, aus theoretischen Erwägungen brauchbare Handlungsanweisungen für den Alltag abzuleiten. Ich konnte mein Handeln als Beitrag zur Herstellung nützlicher oder weniger nützlicher Kommunikationsmuster reflektieren und Konsequenzen daraus ziehen.

Hier liegt meines Erachtens der Nutzen systemischen Denkens. Kommunikation ist das, was soziale Systeme entstehen läßt, und kein Mensch entgeht der Notwendigkeit zu kommunizieren. Jeder von uns bastelt an der Wirklichkeit sozialer Systeme mit. Systemund Kommunikationstheorie können daher einen (sicher nicht den einzigen) Orientierungsrahmen für das Handeln in sozialen Zusammenhängen zur Verfügung stellen.

Wer immer aufgrund seiner Rolle vor der Aufgabe steht, das Verhalten anderer Menschen oder soziale Prozesse zielgerichtet beeinflussen zu sollen (also Eltern, Lehrer, Therapeuten, Berater, Manager, Politiker usw.), muß mit dem Widerspruch leben, die Verantwortung für das Verhalten von Systemen zu tragen, die ganz offensichtlich nur in sehr begrenztem Maße steuerbar sind.

Als Psychiater verfügte ich über eine beachtliche Menge an Machtmitteln: Ich konnte meine Patienten zwangsweise in eine geschlossene Anstalt einweisen, sie mit Lederriemen am Bett fixieren und ihnen gegen ihren Willen – unterstützt von großen, dicken Pflegern – Spritzen verabreichen (lassen). Mir waren, staatlich legitimiert, Gewaltmaßnahmen erlaubt, welche die körperliche Integrität meiner Patienten verletzten. Allerdings konnte ich all die mit meiner institutionellen Rolle verbundene Macht nur dort einigermaßen zuverlässig nutzen, wo es darum ging, Patienten (vorübergehend) an unerwünschten Verhaltensweisen zu hindern: daß sie die Klinik verließen, mehr Geld ausgaben, als sie besaßen, sich oder andere verletzten usw. Kurz gesagt: Ich konnte sie daran hindern zu tun, was sie wollten. Ich konnte aber trotz all meiner Macht nicht in voraussagbarer Weise sicherstellen, daß sie taten, was ich wollte, und sich z. B. arbeits- und liebesfähig zeigten, froh, glücklich und erfolgreich wurden. Ganz im Gegenteil, sehr häufig hatte die Nutzung meiner institutionellen Macht paradoxe Effekte. Die Patienten behielten nicht nur ihre als „symptomatisch“ klassifizierten Verhaltensweisen bei, sondern manchmal verstärkten sie sie noch; und nicht selten entwickelten sie eine erstaunliche und erschreckende Kreativität bei der Entwicklung neuer, mich überraschender oder von mir nicht nur nicht gewünschter, sondern befürchteter Verhaltensweisen. Nur zu oft fühlte ich mich vollkommen ohnmächtig, und ich erlebte meine Patienten, die Besitzer der Symptome, in ihrer vermeintlichen Ohnmacht als sehr mächtig.

Sie gingen in den „Widerstand“, und die Überwindung dieses Widerstandes folgte nicht den wunderbar berechenbaren Regeln der Mechanik. Das Erreichen des Ziels ließ sich nicht mit der aufgewandten Kraft korrelieren. Manchmal führten Interventionen, die von mir keine großen Anstrengungen erforderten, zu radikalen Änderungen und „Wunderheilungen“, und manchmal führte noch so großes Engagement zum Gegenteil dessen, was angezielt wurde. Gut gemeint erwies sich leider oft als das Gegenteil von gut.

Ganz ähnliche Erfahrungen machte ich dann später als Familientherapeut: Die Tragödien und Katastrophen, mit denen ich konfrontiert war, schienen mir meist nicht die Folge böser Absichten, sondern das Resultat verantwortungsbewußten Handelns, gutgemeinter Kontrollversuche, die zu Machtkämpfen geworden waren.

Auch als Organisationsberater konnte ich die Widersprüchlichkeiten und Paradoxien studieren, die mit den Versuchen, Beharrung und Veränderung in sozialen Systemen zu steuern, verbunden sein können. Die Möglichkeiten, innerhalb sozialer Systeme zielgerichtet zu handeln, erweisen sich als begrenzt. Inputs und Outputs sind nicht geradlinig im Sinne des Kausalitätsprinzips miteinander verknüpft; nichtintendierte Nebenwirkungen von Aktionen und Interventionen gewinnen häufig eine größere Bedeutung als die ursprünglich erstrebten Wirkungen; die Komplexität der Systemzusammenhänge bleibt undurchschaubar, und viele Maßnahmen werden – ohne daß dies beabsichtigt wäre oder bewußt würde – zu paradoxen Interventionen. Was wir können, d. h. das, was wir vermögen und zustande bringen, ist nur zu oft etwas anderes, als wir wollen. Zwischen den Absichten, die wir mit unserem Handeln verbinden, und ihren Wirkungen innerhalb sozialer Systeme besteht ein großer Unterschied.

Diesem Unterschied zwischen Wollen und Können – der Beziehung zwischen Ohnmacht und Kunst – will sich dieses Buch widmen. Es geht von praktischen Erfahrungen der Therapie und Beratung aus, um sie dann system- und kommunikationstheoretisch zu reflektieren. Sein Aufbau folgt dem (postmodernen?) Design von Flickenteppichen. Die meisten Kapitel sind ursprünglich als Artikel oder Vorträge geschrieben und/oder verstreut in unterschiedlichen Fachzeitschriften publiziert worden. Ich habe sie alle überarbeitet, aktualisiert und von unnötigen Wiederholungen befreit, die den Lesefluß stören könnten. Im besten Fall entsteht durch solch ein Patchwork ein größeres Ganzes, das seine eigenen Qualitäten entwickelt; im schlechtesten Fall weist es den zweifelhaften Charme aneinandergehefteter Topflappen auf. Meine Absicht war natürlich, ein in sich geschlossenes Buch zu produzieren. Deshalb habe ich die einzelnen Kapitel nicht der Chronologie ihrer ursprünglichen Entstehung entsprechend, sondern thematisch geordnet. Das Konstruktionsprinzip des Buches hat aber zwangsläufig zur Folge, daß es nicht systematisch durchkonstruiert ist.

Da – wie bereits erwähnt – zwischen Können und Wollen ein Unterschied bestehen kann, habe ich mich für den Fall, daß dieses Buch doch ein Beispiel für die Kunst, Topflappen lose aneinanderzuheften, sein sollte, bemüht, die einzelnen Kapitel als selbständige Einheiten zu erhalten. So bleibt dem eigensinnigen Leser die Freiheit – falls er unbedingt will –, die Reihenfolge der Lektüre selbst zu bestimmen.

Am Anfang stehen psychotherapeutische Fragestellungen. Sie scheinen mir aber auf einer allgemeineren Ebene auch für den Nichttherapeuten relevant, da Therapie so etwas wie eine Laborsituation für Veränderungsprozesse darstellt. Die psychoanalytische Situation bietet ein einzigartiges und beispielhaftes Modell für die Paradoxien, die in Zweierbeziehungen drohen, wenn einer der Beteiligten beansprucht, die Wahrheit über den anderen zu besitzen, und versucht, ihm Veränderung und Entwicklung zu ermöglichen. Was zwischen Analytiker und Analysand geschieht, kann ähnlich zwischen Eltern und Kindern, zwischen Vorgesetzten und Angestellten usw. geschehen. Auch die anderen Themen aus dem therapeutischen Bereich können als exemplarisch für andere soziale Systeme betrachtet werden. Die Frage, wie mit unerfüllten Erwartungen, mit abweichendem Verhalten, Unberechenbarkeit und der dadurch gesteigerten Komplexität umgegangen wird, wie mit Veränderungen der Umwelt usw., spielt für das Management von Wirtschaftsbetrieben eine ebenso große Rolle wie für therapeutische Einrichtungen. Und Fragen des Managements sind für die Übernahme von Verantwortung innerhalb der eigenen Familie letztlich ebenso wichtig wie für das Ausfüllen von Führungsfunktionen innerhalb eines Unternehmens. In jedem Fall geht es um soziale Organisationsprozesse und ihre Beeinflussung.

Die in den hier versammelten Vignetten zugrunde gelegte systemische Perspektive ist transdisziplinär, das heißt, sie hält sich nicht an die Abgrenzungen traditioneller Fachgebiete. Das Interesse gilt dem Spektrum sozialer Systeme von der Zweierbeziehung über die Familie zu größeren Organisationen, Unternehmen, Institutionen, politischen Prozessen …

1. Warum Psychotherapie unmöglich ist und trotzdem funktioniert – Systemtheoretische Aspekte der psychotherapeutischen Praxis

UNMÖGLICHE BERUFE

In einem der vielen Momente, in denen er wieder einmal drohte, im Frust seines therapeutischen Alltags unterzugehen, formulierte Sigmund Freud die Einsicht, daß seine Profession neben Erziehen und Regieren zu den unmöglichen Berufen gehöre (Freud 1937). Jeder Therapeut kennt diesen Satz, zumindest hat er in seinem beruflichen Leben erfahren müssen, daß er stimmt. Und sicher dürfte auch jeder, der als Vater, Mutter, Lehrerin oder Kindergärtner versucht hat zu erziehen, oder als Politiker, Manager oder als Vorsitzender eines Kleintierzüchtervereins versucht hat zu regieren, die Unmöglichkeit seines Berufs schmerzlich erlebt haben. Wieder eine der vielen genialen Einsichten Sigmund Freuds. Warum er Recht hatte und warum es trotzdem sinnvoll sein könnte, seinen Beruf nicht aufzugeben, soll im folgenden aus einer system- und kommunikationstheoretischen Perspektive erklärt werden. Psychotherapie bietet sich dabei als Musterbeispiel solch unmöglicher Aufgaben an: Stets versuchen dabei Menschen, andere Menschen und/oder soziale Systeme zielgerichtet zu verändern. Was hier über Psychotherapie gesagt wird, kann also auch auf andere, in dieser Hinsicht ähnliche Bereiche übertragen werden.

GLEICHE WORTE, UNTERSCHIEDLICHE BEDEUTUNGEN

Zuvor jedoch eine Warnung: Wenn man einmal von systemischen Familientherapeuten absieht, so sind die wenigsten Menschen mit der Terminologie und den stillschweigenden und teilweise sehr abstrakten Vorannahmen der Systemtheorie vertraut. „Systeme kann man nicht küssen“, hat einmal ein berühmter Mensch gesagt, dessen Namen die Geschichte leider nicht überliefert hat. In einer nach oben offenen Nichtküßbarkeits-Skala, die den Abstraktionsgrad von Theorien mißt, sind systemische Therapietheorien ziemlich weit oben anzusiedeln. Mißverständnisse sind also vorprogrammiert.

Nehmen wir zum Beispiel den für ein systemtheoretisches Verständnis therapeutischer Prozesse zentralen Begriff der Störung. Ich habe lange überlegt, ob ich dieses Kapitel nicht lieber „Die Störungen der Psychotherapeuten“ nennen sollte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte solch ein Titel gewisse voyeuristische Erwartungen geweckt – und das ist ja erfahrungsgemäß ganz nützlich, um Leser anzulocken. „Störung“ ist schließlich einer der Begriffe, die wie ein Staubsauger jede Menge mehr oder weniger freier Assoziationen auf sich ziehen. Wem würden nicht gleich tausend verschiedene Formen der Störung einfallen: als erstes natürlich die frühe, ganz sicher die narzißtische, vielleicht eine Grundstörung oder eine präödipale, manchem gar eine pränatale; alles in allem Störungen, die für sich beanspruchen können, Vorrang zu haben. Und sicher gibt es auch den einen oder anderen Psychotherapeuten, der solch eine Störung sei eigen nennen darf. Doch diese Art der Störung ist für das Thema, um das es hier gehen soll, vollkommen irrelevant (und deshalb habe ich auch schweren Herzens auf diesen wunderschönen Titel verzichtet).

Auf jeden Fall sollte klar sein, daß zwangsläufig ein sprachliches Problem entsteht, wenn man aus systemtheoretischer Sicht über Psychotherapie sprechen will. Die meisten psychotherapeutischen und systemtheoretischen Theoriegebäude beruhen auf sehr unterschiedlichen Prämissen, und ihre Begriffe haben teilweise antagonistische Implikationen. Daher muß jeder schlichte Übersetzungsversuch zwangsläufig scheitern. Im psychotherapeutischen Kontext wird zum Beispiel der Begriff Störung zur Beschreibung und Bewertung der Strukturen eines Systems verwendet; im Kontext der neueren Systemtheorien – speziell der Theorie autopoietischer Systeme – dient er zur Beschreibung einer bestimmten Form der Interaktion zwischen einem System und einer Umwelt. Störungen sind in dieser Konzeptualisierung etwas ganz Unvermeidliches und daher weder prinzipiell negativ noch positiv zu bewerten, weder erwünscht noch befürchtet. Sie werden als Voraussetzung für alle Strukturänderungen selbstorganisierender Systeme betrachtet, und durch sie lassen sich gleichermaßen die Entstehung von Symptomen wie die Effekte therapeutischer Interventionen erklären.

Die Schwierigkeit aus systemtheoretischer Sicht etwas über psychotherapeutische Konzepte oder aus psychotherapeutischer Sicht etwas über systemtheoretische Konzepte zu sagen, beginnt schon damit, sich auf eine gemeinsame Beobachterperspektive und einen zumindest annähernd ähnlichen Sprachgebrauch zu einigen. Dies ist eine Folge davon, daß wir in unserer Alltagskommunikation im allgemeinen Begriffe verwenden, die gleichzeitig eine beschreibende, eine erklärende und eine bewertende Funktionen haben. Wir liefern so gut wie nie interpretationsfreie Beschreibungen der Phänomene, mit denen wir konfrontiert sind, sondern wir transportieren meist schon durch die Wahl unserer Worte Erklärungen. Wir konstruieren Hypothesen, manchmal gar Theorien über die Mechanismen, welche die beobachteten Phänomene hervorbringen. Und je nachdem, wie wir die Entstehung dieser Phänomene erklären, bewerten wir sie unterschiedlich; und umgekehrt, je nachdem, wie wir sie bewerten, neigen wir zu unterschiedlichen Erklärungen.

Ein gutes Beispiel für diese Vermischung von Beschreibung, Erklärung und Bewertung ist der Begriff „Übertragung“. Er beschreibt nicht nur einen charakteristischen Typus von Phänomenen, sondern er erklärt ihn und er bewertet ihn. In der Regel ist solch ein mit Konnotationen aufgeladener Sprachgebrauch sehr nützlich und ökonomisch, weil nackte Daten „an sich“ im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos sind und daher keinen kommunikativen Wert gewinnen können. Doch für diese kommunikative Ökonomie ist ein Preis zu zahlen. Er läßt sich wiederum am Beispiel der „Übertragung“ illustrieren. Wenn zwei Personen sie diskutieren wollen, so kann ihre Kommunikation nur funktionieren, wenn sie dem Begriff eine zumindest ähnlich aus Beschreibung, Erklärung und Bewertung zusammengemischte Bedeutung zuschreiben. Andernfalls besteht die große Wahrscheinlichkeit, daß einer der Gesprächspartner beispielsweise die Erklärung der „Übertragung“ genannten Phänomene in Frage stellen will, sein Gegenüber seine Einwände jedoch als Leugnung der Phänomene selbst interpretiert.

Die Notwendigkeit eines Sprachgebrauchs, in dem in einem ähnlichen Sinne Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen zugeschrieben werden, führt nahezu zwangsläufig zur mehr oder weniger hermetischen Schließung der Grenzen subkultureller Sprachgemeinschaften. Psychotherapeutische Schulen sind ein gutes Beispiel dafür. Ihre Mitglieder können sich nur noch untereinander verständigen, und die Kommunikation mit den jeweiligen Umwelten bricht ab. Durch die tatsächlich vollzogene und gelingende Kommunikation entsteht eine Grenze gegenüber allen, die eine andere Sprache sprechen. Und nur wer ähnliche Prämissen teilt, ist innerhalb des jeweiligen Subsystems kommunikativ anschlußfähig. Auf diese Weise kommen keine neuen Ideen in das Kommunikationssystem hinein, während die, die schon drin sind, immer weiter bestätigt werden. Die ist ein gutes Beispiel dafür, wie geschlossene Systeme entstehen und sich gegenüber Störungen durch Umwelteinflüsse absichern.

An solchen Sprachgrenzen scheitert im allgemeinen auch die Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen und die Nutzung nichtpsychotherapeutischer Modelle und Theorien für die Psychotherapie. Daß diese Sprachgrenzen jemals überwunden werden könnten, erscheint unwahrscheinlich. Wozu sollten sie auch? Letztlich sind die meisten Psychotherapeuten ja mit ihren Modellen zufrieden, unabhängig davon, ob andere Leute sie verstehen oder nicht. Warum also sollten sie sich, falls sie nicht irgendwelche missionarischen Zwecke verfolgen, um Verständigung bemühen?

Der plausibelste Grund, sich solch interkultureller Mühen zu unterziehen, dürfte in der Ambivalenz dem jeweils eigenen Therapiemodell gegenüber liegen. Nur wenn die Unzufriedenheit damit groß genug ist, um die Zufriedenheit aufzuwiegen, lohnt es sich, über den Zaun zu blicken, ob es in Nachbars Garten nicht irgendwelche exotischen Früchte gibt, die sich als Ergänzung zu den hausgemachten Konserven aus eigener Ernte anbieten. Und nur wenn die Zufriedenheit groß genug ist, um die Unzufriedenheit aufzuwiegen, lohnt es sich, im eigenen Garten zu bleiben oder zumindest wieder über den Zaun zurückzusteigen, um nicht auf das liebgewonnene selbstgezogene Gemüse verzichten zu müssen.

DIE STÖRUNG AUTONOMER SYSTEME

Diese Ambivalenz einmal hypothetisch vorausgesetzt, läßt sich am ehesten ein Weg zur Überwindung dieser Sprach- und Theoriegrenzen eröffnen, wenn man die genannten drei Ebenen – Beschreibung, Erklärung und Bewertung – zu analytischen Zwecken unterscheidet und getrennt diskutiert. Zum einen ist ein Konsens über die zu beobachtenden Phänomene allemal leichter zu erreichen als über ihre Erklärung und ihre Bewertung. Und zum anderen erscheint es allemal günstig, zumindest einen Konsens darüber zu erzielen, in welchem dieser drei Bereiche der Dissens besteht.

Beginnen wir unseren Versuch, psychotherapeutische Praxis aus einer systemtheoretischen Perspektive zu betrachten, mit den Erklärungen.

Organismen, psychische Systeme und soziale Systeme können aus systemtheoretischer Sicht als autopoietische Systeme klassifiziert werden, die „autonom“, „strukturdeterminiert“ und „operationell geschlossen“ sind (Maturana 1982, Maturana u. Varela 1984, von Foerster 1985).

Mit diesen Begriffen soll gesagt sein, daß solche Systeme sich durch ihre internen und externen Operationen selbst als Einheiten erschaffen und gegenüber ihren Umwelten abgrenzen. Der Organismus kreiert die Grenze gegenüber seiner Umwelt durch biologische Prozesse, die Psyche wird durch psychische Operationen konstituiert, und soziale Systeme erschaffen sich und ihre Grenzen durch Kommunikationen. (Wie soziale Systeme sich als Einheiten gegenüber Umwelten abschließen, hat das gerade erläuterte Beispiel der Entstehung psychotherapeutischer Sprachgrenzen ein wenig illustriert.)

„Autonom“ soll heißen, daß keines dieser Systeme – weder die Psyche noch der Organismus und auch nicht das Kommunikationssystem – von Ereignissen in den jeweiligen Umwelten im Sinne einer geradlinigen Ursache-Wirkungs-Beziehung determiniert werden kann. Es kann lediglich „gestört“ werden (– da ist sie: die bereits angekündigte systemische Störung). Was immer in der Umwelt geschieht, es kann das autopoietische System nur aus dem Gleichgewicht bringen, eine Krise induzieren und im Extremfall für seine Desintegration sorgen. Die Reaktion des Systems auf derartige Störungen ist durch seine internen Strukturen determiniert, das heißt, sie folgt einer dem System eigenen inneren Logik. Das Verhalten autopoietischer Systeme wird daher niemals von ihren Umwelten oder anderen Systemen einem traditionellen geradlinigen Kausalitätsverständnis entsprechend verursacht oder bestimmt. Umwelt und Interaktionspartner begrenzen lediglich den Freiraum, innerhalb dessen solche Systeme störungsfrei funktionieren können.

Um es in einem Bild darzustellen: Die Beziehung zwischen System und Umwelt ist so ähnlich wie die zwischen einem Auto und der Landschaft, in der es herumfährt. Das Straßennetz bestimmt nicht, wohin das Auto fährt, es bestimmt aber, wo und wohin es nicht fahren kann. Vierradgetriebene Fahrzeuge oder Panzer sind dabei durch die Landschaft möglicherweise etwas weniger störbar als Rennwagen. Zwischen den Leitplanken einer Straße kann jedes Fahrzeug sich frei bewegen, wenn es aber an die Grenzen des so vorgegebenen Spielraums stößt, wird es gestört und im Extremfall löst es sich – wenn der Zusammenstoß traumatisch genug ist – in seine Bestandteile auf.

In der Interaktion zwischen mehreren Autos gilt dasselbe: Keines kann einseitig in einem kausalen Sinne bestimmen, wohin das andere fährt. Es kann aber sehr wohl bestimmen, wohin es nicht fährt – oder zumindest, wohin es nur um den Preis der Kollision, d. h. der Störung, fahren kann.

Bezogen auf unser Thema heißt dies: Kommunikative Prozesse wirken nicht ein-eindeutig determinierend auf die Psyche, und psychische Abläufe haben keine ein-eindeutig determinierende Wirkung auf die Kommunikation. Was immer auch in der Kommunikation zwischen mehreren Menschen – also zum Beispiel zwischen einem Psychotherapeuten und einem Patienten – geschehen mag, jeder der Beteiligten bestimmt selbst, was die Interaktion für ihn bedeutet. Das traditionelle Input-Output-Modell der Informationsaufnahme und -verarbeitung ist zu schlicht, um der Autonomie lebender Systeme gerecht zu werden. Menschen können sich gegenseitig keine Information geben und sie können keine Informationen austauschen.

Wenn ein Psychoanalytiker eine Deutung gibt, so bestimmt der Analysand deren Bedeutung. Und wie er die Deutung deutet, entspricht nicht immer den Intentionen des Analytikers. In jeder Konversation können die Beteiligten sich gegenseitig lediglich vieldeutige Signale präsentieren, die dann jeder der Beteiligten entsprechend der im Laufe seiner Geschichte entwickelten subjektiven Bedeutungsstrukturen interpretiert. Seine Interaktionspartner haben keinerlei Möglichkeit, die Bedeutung, die von ihm ihrem Verhalten oder ihren Worten zugeschrieben wird, positiv und eindeutig zu bestimmen.

Die Entwicklung und Umorganisation solch strukturdeterminierter Systeme wie der Psyche läßt sich schematisiert in etwa folgendermaßen darstellen: Sie verhalten sich solange entsprechend der Logik ihrer internen Organisation, bis sie gestört werden und sie ihr Gleichgewicht verlieren. Ihre internen Strukturen organisieren sich neu, bis die Störung kompensiert ist und sich erneut irgendeine Form des Gleichgewichts etabliert. Nach mehr oder weniger langer Zeit kommt es zur nächsten Störung, und der ganze Zyklus wird erneut durchlaufen. Gelingt es dem System nicht, ein neues Gleichgewicht zu finden, so verliert es seine Integrität und löst sich auf.

Dieses Verhältnis gegenseitigen Störens besteht aber nicht nur zwischen der Psyche und dem Kommunikationssystem, sondern auch zwischen Psyche und Organismus und zwischen Organismus und Kommunikationssystem. Sie stellen jeweils aneinander Anpassungsanforderungen und induzieren gegenseitig Krisen. Welches System sich in diesem Prozeß wechselseitigen Störens dem anderen mehr anpaßt, hängt davon ab, welches aktuell flexibler und eher in der Lage ist, sich umzuorganisieren (vgl. Simon 1995).

So stellt die körperliche Entwicklung während der Pubertät für die Psyche zum Beispiel eine Folge von Störungen durch Umweltveränderungen dar, die sie im allgemeinen durch einen eigenen Entwicklungsprozeß kompensiert. Manchmal jedoch ist die psychische Struktur stabiler und sorgt dafür, daß wie beim Ausbleiben der Menstruation bei anorektischen Mädchen der Organismus gestört wird und sich anpaßt.

Das Familien- und Arbeitsleben, die Kommunikation mit Eltern, Partnern, Kindern, Kollegen, Chefs und Angestellten sowie die sich im Laufe des Lebenszyklus ständig ändernden sozialen Erwartungen sind natürlich auch nichts anderes als mehr oder minder spezifische Störungen, die ebenso als Entwicklungsanreiz wie -blockade wirken können.

So in etwa läßt sich aus systemtheoretischer Sicht die Kopplung autonomer Systeme wie der Psyche, des Organismus und des Kommunikationssystems skizzieren. Schauen wir auf die Ebene der beschreibbaren Phänomene, so können wir sagen, daß sich ihre Stabilität in repetitiven Prozeßmustern zeigt. Alles bleibt, wie es ist, solange alles so gemacht wird, wie es immer gemacht wurde.

Da Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den Vorannahmen unterschiedlicher psychotherapeutischer Konzepte hier nicht im einzelnen diskutiert werden können, wollen wir lediglich einen (zugegebenermaßen) oberflächlichen Blick auf einige psychoanalytische Erklärungen für derartige Phänomene werfen.

Die Psychoanalyse interpretiert die Wiederholung psychischer Operationen als Folge des „Wiederholungszwangs“. Man braucht aber – systemisch gesehen – keinen Zwang zu unterstellen, um dieses Phänomen zu erklären. Es läßt sich auch durch die Abwesenheit von Störungen, oder anders gesagt: durch die Funktionalität solch eines Operationsmusters in der Interaktion mit den jeweiligen Umwelten, erklären – durch seine Anpassungsfunktion (vgl. Simon 1994).

Die Interaktionsgeschichte selbstorganisierender Systeme ist eine Geschichte bewältigter Störungen: Ohne Störung keine Veränderung, ohne Störung keine Entwicklung, ohne Störung aber auch keine Fehlentwicklung und ohne Störung auch keine Therapie. Man könnte also statt von Störungen auch von Anregungen oder gar Inspirationen sprechen, um eine positiv bewertete, entwicklungsfördernde Wirkung von Umweltereignissen auf solche selbstorganisierten, autopoietischen Systeme zu beschreiben. Ob das Resultat derart induzierten Wandels jeweils positiv oder negativ zu bewerten sein wird, läßt sich nicht vorhersagen. Veränderung ist nicht immer Fortschritt, Entwicklung nicht immer Wachstum oder Reifung.

DIE UNMÖGLICHKEIT, IN DIE PSYCHE EINES ANDEREN MENSCHEN DIREKT ZU INTERVENIEREN

Die prinzipielle Nichtsteuerbarkeit solch autonomer Systeme ist es, was Regieren, Kurieren und Erziehen zu unmöglichen Berufen macht. Womit wir bei den praktischen Konsequenzen wären …

Das Problem des Psychotherapeuten besteht darin, daß niemand direkt und zielgerichtet in die Psyche eines anderen Menschen intervenieren kann. Was immer ein Therapeut auch tun mag, sein Handeln ist nie eine psychische Operation des Patienten. Welche Deutung der Analytiker auch geben mag, sie bleibt immer Bestandteil des Kommunikationssystems. Hier liegt ein großer Unterschied zu den therapeutischen Interventionen des Organmediziners. Der kann sich direkt in körperliche Prozesse einmischen. Er kann Defizite substituieren und zum Beispiel einem Organismus, der zu wenig Insulin produziert, von außen diesen Stoff zuführen. Oder er kann bestimmte, über eine Normgrenze hinausgehende physiologische Reaktionen supprimieren, indem er Medikamente verfüttert oder spritzt, die innerhalb vorgegebener biologischer Regelungsstrukturen wirksam werden. Er kann nicht nur die Funktion mancher Organe aktivieren oder hemmen, sondern sie sogar heraus- und hineinoperieren oder Maschinen anschließen, welche die Funktion von Organen, z. B. Herz, Lunge und Niere, simulieren und ersetzen. Das heißt, die Maßnahmen des Organmediziners werden auf der Ebene biologischer Prozesse wirksam. In den Organismus kann man als Arzt direkt intervenieren. Das ist es, was den Chirurgen solchen Spaß macht.

All dies kann der Psychotherapeut nicht. Was immer er tut, es bleibt ein Element der Umwelt des Systems Psyche. Anders als der Organmediziner kann er nicht direkt in das zu therapierende System, die Psyche, intervenieren. Er kann die Psyche eines anderen Menschen nicht von außen verändern. Er kann weder Ich-Stärke noch Selbstwertgefühl injizieren. Das ist der Grund, warum Psychotherapie in einem der Organmedizin analogen Sinne prinzipiell unmöglich ist. Aufgrund der operationellen Geschlossenheit der Psyche können therapeutische Interventionen immer nur indirekt über die Veränderung einer der Umwelten der Psyche ihre Wirkung erzielen. Man kann Umweltbedingungen schaffen, welche die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß das System Psyche sich selbst verändert. Das kann entweder durch die Beeinflussung organischer Prozesse geschehen oder durch die Veränderung der Spielregeln der Kommunikation.

Biologische Psychiater nutzen diese Möglichkeit beispielsweise, indem sie die biologische Umwelt psychischer Reaktionen zu verändern versuchen. Radikale Kritiker vertreten die Ansicht, daß die Wirksamkeit der biologischen Psychiatrie dadurch zu erklären ist, daß den Patienten unterschiedliche Formen geschlossener Hirnverletzungen beigebracht werden (Breggin 1991). Da man ein gesundes Gehirn braucht, um richtig verrückt werden zu können, wird so durch mehr oder weniger unspezifische Veränderungen der biologischen Umwelt der Psyche die Möglichkeit zur Entwicklung von Symptomen eingeschränkt. Aus systemtheoretischer Sicht wäre solch ein Erklärungsmodell für die Wirksamkeit biopsychiatrischer Interventionen durchaus einer ernsthaften Diskussion wert (was allerdings dem gegenwärtigen psychiatrischen Zeitgeist zuwiderlaufen dürfte).

Auch Körperpsychotherapeuten machen offenbar gute Erfahrungen damit, auf körperlicher Ebene zu intervenieren. Wenn der Therapeut beispielsweise in liebevoller Handarbeit die Faszien von den Muskeln seines Patienten löst, so hält das auf Dauer der gepanzertste Charakter nicht aus. Doch das sind alles Methoden, die wir hier nicht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken brauchen, da die meisten Psychotherapeuten (zumindest offiziell) ja nicht Hand an ihre Patienten legen und sich auf sprachliche Kommunikation beschränken.

Die Störungen, Anregungen oder Inspirationen der Psyche des Patienten werden also dadurch gesucht, daß das Kommunikationssystem verändert wird. Viele psychotherapeutische Ansätze vertreten eine mit derartigen therapeutischen Erwägungen kompatible Vorstellung. Man denke zum Beispiel an das „Holding Environment“, oder die so gerne verwendete Wachstumsmetapher. Psychotherapie als ein Wachstumsprozeß, der Therapeut als Gärtner, der hegt und pflegt, der Therapieraum oder die Therapiestunde als eine Art Treibhaus, in dem die Triebe in ihrer ursprünglichen Form sprießen können. Diese eher landwirtschaftlichen Metaphern illustrieren sehr gut die Beziehung zwischen autonomen, strukturdeterminierten Systemen und ihrer Umwelt. Man kann Sandkörner noch so sehr hegen und pflegen, düngen und unter Rotlicht legen, sie werden nicht anfangen zu wachsen. Sie lassen sich weder stören noch anregen, von inspirieren ganz zu schweigen. Das entspricht einfach nicht ihrem Charakter. Das ist in ihrer internen Struktur nicht als Option vorhanden. Solche Veränderungen der Umwelt machen für sie keinen Sinn. Es sind für sie keine Unterschiede, die Unterschiede machen. Bei einem Samenkorn hingegen ist das ganz anders. Es ist weit sensibler für seine Umwelt. Legt man es in die Kühltruhe, so bleibt es merkwürdig entwicklungsunwillig. Pflanzt man es in eine nährende Umgebung, so nutzt es sein Potential und beginnt zu wachsen.

Diese botanisierende Metapher ist natürlich verführerisch, weil sie einige Aspekte der Beziehung lebender Systeme zu ihrer Umwelt ganz gut erfaßt. Sie ist aber auch gefährlich, weil sie zu schlicht und zu einfach ist. Schließlich haben wir es nicht mit Salatköpfen, Unkraut oder anderen „Vegetables“ zu tun.

Wärme allein ist noch kein Therapeutikum, das psychisches Wachstum gewährleistet. Und wenn in unserem Metier auch viel Mist produziert wird, so hat er nicht immer die nährende Wirkung von Ökodünger. Da liegt der Vergleich mit Tieren und ihrer Beziehung zu ihrer Umwelt schon näher. Nur kommen wir dann relativ schnell zu der irrigen Idee, menschliche Veränderungsprozesse seien nur speziellen Varianten der Dressur, und die Beziehung zwischen der Ratte im Labyrinth und dem Experimentalpsychologen könne als Modell für therapeutische Beziehungen dienen. Obwohl solche Annahmen sicher auch gelegentlich nützlich sein können, werden sie der Komplexität und Nichttrivialiät der menschlichen Psyche und therapeutischer Beziehungen nicht gerecht.

DIE FUNKTION DES THERAPEUTEN

Verzichten wir also auf den Versuch, aus hinkenden Vergleichen therapeutische Strategien abzuleiten. Schauen wir, welche soziale(n) Funktion(en) der Psychotherapeut übernimmt.