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Blutig, gnadenlos, clever – ein rasanter Noir-Thriller mit Kultpotenzial!
Carl ist kein gewöhnlicher Geschäftsmann. Sein Business? Kriminelle Dienstleistungen – diskret, effizient und mit der richtigen Mischung aus Köpfchen und Skrupellosigkeit. Wer in der Unterwelt Probleme hat, ruft ihn an.
Dieses Mal stehen gleich zwei brisante Aufträge an: Ein sterbenskranker Alt-Mafioso will seine letzten Rechnungen begleichen, und ein amerikanischer Milliardär sucht den Mörder seiner Tochter. Beides klingt nach Routine – doch Routine gibt es in Carls Welt nicht. Als die Missionen aus dem Ruder laufen und tödliche Abgründe sich auftun, muss er sich auf seine besten Leute verlassen: Ridley, ein geniales, aber unberechenbares Mathe-Ass mit einer Vorliebe für Drogen und Exzesse, und Betty, die beste Beschafferin der Branche, die immer einen Ausweg findet – außer aus ihrem eigenen Chaos.
Doch dieses Mal könnte selbst Carl zu tief in die dunkle Seite des Geschäfts geraten.
Hochspannend, voller scharfzüngiger Dialoge und mit einem düsteren Charme, der an die besten Gangsterfilme erinnert – ein Muss für alle Fans harter, intelligenter Krimis!
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dirk Schmidt
Die Kurve
Thriller
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5480.
Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln, unter Verwendung von Freepik Pikaso und Adobe Firefly. Foto Förderturm (Herne): Tbachner – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 bearbeitet
eISBN 978-3-518-78244-6
www.suhrkamp.de
Für meine beiden.
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Gianola.
Ridley.
Rina.
Fritz.
Chloé.
Schneider.
Tonne.
Gigi.
Taylor.
Elisa.
Ole.
Jenny.
Mr Jones.
Fast Betty.
Mali.
Amélie.
Informationen zum Buch
Die Kurve
Elisa erreicht das Haus über die geschwungene Vorfahrt und hat keinen Blick für die weiße Gischt der Wellen, den grün bewachsenen Vesuv und das Rot der hektisch blinkenden Lämpchen der Alarmanlage. Im Flur liegt Paolo in seinem Blut, und blutige Fußspuren befinden sich auf den Stufen der mächtigen Freitreppe, die in den ersten Stock führt. Ein Handabdruck aus Blut ist in die Stofftapete gestempelt, vielleicht hat Paolo noch etwas entgegenzusetzen gehabt, vielleicht ist er nicht ganz ohne Gegenwehr gegangen. Im ersten Stock, unmittelbar vor einem in die Wand eingelassenen Schrank, liegt ein Mann und atmet nicht mehr. Braver Paolo, braver treuer Paolo, der Schuss im Todeskampf muss schwierig gewesen sein. Elisa schiebt den Arm des Toten beiseite und öffnet die Schranktür. Hier befinden sich die Utensilien, mit denen jemand die Vorhalle und das Treppenhaus in den Zustand zurückversetzen wird, in dem sie sich befanden, als Elisa sich vor zwei Stunden in die Stadt aufmachte, um sich mit Rina zu treffen. Rina hatte sie eingeladen, Elisa sollte mal auf andere Gedanken kommen. Rina kennt immer die neuesten Neuigkeiten und weiß alles, was man sich in der Stadt erzählt. Rina hat leuchtend rote Haare, und ihre Zähne strahlen weiß, wenn sie lacht. Die duftend warme Sfogliatella frolla al limone im Caffè Gambrinus, der Bummel über die Via Chiaia, der Geruch des Meeres an der Promenade – das alles scheint schon einer anderen Zeit zugehörig. Jetzt und hier blickt Elisa auf Putzeimer, Glas-, Haushalts- und Badezimmerreiniger, Bleiche für hartnäckige Flecken, einen Staubsauger, verschiedene Besen und Bodenwischer und, versteckt in einer Packung Haushaltshandschuhe, eine 9-mm-Universal-Selbstlade-Pistole mit Rückstoßdämpfung. »Für ein schöneres Schussbild«, wie die Werbung versichert. Sie schlüpft aus ihren hochhackigen Schuhen, entsichert die Waffe und stellt mit Erleichterung fest, dass der Eindringling Zeit vor der Schlafzimmertür verloren hat. Die Alarmanlage hat, wie es der Hersteller verspricht, den Schließmechanismus ausgelöst und das Schloss konnte mehreren Schüssen standhalten, bevor es sich in sein Schicksal fügte. Elisa betritt das Schlafzimmer, zielt auf den schwarz gekleideten Mann vor dem Bett ihres Vaters und gibt zwei Schüsse ab. Mit dem ersten reißt sie dem Mann ein Stück seines Hinterkopfs ab. Die mangelnde Genauigkeit ist ziemlich sicher den schlechten Lichtverhältnissen dank der halb heruntergelassenen Jalousien und Elisas Aufregung geschuldet. Der zweite Schuss trifft, eher unspektakulär, da, wohin er soll. Es ist still nach den Schüssen, sehr still. Elisa schließt die Augen und lauscht so lange in die Stille, bis sie die leisen Atemzüge ihres Vaters hören kann. Das Blut auf der Bettdecke ist nicht seins.
Elisa geht zurück in die Vorhalle, schließt die Haustür und schaltet die Alarmanlage wieder scharf. Dann wählt sie die Nummer von Gigi, Papas Lieblingscapo.
»Du musst kommen.«
»Was ist passiert?«
»Es gab ein paar Probleme. Aber jetzt ist alles wieder gut. Bring Gianola mit.«
»In Ordnung, verstanden.«
Gianola ist keine reale Person. Sie stammt aus einem Buch, das jedes Kind in Neapel kennt. Gianola arbeitet als Haushälterin bei einer reichen Familie und macht sauber. Aber die Kinder sind nicht nett zu ihr, und dann geht die Geschichte weiter. Das ist alles ziemlich egal, aber man muss bedenken, dass Elisas Gedanken rasen und Gigi den Hinweis, dass es etwas zu beseitigen gibt, offensichtlich verstanden hat.
Elisa geht in den Salon. Ein Feigenbaum vor einem der Fenster bedeckt fast die gesamte Glasfläche und taucht sie in ein sattes Grün. Hier lässt Elisa sich in einen Sessel fallen, hier in diesem Grün will sie sitzen und ihre Gedanken ordnen. Viel zu ordnen gibt es allerdings nicht, und wenn sie ehrlich ist, hat sie keine Ahnung, wer hinter dem Anschlag steckt. Sie greift zu ihrem Handy und wählt eine Nummer. Ihre Hände zittern. Unmittelbar nach dem ersten Signal wird der Anruf abgebrochen, sie legt das Handy beiseite. Während sie wartet, senkt Elisa ihren Blick tief in das Grün des Feigenbaums, dann klingelt es endlich.
»Sie wollten mich sprechen?«
Elisa spricht neben ihrer Muttersprache noch fließend Deutsch und Englisch, aber was tun, wenn man keine Worte hat?
»Si, yes, ja.«
»Signora? Come sta il caro papà?«
Der Mann spricht schlechtes Italienisch mit einem harten deutschen Akzent. So hart, dass es schon fast wieder übertrieben klingt.
»Meinem Vater geht es gut.«
»Schön, das hört man gern, was kann ich für Sie tun?«
Elisa stockt kurz. Die Nummer hat sie von ihrem Vater bekommen. Wenn du mal Hilfe brauchst, ganz egal, worum es geht. Sie beschließt, ihre Karten auf den Tisch zu legen und sich diesem unbekannten Mann am anderen Ende der Leitung anzuvertrauen. In kurzen Worten erzählt sie ihm alles, was sie weiß, woran sie sich noch erinnert, und will gerade einen ersten Gedanken fassen, als der Mann sie unterbricht.
»Haben Sie sich die beiden Vögel mal angesehen?«
»Vögel?«
»Die beiden Typen, Männer, assassini?«
»Nein, bisher nicht.«
»Wenn Sie so gütig wären.«
Ganz unbekannt sind sie ihr nicht, Elisa hat beide Männer zu verschiedenen Gelegenheiten schon einmal gesehen, kann sie aber nicht zuordnen. Es sind Männer aus der zweiten Reihe, und beide sind noch jung. Der im ersten Stock hat einen flaumigen Bart und einen fast kindlichen Gesichtsausdruck. Der, der es ins Schlafzimmer geschafft hat, wird sicher heute Abend von seiner Mama erwartet, seine Tätowierungen sind fast noch frisch, und ihr Schwarz glänzt wie Fett.
»Jung, sagen Sie?«
»Ziemlich. Mitte 20 vielleicht. Beide.«
»Kein Wunder, schließlich ist es eine eher einfache Aufgabe, einen bettlägerigen Mann zu töten. Und außerdem haben junge Männer keine Geschichte mit einem Mann wie Ihrem Vater.«
»Was für eine Geschichte?«
»Eine Geschichte, die andere davon abhalten könnte, Ernst zu machen oder dazu bringen könnte, alten Loyalitäten den Vorzug gegenüber aktuellen Aufstiegsmöglichkeiten zu geben.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, entgegnet Elisa, »vielleicht wollten sie die Gelegenheit nutzen und sich beweisen.«
Es dauert eine Weile, bis sie eine Antwort bekommt.
»Vielleicht sind sie ja auch jung, weil auch die Gegenseite, welche das auch immer sein mag, Nachwuchsprobleme hat.«
»Woher wollen Sie wissen, dass mein Vater Nachwuchsprobleme hat?«
»Er hat es mir gesagt, wir telefonieren von Zeit zu Zeit. Allerdings ist mein Italienisch ziemlich scheiße.« Wieder macht der Mann am anderen Ende der Leitung eine Pause. »Vielleicht hat er auch Nachfolgeprobleme gemeint.«
Elisa schweigt. So wie man eben schweigt, wenn man herausfindet, dass der geliebte Vater sich lieber einer Stimme am Telefon anvertraut als dem eigenen Fleisch und Blut.
»Sind Sie noch dran, Signora?«
»Elisa, mein Name ist Elisa.«
»Ich weiß, ich wusste nur nicht, dass wir per du sind. Warum haben Sie mich angerufen?«
»Vielleicht sind Sie zuerst so nett, mir zu verraten …«
»Carl, nennen Sie mich Carl. Carl aus Herne.«
»Aus was?«
»Herne. Vergessen Sie es wieder. Herne ist nämlich ein Ort zum Vergessen oder zum Nie-davon-gehört-Haben. In Herne will man nicht leben und nicht sterben. Zum da Rauskommen ist Herne allerdings so gut wie jeder andere Ort. Warum haben Sie mich angerufen?«
Elisa hat sich eine Zigarette angezündet und drückt sie wieder aus.
»Ich will wissen, warum. Ich denke die ganze Zeit darüber nach. Ich weiß noch nicht mal, warum mein Vater mir Ihre Nummer gegeben hat und ob ich Ihnen vertrauen kann, aber ich will wissen, warum.«
Am anderen Ende der Leitung hört sie Carl tief ein- und wieder ausatmen.
»Hui, das sind jetzt aber viele Fragen. Ich fange mal vorn an: Ihr Vater hat meine Nummer, weil er schon mal meine Dienste in Anspruch genommen hat. Was ich anbiete? Alles. Alles, was Sie sich vorstellen können. Wenn Sie wollen, schicke ich jemanden vorbei, und der oder die wischt Ihnen den Hintern ab. Die meisten meiner Kunden bevorzugen allerdings Dienstleistungen, die sich ihren unmittelbaren Möglichkeiten entziehen. Zur Frage, ob Sie mir vertrauen können, kann ich nur sagen, dass ich absolut und einhundertprozentig vertrauenswürdig bin. Mein gesamtes Geschäftsmodell fußt auf dem Vertrauen, das meine Kunden mir entgegenbringen. Es gibt wenige Menschen auf der Welt, denen Sie so vertrauen können wie mir. Solange Sie mich bezahlen.«
»Keine Sorge, ich werde Sie bezahlen.«
Carls Stimme klingt jetzt hart, und der ohnehin etwas schmierige Charme ist vollkommen verschwunden. »Sie werden mich dann bezahlen, wenn wir eine Dienstleistung vereinbart haben. Ich muss aber zugeben, dass ich gerade vielleicht ein wenig übertrieben habe. Mit ›alles‹ meinte ich nicht wirklich das infinite, universelle, philosophische ›alles‹, sondern habe mich eher auf das Gewerbe bezogen, in dem Ihr Vater und ich tätig sind. ›Alles‹ stimmt also nicht so ganz, beispielsweise betreibe ich kein Sorgentelefon.«
Elisa blickt eine Weile ins Grün. Sonnenstrahlen tanzen zwischen den Blättern, als wollten sie um jeden Preis in diesen traurigen Raum hinein.
»Ich verstehe, es tut mir leid. Wahrscheinlich war das alles ein Missverständnis.«
»Rufen Sie mich gern wieder an, wenn ich etwas für Sie tun kann, das meiner Expertise entspricht«, antwortet Carl. »Aber damit Sie mich in bester Erinnerung behalten, kann ich gern mein Urteil zu Ihrer Situation abgeben. Geben Sie aber nicht zu viel darauf, ich habe gesagt, ich bin vertrauenswürdig, von schlau war keine Rede. Die Analyse Ihrer derzeitigen Situation läuft auf eins hinaus: Niemand weiß, wer das Sagen hat. Ist es der Boss, alt, krank und achtzehn Stunden am Tag tot? Oder ist es seine Tochter?«
Elisa will Carl gerade fragen, wie er zu der Einschätzung kommt, aber er hat bereits aufgelegt. Sie greift zur Zigarettenschachtel, zieht die Hand aber wieder zurück. Wer hat das Sagen? Francesco, der Löwe, der mehr überlebt hat als drei oder vier Männer seines Alters, oder Elisa? Elisa, die lange weg war, unter anderem auf einer sehr guten Universität. Die Tochter, von der niemand etwas weiß, außer dass sie Katzen mag, gern in die Oper geht, den Sommer in Sorrent verbringt und sich mal – Weißwein, Sonne, schaukelnde Wellen auf dem Boot von Guiseppe Rinardi – auf eine kurze Affäre mit Guiseppe Rinardis ältestem Sohn eingelassen hat. Die Tatsache, dass jeder und jede, also alle drei Millionen Einwohner Neapels, darüber im Bilde zu sein scheinen, wurde ihr damals von Rina gesteckt. Wer ist sie also? Jemand, mit dem man irgendwann rechnen muss, oder das scheue Reh, das seinem Vater das Haus führt? Das Haus führt, was für eine blöde, nichtssagende und aus der Zeit gefallene Formulierung, aber so sprechen sie nun mal in dieser Stadt, und wer nicht so spricht wie sie, wird aus Prinzip schon mal nichts. Aber selbstverständlich haben sich die Zeiten auch hier geändert. Im Prinzip ist die Tür auch für eine Frau wie Elisa offen, sie müsste nur hindurchgehen. Oder bildet sie sich das bloß ein? Denn wenn jemand wirklich glauben würde, dass Elisa zu Höherem berufen ist, hätte der Anschlag doch ihr gelten müssen, oder? Nein, Quatsch, sie könnte, wenn sie wollte. Die Capos, allen voran Gigi, haben es ihr mehrfach klar bedeutet. Wenn die wöchentliche Konferenz vorbei ist, die eine Stunde, die ihr Vater nur mit ihrer und der Hilfe von Steroiden, Aufhellern, Aufputschern und einer kleinen Prise Schnee durchsteht, sieht sie den Capos in die Augen und sieht Aufmunterung und Vertrauen. Der bestandene Test gerade dürfte ein Übriges tun. Die Tür ist offen, der Weg ist frei, aber sie will nicht. Und hier endet ihre Analyse und lässt eine riesige Freifläche zurück, dort, wo sich eigentlich die Lösung befinden sollte.
Elisa zündet sich eine Zigarette an und drückt sie wieder aus. Oder sie wird den Vorschlag ihres Vaters annehmen. Eine Idee aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Eine Idee, die ihr Leben für immer verändern wird. Aber immerhin wird sie am Leben sein. Ihre Gedanken werden durch das Geräusch eines Autos unterbrochen, das die Auffahrt hochrast und vor dem Haus zum Stehen kommt. Elisa geht durch das Wohnzimmer und die Vorhalle und erkennt Gigi, der schon an der Tür ist. Sie lässt ihn ein, und er schaut sich um. Sie kann ihn nicht lesen hinter seiner Sonnenbrille.
»Paolo.«
»Ja.«
»Wie viele?«
»Zwei. Sie liegen oben.«
Gigi nimmt seine Sonnenbrille kurz ab. Er scheint beeindruckt zu sein. Er steigt die Treppe hoch und geht dann weiter ins Schlafzimmer.
»Ich reinige nur das, was man ohne Rückstände reinigen kann.«
»Gut.«
»Das Tapetenstück muss ich herausschneiden, und auch alles andere aus Stoff muss verbrannt werden.«
»Gut.«
»Sie haben doch einen Kamin.«
»Im Wohnzimmer.«
Gigi stockt kurz, bevor er weiterspricht.
»Die beiden Typen kann ich entsorgen, aber Paolo muss raus aufs Meer.«
»Muss ich dabei sein?«
»Ich kann das erledigen. Wir trommeln die Jungs zusammen und geben ihm einen Abschied.«
»Hatte er Verwandte, eine Mutter, einen Vater?«
»Nein, er kam aus der Gosse. Niemand wird ihn vermissen.«
»Danke.«
»Wir müssen warten, bis es Nacht wird.«
»Ich helfe dir.«
Es dauert ein paar Stunden, aber sie kommen gut voran. Die beiden Männer sind nackt und in Folie verpackt, Paolo liegt auf dem Rücken, und seine Hände sind wie zum Gebet gefaltet. Die Kleidung ist verbrannt, und Gigi hat die Asche im Garten verstreut. Dreimal haben sie die Vorhalle und die Freitreppe geputzt, aber morgen wird Gigi mit Schwarzlicht kontrollieren, ob es irgendwo noch Blutspuren gibt. Zwischendurch ist Elisas Vater Francesco aufgewacht, er hat tatsächlich nichts mitbekommen. Jetzt sitzen Elisa und Gigi im Salon und warten auf Verstärkung und die Nacht. Gigi hat ein Glas Wein abgelehnt und trinkt eine Cola. Er hat gefragt, ob er den Fernseher einschalten darf, Elisa hat es erlaubt. Der letzte Rest der Dämmerung verschwindet hinter den Hügeln, und Napoli ist gerade gegen Juventus in Führung gegangen, als Elisas Handy klingelt. Sie steht auf und geht in das Esszimmer nebenan.
»Ich hätte da noch eine Frage.«
»Carl? Ich hätte nicht gedacht, dass Sie noch einmal anrufen.«
»Ich auch nicht. Aber ich habe, wie zuvor erwähnt, eine Frage.«
»Fragen Sie.«
»Wo waren Sie eigentlich, als die beiden Männer ins Haus kamen?«
»Ich war in der Stadt. Ich war verabredet.«
»Verabredet. Mit wem?«
»Einer Freundin. Ihr Name ist Rina.«
»Rina. Rina di Lorenzo.«
»Ja, genau. Kennen Sie Rina?«
Carl macht eine kurze Pause.
»Nur vom Hörensagen.«
Carl macht eine weitere Pause, die alles beinhaltet, was er zu sagen hat. Elisa spürt einen stechenden Schmerz in ihrem Bauch. Und dann, unerwartet und heftig, kommt alles zurück. Der Tag rollt sich wieder auf, und Elisa muss sich kurz an einer Wand festhalten. Eine Erkenntnis schießt in ihren Kopf, als wäre sie aus einer 9-mm-Universal-Selbstlade-Pistole mit Rückstoßdämpfung abgefeuert worden, und der Schmerz ist vielleicht sogar vergleichbar. Sie muss das erledigen, sie muss das abschließen, es bleibt keine Zeit mehr. Die Idee ihres Vaters ist die Richtige. Das, oder das nächste Mal ist sie an der Reihe.
Elisa dreht sich weg, damit Gigi ihre Tränen nicht sieht. Rina. Wenn sie sich auf Rina nicht mehr verlassen kann, kann sie sich auf niemanden verlassen, den sie nicht bezahlt.
Ridley schaut aus dem Fenster und braucht einen Moment. Er mag die großen Hotels amerikanischer Provenienz. Man bleibt anonym, und es gibt keine Überraschungen. Mailand, Madrid, Marrakesch, Moskau – kein Unterschied. Das Bett ist entweder links oder rechts, und das war es schon mit den Unwägbarkeiten. Das hat etwas für sich. Wenn man immer genau weiß, was einen erwartet.
Frankfurt. Ridley ist in Frankfurt. Zeit, es für heute gut sein zu lassen, wenn man einen Moment braucht, um zu wissen, wo man ist. Der Blick aus dem Fenster ist durchaus beeindruckend und sicher nichts für Menschen mit Höhenangst. In der Mitte der raumbreiten Glasfläche ist ein schmales Klappfenster eingelassen. Ridley steigt auf die Fensterbank und schafft es, das Fenster zu öffnen, frische Luft zu atmen und die Zigarette anzustecken. Ein dünner nackter Mann, der wie eine Fliege am Glas klebt und durch ein Klappfenster raucht. Tief unter ihm die Stadt, über ihm die Sterne und ein paar Funken in der kühlen Nachtluft. Es ist weiß Gott leichter, sich im Badezimmer eine Line nach der anderen zu ziehen, als eine lausige Zigarette zu rauchen. Ridley hört das Klappern der Badezimmertür, bläst aus und lässt die Zigarette fallen. Sie hat sich umgezogen. Sie trägt jetzt Rot. Pumps, Strümpfe, Strumpfhalter, String, BH, alles rot. Rotes Nylon, rote Spitze und der weiße Fleck unter ihrer Nase. Ridley weiß, dass sie lügt. Er hat sie schniefen gehört, und er sieht den weißen Fleck, aber wenn er gleich ins Bad geht, wird kein Stäubchen Koks fehlen.
»Was machst du da?«, fragt sie.
»Willst du auch eine Zigarette rauchen? Das ist allerdings eine ziemliche Turnerei. Die berechnen 500 Euro, wenn es hier nach Rauch riecht. Cleaning Fee.«
»Alles zu seiner Zeit.« Sie schaut ihm in die Augen. »Ich brauch’ es noch mal. Jetzt.«
Ridley springt von der Fensterbank. Kurze Zeit später ist er steif, und kurze Zeit später tropft Spucke von seinem Schwanz. Kurze Zeit später presst sie ihre Schenkel so hart an seinen Kopf, dass seine Ohren schmerzen, kurze Zeit später kniet sie auf dem Bett, die Hände ausgestreckt an der Wand und der zerrissene Slip neben dem Kopfkissen. »Ja«, schreit sie. »Ja … besorg’s mir«, schreit sie. Kurz darauf klingelt das Handy. »Sad sweet dreamer, it’s just one of those things you put down to experience«, spielt das Handy. Ridley verliert seinen Rhythmus. »Hör jetzt nicht auf«, schreit sie, »verdammte Scheiße, besorg es mir.« Und dann: »Ja … Ja … Ja … Ja! …« Schweiß glitzert auf ihrem Rücken. »Sad sweet dreamer, it’s just …« Ridley rutscht auf den Knien über das Bett und sucht sein Handy.
»Ich muss da ran.«
Sie lässt sich rücklings auf das Bett fallen, atmet kurz aus und spricht ohne eine Spur von Erregung.
»Ist dein Geld.«
Ridley hat das Handy gefunden. Er nimmt den Anruf an. Mit einem kurzen »Ja«.
Am anderen Ende ist Carl.
»Ja, was?«
Ridley begreift den Ernst der Lage.
»Also …«
Carl unterbricht ihn.
»Erstens, ich störe gerade, weil du beschlossen hast, alle, aber auch wirklich alle deine Sünden zu beichten, und die Nacht wird noch lang. Zweitens: Du lässt dich gerade – nach wie lange? … drei, vier, Jahren Abstinenz? – mal wieder von der guten, alten Nadel streicheln, und der braune Zucker kocht gerade so schön blubbernd auf dem Löffel. Oder du hast die Glückssträhne deines Lebens und gerade alles gesetzt, was du auf deinem Konto bei der Kreissparkasse liegen hast … aber wenn du noch einmal meine Nummer auf dem Display siehst und dich so meldest, dann schneide ich dir die Ohren ab und stopfe sie dir in den Hals.«
Ridley versucht es mit einer schwachen Entschuldigung.
»Du wechselst deine Nummer andauernd.«
»Willst du mich wie ein Arschloch aussehen lassen?«, fragt Carl.
Sie ist jetzt aufgestanden und fischt einen neuen Slip aus ihrem Rollkoffer. Schwarze Seide.
»Es tut mir leid«, sagt Ridley.
»Du willst Vergebung?«
»Bitte«, sagt Ridley.
»Mal sehen«, sagt Carl und legt auf.
Carl legt das Telefon zur Seite. Sein Schreibtisch ist fast leer. Nur der Laptop, die Fernbedienung für die Klimaanlage und das Glas. Er öffnet den Vorhang und wirft einen kurzen Blick auf die Wand aus Waschbeton, keine fünf Meter vor seinem Fenster. Von irgendwo oben fällt Licht auf die Wand. Seit dem letzten Regen schimmert es grün zwischen den Riefen des Betons. Vielleicht Moos. Oder Flechten. Carl schließt den Vorhang wieder, nimmt das Glas und macht sich auf den Weg in die Küche. Ein Drücken auf den Spender in der Kühlschranktür, und gestoßenes Eis fällt in das Glas. Carl nimmt einen Teelöffel Eis und schüttet den Rest in die Spüle. Dann greift er zu einer Glaspipette, streift das Eis am Rand ab und stößt ein wenig davon in die Öffnung. Er hatte den Suntory kurz in den Kühlschrank gestellt und nimmt jetzt die Flasche wieder heraus. Zwei Zentiliter Suntory und dazu eins, zwei, drei, vier, fünf Tropfen Eiswasser. Carl steckt seine Nase tief ins Glas und beschließt, das Ganze noch atmen zu lassen. Er greift zum Telefon.
»Wer war das?«, fragt sie.
»War wichtig.«
Sie steht vor dem Hotelschreibtisch und streckt ihm ihren Hintern entgegen. Schwarze Seide. Ridley blickt an ihr vorbei und bemerkt, dass sie ihr Handy checkt. Sie muss sich etwas bücken. Sie scheint kurzsichtig zu sein.
»War das dein Boss?«, fragt sie.
»Ja, mein Boss.«
Ridley geht ins Bad. Irgendwann wird Carl wieder anrufen, und er weiß nicht, ob er ohne ein bisschen Pulver den Anruf durchsteht. Sie blickt ihm nach und streckt sich wieder. Dann fährt sie sich durchs Haar, und Ridley bekommt eine Gänsehaut. Im Bad schaut er in den Spiegel. Mein Boss? Einem Boss kann man die Meinung sagen. Oder kündigen. Einen Boss kann man loswerden. Carl kann man nicht loswerden. Ridley kennt jedenfalls niemanden, der es geschafft hätte. Er legt sich eine Line, und dann verlässt ihn der Mut. Wer weiß, was noch kommt? Er merkt, dass er pinkeln muss.
»Ich brauche noch einen Moment.«
»Ist dein Geld.«
Ridley geht zurück ins Zimmer. Ja, es ist sein Geld, und es ist nicht wenig. Und er bezahlt es nicht nur für ihren Körper und die unglaubliche Art, wie sie das mit seinem Schwanz macht, was sie mit seinem Schwanz macht, sondern auch für die Illusion.
»Das mit dem Geld hast du bereits erwähnt. Ich weiß, dass ich dich bezahle. Ich weiß, dass du nur …«
Sie unterbricht ihn. Mit einer leichten Schärfe in der Stimme.
»Hey! Überleg dir gut, was du jetzt sagst.«
»Du bist …« Ridley muss nachdenken. »Warte, ich hab’s gleich. Du bist … mein Mädchen für alles.«
Sie steht direkt vor ihm und nimmt die Arme hinter den Kopf. Ihre Brüste richten sich auf, und Ridley blickt auf zwei kleine, harte Nippel. Vielleicht sollte man die Heizung etwas hochdrehen. Immerhin – sie lächelt.
»Du kannst mich nennen, wie du willst. Aber Mädchen für alles ist sogar ganz schön. Bisschen altmodisch, aber was soll’s.«
Ridley geht pinkeln und ruft aus dem Bad.
»Mein Mädchen für alles. Und ich … bin Carls.«
Sie folgt ihm und bleibt in der Tür stehen.
»Du tust alles, was der Typ dir sagt?«
»Ich tue alles, was Carl mir sagt.«
»Zum Beispiel?«
Wann war das? Am 17. August. Ist das ein gutes Beispiel? Und wenn ja, kann er ihr das erzählen? Ist das nicht das älteste Klischee von allen? Die Typen, die im Bett Staatsgeheimnisse und sonst was ausplaudern? In eine Honigfalle tappen.
»Sagen wir es mal anders. Carl gibt mir Jobs. Kleine und große. Selten legale. Und das macht es so lukrativ, dass ich Geld für Koks und Mädchen für alles habe. Reicht das?«
»Klar. Reicht völlig.«
Sie stellt sich den Stuhl vor die Fensterbank und steigt hoch. Sie muss auf den Zehenspitzen stehen, aber es gelingt ihr, die Zigarette aus dem Spalt zu bugsieren. Kurz bevor sie die Zigarette anzündet, dreht sie sich um und steigt wieder runter. Sie zieht ihren Slip aus, schenkt Ridley ein Augenzwinkern und klettert wieder hoch.
»Wennschon, dennschon.«
Kurz darauf stehen sie beide auf der Fensterbank, rechts und links am Klappfenster und rauchen. Sie ist so schön, dass es fast wehtut.
Und genau so soll es sein. Wobei – der fünfte Tropfen war fast einer zu viel. Aber trotzdem, der Suntory blüht auf, wie eine schwarze Blume voller Gefahr. Er streichelt die Ränder der Zunge und krallt sich dann, in einer beinahe selbstmörderischen Süße, am Gaumen fest. Carl macht sich Notizen und bemerkt einen Tropfen auf der Küchenplatte. Er wischt ihn weg, löscht das Licht und geht durch das dunkle Wohnzimmer. Vorbei am Esstisch, am Sofa, an den Sesseln, der Soundbar, vorbei an der Büchersammlung, der Fernsehcouch, dem Fernglas und auf die Terrasse. Seine Schritte werden federnd, als er den Whirlpool passiert. Irgendjemand müsste mal wieder die beiden Palmen auf braune Blätter checken. Carl lässt sich in seine Lieblingsecke der Sitzlandschaft fallen, nimmt noch einen kleinen Schluck, und der Glanz in seinen Augen lässt den beleuchteten Küstensaum und die Lichter der Jachten draußen auf dem Meer ineinander verschmelzen. Dazu der sanfte Verkehrslärm, komponiert aus deutschen Luxuslimousinen, italienischen Sportwagen und hochgezüchteten japanischen Motorrädern. Wer das sieht und hört, weiß, dass er es geschafft hat.
Carl greift zum Handy. Betty kann noch warten, Schneider ist instruiert, fehlt noch Ridley. Harte Woche. So viele Bälle in der Luft und fallen lassen, geht nicht. Der Nachteil von Carls Terrasse: Irgendjemand könnte Carl herunterschmeißen, und man muss davon ausgehen, dass es sehr weh tut, wenn man nach 14 Etagen freiem Fall auf das Trottoir klatscht. Carl nimmt noch einen vorsichtigen Schluck. Ein kleiner Urlaub wäre mal wieder schön. Einfach mal raus aus dem Trott und der Mühle. Ein paar Tage herunterkommen. Auch das Meer kann einem nach einer Weile auf die Eier gehen. Kennst du eine Welle, kennst du alle. Immerhin meldet sich Ridley mit der eilfertigen Höflichkeit, die man aber auch nun mal wirklich erwarten kann.
»Hallo, hier ist Ridley.«
»Ridley, ich bin es, Carl. Hoffe, ich störe dich nicht, alter Junge. Aber ich habe da einen ziemlich interessanten Job für dich. Falls du ein wenig Zeit für mich übrig hast?«
Das war jetzt ein wenig mit der Tür ins Haus gefallen, aber scheiß drauf.
»Für dich immer, Carl.«
Immerhin ist er noch nüchtern genug, um 4,8 Prozent hilflosen Sarkasmus beizumischen.
»Meinen herzlichen Glückwunsch«, sagt Carl.
»Wozu?«, fragt Ridley.
»Nett, dass du fragst. Herzlichen Glückwunsch zu deiner neuen Aufgabe. In Anbetracht deiner Verdienste habe ich beschlossen, dich zu befördern. Du bist jetzt nicht mehr meine kleine Nutte, das Äffchen, das auf meinem Leierkasten Kreise dreht, mein Laufbursche-Schrägstrich-Leibdiener. Wenn ich Haare im Ausguss habe und bin da fies vor – wen rufe ich an? Alle möglichen Leute, aber nicht Ridley. Keine Scheißjobs mehr, mein Freund.«
Am anderen Ende, irgendwo in Frankfurt, in einem dieser kalten, amerikanischen Business-Kartons, die Ridley so liebt, herrscht für einen Moment Schweigen. Dann lasst uns mal kurz überschlagen. Ganz sicher Alkohol und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Koks. Speed? Man weiß es nicht. Ganz ausgestellt höflich hört er sich an.
»Also, das sind ja tolle Neuigkeiten, Carl.«
»Wenn du die Güte hättest, mir kurz zuzuhören. Das wäre wirklich nett, das würde mir unheimlich gut schmecken. Aber gut, sag mal was, wenn du unbedingt musst.«
»Klingt klasse«, sagt Ridley, und jetzt ist die Unsicherheit in seiner Stimme mit Händen zu greifen. Hat Carl sich etwa schon mal den einen oder anderen grausamen Scherz mit Ridley erlaubt? Zutiefst erbarmungslos grausam? … Die von uns, die ohne Schuld sind …
»Klasse ist das richtige Wort, richtig klasse ist das. Denn diese deine neue Profession passt zu dir wie sonst nur was. Hast du nicht mal irgendwas studiert?«
»Ich habe alles Mögliche studiert«, sagt Ridley.
»Nicht so bescheiden. Weißt du, es gibt Momente, da beneide ich dich.«
»DU – beneidest mich?«
Kleinen Moment, bitte. Gerade fräst sich der Typ mit der Hayabusa die Küstenstraße entlang. Derzeit ist er noch allein. In der ganzen Stadt gibt es nur eine Hayabusa. 13,2 Sekunden braucht die Hayabusa. Von null auf 300 Stundenkilometer. Wirklich wahr! Man muss an diesem Ort schon einiges unternehmen, um noch aufzufallen. Und zack … ist er auch schon weg. Wo waren wir?
»Nackter Neid. So ist es, mein Lieber. Während ich in Santa Monica irgendwelchen operierten Starlets das Mittagessen bezahle, während ich ölverschmiert im Maschinenraum meiner Jacht schwöre, nie wieder in Portofino anzulegen, während ich – genau jetzt – zusehen muss, wie mein Gaul im Happy Valley als vorletzter einläuft …«
Ridley liegt im Bett. Sie liegt neben ihm. Sie schläft oder tut ganz gut so. Er hält das Handy etwas weiter vom Ohr weg, falls Carl noch mal brüllt. Es hat eine Weile gedauert, bis er begriffen hat, dass diese Monologe kein reiner Selbstzweck sind, sondern Carls lang erwartete Soli, die ewig scheinenden Variationen über die gleichen Themen, Hierarchie natürlich, dann Loyalität …
»Hörst du mir noch zu, du hörst mir doch noch zu, oder?«
»Ich bin ganz Ohr, Carl.«
»Also … während ich verwässerten Daiquiri schlürfe, kannst du dir vorstellen, dass die Idioten hier statt Limetten sage und schreibe Zitronen verwenden, diese Unmenschen …«
Ridley unterdrückt ein Gähnen. Also, was ist das? Selbstversicherung. Oder Rückversicherung? Nee, Rückversicherung klingt eher nach 36 Monatsraten und nicht nach Carl. Aber trotzdem – das ist sein Ton. Die Carl-Melodie. Und wenn man oft genug und lange genug zuhört, dann hört man auch, was sich darin verbirgt. Man braucht eine Weile und muss sich ganz darauf einlassen, aber dann hört man sie, diese umfassende, gnadenlose, unglaubliche Einsamkeit.
Carl kippt den Rest Suntory runter und legt den Kopf in den Nacken, um auch den letzten Tropfen zu genießen. Er hat sich wieder beruhigt.
»Sei froh, dass du in Deutschland bist. Wie gerne wäre ich mal wieder in meiner Heimat. Wie spät ist es bei dir?«
»Kurz nach zwei.«
»Was machst du?«
»Ich habe Besuch.«
»Ah, schön. Das ist schön«, sagt Carl.
»Ja, das ist schön«, antwortet Ridley.
»Jemand, den ich kenne?«
»Glaube ich nicht.«
»Beschreib sie.«
»Eine Mischung aus Lara Croft, der jungen Sophia Loren und einem ganz kleinen bisschen Schneewittchen.«
»Klingt gut, klingt wirklich gut«, sagt Carl.
»Und sie hat Humor.«
»Okay. Ich habe einen Job für dich. Willst du jetzt schon etwas darüber hören, oder reicht es morgen früh?«
»Morgen früh wäre mir lieber. Ich habe ein bisschen was drin.«
»Das ist das letzte bisschen für die nächste Zeit.«
Ridley steht auf, geht durch den Raum und löscht das Licht im Bad.
»Klar, Carl. Alles klar.«
Carl ist dabei, die Markise einzufahren und stellt das Glas auf den Wohnzimmertisch. Jedes Mal muss er aufs Neue den blöden Schalter vom Whirlpool suchen.
»Du fragst gar nicht, worum es geht?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Touché. Also sei morgen um zehn Uhr am Bahnhof. Schaffst du das?«
»Ich lege mich ein paar Stunden hin und fahr rüber. Kein Ding.«
»Schlaf schön, mein Kleiner.«
Carl hat aufgelegt, und Ridley lässt sich ins Bett fallen. Wie spät ist es bei dir? Wie spät wird es wohl sein? Bei mir ist es genauso spät wie bei dir. Klar, dein Handy lässt sich nicht nachverfolgen. Es ist nicht so, als ob ich es nicht hundertmal versucht hätte. Aber wenn du auf einem anderen Kontinent wärst, würde ich das wissen. Kurz bevor er die Nachttischlampe ausmacht, schaut er sie noch mal an. Ist das ein Lächeln?
Der Hotelpool öffnet um sechs, und Ridley ist der Erste. Er zieht ein paar Bahnen, um das Gift aus dem Körper zu bekommen. Gegen sieben betritt er den Frühstückssaal, legt seine Zimmerkarte auf und wird mit Namen begrüßt. Eine junge Frau bringt ihm einen doppelten Espresso mit heißer Milch in einem Extra-Kännchen. Ein netter, glänzend aufgelegter junger Mann fragt ihn, ob er eine Eierspeise zubereiten lassen darf. Ridley entscheidet sich für ein Rührei.
»Eher trocken oder eher feucht?«, fragt der nette, glänzend aufgelegte junge Mann.
Ridley kann den Aufwand heute nicht richtig genießen. Wie immer, wenn ein Job naht, hat Carl es geschafft, in seinen Kopf zu kriechen und sein Gehirn zu kapern. Das feuchte Rührei kommt mit einem Sprenkel Schnittlauch. Das Brot ist frisch gebacken, der Joghurt aus Bio-Milch, die Erdbeeren wurden gerade geerntet, und wie immer liegt der Unterschied zwischen einem guten und einem wirklich guten Hotel offen zutage. Kein Lärm. Kein Klappern, kein Klirren, kein überflüssiges Wort. Schritte verschwinden in dicken Teppichen, und die Servicemenschen verrichten ihre Tätigkeit mit effizienter Lautlosigkeit. Aber Ridley gelingt es nicht, sich dem Genuss der Stille hinzugeben. Carl sitzt auf seiner Schulter und lacht sich kaputt. Als Ridley zurück ins Zimmer kommt, ist sie dabei, sich anzuziehen. Sie wirft ihm einen fragenden Blick zu, und Ridley schüttelt den Kopf. Sie fährt fort, legt etwas Lippenstift auf, drückt ihm einen leichten Lippenstiftkuss auf die Wange und ist verschwunden.
Um zehn Uhr ist Ridley am Bahnhof. Um 10:01 Uhr geht sein Handy. »Sad sweet …«
»Guten Morgen, Carl, hier ist Ridley.«
»Gut geschlafen?«
»Kann man wohl sagen, Chef. Wie ein Stein im Bauch eines toten Bären.« Eine der wenigen Möglichkeiten, es Carl ein wenig zurückzuzahlen, ist es, möglichst frühmorgens die allerbeste Laune an den Tag zu legen. Da kann er gar nicht drauf. Vor zwölf ist Carl nicht Carl.
»Sag nicht, du warst schon schwimmen.«
»Wie ein Fisch bin ich geschwommen. Der Hotelpool war quasi das Volk und ich der Revolutionär, und wenn Mao recht hat, dann …«
Ridley kann fast sehen, wie Carl leidet.
»Reicht, es ist gut. Also, der Typ kommt mit dem Zug, und das Meeting ist irgendwann heute Nachmittag. Was ich weiß, ist: Er geht ebenfalls gerne schwimmen, und viel mehr weiß ich nicht. Ach ja, er fährt gerne mit dem Zug, aber das nützt uns ja nicht viel, weil er ja bereits mit dem Zug angekommen ist, wenn du dich auf seine Spur heftest.«
»Kapiert«, sagt Ridley.
»Ach, was«, sagt Carl. »Man weiß es nicht genau, aber die Chancen stehen gut, dass er sich im gleichselben Etablissement einmietet, in dem auch du Quartier genommen hast.«
»Wer ist er?«, fragt Ridley.
»Musst du nicht wissen«, sagt Carl. »Alles, was du wissen musst, ist, dass es ein Mann ist, Mitte 40 und die Sorte DAX-Vorstand, hager, sehnig, 14-Stunden-Tag, stahlgrauer Kurzhaarschnitt, die wir alle so lieben und uns zum Vorbild nehmen sollten. Vernichtet vor dem Frühstück 5000 Arbeitsplätze und geht nach Feierabend auf eine Vernissage von jungen Künstlern aus den schwierigen sozialen Verhältnissen, die er geschaffen hat.«
»So einer«, sagt Ridley.
»Genau so einer«, sagt Carl. »Und schwimmen tut er gern. Wenn er zum Beispiel schwimmen ginge, wärst du am Zug. Kriegst du das Hotelzimmer auf?«
»Klar.«
»Gut. Er hat einen mittelgroßen Koffer dabei. Wahrscheinlich so ein Ding, das man mit einem Schweißbrenner öffnen muss. Die finden das schlau, die DAX-Jungs. Unglaublich clever, finden die das. Also klau einfach den ganzen Koffer.«
Ridley tut, als würde er sich Notizen machen. »Ganzen Koffer klauen …«
Carl leidet. »Hör zu, das ist mir noch zu früh, und lustig ist es auch nicht wirklich. Ich habe da keinen Bock drauf. Wenn das Ding klappt, sind wir für die nächste Zeit saniert, und ich kann vielleicht sogar Weihnachtsgeld zahlen. Machen wir uns nichts vor, wahrscheinlich müssen wir improvisieren, was immer suboptimal ist. Erster Schritt, du bleibst dran. Er kommt mit dem ICE aus München. Sechs Minuten Verspätung laut Bahn-App.«
»Schickst du mir ein Foto?«, fragt Ridley.
»Ich schick dir ein Foto«, sagt Carl. »Aber egal, was du machst, ich will es vorher wissen. Ich will mein Okay geben oder die Sache abblasen. Es muss klappen, oder wir lassen es sein. Scheitern ist keine Option. Wenn du ihn gefunden hast, hefte dich an seine Fersen und sag mir Bescheid. Oder erst Bescheid sagen und dann an seine Fersen heften. Du hast da absolute Entscheidungsfreiheit.«
»Alles klar, ich gehe dann mal zum Bahnsteig.«
»Moment noch«, sagt Carl. »Ich sitze ja hier im Dunkeln und warte auf den Sonnenaufgang.«
»Ist das so?«, fragt Ridley.
»Ja, das ist so. Und während ich hier auf die Sonne warte, habe ich gelesen, dass die Lichtgeschwindigkeit 299792458 Kilometer pro Sekunde beträgt. Teil das doch mal flink durch sieben, sei doch so lieb.«
Ridley schweigt. Carl nicht.
»Was ist los? Gehirn kaputt?«
»42827494«, antwortet Ridley.
»Schön, schön, das wollte ich hören«, sagt Carl. »Das Letzte, was ich brauche, ist, dass du den Job versenkst, weil du die Birne voll mit Koks hast. 42 Millionen 827… meine Fresse, wenn ich bloß wüsste, wie du das machst.«
»Weiß ich selber nicht«, sagt Ridley und macht sich auf den Weg in Richtung Bahnsteig. Zwei Minuten nach dem Eintreffen des Zugs hat er den Koffer entdeckt. Er ist der ersten Klasse entstiegen, und sein Besitzer nimmt sich ein Taxi.
»Fahren Sie dem Taxi nach«, sagt Ridley zum Taxifahrer.
»Das ist ja wie in Hollywood«, sagt der Taxifahrer.
»Das ist Hollywood«, entgegnet Ridley, »gleich taucht hinter dem Commerzbank-Gebäude ein Riesenaffe auf, schmeißt uns beide in den Main, und dann ruft einer Cut, und wenn wir Pech haben, machen wir den ganzen Scheiß noch mal von vorn.«
Sie fahren am Commerzbank-Tower vorbei, kurze Zeit später lässt Ridley den Taxifahrer halten.
»Ich dachte …«
»Ich weiß, wo er hinfährt«, sagt Ridley.
»Woher willst du das wissen?«, fragt der kumpelige Taxifahrer.
»Ich habe den ganzen Plan von eurer blöden Stadt im Kopf«, antwortet Ridley. Er steigt aus, ruft Carl an und teilt ihm mit, dass der Koffer auf dem Weg ins Hilton ist.
»Ich kann innerhalb einer Stunde umziehen. Oder …«
Während der nun folgenden, vergleichsweise langen Gesprächspause sitzt Carl in seinem Arbeitszimmer und starrt abwechselnd und mit gleichem Missmut auf seinen Kaffee und die grünen Schlieren auf der Waschbetonwand vor seinem Fenster. Das können ja kaum Algen sein. Was ist eigentlich Grünspan? Und wenn man Suchbegriffe wie »grün« und »Schleim« googelt, führt das in eine ganz falsche Richtung. Aber die wichtigste Frage ist, wie man das entfernt. Vielleicht könnte jemand von Carls Fenster aus mit einer verlängerten Sprühdose (oder so) das Zeug so dermaßen durchvergiften, dass es verschwindet? Dann wäre mal wieder ein Problem auf dieser Welt gelöst. Und die Leute aus dem Nachbargebäude müssten sogar noch dankbar sein.
»Oder was?«, fragt Carl.
»Oder ich mach’ es sofort«, antwortet Ridley.
»Was heißt sofort?«
»Mister Kofferträger rechnet noch nicht mit einer Gefahr. Kann sein, dass das später noch kommt, aber im Moment macht er sich noch keine Sorgen. Sorglos. Ich kann ihn mir schnappen, und alles ist gut.«
Carl hat etwas in seiner Nase gefunden. Wenn er nervös wird, bohrt er in der Nase.
»Sicher?«
Ridley schweigt. Er schweigt länger. Er hat gesehen, wie der Mann aus der Bahn gestiegen ist, und gesehen, dass er sich sicher fühlte. Ridley hat gesehen, wie er durch den Bahnhof gegangen ist. Er hat sich ins Taxi gesetzt und dann den Koffer neben sich gelegt. Erst nachdem er eingestiegen war. Ridley hat gesehen, wie der Mann aus dem Taxifenster schaute und dann sein Handy checkte. Ridley hat genug gesehen. Ridley schweigt. Ridley braucht manchmal keine Worte.
»Mach es«, sagt Carl.
Ridley steigt wieder ins Taxi und verspricht dem Fahrer ein fettes Trinkgeld, wenn er es zeitnah ins Hilton schafft.
Als Ridley eintritt, ist der Koffer noch in der Lobby. Ridley mag die großen Hotels amerikanischer Provenienz. Das Hilton hat eine Atrium-Lobby, und die Aufzüge sind aus Glas. Nichts für Menschen mit Höhenangst. Der Mann mit dem Koffer hat keine Höhenangst. Er hat die 8 gedrückt und Ridley die 9. Sie sind allein. In der 8 steigt der Koffermann aus. Ridley wartet, bis er ein paar Schritte entfernt ist, holt den Elektroschocker raus und geht ihm nach. Ein dicker, fluffiger Hotelflurteppich dämpft seine Schritte. Kurz vor seiner Zimmertür und viel zu spät bemerkt ihn der Koffermann. Ridley versetzt ihm einen Stromschlag, der Mann geht zu Boden. Ridley schnappt sich die Zimmerkarte und schafft es ohne große Umstände, Mann und Koffer ins Hotelzimmer zu verfrachten. Der Rest besteht aus K.-o.-Tropfen und Warten. Der Koffer lässt sich tatsächlich nicht öffnen. Später fährt Ridley runter in die Tiefgarage, hält sich eine Frankfurter Allgemeine
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