15,99 €
Im Laufe der Geschichte hat sich jede Epoche für klüger gehalten als die vorherige. Die Humanisten der Renaissance betrachteten das Mittelalter als eine Ära der Finsternis, die Aufklärer versuchten, den Aberglauben mit der Vernunft zu besiegen, und in der heutigen hypervernetzten Welt sind scheinbar unbegrenzte Informationen auf Abruf verfügbar. Aber macht uns das am Ende wirklich klug? Und was ist mit dem Wissen, das im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen ist? Sind wir wirklich klüger oder zumindest weniger unwissend als unsere Vorfahren? In diesem höchst originellen Buch untersucht Peter Burke die lange Geschichte der Unwissenheit der Menschheit in Religion und Wissenschaft, Krieg und Politik, Wirtschaft und Katastrophen. Burke enthüllt bemerkenswerte Geschichten über die vielen Formen der Unwissenheit – echt oder vorgetäuscht, bewusst oder unbewusst –, von den eigensinnigen Politikern, die 1919 die Grenzen Europas neu zogen, bis hin zu Whistleblowing und der Leugnung des Klimawandels. Das Ergebnis ist eine kurzweilige und lebendige Erkundung des menschlichen Wissens über die Jahrhunderte hinweg und der Bedeutung, seine Grenzen zu erkennen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 540
Die kürzeste Weltgeschichte derUnwissenheit
Peter Burke
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
Wichtiger Hinweis
Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
1. Auflage 2024
© 2024 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Die englische Originalausgabe erschien 2023 bei Yale University Press unter dem Titel Ignorance: A Global History © 2023 by Peter Burke. Originally published by Yale University Press. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Martin Bayer, Thomas Stauder
Redaktion: Silvia Kinkel
Umschlaggestaltung: Karina Braun
Umschlagabbildung: Shutterstock.com/onot
Satz: Zerosoft, Timisoara
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-751-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-457-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-458-4
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.finanzbuchverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Vorwort und Dank
Teil I: Unwissenheit in der Gesellschaft
Kapitel 1: Was ist Unwissenheit?
Kapitel 2: Philosophen über die Unwissenheit
Kapitel 3: Kollektive Unwissenheit
Kapitel 4: Erforschung der Unwissenheit
Kapitel 5: Geschichte der Unwissenheit
Kapitel 6: Unwissenheit in der Religion
Kapitel 7: Unwissenheit in der Wissenschaft
Kapitel 8: Unwissenheit in der Geografie
Teil II: Folgen der Unwissenheit
Kapitel 9: Unwissenheit im Krieg
Kapitel 10: Unwissenheit im Geschäftsleben
Kapitel 11: Unwissenheit in der Politik
Kapitel 12: Überraschungen und Katastrophen
Kapitel 13: Geheimnisse und Lügen
Kapitel 14: Ungewisse Zukünfte
Kapitel 15: Unkenntnis der Vergangenheit
Schlusswort: Neues Wissen und neue Unwissenheit
Weiterführende Literatur
Anmerkungen
Gewidmet allen Lehrerinnen und Lehrern der Welt, den Heldinnen und Helden des alltäglichen Kampfes gegen die Unwissenheit
Bildung ist nicht teuer. Unwissenheit ist teuer.
Leonel Brizola
Gibt es ein weiteres Feld … als eine Abhandlung über Unwissenheit?
Francesco Petrarca
Unwissenheit, definiert als fehlendes Wissen, kommt einem gar nicht wie ein richtiges Thema vor – ein Freund meinte, ein Buch darüber werde wohl nur leere Seiten enthalten. Dennoch weckt dieses Thema immer mehr Interesse, das durch spektakuläre Beispiele der Unwissenheit bei den Präsidenten Trump und Bolsonaro (ganz zu schweigen von anderen Regierungen) gefördert wird.1
Das fachübergreifende Unternehmen der Unwissenheitsstudien hat in den vergangenen 30 Jahren zugelegt, wie in Kapitel 4 erklärt wird, auch wenn die Geschichtsforschung bis vor kurzer Zeit kaum daran beteiligt war. Die Zeit scheint gekommen für einen Überblick über die Rolle der Unwissenheit (einschließlich des bewussten Ignorierens) in der Vergangenheit. Ich bin zu der Ansicht gelangt, dass diese Rolle bisher unterschätzt worden ist, was zu Missverständnissen, Fehlurteilen und anderen Arten von Fehlern geführt hat, oft mit schlimmen Folgen. Das wird besonders zum jetzigen Zeitpunkt deutlich, da die Regierungen zu wenig und zu spät auf den Klimawandel reagieren. Aber wie ich zu zeigen hoffe, sind sowohl die Arten von Unwissenheit wie auch die daraus folgenden Katastrophen zahlreich und vielfältig.
Ich habe dieses Buch für zwei Arten von Lesern verfasst: zunächst einmal für interessierte Laien. Jeder Mensch weist seine eigene individuelle Kombination von Wissen und Unwissenheit auf, beziehungsweise, wie ich es lieber ausdrücke, Arten von Wissen und Arten von Unwissenheit. Deshalb ist das Thema sicher von Interesse für die Allgemeinheit. Zum anderen habe ich es für meine Kollegen in der Forschung geschrieben, nicht nur die in meinem eigenen Fachgebiet, sondern auch die aller anderen Fächer, in denen die Unwissenheit inzwischen Forschungsgegenstand ist. Ich hoffe, dass der vorliegende Versuch, ein umfassendes Bild des bereits Erreichten und des noch Ausstehenden zu bieten, einige jüngere Forscher dazu anregen wird, ein noch junges Fachgebiet zu betreten – und natürlich dazu, meine vorläufigen Schlussfolgerungen zu bewerten, einzuordnen und zu präzisieren.
Eine zukünftige Geschichte der Unwissenheit könnte in traditioneller Weise als fortlaufende, nach Jahrhunderten gegliederte Abhandlung angelegt werden. Diese müsste allgemeine Tendenzen auf verschiedenen Gebieten identifizieren. Falls das vorliegende Buch zu zukünftigen Studien dieser Art anregt, werde ich mich glücklich schätzen. Angesichts der gegenwärtigen Unkenntnis bezüglich dieses Themas ist es vorerst realistischer, die Informationen in einer Reihe von Essays zu bestimmten Themen anzulegen.
Im Folgenden konzentriere ich mich wie in meinen früheren Studien über das Wissen, auf Europa und Nordamerika in den letzten 500 Jahren, nenne aber zusätzlich eine Reihe von Beispielen aus Asien und Afrika. Eine solche Fokussierung könnte man aus zwei Gründen kritisieren: einerseits, weil sie den Rest der Welt und die Jahrhunderte davor nicht berücksichtigt, und andererseits, weil sie über meine eigenen Recherchen zu Europa zwischen 1500 und 1800 hinausgeht.
Ich hoffe den Leser zu überzeugen, dass in dieser Situation – wie bei vielen Konflikten – ein Kompromiss sinnvoll ist. Der Grund, warum ich wenig bis nichts über die Jahrhunderte vor 1500 und einen großen Teil der Welt sage, ist ganz einfach: »Unwissenheit, Madam, reine Unwissenheit«, wie Dr. Johnson einmal einer Dame erklärte, die ihn auf einen Fehler in einem seiner Bücher hinwies. Andererseits glaube ich fest daran, dass Vergleiche und Gegenüberstellungen zwischen dem Europa der Frühen Neuzeit und der Spätmoderne zu Erkenntnissen führen. In diesem Glauben bestärkt mich das Beispiel Françoise Waquets, die mehrere Bücher zum Thema Wissen veröffentlicht hat, die sich alle mit den letzten 500 Jahren befassen.2
Die langfristige Perspektive zeigt, dass Praktiken, die oft als neu gelten, wie das absichtliche Durchsickern von Informationen (Leaking) und Desinformation in Wirklichkeit schon seit Jahrhunderten gebräuchlich sind. Sie lenkt außerdem die Aufmerksamkeit auf allmähliche, fast unmerkliche Veränderungen im Bestand des Unbekannten, die keine Rücksicht auf die Unterscheidung zwischen früher und später Neuzeit (vor und nach 1800) nehmen. Die einzelnen Kapitel dieses Buches bringen daher jeweils Beispiele von beiden Seiten der Trennscheide.
Den hier vorgestellten Überblick versteht man am besten als Vorspiel zu einer zukünftigen Geschichte, als Geländeerkundung mit vielen weißen Flecken. Eine Landkarte des Unbekannten klingt nach einem Widerspruch. Dennoch halte ich sie ebenso wie Kollegen in der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaft für ein sinnvolles Vorhaben. Kritiker mögen den Versuch voreilig nennen. Ich würde dem entgegnen, dass eine Erkundung solcher Art in einer Phase beginnenden Interesses an der Geschichte der Unwissenheit sogar besonders nützlich ist. Mit Blick auf die Zukunft hoffe ich, potenzielle Autoren zukünftiger Studien Ermutigung und Orientierung bieten zu können, indem ich ihnen Hypothesen vorstelle, die sie überprüfen können, und sie anrege, ihre Forschungen in einen größeren Rahmen zu stellen. Das tiefe Graben des Spezialisten und die Vogelperspektive des Generalisten regen einander an und hängen voneinander ab.
Wie bei meinen bisherigen Büchern waren wieder Freunde und Kollegen eine große Hilfe und gingen gegen meine Unkenntnis der Unwissenheit an, indem sie mir Ratschläge erteilten, Entwürfe kommentierten, auf Auslassungen hinwiesen und mir Quellen nannten. Meinen herzlichen Dank an Richard Drayton, Tim Harris, Julian Hoppit, Joe McDermott, Alan Macfarlane, Juan Maiguashca, David Maxwell, Anne Ploin, James Raven, David Reynolds, Jake Soll, Kajsa Weber, Iro Zoumbopoulos und Ghil’ad Zuckermann. Besonders dankbar bin ich Geoffrey Lloyd für sein Fachwissen über das Alte Griechenland und China, ebenso wie zwei anonymen Rezensenten für ihre konstruktiven Anmerkungen. Meinen besonderen Dank auch an Cao Yijing für den Vorschlag, Unwissenheit als Thema für die Gombrich Lectures zu wählen, die ich bereits 2002 halten sollte, was aber bis heute noch nicht geschehen ist; an Lukas Verbugt, meinen Kollegen im »Fachgebiet« Unwissenheit, für unseren Gedankenaustausch zum Thema und dafür, dass er den gesamten Text im Entwurf durchgesehen hat; und auch diesmal wieder an meine Frau Maria Lúcia für Quellenverweise wie auch für ihre scharfsinnigen Kommentare zum Entwurf.
Unwissenheit wird von der Gesellschaft geschaffen, ebenso wie Wissen.
Michael Smithson
Das Vorhaben, eine Geschichte der Unwissenheit zu schreiben, klingt fast so seltsam wie Flauberts Wunsch, ein Buch über nichts zu schreiben, un livre sur rien, »ein Buch, das von nichts Äußerlichem abhängt … ein Buch, das so gut wie keinen Gegenstand hätte oder in dem der Gegenstand zumindest so gut wie unsichtbar wäre«, anders ausgedrückt ein Versuch in reiner Form.1 Es ist nur angemessen, dass Flaubert dann nichts über nichts schrieb. Im Gegensatz dazu ist über Unwissenheit viel geschrieben worden, meist negativ. Es gibt eine lange Tradition, Unwissenheit aus verschiedenen Ursachen und Gründen anzuprangern.
Im Arabischen heißt die vorislamische Epoche das »Zeitalter der Unwissenheit« (al-Jahiliyya). In der Renaissance bezeichneten die Humanisten das von ihnen erstmals als solches abgegrenzte Mittelalter als dunkles Zeitalter. Im 17. Jahrhundert nannte Lord Clarendon, der Historiker des englischen Bürgerkrieges, die Kirchenväter »helle Lichter, die in sehr dunklen Zeiten aufschienen, Zeiten voller Barbarei und Unwissenheit«.2 In der Aufklärung wurde Unwissenheit als Stütze des Despotismus, Fanatismus und Aberglaubens angeführt, die in einem Zeitalter des Wissens und der Vernunft allesamt hinweggefegt würden. George Washington meinte zum Beispiel, »die Fundamente unseres Reiches« seien »nicht im düsteren Zeitalter der Unwissenheit und des Aberglaubens gelegt worden«.3
Solche Ansichten bleiben auch viel später geläufig. Der Begriff al-Jahiliyya wird zum Beispiel von radikalen Moslems wie dem ägyptischen Intellektuellen Sayyid Qutb, der besonders die USA aufs Korn nimmt, auch auf jüngere Epochen angewandt.4 Unwissenheit war (neben Armut, Krankheit, Elend und Faulheit) einer der »fünf Riesen«, zu deren Niederwerfung der liberale britische Politiker William Beveridge aufrief. Beveridges Bericht diente 1945 der Labour-Regierung als Grundlage zur Errichtung des britischen Wohlfahrtsstaats.5
Erst kürzlich hat Charles Simic in den USA geschrieben, »weitverbreitete Unwissenheit, die an Schwachsinn grenzt, ist unser neues Ideal als Nation«, während der Wissenschaftshistoriker Robert Proctor unsere Gegenwart zum »goldenen Zeitalter der Unwissenheit« erklärt.6 Auch wenn wir uns natürlich bewusst sind, dass wir viel mehr wissen als frühere Generationen, sind wir uns sehr viel weniger dessen bewusst, was sie noch wussten, wir aber nicht mehr. Beispiele für diesen Wissensverlust, auf die wir noch zurückkommen, sind etwa die Kenntnis der griechischen und römischen Klassiker oder die Vertrautheit mit der Natur und ihren Pflanzen und Tieren.
Früher war ein Hauptgrund für die Unwissenheit vieler Menschen, dass in ihrer Gesellschaft zu wenig Information frei verfügbar war. Manches Wissen war »gefährlich«, wie es der Historiker Martin Mulsow nennt, und nur handschriftlich fixiert und weggeschlossen, weil die Obrigkeiten in Gestalt von Staat und Kirche es ablehnten.7 Heute ist dagegen paradoxerweise der Überfluss an Informationen zum Problem geworden, die »Informationsflut«. Der Mensch wird mit Informationen »überschwemmt« und kann oft nicht mehr heraussuchen, was er möchte oder braucht; er erlebt ein »Filterversagen«. So kommt es, dass unser sogenanntes Informationszeitalter »die Verbreitung von Unwissenheit ebenso sehr erleichtert wie die des Wissens«.8
Als Gegenstück zur Tradition, die Unwissenheit anzuprangern, finden wir auch Lob: Eine kleine Anzahl Denker und Schriftsteller, die darzulegen wagt, dass Wissensbegeisterung (Epistemophilie) auch ihre Gefahren habe, während Unwissenheit ein Segen sein könne oder zumindest Vorteile biete. Manche solcher Autoren, besonders im Italien der Renaissance, meinten das allerdings nicht ernst und lobten nicht nur die Unwissenheit, sondern auch Glatzköpfigkeit, Feigen, Fliegen, Würstchen und Disteln, um ihren Einfallsreichtum und ihr rhetorisches Geschick vorzuführen, indem sie die antike Tradition der Scheinlobrede wiederbelebten. Einige meinten es jedoch ernst. Seit dem heiligen Augustin gibt es eine lange Tradition, die »eitle« Wissbegier kritisiert und damit impliziert, dass eine gewisse Unwissenheit die weisere Haltung sei. Die Geistlichkeit der Frühen Neuzeit, ob katholisch oder protestantisch, lehnte Neugierde gewöhnlich ab, »als eine Sünde, gewöhnlich eine lässliche, mitunter aber auch eine Todsünde«.9 Eine Todsünde ist die Wissbegierde jedenfalls in der Faustlegende, die in Theaterstücken, Opern und Romanen verbreitet wurde.10 Als Kant mit Sapere aude (»Wage zu wissen«) den Wahlspruch der Aufklärung prägte, wandte er sich damit gegen die biblische Empfehlung Noli altum sapere sed time (»Strebe nicht Höheres zu erfahren, sondern fürchte es«), vom englischen Dichter Alexander Pope als »wage es nicht, Gott zu überprüfen« umschrieben.11
Manche der weltlichen Argumente ergänzten die religiösen. Michel de Montaigne hielt Unwissenheit für ein besseres Glücksrezept als Wissbegierde. Der Philosoph und Naturforscher Henry Thoreau wollte eine Gesellschaft für die Verbreitung Nützlichen Unwissens als Gegenstück zur tatsächlich bestehenden Gesellschaft für die Verbreitung Nützlichen Wissens gründen.12 Der Romancier und Botaniker Bernardin de Saint-Pierre pries in seinen Naturstudien (1784) die Unwissenheit, weil sie das Vorstellungsvermögen anrege.13 Die französische Feministin Olympe de Gouges schwamm gegen den Strom von Geschichtsbüchern, die während der Aufklärung herauskamen, und meinte in Le Bonheur primitif de l'homme ou les Rêveries patriotiques (1789), »die ersten Menschen« seien glücklich gewesen, weil sie unwissend waren, während zu ihrer eigenen Zeit »der Mensch sein Wissen zu weit ausgedehnt hat«.14
Was die Rechtsprechung angeht, so wird die Göttin Justitia seit der Renaissance oft mit verbundenen Augen dargestellt, um Unwissenheit im Sinn von Unvoreingenommenheit und Unbefangenheit zu symbolisieren.15 Im angelsächsischen Prozessrecht werden die Geschworenen, um sie in diesem Sinn unwissend zu halten, mitunter von der Öffentlichkeit isoliert. Debatten über die sogenannte »tugendhafte Unwissenheit« werden häufiger. Der Philosoph John Rawls sprach sich für einen »Schleier der Unwissenheit« aus, worunter er versteht, man solle für Hautfarbe, soziale Schicht, Volkszugehörigkeit und Geschlecht blind werden, um den einzelnen Menschen als moralisch allen anderen gleichwertig zu sehen.16
»Tugendhafte« Unwissenheit ist auch als Begriff für die Weigerung gebraucht worden, zum Beispiel an der Entwicklung von Atomwaffen zu forschen oder wenigstens für die Weigerung, solche Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Soziologen und Anthropologen weisen auf die positiven Wirkungen weiterer Arten der Unwissenheit hin und sprechen von ihren diversen »Sozialfunktionen« oder »Sozialregimes«. Geistliche sind gehalten, das Beichtgeheimnis zu wahren, Ärzte die Schweigepflicht. Geheimes Wahlrecht schützt die Demokratie. Kollegenrezensionen, sogenannte peer reviews, bedeuten, dass wissenschaftliche Aufsätze vor der Veröffentlichung anonym und unparteiisch geprüft werden können, ohne dass der Rezensent sich dem Kollegen verpflichtet glauben muss, dessen Arbeit er beurteilt. Regierungen können in diplomatischen Geheimverhandlungen Zugeständnisse wagen, die im gleißenden Scheinwerferlicht der Medien unmöglich wären. Information ist nicht nur nützlich, sondern kann auch riskant sein.17
Ende des 19. Jahrhunderts wurde Unwissenheit als Heilmittel für das immer drängendere Problem des überhandnehmenden Wissens genannt. Der US-amerikanische Neurologe George Beard zum Beispiel meint, Unwissenheit schenke »nicht bloß Freude, sondern auch Macht« und sei ein Mittel gegen »Nervosität«.18 Manche Business- und Management-Ratgeber halten Unwissenheit für ein »Aktivum« oder einen »Erfolgsfaktor« im Geschäftsleben.
Anthony Tjan beispielsweise rät, »die eigene Unwissenheit anzunehmen«, weil Unternehmer, die sich »ihrer eigenen Grenzen und der äußerlichen Umwelt« nicht bewusst seien, »unbeschränkt Ideen haben können«. Später erklärt er vorsichtiger: »Entscheidend ist, die kritischen Augenblicke im Fortschritt eines Unternehmens zu erkennen, wenn ein völlig unbefangenes Vorgehen von Vorteil ist.« Der Ausdruck »schöpferische Unwissenheit« setzt voraus, dass zu viel Wissen Neuerungen verhindert, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch auf anderen Gebieten.19 Der Ausdruck »schöpferische Unwissenheit« wurde in einem Artikel des New Yorker für die Einstellung geprägt, die Beardsley Ruml, Leiter einer großen Forschungsstiftung, davon abhielt, »die Sperr- und Verbotsschilder in der Welt der Ideen zu sehen«, Warnungen, die der fachübergreifenden Forschung, die er fördern wollte, im Weg standen. Henry Ford soll, mehr auf die Praxis bezogen, gesagt haben: »Ich suche haufenweise Leute, die eine unerschöpfliche Fähigkeit haben, nicht zu wissen, was nicht gelingen kann.«20
Die Behauptung, Unwissenheit habe ihre Vorteile, führt zu Erkenntnissen, zumindest, wenn wir daran denken zu fragen, wem sie Vorteile bringt. Die im vorliegenden Buch angeführten Beispiele legen allerdings nahe, dass die nachteiligen Folgen der Unwissenheit gewöhnlich die Vorteile überwiegen; deshalb widme ich das Buch auch den Lehrern, die versuchen, der Unwissenheit ihrer Schüler abzuhelfen. Der Wunsch, selbst nicht zu erfahren, was einen bedroht, beziehungsweise der Wunsch, dass andere nicht erfahren, was einem peinlich ist, ob als Person oder als Gemeinschaft, ist verständlich, seine Folgen aber oft genug schädlich, zumindest für unsere Umgebung. Das absichtliche Übersehen oder Abstreiten unbequemer Tatsachen ist deshalb ein wiederkehrendes Thema in diesem Buch.
In dem langen Streit für und gegen Unwissenheit hängen die einzelnen Standpunkte natürlich davon ab, was ihre Vertreter unter diesem Begriff verstehen. Die herkömmliche Erklärung ist ganz einfach: das Fehlen oder die »Abwesenheit« von Wissen.21 Ein solches Fehlen oder eine Abwesenheit ist für den oder die Unwissenden oft nicht erkennbar, eine Art der Blindheit, die schwere Folgen hat, bis hin zu den Katastrophen, die im zweiten Teil besprochen werden.
Die herkömmliche Erklärung wird mitunter als zu umfassend abgelehnt; man müsse verschiedene Arten der Unwissenheit unterscheiden. Im Englischen wird ignorance (Unwissenheit) manchmal gegen nescience (Unwissen) und beide von non-knowledge (Nicht-Wissen) abgegrenzt. Es gibt auch noch unknowing, ein Begriff, der hypermodern wirkt, aber auf den unbekannten Verfasser eines mystischen Traktats im 14. Jahrhundert zurückgeht.22 In anderen Sprachen wird ähnlich unterschieden: Im Deutschen zum Beispiel zwischen Unwissen und Nicht-Wissen. So schreibt der Soziologe Georg Simmel etwa über die »Alltagsnormalität des Nicht-Wissens«.23 Leider verwenden die einzelnen Autoren diese Begriffe unterschiedlich.24
Allgemein anerkannt ist dagegen die Notwendigkeit, zwischen »bekannten Unbekannten«, etwa dem Aufbau der DNS vor ihrer Entdeckung im Jahr 1953, und »unbekannten Unbekannten« zu unterscheiden, wie zum Beispiel im Fall von Christoph Kolumbus, der auf der Suche nach Indien, ohne es zu ahnen, Amerika entdeckte. Diese Unterscheidung ist Ingenieuren und Psychologen schon länger bekannt, wird aber häufig dem ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zugeschrieben. Als er auf einer Pressekonferenz im Vorfeld des Einmarsches in den Irak nach Beweisen für Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen gefragt wurde, antwortete Rumsfeld:
Berichte, dass etwas nicht der Fall sei, finde ich immer interessant, denn wie man weiß, gibt es bekannte Bekannte; von diesen Fakten wissen wir, dass wir sie kennen. Man weiß auch, dass es bekannte Unbekannte gibt; das heißt, wir wissen, dass wir manches nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – das sind die, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht kennen. Und wenn man sich die Geschichte unseres Landes und die anderer freier Länder anschaut, dann sieht man, dass es die [Tatbestände] in der letzteren Kategorie sind, die Probleme machen.25
Zwar hat Rumsfeld diese Begriffe hier verwendet, um einer unangenehmen Frage aus dem Weg zu gehen, aber die Unterscheidung zwischen bekannten Bekannten, bekannten Unbekannten und unbekannten Bekannten ist dennoch nützlich.
Wie steht es mit »unbekannten Bekannten«? Dieser Begriff, wohl eine angemessene Umschreibung dessen, was normalerweise »stillschweigendes Wissen« heißt, verwendet der Philosoph Slavoj Žižek in einem anderen Sinn. Er wies darauf hin, dass Rumsfeld »den entscheidenden vierten Begriff hinzuzufügen vergessen habe: das unbekannte Bekannte … das Freud‘sche Unbewusste, ›das Wissen, das sich selbst nicht kennt‹, wie Lacan zu sagen pflegte«, darunter auch Rumsfelds Kenntnis von der Folter in Abu Ghuraib.26
Freud interessierte sich auch für andere Arten unbewusster Unwissenheit. In seiner berühmten Traumdeutung stellte er die Frage, ob der Träumer wisse, was sein Traum bedeutet, und kam zu dem Schluss, es sei »sehr wohl möglich und sogar hochwahrscheinlich, dass der Träumende tatsächlich weiß, was sein Traum bedeutet; allerdings weiß er nicht, dass er es weiß.«27 Allgemein interessierte sich Freud dafür, was die Patienten über sich selbst nicht wissen wollten. Etwas nicht wissen zu wollen, ist ein wiederkehrendes Thema im vorliegenden Buch.
Ein besonderes Interesse an der Unwissenheit zeigte der unorthodoxe Freudianer Jacques Lacan. Er beschrieb Psychoanalytiker als diejenigen, die nicht wissen, was Psychoanalyse ist (und auch wissen, dass sie es nicht wissen), im Gegensatz zu denjenigen, die glauben, sie wüssten es, es aber in Wirklichkeit nicht wissen. Für Lacan war Unwissenheit eine Leidenschaft wie Liebe und Hass; er meinte, manche Patienten gingen vom Widerstand gegen Selbsterkenntnis zu einer Leidenschaft dafür über.28
»Wenn es eine Soziologie des Wissens gibt, sollte es auch eine Soziologie der Unwissenheit geben.«29 Eine solche Soziologie könnte mit der Frage beginnen, wer was nicht weiß. Man sollte immer bedenken, dass »wir alle unwissend sind, nur über verschiedene Sachen«, wie es der amerikanische Humorist Mark Twain in einem seiner zahlreichen Bonmots zu diesem Thema formulierte. So werden zum Beispiel heute um die sechstausend Sprachen auf der Welt gesprochen, und selbst die vielsprachigsten Menschen kennen 99,9 Prozent davon nicht. Ein anderes Beispiel: Die Ausbreitung des Covid-19-Virus wurde von Epidemiologen vorausgesagt, die erkannt hatten, welche Gefahr ein Übersprung von Wildtierkrankheiten auf den Menschen darstellt. Die Verantwortlichen in den Behörden wussten das nicht oder wollten es nicht wissen, also wurden sie kalt erwischt.
Viele Unglücksfälle, von denen wir auf einige in späteren Kapiteln zurückkommen, geschahen, weil diejenigen, die Bescheid wussten, nicht handeln konnten, während die Handelnden nicht Bescheid wussten. Der Anschlag auf die Bürotürme des Welthandelszentrums 2001 bietet ein dramatisches Beispiel für mangelnde Verständigung. Geheimdienste und Polizeibehörden der USA verdächtigten bereits vorher mehrere Personen der Planung eines solchen Terrorakts, aber ihre Warnungen gingen in den vielen derartigen Meldungen an die US-Regierung unter, ein schlagendes Beispiel für »Informationsüberflutung«. Condoleezza Rice, die damalige Sicherheitsberaterin des Präsidenten, gab später zu, im System habe es »eine Menge Geschwätz gegeben«.30
Spricht man über Unwissenheiten, so muss man ihre vielen Spielarten, die unterschiedlichen Unwissenheiten (ignorances), unterscheiden, entsprechend den vielen Spielarten des Wissens (knowledges).31 Eine bekannte Unterscheidung stellt das Wissen, wie man etwas tut, dem Wissen, dass etwas der Fall ist, gegenüber, also Gewusst wie (knowing how) gegenüber Gewusst dass (knowing that).32 Die Folgen des Fehlens eines bestimmten Gewusst wie werden im Folgenden noch oft angesprochen. Eine weitere Unterscheidung ist im Französischen, Deutschen und anderen Sprachen gebräuchlich: der Gegensatz zwischen savoir und connaître beziehungsweise wissen und kennen. Von etwas zu wissen ist etwas anderes, als es aus eigener Erfahrung zu kennen. Zu wissen, dass es eine Stadt namens London gibt, heißt nicht, dass man London kennt. Jede Form des Wissens hat ihre eigene Form der Unwissenheit als Gegenstück.
Die britische Soziologin Linsey McGoey, die Unwissenheit zu ihrem Spezialgebiet gemacht hat, beklagt sich, dass sie eine »verarmte Sprache« zur Beschreibung Unbekannter vorgefunden habe, als sie Anfang des 21. Jahrhunderts mit ihren Forschungen auf diesem Gebiet begann.33 Das ist heute, da Völlerei statt Knappheit zum Problem geworden ist, nicht mehr der Fall. Zahlreiche neue Varianten sind benannt worden und bilden eine ausgefeilte Klassifikation mit Adjektiven wie »aktiv« oder »absichtlich«. Es gibt tatsächlich beträchtlich mehr Adjektive als Varianten, die sie bezeichnen; hier wurde mehrfach das Rad neu erfunden, weil die Spezialisten der einzelnen wissenschaftlichen Fachgebiete oft unwissend sind, was die Ergebnisse anderer Disziplinen angeht.
Manche Unterscheidungen sind allerdings nützlich und werden im Folgenden beachtet. Ein offensichtliches Beispiel ist der Gegensatz zwischen der Unkenntnis, dass etwas existiert, und der Unkenntnis seiner Ursachen. Seuchen und Erdbeben sind schon lange bekannt, aber wir wissen erst seit ziemlich kurzer Zeit, wie sie zustande kommen. »Sanktionierte« Unwissenheit, eine Wortprägung der Philosophin und Kritikerin Gayatri Chakraovorty Spivak, bezeichnet die Situation, in der sich eine Gruppe, wie etwa die Intellektuellen des Westens, berechtigt glaubt, andere Kulturen nicht kennen zu müssen, aber erwartet, dass deren Angehörige sie kennen.34
Unwissenheit wird genau wie Wissen manchmal vorgetäuscht, ein Thema, das im achten Kapitel behandelt wird. Regierungen leugnen Völkermorde, wissen aber von den Massakern, die sie angeordnet oder zugelassen haben. Die einfachen Bürger Siziliens gaben lange Zeit lieber vor, nichts von der Mafia zu wissen. Im viktorianischen England zeigten die Damen ihre Wohlanständigkeit, indem sie Unkenntnis sexueller Praktiken behaupteten, während ein Mann, um als echter Gentleman zu gelten, vorgab, nichts von Geldgeschäften zu verstehen. Für eine Dame gehörte es sich auch nicht, Kenntnisse auf anderen Gebieten einzugestehen, selbst wenn sie vorhanden waren, zum Beispiel in Latein, Politik oder Naturkunde (außer Botanik). Die Erzählerin in Jane Austens Northanger Abbey erklärt, eine Frau müsse, »sollte sie das Unglück haben, etwas zu wissen, dies so gut als möglich verbergen.«35
Eine weitere sinnvolle Unterscheidung ist die zwischen bewusster und unbewusster Unwissenheit, wobei »unbewusst« die Bedeutung »der Fragestellung nicht bewusst« hat, nicht die in der Freud‘schen Psychologie übliche. Auch der Begriff der »tiefen« Unwissenheit wird für fehlendes Bewusstsein für bestimmte Fragen gebraucht, etwa für das Fehlen von Begriffen, die Voraussetzung einer Fragestellung sind.36 Der französische Historiker Lucien Febvre wies vor 80 Jahren auf eine ähnliche Erscheinung im Französischen des 17. Jahrhunderts hin, dem bestimmte »Wörter gefehlt« hätten. Laut Febvre habe dieser Mangel seinerzeit die Entwicklung der Philosophie behindert und Atheismus als persönliche Überzeugung unmöglich gemacht.37
Ein weiteres Beispiel tiefer Unwissenheit ist die verbreitete Unfähigkeit, sich eine andere Denkweise als die eigene vorzustellen. Folglich hinterfragt man die eigene Denkweise nicht, weil sie als selbstverständlich und natürlich gilt, ob auf der Mikroebene des »wissenschaftlichen Paradigmas« (Thomas Kuhn) oder der Makroebene eines vollständigen Glaubenssystems. Wenn man versucht, seine eigenen Normen zu beurteilen, erkennt man die Grenzen der Selbstkritik.38
Die Geschichtsforschung hat Einzelne und Gruppen oft als »leichtgläubig« bezeichnet, also als unfähig, ihre eigenen Glaubensvorstellungen zu kritisieren. Dabei ignoriert die Forschung allerdings, dass die Betreffenden keinen Zugang zu abweichenden Glaubenssystemen haben. In einem geschlossenen System kann man sich nur schwer für neue Gedanken öffnen.39 Man kann das System kaum oder gar nicht angreifen, wenn man keine Alternativen kennt. Das ist für gewöhnlich erst nach dem Zusammentreffen mit Angehörigen anderer Kulturen der Fall, wenn der Erwartungshorizont beider Seiten erweitert wird.40
Der Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt, ist ein bekanntes Sinnbild dafür, dass man etwas zwar weiß, aber nicht wahrhaben oder lieber gar nicht erst erfahren will, die sogenannte freiwillige, absichtliche oder willkürliche Unwissenheit.41 Dazu kann man auch absichtliches Auslassen oder Schweigen rechnen. Der haitianische Historiker Michel-Rolph Trouillot unterschied zum Beispiel vier Phasen der Wissenserzeugung über die Vergangenheit, in denen der Einzelne sich jeweils entschließt, bestimmte Informationen mitzuteilen oder sie zu verschweigen: das Erstellen von Dokumenten, ihre Aufnahme in ein Archiv, das Heranziehen der darin enthaltenen Information und ihre Verarbeitung in einer schriftlichen Darstellung der Geschichte.42
Ein Beispiel für den gegenteiligen Fall, die unabsichtliche Unwissenheit, bietet die katholische Theologie. Mittelalterliche Theologen wie der heilige Thomas von Aquin unterschieden zwischen »unüberwindlicher Unwissenheit«, wenn sie von Heiden wie Aristoteles sprachen, die vom Christentum nichts wissen und es daher auch nicht annehmen konnten, und »schuldhafter Unwissenheit«, wenn jemand, der von der Existenz des Christentums wusste, es nicht annahm.
Schuldhafte Unwissenheit kann einen Einzelnen oder eine Gruppe betreffen. Sozialhistoriker befassen sich besonders mit Letzteren; so postuliert etwa der jamaikanische Philosoph Charles W. Mills eine white ignorance [also ein Nichtwissen, das für Weiße als Gruppe charakteristisch ist] als Grundlage rassistischer Vorurteile. Kollektive Unwissenheit steht oft auch hinter der Herrschaft einer Gruppe über eine andere, und zwar auf beiden Seiten: Die Herrschenden halten ihre Vorrechte für naturgegeben, die Beherrschten wiederum ihre Unterdrückung und werden dadurch oft von einer Rebellion abgehalten. Daher, wie Diderot bemerkt, die Bemühungen der Herrschenden, »das Volk in einem Zustand der Unwissenheit und Dummheit zu halten«.43
Die sogenannte »selektive« Unwissenheit wurde vor 100 Jahren von Lytton Strachey, einem britischen Biografen, in seiner gewohnt ironischen Manier gefordert: »Unwissenheit ist das wichtigste Werkzeug des Historikers, Unwissenheit, die vereinfacht und klärt, die auswählt und auslässt«.44 Die Auswahl kann dabei unbewusst geschehen, indem man auf bestimmte Umstände einfach nicht achtet. Schaut man sich zum Beispiel einen Film ohne Ton an, fallen einem Gesten und Gesichtsausdrücke der Darsteller auf, die man ignoriert, wenn man den Dialog hören kann.
Ähnlich achten verschiedene Arten von Reisenden am selben Ort auf jeweils andere Merkmale, weil sich ihre Sichtweise je nach Geschlecht oder Beruf unterscheidet. Die Zuverlässigkeit der Berichte von Reisenden, ihre Kenntnis oder Unkenntnis der Orte, an denen sie gewesen sind, ist ein altes Problem, aber eines, das neuerdings auch geschlechtsspezifisch beleuchtet wird; angeblich sehen weibliche Reisende fremde Orte anders als männliche.45 Die häufigen Schilderungen häuslicher Umgebungen in Reiseberichten von Frauen werden als eigene Art der »Herausbildung von Wissen« geschildert.46
Was Frauen sehen und für eine Mitteilung auswählen, sagt uns etwas Wichtiges darüber, was Männer übersehen oder was sie nicht sehen sollen. Ein berühmtes Beispiel dafür aus dem 18. Jahrhundert ist Lady Mary Wortley Montagus Schilderung eines türkischen Frauenbades in Adrianopel (dem heutigen Edirne), weil, wie sie schreibt, »jedem Manne, welcher etwa an einem solchen Orte betroffen wird, die Todesstrafe sicher ist«.47 Die Vielfalt der Sichtweisen – Eroberer, Völkerkundler, Arzt, Kaufmann, Missionar und so weiter – legt nahe, dass man nicht nur davon reden sollte, das Auge sehen zu lehren, sondern es auch übersehen zu lehren. Sowohl Erkenntnis wie Betriebsblindheit sind im jeweiligen Berufsbild angelegt.
In der Forschung übersieht man gern, wonach man nicht sucht. Ein neueres Beispiel sind die Ärzte, die sich auf die Diagnose des Covid-19-Virus konzentrierten und dabei Symptome anderer gefährlicher Krankheiten übersahen.48 Selektive Unwissenheit umfasst auch die vom US-Soziologen Robert K. Merton so genannte »spezifizierte« Unwissenheit, also eine bewusste Abwendung vom Wissen über einen Gegenstand, um sich auf einen anderen zu konzentrieren: Man entscheidet sich für spezifische Fragestellungen, spezifische Methoden oder spezifische Denkweisen.49 In jedem solchen Fall hat die positive Wahl negative Folgen, indem sie bestimmte Arten des Wissens ausschließt, ob bewusst oder als unbeabsichtigte Konsequenz. Als zum Beispiel die Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts ihren Schwerpunkt von der politischen auf die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte verlagerte, erschloss sie damit nicht nur neues Wissen über die Vergangenheit, sondern schloss gleichzeitig tradiertes Wissen von der Weitergabe an kommende Generationen aus.
Unwissenheit kann auch als aktiv oder passiv definiert werden. »Passive Unwissenheit« ist das Fehlen von Wissen einschließlich seiner Nichtanwendung in der Praxis. »Aktive« Unwissenheit bezeichnet den Widerstand gegen neues Wissen oder neuartige Vorstellungen und wurde vom österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper geprägt, der damit die abwehrende Reaktion mancher Physiker auf die umwälzenden Theorien Albert Einsteins beschrieb.50 Man kann diesen Widerstand zu der Gewohnheit ausdehnen, alles zu »ignorieren«, was man nicht wissen will, oft mit ernsten Folgen.
Man denke zum Beispiel an die Geschichte der britischen Siedler in Nordamerika, Australien und Neuseeland, die versuchten, die Existenz der Ureinwohner dieser Gebiete zu ignorieren, zumindest aber die Frage, ob diese Bevölkerungsgruppen ein Anrecht auf das jeweilige Land hatten. Die Siedler behandelten das Land als unbewohnt oder als Niemandsland (siehe Kapitel 8). Ähnlich erklärte die Balfour-Deklaration von 1917 das Land Palästina zur »nationalen Heimstatt« des jüdischen Volkes und ignorierte dabei, dass es bereits von Arabern bewohnt war. Die Probleme, die daraus entstanden, sind noch ein Jahrhundert später nicht gelöst. Lord Curzons Frage »Und was wird aus den Einheimischen?« bleibt unbeantwortet.51
»Aktive Unwissenheit« kann auch bedeuten, dass man bloß glaubt, etwas zu wissen. Wie es Will Rogers, ein US-Humorist in der Nachfolge Mark Twains, zu formulieren pflegte, besteht Unwissenheit »nicht darin, was man nicht weiß, sondern darin, was man weiß, was aber nicht so ist« (dieser Ausspruch wird auch Twain selbst zugeschrieben).52
Hier ist das Wort von der »Produktion« oder »Hervorbringung« von Unwissenheit besonders zutreffend, wie auch der Begriff der »strategischen« Unwissenheit. Zugegebenermaßen bin ich nicht besonders glücklich damit, wenn von der »Produktion« von Unwissenheit gesprochen wird, obwohl gar kein Wissen vorausging. Ich bevorzuge hier den alten Begriff »Verschleierung«, und wenn etwas erzeugt wird, dann höchstens »Verwirrung« oder »Zweifel«, oder es wird Unwissenheit aufrechterhalten oder eine Erkenntnis verhindert (mit der Entsprechung physischer Hindernisse, die in Kapitel 5 besprochen werden). Damit opfert man aufmerksamkeiterregende Schlagworte. Aber man gewinnt immer größere Klarheit, wenn man so dicht wie möglich an der Alltagssprache bleibt und Versuche, die Öffentlichkeit aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen zu belügen, auch ganz einfach »Lügen« nennt. Ich stimme allerdings absolut zu, dass es schon lange allzu üblich geworden ist, vieles zu vertuschen, was die Öffentlichkeit wissen sollte. Diese Praxis heißt »Desinformation«, euphemistisch spricht man auch von »aktiven Maßnahmen«, wobei das Studium solcher Maßnahmen »Agnotologie« genannt wird.53
Die Unwissenheit anderer ist eine Quelle der Macht für die »Wissenden« in Bereichen wie Politik, Wirtschaft und Verbrechen. Eine Studie über das Marseille der Französischen Revolution behauptet, »Kontrolle der Definition von Unwissenheit« durch die Eliten habe weitreichende politische Folgen, etwa, so der Autor, »die Fähigkeit, andere als unwissend zu brandmarken und sie von der Mitwirkung an der Stadtverwaltung auszuschließen«.54 Die Behauptung, Männer hielten Frauen unwissend, um sie beherrschen zu können, wird im folgenden Kapitel besprochen.
Bisher haben wir uns drei Hauptthemen gewidmet: etwas nicht zu wissen, etwas nicht wissen zu wollen und nicht zu wollen, dass andere etwas wissen. Es ist allerdings unmöglich, eine Geschichte dieser Themen zu schreiben, ohne einige damit zusammenhängende Begriffe einzuführen. Fehler zum Beispiel sind das Ergebnis der Unwissenheit und haben wiederum Folgen, manche tragisch, wie die Kapitel über Krieg und Wirtschaft zeigen.
Um das Problem der Darstellung von Unwissenheit in der Kunst zu lösen, stellten manche Maler sie wie Blindheit oder Narrheit dar. Im 15. Jahrhundert zum Beispiel zeigte der Maler Andrea Mantegna die Unwissenheit als augenlose Nackte. Im 16. Jahrhundert schlug Cesare Ripa in seinem Lexikon der Allegorien vor, die Unwissenheit und ihre Gefahren als Frau mit verbundenen Augen darzustellen, die durch ein Dornenfeld schreitet, oder als Jungen, der, ebenfalls mit Augenbinde, einen Esel reitet. Im 18. Jahrhundert stellte der venezianische Maler Sebastiano Ricci die Unwissenheit als Mann mit Eselsohren dar und nahm damit ebenfalls die verbreitete Gleichsetzung von Unwissenheit mit Dummheit auf.55
Heute wird der Begriff Unwissenheit oft als übergreifende Vorstellung gebraucht, die auch Begriffe wie Ungewissheit, Abstreiten und selbst Verwirrung mit einschließt. Angesichts des auch so bereits sehr umfangreichen Themas habe ich eine ziemlich enge Definition der Unwissenheit als Fehlen von Wissen zugrunde gelegt. Wie die deutschen Historiker, die Begriffsgeschichte (ein von ihnen geprägter Begriff) studieren, versuche ich ein Netzwerk verwandter Begriffe zu rekonstruieren, die sich um die Unwissenheit gruppieren und zu denen Hindernisse, Vergessen, Geheimhaltung, Abstreiten, Ungewissheit, Vorurteil, Missverständnis und Leichtgläubigkeit gehören.56 Verbindungen zwischen diesem Begriffsnetz und den Erscheinungen, auf die sie sich beziehen, zu zeigen, ist ein Hauptziel der vorliegenden Studie.
Wissenshindernisse können physischer Art sein, zum Beispiel die Unzugänglichkeit des Gegenstands, über den man etwas erfahren möchte (in Kapitel 5 am Beispiel der europäischen Erforschung Afrikas gezeigt). Sie können auch geistiger Art sein, wenn alte Vorstellungen, die nicht in Frage gestellt werden, der Annahme neuer im Weg stehen. Die Fälle des Widerstands gegen die Ideen Galileos und Darwins (unter anderen) werden in Kapitel 4 besprochen. Geistige Vorstellungsmodelle (Paradigmen) erhellen ihren Gegenstand, aber weil sie eine Vereinfachung darstellen, haben sie auch eine dunkle Seite und verstellen den Blick auf alles, was nicht in das Modell passt.57 Hindernisse können auch gesellschaftlicher Art sein, wie etwa der Ausschluss von Frauen und Angehörigen der Arbeiterklasse von der höheren Bildung, oder politischer Art, wenn etwa Regierungen etwas vertuschen wollen.
Der Begriff des Vergessens, also des Übergangs vom Wissen zurück zur Unwissenheit, umfasst auch eine metaphorische Anwendung. Die Begriffe der sozialen, strukturellen oder firmenspezifischen »Amnesie« bezeichnen das bewusste oder unbewusste Umschreiben der Vergangenheit für die Gegenwart wie auch den Verlust von Informationen in einer Organisation.58 Wissenschaftler müssen sich auch vor der Neigung zur von Robert Merton so genannten »Zitatamnesie« hüten, die darin besteht, die Arbeiten ihrer Vorgänger auf ihrem Gebiet nicht anzuführen.59 In Anfällen von Zynismus fürchte ich manchmal, dass selbst die gewissenhaftesten Forscher zwar die Priorität anderer in Kleinigkeiten gern anerkennen, aber den Vorgänger, dem sie jeweils am meisten verdanken, ebenso gern zu zitieren vergessen.
Auch Geheimhaltung ist natürlich für das Thema Unwissenheit relevant, weil ein Geheimnis nicht nur eine kleine Gruppe Wissender schafft, sondern auch eine größere Gruppe Unwissender. Heimliche Aktivitäten wie Schmuggel, Drogenhandel und Geldwäsche verbergen sich unter dem Schirm der Geheimhaltung und werden in Kapitel 10 behandelt. Abstreiten gehört zu einem Arsenal an Taktiken, um die Öffentlichkeit in Unkenntnis unangenehmer Tatsachen oder Vorgänge zu halten. In der Geschichte, besonders der Zeitgeschichte, ist Abstreiten nur zu vertraut: Leugnung des Holocausts oder anderer Völkermordbestrebungen, Abstreiten des Zusammenhangs zwischen Rauchen und Lungenkrebs, Leugnung des Klimawandels.60
Ebenso wie andere Formen der Propaganda erzielt Abstreiten seine Wirkung, wenn es auf Leichtgläubigkeit trifft, die als Unwissenheit definiert werden kann; wenn der Betreffende nämlich nicht weiß, wie wichtig Kritikfähigkeit ist und worin sie besteht, besonders bei der kritischen Rezeption von »Fake News« in den verschiedenen Medien – Gerüchten, Zeitung, Fernsehen und neuerdings Facebook und Twitter. Leichtgläubigkeit gedeiht in Ungewissheit. Ungewissheit ist das Schicksal aller Entscheidungsträger, denn niemand kennt die Zukunft. Man kann sich allerdings dank der Risikoanalyse und anderer Formen der Voraussage gegen Ungewissheit absichern, wie in Kapitel 14 dargelegt. Was Vorurteile angeht, so handelt es sich dabei um in Unwissenheit getroffene Urteile, ein klassischer Fall des Nichtwissens, dass man etwas nicht weiß. Beispiele dafür finden sich durchgehend im vorliegenden Buch.
Missverständnisse setzen Unwissenheit voraus, und wie die Unwissenheit spielen sie eine große und nicht ausreichend anerkannte Rolle in der menschlichen Geschichte.61 Besonders auffällig werden Missverständnisse, wenn Angehörige zweier Kulturen zum ersten Mal aufeinandertreffen. Ein bekanntes Beispiel für eine solche Situation ist die Begegnung der Expedition Captain James Cooks mit den Hawaiianern 1779, wie sie der führende US-amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins in einem Essay analysiert. Die Hawaiianer hatten nie zuvor Europäer gesehen. Beide Seiten beobachteten einander und versuchten, die Handlungen der anderen zu deuten. Sahlins vermutet zum Beispiel, dass die Hawaiianer in Captain Cook ihren Gott Lono sahen, weil die Expedition zur Zeit des jährlichen Fests dieser Gottheit eintraf. Als die Briten zeigten, dass sie nur Menschen waren, indem sie nach ihrer Abreise mit Schäden am Schiff unerwartet zurückkehrten, töteten die Hawaiianer Cook.62
Dieses Kapitel sollte zeigen, dass Unwissenheit ein weit verwickelteres Thema ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Kein Wunder, dass die Philosophen verschiedener Länder einiges darüber zu sagen hatten. Die Ansichten einiger davon sind Gegenstand des folgenden Kapitels.
Que sais-je? (»Was weiß ich?«)
Montaigne
Philosophen waren die Ersten, die sich zur Unwissenheit äußerten, und zwar schon vor über 2500 Jahren. In den Lun-yü (»Gesprächen«) des altchinesischen Weisen Kong Fuzi (Konfuzius) heißt es: »Soll ich Euch sagen, was Wissen ist? Es bedeutet, dass man weiß, was man weiß, wie auch, was man nicht weiß.«1 In dem etwa aus der gleichen Zeit stammenden ältesten Klassiker des Taoismus, dem Daodejing (»Buch des Rechten Weges«) des Laozi (Laotse), steht: »Zu wissen, was nicht Wissen ist, ist das Bessere«. Diese Stelle wird mitunter so ausgelegt, dass jede Äußerung, die man tun kann, notwendig den Sinn verfehle. Weil der »Rechte Weg« geheimnisvoll ist, bleiben alle Versuche, ihn zu beschreiben, nur »leere Worte«.2
Ein anderer berühmter taoistischer Text, der dem Zhuangzi zugeschrieben wird (Das wahre Buch vom Südlichen Blütenland) nähert sich dem Rechten Weg daher indirekt über eine Reihe Anekdoten wie die folgende: »Nieh Ch’üeh fragte den Wang Ni: Wisst Ihr, was alle Dinge übereinstimmend richtig nennen? Wang Ni: Woher soll ich das wissen? Nieh Ch’üeh: So wisst Ihr, dass Ihr es nicht wisst? Wang Ni: Woher soll ich das wissen?«3
Der griechische Philosoph Sokrates dachte ähnlich. Sein Schüler Plato berichtet, Sokrates habe sich für weiser als einen Mann gehalten, der »etwas zu wissen glaubt, ohne es wirklich zu wissen«, weil Sokrates selbst nicht »zu wissen glaubte, was er nicht wusste«. In Platos Dialogen wird Sokrates geschildert, wie er mit Genuss seinen Gesprächspartnern (zum Beispiel dem Menon) immer bewusster macht, dass sie weit weniger wissen, als sie gedacht hatten.4 In einer späteren Quelle wird Sokrates mit der radikaleren Formulierung zitiert, »ich weiß nur, dass ich nichts weiß«. Glaubte er das wirklich, oder war es nur rhetorisch gemeint? Die Forschung ist sich bis heute uneins.5
Sokrates lenkte die griechische Philosophie auf den Weg der Erkenntnistheorie, der Epistemologie. Die Epistemologie ist ein Zweig der Philosophie, der sich damit befasst, wie man Wissen erwirbt und woher man weiß, dass es verlässlich ist. Das Gegenstück, die Epistemologie der Unwissenheit, befasst sich damit, wie und warum man unwissend bleibt. Diese Fragen diskutierte unter den griechischen Philosophen insbesondere die Schule der Skeptiker, und hier vor allem Pyrrho von Elis. Wie bei Sokrates kennen wir auch Pyrrhos Ansichten nur aus zweiter Hand, hier aus einer viel späteren Quelle, der Kurzfassung des Pyrrhonismus von Sextus Empiricus (etwa 160 bis 210 n. Chr.).6
Die antiken Skeptiker gingen weiter als Sokrates, indem sie die Verlässlichkeit verschiedener Arten des Wissens in Frage stellten und grundsätzlich allem Anschein misstrauten. Skeptische Philosophen wiesen darauf hin, dass »ein und derselbe Gegenstand bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Eindrücke hervorruft«. So sehe zum Beispiel ein Gelbsüchtiger die ganze Welt mit Gelbstich. Auch sehe ein und derselbe Gegenstand unter verschiedenen Umständen für alle, die ihn sehen, jeweils anders aus. Ein Ruder, zum Beispiel, wirke wie abgeknickt, tauche man es ins Wasser, aber wieder gerade, wenn man es herausziehe.7
Die Skeptiker glaubten, um Wissen zu erlangen, bedürfe es einer »Beschau« (der Sinn des griechischen Worts sképsis), also einer Untersuchung der Argumente für und gegen eine Annahme, und man müsse sich ein Urteil vorbehalten, bis das Wissen gesichert sei.8 Genauer gesagt gab es zwei Arten von Skeptikern, einmal die dogmatischen, die sicher waren, dass Wissen unmöglich sei, und zum anderen die reflexiven, die nicht einmal das für sicher hielten.
Im Mittelalter ging die Tradition des griechischen Skeptizismus verloren, auch wenn einige wenige Texte überliefert sind, die die Möglichkeit, etwas zu wissen, »komplizieren, problematisieren oder abstreiten«.9 In der Renaissance tauchte mit der Wiederentdeckung der Kurzfassung des Pyrrhonismus auch der Skeptizismus wieder auf. Diese Neuentdeckung kam zur rechten Zeit, nämlich in der »geistigen Krise der Reformation«, wie der Philosoph und Historiker Richard Popkin schreibt. Er will darauf hinaus, dass sowohl bei Katholiken wie bei Protestanten die negativen Argumente schlagkräftiger als die positiven gewesen seien. Die Protestanten untergruben die Autorität der kirchlichen Tradition, die Katholiken die der Bibel.10 Was blieb da noch übrig?
Der berühmteste Skeptiker der Renaissance und die »bedeutendste Gestalt für die Wiedergeburt des antiken Skeptizismus im 16. Jahrhundert« war Michel de Montaigne, der in seiner Amtszeit als Bürgermeister von Bordeaux die Konfessionskämpfe zwischen Katholiken und Protestanten unmittelbar miterlebte. Montaigne wählte als persönliche Devise die Frage: »Was weiß ich?«. Damit war er nicht allein. Sein Schüler Pierre Charron nahm das Motto »Ich weiß nichts« an, und Francisco Sanches, Philosophieprofessor an der Universität Toulouse, schrieb ein Buch, dessen Titel besagte, Quod nihil scitur (»Dass man nichts weiß«). Charron und Sanches klingen damit wie dogmatische Skeptiker, die sich gewiss sind, dass man nichts wissen kann. Montaignes Wahlspruch lässt dagegen vermuten, er sei ein reflexiver Skeptiker gewesen, der auch den Skeptizismus skeptisch sah.11
In seinem Discours de la méthode (1637) reagierte Descartes auf Montaigne, ohne ihn beim Namen zu nennen, und übte die »methodische Unwissenheit«, um vom Zweifel zur Gewissheit zu gelangen.12 Dennoch setzten einige französische Skeptiker die Tradition des Zweifels fort. Bekannt sind François la Mothe le Vayer, der »in Montaignes Fußabdrücke trat«, und der »Überskeptiker« Pierre Bayle. Der berühmte Artikel über Pyrrho in Bayles Dictionnaire historique et critique (1697) brachte Argumente für wie gegen den Skeptizismus und ließ die Frage und den Leser in der Schwebe.13
Man könnte den Skeptizismus des 17. Jahrhunderts als philosophischen Ausdruck eines allgemeineren Bewusstseins für die Lücke zwischen Anschein und Wirklichkeit sehen, ein Bewusstsein, das für das Barockzeitalter charakteristisch war.14 Das berühmte Theaterstück La vida es sueño (»Das Leben ist ein Traum«) des spanischen Dramatikers Pedro Calderón de la Barca (1636) bietet eine dramatische Darstellung des berühmten skeptischen Arguments, wie schwierig es sei, zwischen Traum und Wachen zu unterscheiden.
Zwei führende Philosophen des 18. Jahrhunderts, George Berkeley und David Hume, teilten die Vorliebe des 17. Jahrhunderts für das Problem der Erkenntnisfähigkeit. Die Philosophen des 19. Jahrhunderts neigten dagegen dazu, die Unwissenheit zu ignorieren, mit der wichtigen Ausnahme des Schotten James Ferrier, des Autors der Institutes of Metaphysic (1854). Ferrier prägte auch den Begriff Agnotologie für die Theorie der Unwissenheit (und führte gleichzeitig den Begriff Epistemologie für die Theorie des Wissens ins Englische ein).15
Zu Ferriers Lebzeiten verstärkte sich das Interesse an der Unwissenheit wieder. So beschrieb etwa Thomas Carlyle Unwissenheit als »die wahre Armut der Armen« und betonte, wie groß das »weite Weltall des Nichtwissens« im Vergleich zum »elend kleinen Bruchteil des Wissens« der Menschen sei.16 Karl Marx schrieb über die gesellschaftlichen Hindernisse des Wissenserwerbs wie die Interessen des Bürgertums und das »falsche Bewusstsein« der Arbeiterklasse. Eine Generation später besprach Freud ein psychologisches Hindernis, die unbewusste Zurückweisung von Wissen, etwa die Neigung, peinliche Erlebnisse zu vergessen.17 Die bereits erwähnte »Zitatamnesie« in wissenschaftlichen Veröffentlichungen bietet ein Beispiel für eine »Psychopathologie des Wissenschaftsbetriebs«.
Einige Philosophen wandten sich in den 1980er-Jahren einem sozialwissenschaftlichen Ansatz zu und befassten sich auf andere Weise mit Wissen und Unwissenheit als in der traditionellen Epistemologie.
Diese hatte sich darauf konzentriert, wie der Einzelne Wissen erwirbt. Die Sozialepistemologie befasst sich dagegen mit »kognitiven« Gemeinschaften wie Schulen, Universitäten, Firmen, Kirchen und Behörden.18
Was die Epistemologie der Unwissenheit angeht, so wird ihr Programm wie folgt beschrieben: »Identifikation der verschiedenen Formen der Unwissenheit sowie Untersuchung ihrer Erzeugung und Erhaltung und ihrer Rolle in der praktischen Anwendung von Wissen«.19 In der Praxis befasst sich das Programm mit der Unwissenheit, die Geschlechtern, Rassen und Klassen anerzogen wird. Es gibt eine offensichtliche soziale Erklärung für diesen Schwerpunkt: Als Frauen, Schwarze und Arbeiter Zugang zu den Hochschulen gewannen, zuerst als Studenten, dann als Dozenten und Forscher, wurden sie sich der Unwissenheit und der Vorurteile der weißen Männer aus der Mittelklasse bewusst, die bis dahin ein Monopol auf die Stellungen in diesem Bereich gehabt hatten. Es ist Zeit, sich kollektive Formen der Unwissenheit genauer anzusehen.
Irgendwann werden wir uns mit dem Konzept maskulinistischen Nichtwissens auseinandersetzen müssen.
Michèle Le Dœuff
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir uns auf die Unwissenheit des Einzelnen konzentriert. Nun geht es um die Unwissenheit kognitiver Gemeinschaften, großer wie kleiner: Firmen, Gesellschaftsschichten, ethnische Gruppen und Geschlechter.
Der Begriff »organisatorische Unwissenheit« bezieht sich auf fehlende Wissensverbreitung innerhalb einer organisierten Gruppe, zum Beispiel eines Unternehmens.1 Dieses Fehlen ist mitunter für die Gruppe von Nutzen, zumindest in Geheimorganisationen wie zum Beispiel al-Khaida. Diese teilen ihre Mitglieder oft in »Zellen« auf, die sich untereinander nicht kennen. Die Mitglieder einer Zelle wissen nicht, wer den anderen Zellen angehört und was diese vorhaben, sodass ein enttarntes Mitglied im Verhör höchstens die eigene Zelle verraten kann.
Häufiger ist allerdings der Fall, dass organisatorische Unwissenheit der Organisation schadet. Was die Arbeiter eines Unternehmens wissen, dringt zum Beispiel nicht unbedingt in die Chefetage vor. Angestellte, die sehr lange an einem bestimmten Arbeitsplatz tätig waren, sammeln oft implizites Wissen an, das verlorengeht, wenn sie ausscheiden, weil sie niemand rechtzeitig danach gefragt hat. Der Wissensverlust durch fehlende Mitteilung innerhalb eines Unternehmens wird mitunter als »Firmen-Amnesie« bezeichnet.2
Eine klassische Analyse des französischen Soziologen Michel Crozier kam zu dem Schluss: »Eine bürokratische Organisation … besteht aus einer Reihe übereinanderliegender Schichten, die nicht besonders gut miteinander kommunizieren.« Bei der Behörde, die Crozier untersuchte, erzählte eine Sachbearbeiterin dem Forscher, die Vorgesetzten stünden »zu weit über der tatsächlichen Arbeit, um zu verstehen, was wirklich vorgeht«. Die Zentralisierung der Macht in der Organisation erzeugt einen »blinden Fleck«. »Diejenigen, die die notwendigen Informationen haben, können nichts entscheiden, und diejenigen, die entscheiden können, haben nicht die notwendigen Informationen.«3
Auch fehlende Informationsmitteilung auf derselben Ebene führt zu Problemen. Der Mangel an Kommunikation zwischen verschiedenen Behörden einer Regierung ist ein offensichtliches Beispiel. In der Frühen Neuzeit gab es noch keine einheitlichen Staatshaushalte. Nehmen wir an, der König gewährt Ihnen eine Leibrente. Die Auszahlung wäre dann an eine bestimmte Einkommensquelle der königlichen Schatulle gebunden. Wenn diese Quelle in einem gegebenen Jahr nicht genug abwirft, bekommen Sie Ihre Leibrente nicht, auch wenn der Gesamthaushalt einen Einnahmenüberschuss aufweist – niemand weiß, ob der Haushalt im Plus ist oder nicht, weil niemand den Gesamtüberblick über alle Einnahmen und Ausgaben hat.
Ein einprägsames Beispiel für eine durch Unwissenheit innerhalb einer Organisation verursachte Katastrophe ist der Reaktorunfall in Tschernobyl 1986. Ingenieure und Leitung des Atomkraftwerks wussten um die Gefahr, befolgten aber Anweisungen der Kommunistischen Partei, deren Fristen und Plansollvorgaben nur erfüllbar waren, wenn man ein paar Ecken rund sein ließ. Die Funktionäre wollten bestimmte Ergebnisse sehen. Die Risiken, die eingegangen werden mussten, um diese Ergebnisse zu erzielen, kannten sie entweder nicht oder wollten sie nicht kennen.4
Dieser Mechanismus ist ein Beispiel für das sogenannte »Ch-Ch-Syndrom«, das auf dem Vergleich von Tschernobyl (englisch Chernobyl geschrieben) mit dem Challenger-Absturz beruht, einem anderen schweren Unfall des Jahres 1986, als die amerikanische Raumfähre Challenger kurz nach dem Start explodierte und abstürzte. Beide Unglücksfälle waren das Ergebnis »nachlässiger Qualitätskontrolle … politischen Drucks [sowie von] Inkompetenz und Vertuschung«.5 Tschernobyl ist außerdem ein extremes Beispiel für die Folgen des Fehlens örtlichen Wissens, einer Erscheinung, die der Anthropologe James C. Scott »den Staatsblick« nennt.6
Dieses »örtliche Unwissen«, wie man es nennen könnte, findet sich in vielen Bereichen: im Geschäftsleben, in der Politik oder im Krieg. Die Arbeiter vor Ort kennen die örtlichen Bedingungen, während im Hauptquartier, weiter oben in der Rangordnung, Befehle ausgegeben werden, die diese Bedingungen ignorieren, aber von den Untergebenen nicht angezweifelt werden dürfen. Die späteren Kapitel bringen dazu noch viele weitere Beispiele. Den Gesamtzusammenhang sieht man von oben besser, aber der Preis dieses Überblicks ist Blindheit für vieles, das weiter unten geschieht.
An vielen Orten und zu vielen Zeiten hatten die Angehörigen der Oberschicht keine Ahnung vom Leben der gewöhnlichen Menschen, eine Unwissenheit, für die symbolhaft der (allerdings unbestätigte) Ausspruch Königin Marie-Antoinettes steht, wenn es den Hungernden von Paris an Brot fehle, sollten sie doch Kuchen essen (… qu’ils mangent de la brioche). Die Oberschicht sieht die Angehörigen der unteren Klassen oft sogar als groteske, mehr tierische denn menschliche Wesen.
So bemerkte zum Beispiel die japanische Hofdame Sei Shōnagon im 10. Jahrhundert während einer Pilgerfahrt, die Gemeinen »wimmelten wie Raupen« und fand das Verhalten von Schreinern, die ihr Mittagessen in Eile hinunterschlangen, »seltsam«. Der englische Dichter John Gower schrieb anlässlich des Bauernaufstands von 1381, die »Gemeinen« hätten eine »böswillige Natur« und verglich sie mit Ochsen, die sich nicht vor den Pflug spannen lassen wollten. Der Franzose Jean de la Bruyère schrieb 1688 in seinen Caractères die inzwischen berühmte Passage über »gewisse wilde Tiere«, die, von der Sonne verbrannt, »ein menschliches Antlitz zeigen«, wenn sie sich aufrichten. Er meinte die Landbevölkerung, und mit der literarischen Technik der Verfremdung wollte er die Leser erschrecken, wenn sie plötzlich erkennen, dass es sich hierbei um Menschen handelt.7
Es ist auch viel darüber geschrieben worden, besonders von Marxisten, wie die herrschenden Klassen die Unterschicht unwissend hielten oder irreführten, um sie unter Kontrolle zu behalten. In diesen Zusammenhang gehört Karl Marx’ Ausspruch »Die Religion … ist das Opium des Volkes«, das den Armen »die Illusion des Glücks« biete, damit sie nicht gegen ihr Los aufbegehrten.8
Eine komplexere Version der marxistischen Theorie enthält das Konzept des italienischen Philosophen Antonio Gramsci von der »geistigen, moralischen und politischen Hegemonie«. Gramscis Hauptthese war, die herrschende Klasse regiere nicht durch Gewalt, sondern durch eine Mischung aus Gewalt und Überredung, Zwang und Einverständnis. Das Element der Überredung ist indirekt, zumindest teilweise. Die untergeordneten Klassen (classi subalterni) lernen, die Gesellschaft mit den Augen ihrer Herrscher zu sehen.9 Ihr Wissensschatz wurde von Michel Foucault später »unterworfen« genannt (savoirs assujettis).10 Die mitunter unverständlichen Bemerkungen in Gramscis Gefängnistagebüchern werden durch die Analyse »zum Schweigen gebrachter Gruppen« der britischen Anthropologen Edwin und Shirley Ardener ergänzt. Weil diese Bevölkerungsgruppen keine eigene Weltsicht haben, »müssen sie ihre Weltsicht am Modell (oder an den Modellen) der herrschenden Bevölkerungsgruppe ausrichten«.11
Den Begriff »Erkenntnistheorie der Unwissenheit« prägte Charles W. Mills im Zusammenhang der Analyse des Rassismus. Er bemängelte das Fehlen philosophischer Studien zu diesem Thema, verglichen mit denen zur Geschlechterfrage, und begann die Lücke zu füllen. Mills behauptete, »Weiße haben vereinbart, Schwarze nicht als gleichwertige Personen anzuerkennen«, oder überhaupt als Personen. Er bezeichnete das Ignorieren des Personenstatus von Schwarzen als eine Form des Ethnozentrismus, die weiße Überlegenheit voraussetze. Mills nannte dieses stillschweigende Übereinkommen später »Unwissenheit der Weißen«, ein Konzept, das Studien zur Bildung übernommen haben.12 Das Konzept könnte auch zur Bezeichnung anderer Probleme übernommen werden. Eines davon, eine Unwissenheit, die heute allmählich behoben wird, ist Unwissenheit über die Wichtigkeit der afrikanischen Sklaverei für die Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert. Ein anderes ist der langfristige Mangel an Anerkennung der Leistungen Schwarzer Autoren, Künstler und Philosophen durch Weiße, ein Mangel, der eine Mischung aus einfacher Unwissenheit und absichtlichem oder halb absichtlichem Ignorieren enthüllt.
Ein lebhaftes Beispiel dieser Art Unwissenheit, in dem Sinn, dass man etwas Wichtiges übersieht, bietet eine berühmte Stelle in William Faulkners Roman Intruder in the Dust (1948). Die Stelle bezieht sich auf eine Form dessen, was Freud »Wiederholzwang« nannte, in diesem Fall den inneren Zwang des Verlierers in einem Konflikt, die Vergangenheit immer wieder neu im Kopf durchzuspielen. Faulkners Beispiel ist Pickett’s Charge, der erfolglose Angriff der Division General Picketts in der Schlacht von Gettysburg am 3. Juli 1863, nach dem die Südstaatenarmee die Schlacht verlorengab. Diese Niederlage führte letztlich dazu, dass die Konföderation 1865 im Bürgerkrieg unterlag.
Faulkner schreibt: »Für jeden vierzehnjährigen Jungen aus den Südstaaten kommt, nicht nur einmal, sondern wann immer er will, der Augenblick, da es noch nicht zwei Uhr an jenem Julinachmittag 1863 ist«, der erfolglose Vorstoß also noch nicht begonnen hat. Faulkner dachte gewiss an jeden weißen vierzehnjährigen Jungen aus den Südstaaten. Dass er dieses Adjektiv ausgelassen hat, ist eine Freud‘sche Fehlleistung, die etwas über seine eigene Identität und seine Werte aussagt.
Ein wichtiger Anreiz für die gesellschaftswissenschaftliche Umorientierung der Erkenntnistheorie kam von außerhalb der Philosophie: das Aufkommen des Feminismus. Männer haben lange Zeit das Wissen und die Glaubwürdigkeit von Frauen nach dem Grundsatz »Was ich nicht weiß, ist kein Wissen« ignoriert oder herabgesetzt.13 Seit der römischen Antike und bis in die Frühe Neuzeit bezeichnete der Ausdruck fabulae aniles oder Altweibergeschichten unglaubwürdige Behauptungen. Die Hebammenkunst, lange eine Domäne der Frauen, wurde im 18. Jahrhundert von männlichen Ärzten und Chirurgen übernommen, besonders, aber nicht ausschließlich, in England. Die Eindringlinge, bewaffnet mit einem neuen Instrument, der Geburtszange, betrachteten ihre weiblichen Konkurrenten als unwissend. »Hebammen fanden sich in einer Zwickmühle: Sie kannten die neuen Methoden und Verfahren [der Geburtshilfe] nicht, weil sie nicht studieren konnten … aber studieren durften sie nicht, weil sie Frauen waren.«14
Weibliche Unwissenheit wurde im Europa der Frühen Neuzeit in vielen Bereichen gefördert. Eine klassische Zusammenfassung der konventionellen männlichen Weisheit stellt der Erziehungsratgeber für Mädchen (besonders für höhere Töchter) des Erzbischofs François Fénelon aus dem 17. Jahrhundert dar, ein Buch, das nicht nur in Frankreich, sondern in Übersetzungen und Überarbeitungen auch in England beträchtlichen Erfolg hatte.
Erzbischof Fénelon empfahl für Mädchen Unterweisung in Glaubensdingen, im Führen eines Haushalts und im Lesen und Schreiben. Auch die Grundrechenarten hielt er für nützlich, um ein Haushaltsbuch führen zu können. Keinen Sinn sah der Erzbischof dagegen darin, Mädchen in Fremdsprachen wie Italienisch oder Spanisch zu unterrichten. Weil Frauen keine Staatsbeamten, Anwälte, Priester oder Soldaten werden konnten, brauchten sie auch keine Kenntnisse in Politik, Jurisprudenz, Theologie oder Kriegskunst. Auch sollten sie vermeiden, was Fénelon als »ungebührliche und unersättliche Neugier« (curiosité indiscrète et insatiable) verurteilte.15
Im England des 19. Jahrhunderts kommt das Thema der weiblichen Unwissenheit in mehreren berühmten Romanen der Zeit vor (die ironischerweise von Frauen verfasst wurden). In Jane Austens Northanger Abbey (1817) beschreibt die Erzählerin ihre Heldin Catherine Morland als »ungefähr so unwissend und uninformiert, wie das weibliche Gemüt mit 17 Jahren gewöhnlich ist«, und Catherines Freund Henry Tilney belächelt sie deswegen. In George Eliots Middlemarch (1870/71) gibt es – beziehungsweise gab es, bevor sie die Stelle strich – auf der letzten Seite eine Erwähnung der »Erziehungsmethoden, die aus Frauenwissen eine andere Bezeichnung für zusammengewürfeltes Unwissen machen«.16 Ähnlich äußerte sich die 1882 geborene Virginia Woolf: Ihre Bildungslücken machten aus ihr weniger »ein Mitglied der Intelligenzija als vielmehr der Ignoranzija«.17
Im Sprachgebrauch der Ardeners sind die Frauen der Frühen Neuzeit eine »zum Schweigen gebrachte Gruppe«. Dennoch fanden einige Frauen, Feministinnen, bevor es das Wort gab, und hin und wieder ein Mann schon in dieser Epoche die Worte, um gegen die aufgezwungene Unwissenheit der Frauen und die eingeschränkte Bildung zu protestieren, die ihnen traditionellerweise vermittelt wurde.
Christine de Pisan schrieb bereits im Frankreich des 15. Jahrhunderts, dass die von Frauen erfundenen oder entdeckten Künste der Menschheit nützlicher seien als die der Männer. In ihrem Buch Stadt der Frauen fragt die Erzählerin »Christine« die Frau Vernunft, »ob je eine Frau gewesen sei, die unentdecktes Wissen zutage gebracht habe«. Frau Vernunft zählt als Antwort eine Liste solcher Frauengestalten auf, unter anderem Minerva, die Erfinderin der Rüstung, Ceres, die Erfinderin des Feldbaus, Arachne, die Erfinderin der Webkunst, und Pamphile, die Erfinderin der Kunst, Seide herzustellen.18
Die vielseitig gebildete Anna Maria van Schurman, die in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts lebte, verfasste ein lateinisches Traktat, das für eine umfassendere Mädchenbildung eintrat. Sie meinte, das Studium aller Freien Künste sei »einer Christin durchaus angemessen«, und Frauen sollten auch theoretische Kenntnisse in Recht, Kriegswesen und Politik nicht verwehrt sein.19
Später im selben Jahrhundert behauptete ein männlicher Philosoph, François Poullain de la Barre, Frauen hätten sich nicht wegen Unfähigkeit auf den verschiedenen Gebieten der Gelehrsamkeit nicht hervorgetan, sondern weil sie »aus den Wissenschaften ausgeschlossen« (exclues des sciences) worden seien. Kurz gesagt, »der Geist hat kein Geschlecht« (l’esprit n’a point de sexe).20
Fast zur gleichen Zeit verteidigten die Philosophen Gabrielle Suchon in Frankreich sowie Margaret Cavendish und Mary Astell in England eine umfangreiche Bildung für Frauen. Suchon untersuchte »die Quelle, die Ursprünge und Ursachen« der weiblichen Unwissenheit und machte diejenigen verantwortlich, »die Frauen im Dunkeln halten und ihnen das Licht des Wissens vorenthalten wollen«. Sie behauptete, Männer schlössen Frauen von den Mitteln des Wissenserwerbs aus, um jene zu beherrschen, »die sie in einem Zustand der Abhängigkeit halten wollen«.21 Margaret Cavendish, eine Adlige, die selbst Zugang zu vielen Büchern hatte, beklagte sich, Frauen würden »in Schulen und an Universitäten nicht geduldet«.
Die Kaufmannstochter Astell wiederum schrieb, dass »Unwissenheit die Ursache der meisten weiblichen Laster« sei. Diese Unwissenheit, so fuhr sie fort, sei nicht der Fehler der Betroffenen, weil sie vom Zugang zum Wissen ausgeschlossen seien: »Frauen werden schon von Kindheit an jene Vorteile vorenthalten, deren Mangel ihnen danach immer vorgeworfen wird«. Während Jungen »ermutigt« würden zu lernen, würden Mädchen daran »gehindert« und vom »Baum des Wissens« vertrieben; »wenn … man sie nicht so unwissend halten kann, wie ihre Herrscher es wünschen, werden sie angestarrt wie Monstrositäten«. Als Mittel gegen diese Unwissenheit schlug sie die Gründung eines Damencolleges vor.22
Im 18. Jahrhundert war die weibliche Unwissenheit Gegenstand zweier Abhandlungen aus England: Woman Not Inferior to Man (1739), unter dem Pseudonym Sophia veröffentlicht, und Mary Wollstonecraft Shelleys Vindication of the Rights of Woman (1792). Beide wurden Anfang des 19. Jahrhunderts in andere Sprachen übersetzt, wobei Sophias Abhandlung in der französischen und portugiesischen Version Mary Shelley zugeschrieben wurde.23
Sophia gab die Schuld für weibliche Unwissenheit den Männern, »weil sie [den Frauen] keine Möglichkeit gaben, den Aberglauben zu überwinden«. Mary Shelley behauptete, »die Verfassung der bürgerlichen Regierungen selbst ist es, die der Kultivierung weiblicher Bildung nahezu unüberwindliche Hindernisse schafft«, und dass »Frauen gegenwärtig durch ihre Unwissenheit närrisch oder boshaft gemacht werden«. Sie fragte, warum Frauen »unter dem schönen Namen der Unschuld in Unwissenheit gehalten« würden.24 Zusammengefasst: Im Europa der Frühen Neuzeit gaben einige Frauen ihre Unwissenheit zu und gaben die Schuld dafür den Männern.
Ende des 20. Jahrhunderts zeigte sich die Lage umgekehrt. Feministinnen leugneten die weibliche Unwissenheit und warfen den Männern vor, weibliches Wissen zu ignorieren. Die französische Philosophin Michèle Le Doeuff zog die Schlussfolgerung, »irgendwann werden wir uns mit dem Konzept maskulinistischen Nichtwissens auseinandersetzen müssen.«25 Wo Frauen sich ihrer Unwissenheit oft bewusst waren, waren Männer sich der ihren allgemein nicht bewusst.
In der Frühen Neuzeit setzten sich bereits einige wenige Frauen in gedruckter Form für die Gleichwertigkeit (gelegentlich auch der Überlegenheit) der Frau gegenüber dem Mann ein und beklagten sich, dass Männer ihre Leistungen nicht anerkennten. Lucrezia Marinella behauptete, der männlichen Kritik an Frauen liege das Bedürfnis zugrunde, sich überlegen zu fühlen, während Mary Astell schrieb, dass Geschichtsdarstellungen, »die von Männern verfasst werden, deren große Taten erzählen« und weibliche Leistungen unterschlügen, weil die Autoren »neidisch auf Frauen« seien.26
Die Laufbahnen weiblicher Gelehrter und Forscherinnen im 19. und 20. Jahrhundert zeigen, dass männliche Kollegen hartnäckig zögerten, ihre Beiträge anzuerkennen, nicht zuletzt in Fällen, in denen sie mit Männern zusammenarbeiteten.27 Zu den bekannten Beispielen überschatteter Forscherinnen gehören Mary Anning, Lise Meitner und Rosalind Franklin, sicher Fälle des Nichtwissenwollens.28
Mary Anning wird heute noch oft als Sammlerin und Händlerin von Versteinerungen beschrieben, wobei ihr Beitrag zur Paläontologie ausgelassen wird, der darin bestand, dass sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Dorset die Überreste von Dinosauriern bestimmte.29 Die Physikerin Lise Meitner war in den 1930er-Jahren an der Entdeckung der Kernspaltung beteiligt, den Nobelpreis dafür bekam aber ihr männlicher Kollege Otto Hahn.