Die Lange Stille - Irmin Burdekat - E-Book

Die Lange Stille E-Book

Irmin Burdekat

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Beschreibung

Werner Weber, draufgängerischer Chaot in Karriere und Wort, legt – angekommen an einem Nullpunkt – einen fulminanten Bericht seines Scheiterns ab: so grotesk und witzig wie lebensklug und selbstzerfleischend. So entspinnt sich die Lebensgeschichte eines Mannes, der seinem beruflichen Ehrgeiz erliegt und sich kopfüber in abenteuerliche Verstrickungen verrennt: vom jugendlich-leichtsinnigen Sprücheklopfer zum erfolgreichen Werbeagentur- und Diskothekenbetreiber mit Mafiaconnection. Vor allem aber erzählt »Die Lange Stille« die Geschichte einer kultivierten, extrem disziplinierten Begierde. === Irmin Burdekats rasante Sprache und humorvolle Erzählweise (»Bin kein Typ für Stuhlkreise.«) nehmen den Leser mit auf einen wilden Ritt über steile Erfolgsleitern und tiefe Abgründe. Ein schräger, kluger und moderner Schelmenroman.

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Irmin Burdekat

Die Lange Stille

Irmin Burdekat

Die Lange Stille

© tpk-Verlag, Bielefeld 2022

www.tpk-verlag.de

www.dielangestille.de

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage 2022

Lektorat: Michael Lenkeit

Gestaltung: Christian Andreas

Druck: Finidr s.r.o., Tschechische Republik

Schriften: Gandhi Serif, Trade Gothic

Papier: Munken Print Cream 100g/m2

ISBN 978-3-936359-87-9

als eBook: ISBN 978-3-936359-88-6

als Hörbuch: ISBN 978-3-936359-89-3

Dieweil Geschichte – wenn mit Bier gepaart –

Die ernsten Lehren milder offenbart.

aus TOM JONES

von Henry Fielding (1707 – 1754)

Im Gedenken an Hannes Hoyer.

»Herr Weber, Sie behindern mit Ihrer Passivität den Heilungserfolg!«

»Mmmh.«

»Warum diese Teilnahmslosigkeit?«

»Weiß nicht.«

»Wie erklären Sie sich denn Ihre Antriebslosigkeit?«

»Vielleicht kommt’s von Ihren Pillen?!«

»Ah, ein guter Hinweis. Ich werde Sie neu einstellen lassen. Doktor Gruschke wird sich darum kümmern. Ja, schön. Und dann gehen Sie doch auch mal zur Gruppentherapie!«

»Nee!«

»Warum denn nicht? Das hat schon vielen geholfen.«

»Mir nicht!«

»Aber Sie haben es doch noch gar nicht ausprobiert.«

»Mmmh.«

»Herr Weber, Sie sollten aus sich herauskommen. Es wäre gut, wenn Sie sich öffnen. Es wird Ihnen helfen, wenn Sie anderen erklären, was mit Ihnen los ist. Ich kann Sie nur dazu einladen.«

»Bin kein Typ für Stuhlkreise.«

»Das ist doch Blödsinn. Reden Sie sich bloß nichts ein!«

»Ich bin auch kein Typ für diese Irrenanstalt.«

»Herr Weber, nicht schon wieder. Wir sind ein ganz normales Krankenhaus.«

»Aber Sie lassen mich hier nicht weg!«

»Zu Ihrem Schutz, nur deshalb.«

»Ich wäre lieber schutzlos.«

»Herr Weber, Sie gefallen sich in Ihrer Verbohrtheit. Nun denn, wenn Sie nicht reden wollen, wie wäre es, wenn Sie zu Stift und Papier greifen?«

»Ich schreibe nur Laptop.«

»Na prima, aber dann schreiben Sie! Beginnen Sie an irgendeiner markanten Stelle in Ihrer Kindheit oder Jugend. Erzählen Sie sich Ihr Leben. Das wird Ihnen helfen. Garantiert!«

»Mmmh.«

»Was bedeutet ‚mmmh‘? Werden Sie schreiben?«

»Vielleicht.«

»Ich nehme das mal als ein Ja. Schön. Schreiben Sie einfach drauflos, authentisch, so, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist.«

»Aha.«

»Das freut mich, Herr Weber. Fangen Sie am besten sofort an!«

»Mmmh. Wie? Ja. Äh, nein!«

Die Lange Stille. Alle nannten sie so. Ich kannte diesen Namen schon, bevor ich erfuhr, dass sie auch Karin hieß. Beim Tanzunterricht mussten wir häufig die Partner wechseln, darum habe ich sicher auch mal mit ihr getanzt. Aber nicht gesprochen. Nur gegrinst. Wir »Männer« hatten für fast jede der Damen einen Spitznamen. Die Damen ihrerseits verfuhren ähnlich, was ich damals nicht im Traum für möglich gehalten hätte. Von der Schule kannte ich so etwas natürlich. Manche Lehrer etwa konnten es sich nicht verkneifen und nannten mich »Pausenclown«, wogegen ich mich, weil es aus einer so unseriösen Quelle kam, nicht weiter gewehrt habe. Erst viel später erfuhr ich, wie die vereinigten Tanzmariechen mich hinter meinem Rücken nannten: »Der Kasper«.

Ich erwähne diese unerfreuliche Tatsache nur deshalb, weil sie ein noch konfuseres Licht auf den nun zu berichtenden Vorfall wirft. Zwei Übungsabende vor dem großen Abtanzball kam die Lange Stille in der Pause auf mich zu, als ich vor der Theke gerade an meiner Cola hing. Wie immer ins Gespräch vertieft und umringt von Fans, die auf neue Späße aus meiner Juxkanone warteten. Sie stellte sich einfach vor mich, lächelte, wahrscheinlich geheimnisvoll, und sagte: »Ich möchte dich als Partner für den Abtanzball!« Dieser Auftritt stellte alles mir bis dahin Bekannte in den Schatten. Heute würde man wahrscheinlich so tun, als wäre es selbstverständlich. Aber ist es das wirklich? Männer sind doch die Jäger.

Mit dem Abstand vieler Jahre fallen mir natürlich etliche kluge Erwiderungen auf ihre Frage ein – wobei, es war ja nicht einmal wirklich eine Frage. Eher eine Bitte mit sehr hohem Erwartungsdruck. Unglaublich. Einfach nur: »Ich möchte dich als Partner für den Abtanzball!«

Was also sollte ich tun? Oberstes Gebot zu jenen Zeiten war – und ist es wahrscheinlich auch heute noch –, immer und in jeder Lebenslage cool zu sein. Und cool zu bleiben. Sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Sein Gesicht zu wahren. Nicht rumzueiern. Abgeklärtheit mit hohem Posing-Faktor also. Deshalb, nur deshalb, und ohne groß nachzudenken, sagte ich: »Geht klar!«

Dabei sahen meine Planungen eigentlich ganz andere Konstellationen vor. Ich hatte eine präzise Hitliste, mit wem ich den Tanzunterricht beenden wollte. Auf keinem der ersten fünf Plätze stand die Lange Stille, und weitere Plätze waren noch gar nicht belegt.

Die Einschätzung der Attraktivität meiner Konkurrenten war nicht einfach und erforderte ein ständiges, inneres Sich-Messen und -Vergleichen. Dieser Stress lag nun hinter mir, durch die einsame Entscheidung einer jungen Frau von fünfzehneinhalb Jahren.

Am letzten Übungsnachmittag vor dem Ball tanzte man, weil so befohlen, ausschließlich mit »seiner« Partnerin. Das volle Programm: Langsamer Walzer, Walzer (nur rechtsherum), Foxtrott, Quickstep, Cha-Cha-Cha, Blues und Rumba. Vielleicht noch mehr, aber den Rest habe ich vergessen. Jedenfalls erfuhr ich bei dieser Trainingseinheit alle wichtigen Details. Sie hieß offiziell Karin, genauer sogar Karin Mohrmann. Am Heidplackenweg Nr. 3 – 4 sollte ich sie am darauffolgenden Samstag gegen achtzehn Uhr abholen und das fällige Biedermeier-Sträußchen übergeben, um im Gegenzug ein kleines Einstecktuch für die Brusttasche meines blau-gestreiften Jacketts in Empfang zu nehmen. Der finanzielle Ausgleich war durch diesen Tausch nahezu gewährleistet und wurde deshalb von der Tanzlehrerin vorgeschrieben.

Der zweite Satz, den die Lange Stille je an mich richtete, war: »Geht doch.« Damit beschrieb sie unsere steifen Paartanzergebnisse, und wenn man wollte, lag sogar so etwas wie Lob, zumindest aber Anerkennung in ihrer Aussage. Haben wir danach noch miteinander geredet? Jedenfalls nicht bei der Generalprobe. Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, ist das eher unwahrscheinlich. Irgendwas Belangloses werden wir wohl schon gesagt haben. Zumindest ich. Absolut sicher bin ich allerdings, dass ich weder meinem Image als Pausenclown noch als Kasper auch nur im Ansatz gerecht wurde. Ich gab, warum auch immer, den seriösen, in sich gekehrten jungen Mann. Eine Rolle, die mir überhaupt nicht lag. Entsprechend barsten die Ventile, als ich wieder im Kreis meiner Kumpel war.

Den Fußmarsch zum Ball erledigten wir mehr oder weniger schweigend. Auffallend war lediglich, dass sich erstmalig in meinem Leben jemand bei mir einhakte. Diese Inszenierung war von der Tanzlehrerin »empfohlen« worden, weil es sich so gehöre oder irgendwas in der Art. Damals gab es schon eine modernere Tanzschule in der Stadt, aber wir waren bei Lisbeth Neumann. Die Bessersituierten schickten ihre Kinder dorthin, weil sie sich mehr Schliff und Strenge erhofften. Bei meinen Eltern hatte der günstigere Preis den Ausschlag gegeben.

Wir gingen also wie ein altes Ehepaar durch die kalten Straßen unserer Heimatstadt und waren beide froh, als wir im Schützenhof ankamen. Sofort trennten sich unsere Wege und wir tauchten ab unter die sichere Glocke unserer Geschlechtsgenossen. Dort fühlte ich mich wieder geborgen und es herrschte absolutes Wohlfühlklima: fröhlich, grob und zotig.

Der erste Teil des Abtanzballs war ein Wirrwarr an zeremoniellen Abfolgen, ähnlich einer Kaiserkrönung. Ich musste unter anderem mit Karins Mutter tanzen und sie mit meinem Vater. Was sollte das? Immerhin wusste ich danach, wer Karin die Stille nicht vererbt hatte: ihre Mutter.

Wir saßen an einem Sechser-Tisch, fünf aufgedrehte, schnatternde Teenager und die Lange Stille. Diesen Tisch hatte ich organisiert und damit sichergestellt, die »richtigen« Leidensgenossen in Witzeverbreitungsweite zu haben. Jeder von uns musste sieben Mark zahlen, dafür stellte ein überheblicher Kellner eine dicke Schüssel mit Kalter Ente auf den Tisch. Dazu für jeden ein dünnes Glas samt Untersetzer und Löffelchen.

Als wir unsere Pflichttänze hinter uns hatten, begann die Party, der Spaß, die Action, das Pfauenradschlagen und Anbaggern. Ab und zu gab es sogar vernünftige Musik, und man konnte endlich ordentlich tanzen. Also ohne den ganzen Ringelpiez mit Anfassen. Die Lange Stille war verschwunden, jedenfalls aus meinen Augen, und ich hatte sie schon vergessen. Ralle Krettmann hatte eine Pulle Whisky eingeschleust – es war Racke Rauchzart, aber ohne Lederhalfter – und damit der Stimmungsentfaltung gute Dienste geleistet.

Ich tanzte mit etlichen Damen. Einige davon vordere Plätze auf meiner Hitliste. Mir ging es prima, ich war verschwitzt und guter Dinge. Beschwingt, könnte man sagen.

Erst später am Abend traf ich wieder auf die Lange Stille, unten im Flur vor den Toiletten. Wir gingen zufällig aufeinander zu, und es wäre normal gewesen, aneinander vorbeizulaufen. War aber nicht so. Karin öffnete ihre Arme, als ob sie mit mir tanzen wollte. Ich fiel drauf rein, und schon begann die herrlichste Knutscherei. Einfach so. Völlig ungeplant. Und nicht einmal schlecht. Genau genommen sogar ziemlich gut. Wie lange? Keine Ahnung. Aber an etwas kann ich mich erinnern, als wäre es vor fünf Minuten gewesen: Wir blieben, uns an den Händen haltend, voreinander stehen und staunten uns an. Kein halber Meter trennte unsere Gesichter. In diesem Moment habe ich Karin zum ersten Mal richtig angesehen, ihr in die Augen geschaut, sie wahrgenommen. Sie erkannt?

Allenfalls unbewusst. Aber die gewaltige Elektrizität zwischen den Polen ihrer Pupillen, die sprang über. Hochspannung und kaum noch Widerstand – besser kann ich meinen damaligen Zustand nicht beschreiben.

Am nächsten Morgen erscheint die Lange Stille in der Küche und begrüßt ihre Mutter fröhlich mit einem leichten Kopfnicken sowie mindestens drei Sekunden Augenkontakt. Frau Mohrmann schlägt Eier auf, lässt den Inhalt in eine Schüssel laufen, verquirlt das Ganze mit einem Schneebesen und schüttet noch einen Viertelliter Mineralwasser mit Kohlensäure dazu. Sie will abnehmen und ihr ist jedes Mittel recht. Dann unterbricht sie die Vorbereitung der allsonntäglichen Rühreiproduktion und fragt: »Wer war das denn gestern eigentlich – dein Tanzpartner?«

Karin deckt den Tisch und erläutert ausführlich: »Werner.«

»Werner wer?«, will Mutter Mohrmann nun wissen, gestützt

auf ihren Schneebesen und mit leicht erhobener Augenbraue.

»Werner Weber.«

»Aha«, kontert Frau Mohrmann und rührt weiter, bis sie erneut stoppt. »Mir kam er ziemlich albern vor«, sagt sie und erwartet die Reaktion ihrer Tochter. Die kommt. Prompt. Und bringt das Rührei zum Stocken.

»Ich werde ihn heiraten!«.

Seelenruhig legt Karin Messer, Gabeln, Teelöffel, Messerbänkchen sowie die silbernen Serviettenringe mit den Namen aller Familienmitglieder neben die weißen Teller der Serie Alt-Belgien.

Elke Mohrmann zeigt nun, was sie in ihrer Laienspielgruppe gelernt hat. Sie gibt einen Lachkrampf mit eingebautem Erstickungsanfall unter Hinzuziehung einer Portion Schüttelfrost zum Besten und trötet trompetensoloartig: »Das glaub ich nicht. Ich fass es nicht. Rettet mich, Hilfe, Hilfe, ich ersticke!«

Die Lange Stille weiß um den Ernst der Lage und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, zählt noch mal die eingedeckten Teller und fragt unaufgeregt: »Isst Peter mit?«

Bruder Peter kommt, von dem Krawall in der Küche aufgeschreckt, angerannt und will wissen, was los ist. Mutter Mohrmann fängt sich wieder, deutet mit dem tropfenden Schneebesen auf ihre älteste Tochter und prustet: »Karin will einen Werner Weber heiraten!«

Peter erfasst den Fehlalarm, sackt in sich zusammen und bringt alles auf den Punkt: »Na und?« Dann dreht er sich um und putzt seine Zähne zu Ende.

Als alle vollzählig am Frühstückstisch sitzen, versucht Frau Mohrmann noch einmal, die Neuigkeit des Tages an den Mann zu bringen, denn sie kennt ihre Tochter und weiß, dass Scherze nicht ihr Ding sind. Zum Glück hat Familie Mohrmann ein Oberhaupt mit der Lizenz, Machtworte zu sprechen. Das heutige lautet: »Elke, du bist peinlich.«

Als immer mehr Leute an uns vorbeiliefen und sich fast die Hälse aus der Fassung drehten, meinte die Lange Stille: »Komm, bring mich nach Hause.«

Der Marsch wurde ein Stop-and-go. Knutschen, laufen, knutschen und so weiter. Es war eiskalt, ein böser Wind fegte durch die Straßen, aber Kälte und Sturm machten einen ehrfurchtsvollen Bogen um uns. Vor ihrem Haus – die Mohrmanns wohnten in einer Villa, der Begriff fand sich damals aber noch nicht in meinem Alltagsvokabular – hätte nun der finale Abschiedskuss kommen müssen. Kam aber nicht. Karin blieb stehen und sah mich an – oh Mann: Da war er wieder, dieser Blick! Hilft alles nichts, ich muss an dieser Stelle zuerst ihren magischen Blick beschreiben. Sonst versteht niemand irgendwas, und jeder denkt, das alles sei nur jugendliche Schwärmerei gewesen. Dabei bin ich mir bis heute nicht einmal sicher: War es der Blick oder das Mienenspiel oder der Ausdruck der Augen oder gar ein noch unentdeckter Faktor? Da war auch noch ihr Mund, zumindest die Mundwinkel. Was wird allein von der Stellung des Mundes schon ausgelöst?

Und wie beschreibt man den Energiestrom, die wuchtige Aura oder die Masse an Wirkung, wenn man das ganze Gesicht eines Menschen erfasst? Okay, da gibt es die Schwachstrom-Typen, die lediglich eine Portion Langeweile im Angebot haben. Oder ganz normale Zeitgenossen, die einem was erzählen, während man reflexmäßig mit ihnen in Augenkontakt bleibt. Selten, ganz selten – und mittlerweile habe ich mehr als vierzig Jahre auf dem Buckel – trifft man jemanden, dem blitzartige Funken aus den Pupillen fliegen. Die Lange Stille blitzte jedoch gar nicht. Ihre Hochspannungsströme waren ein perfekter, lang gezogener Mix aus Wohlwollen, Anerkennung, Mona-Lisa-mäßiger Geheimniskrämerei und – ich nenne es einfach mal so: Begierde. Genau! Da war eine kultivierte, extrem disziplinierte Begierde mit im Spiel. So sah sie mich ein paar Sekunden an, dann kam ihre Hand, mit deren Rücken sie mir über die Wange strich, um zu sagen: »Ich mag dich!«

Ohne jegliche Hast drehte sie sich um und ging die vier Stufen vom Bürgersteig hoch auf den gepflasterten Weg, der zur Haustür führte. Während sie mit der linken Hand aufschloss, traf mich noch ein halber Blick über die Schulter. Sie oben, ich unten. Ihre rechte Hand deutete auf Hüfthöhe ein Winken an, dann verschwand sie im Haus.

Ich schildere diese Szene nur deshalb so lang und breit, weil die Nachwirkungen erheblich waren. Das, was von ihr rüberkam, mich erreichte, etwas in mir auslöste.

Gleich am nächsten Tag schon.

Sonntagnachmittags ging man zum Tanztee in die Tanzschule, wo wir die gesellschaftliche Reife bekommen sollten, die angeblich nötig war, um im Bürgertum zu überleben. So ähnlich stand es jedenfalls im Werbeprospekt, damit die Eltern die geforderte Teilnahmegebühr lockermachten. Meine Clique war immer dort, und ich gehörte als Zentrum der guten Laune schon wegen meiner Stellung im sozialen Gefüge dazu. Aber an diesem Sonntag sah ich ein Problem auf mich zukommen. Ich war nämlich zu dieser Zeit noch mit Angela »zusammen«. Angela war eine eher unspektakuläre Erscheinung, hatte aber zwei ernst zu nehmende Vorteile: Sie war ein Jahr älter als ich und hatte angedeutet, dass sie sich »demnächst« ein Rezept für die Pille besorgen wollte. Zu den festen Ritualen in meinem Leben gehörte unser gemeinsamer Auftritt beim Tanztee. Nun bestand aber die Gefahr, dort mit der Langen Stillen konfrontiert zu werden. Daher entschuldigte ich mich telefonisch bei Angela und ließ den Termin krankheitsbedingt ausfallen. Damit erkaufte ich mir etwas Bedenkzeit.

Am darauffolgenden Dienstag erreichte mich ein Briefchen: »Ich würde Dich gerne am Samstag um 15 Uhr im Park-Café treffen. Lieber Gruß, Karin.«

Damit begann die zweite Phase der Bedenkzeit. Immerhin hatte ich nun vier volle Tage zur Verfügung, um mir ein Konzept zurechtzuzimmern. Dafür entwickelte ich Satzmodule, um ihr in flüssiger Rede alles erklären zu können. »Alles« bedeutete: Den Vorfall beim Abtanzball als einen jugendlicher Unreife geschuldeten Ausrutscher zu deklarieren. Ich wollte die Lange Stille nicht verletzen, meine übrigen Interessen aber auch nicht aufs Spiel setzen. Diesen Spagat galt es zur Zufriedenheit aller Beteiligten vorzuführen. So weit mein Plan.

Überpünktlich kam ich ins Café, aber Karin war schon da. Vor sich eine Cola und ein Reclam-Heft. War’s schon Hesse? Wahrscheinlich nicht. Kaum saß ich einigermaßen sicher und hatte das nervöse Hin- und Herflackern meiner Augen unter Kontrolle, blieb mein Blick in ihrem Gesicht hängen. Da war er wieder, dieser unbeschreibliche Magnetismus. Ihre dunklen Augen im Zusammenspiel mit Wangen, Mund und Nase – vielleicht sogar den Haaren: eine unnachahmliche Komposition aus vielschichtigen Emotionen. Ich fühlte mich erkannt, bewundert und behütet – und gleichzeitig bewertet, verunsichert und minimal verarscht. Was für eine Mischung!

Mein Redekonzept zerrann in Sekundenschnelle. Meine Schweißdrüsen sprengten wie ein Gartenschlauch. Mein Hemd war klatschnass. Hektisch stotterte ich vor mich hin, um wenigstens den wichtigsten Punkt zu setzen: Meine Beziehung zu Angela. »Ich gehe sozusagen mit ihr, verstehst du?!« An den Satz erinnere ich mich noch.

Doch als der Kern meiner Botschaft raus war, passierte etwas Unerwartetes. Mit der Rechten ergriff Karin eine meiner zappeligen Hände, die Linke legte sie auf meinen Unterarm. Dann sagte sie ruhig und beruhigend: »Verstehe ich. Ist doch normal. Aber ich möchte, dass du fair mit ihr Schluss machst. Erzähl nichts von uns, das kränkt sie nur. Du schaffst das!«

Später schlenderten wir noch eine Weile durch den Park. Es war Gott sei Dank schon sehr dämmerig, und ich fühlte mich unbeobachtet. Außerdem schloss ich bei der Knutscherei vorschriftsmäßig die Augen.

Das Angela-Problem löste sich wundersamer Weise von ganz allein. Wieder bekam ich Post am Dienstag. Dieses Mal von Angela. Ich sei mit »einer anderen« eng umschlungen gesehen worden, weshalb sie hiermit die Beziehung zu mir fristlos kündige. Ich solle mir nicht die Mühe machen, zu versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. »Verpiss dich aus meinem Leben!«,lautete die alles beendende Grußformel.

So kam es, dass ich nun mit der Langen Stillen »ging«.

Einige Zeit nach dem Abtanzball saß meine Familie mal wieder versammelt am Abendbrottisch. Mein Vater war Handlungsreisender in Sachen Muffen und Schellen und wochentags selten zu Hause. Endlich kam er dazu, seine aufgestaute Neugierde zu befriedigen. Er fragte: »Wer war eigentlich deine Tanzpartnerin beim Ball da neulich. Ich fand die sehr nett. Übrigens auch attraktiv.«

Meine Mutter seufzte hörbar und ließ die Schultern hängen. Dann blaffte sie los: »Die ist ja wohl nicht ganz deine Kragenweite, oder?«

»Hab ich doch gar nicht gesagt. Was soll das? Was legst du mir schon wieder in den Mund?«

Ich unterbrach die Unterhaltung meiner Eltern und sagte: »Das war Karin. Ich gehe jetzt mit ihr.«

Mein Vater schluckte seine Empörung hinunter und meinte anerkennend »Gut, gut!«, dabei nickte er mir freundlich zu. Dann ergänzte er schmunzelnd: »Halt dir die warm. Das ist eine zum Heiraten!«

Meine Mutter ertrug die Kommentare ihres Gatten schon lange nicht mehr. Ihr Nervenkostüm war aus extrem dünner Seide. »Red doch nicht so einen Quatsch, Ewald. Der Junge ist doch noch viel zu jung, um sich über so was Gedanken zu machen. In Wirklichkeit willst du dem Mädel doch nur selbst an die Wäsche. Dein gestörter Realitätssinn macht dich zu einem geifernden Idioten. Du machst dich lächerlich – und mich dazu!«

Meinem Vater war leider die eheliche Treue abhandengekommen. Eine Entwicklung, die meiner Mutter nicht verborgen geblieben war. Wahrscheinlich war es also sein schlechtes Gewissen, das ihn losbrüllen ließ: »Deine Unterstellungen sind unerträglich. Du manipulierst, wo du nur kannst!« Er holte tief Luft, vermutlich, um seine Tirade noch lauter und aggressiver fortzusetzen.

Ich grätschte gerade noch rechtzeitig dazwischen: »Weiß einer von euch zufällig, wie spät es ist?« Das entspannte die Lage jedoch nicht.

»Für mich zu spät!«, zischte meine Mutter, nur um beim Aufstehen noch eben schwungvoll ihre Tasse vom Tisch zu fegen.

Ich schüttelte den Kopf und brummte: »Scherben bringen Glück!«

Iris, meine blöde, drei Jahre jüngere Schwester glaubte noch nicht an das Glück der Scherben. Sie lief weinend hinter meiner Mutter her – während ich mich möglichst unauffällig aus dem Staub machte.

Die bisher beschriebenen Vorkommnisse dienen einzig dem Zweck, Zusammenhänge erkennbar zu machen. Um nachvollziehen zu können, warum ich mich im darauffolgenden Jahr einer Art Dreifrontenkrieg ausgesetzt sah. Da waren zum einen die Scharmützel im Freundes- und Bekanntenkreis. Die finale Schlacht, nach aufreibenden Monaten, schlug ich stellvertretend mit Fräulein Czernatzke. So nannten wir Claus Komischke, nach einer Figur aus irgendeinem Klassiker. Er hatte ein etwas weibisches Wesen und schnatterte wie ein Entenstall beim Besuch des Fuchses. Alle Sticheleien, Sprüche und Witzchen von allen auf meine Kosten galten der Körpergröße der Langen Stillen. Als Czernatzke zum Angriff überging, befanden wir uns gerade im Umkleideraum nach dem Schulsport. Allein. Wir hatten wohl rumgebummelt, folgten jedenfalls nicht dem Herdentrieb, denn die letzte Stunde war vorbei und man hätte hinaus ins freie Leben gleiten können. Ich fummelte an meiner Socke herum und versuchte sie so zu drehen, dass man ein Loch im Bereich des großen Zehs nicht sehen konnte. Breit grinsend schoss Czernatzke seine Granate auf mich ab, so viel bekam ich sogar in gebückter Haltung mit. »Willst du eigentlich noch wachsen oder hast du schon eine Trittleiter, um deine neue Flamme zu küssen?«

Wozu schaut man sich Cowboy- oder Boxerfilme an? Um Vorbilder zu finden und sich ihre Taten zu eigen zu machen. Innerhalb von zwei Sekunden wurde ich zu Old Shatterhand. Oder Rocky. Oder Bud Spencer. High Noon war zwar vorbei – es muss kurz vor zwei gewesen sein –, aber meine Faust schlug trotzdem erbarmungslos zu. Ich donnerte dem Fräulein dermaßen eine rein, dass er stumpf umfiel, wobei er sich auf dem Weg nach unten auch noch einen Schlag von der Holzbank einfing. Er blieb benommen liegen, war aber voll am Leben, das konnte man dem Geröchel entnehmen. Leicht nervös raffte ich im Eiltempo meine Sachen zusammen, rannte hinaus und traf im Flur vor der Turnhalle auf den Hausmeister. »In der Umkleide liegt einer, der fühlt sich nicht wohl. Wollen Sie mal nachschauen?« Das war doch nun alles andere als unterlassene Hilfeleistung. Im Gegenteil, ich finde sogar: Das war Erste Hilfe.

Czernatzke begab sich in den nächsten Tagen auf eine Art Friedensmission. Er schilderte meine Schlagkraft mit höchster Übertreibung und sorgte so dafür, dass mich niemand mehr auf Karin ansprach. Die Neckerei war vorbei. Sogar der halb legale Name »Die Lange Stille« blieb nun unerwähnt. Man fragte mich höchstens nach meiner Freundin, und mit der Zeit gewöhnten sich alle an »Karin«.

Die jedoch blieb leider immer drei bis fünf Zentimeter größer – Quatsch, länger – als ich, was natürlich nicht leicht wegzustecken war. Wenn wir Händchen haltend durch die Fußgängerzone schlenderten, um beim Spiel von Sehen-und-Gesehen-Werden mitzumachen, gab sie sich allerdings große Mühe, kleiner zu erscheinen. Fast hätte man sie statt die Lange Stille auch die Bucklige nennen können. Im Gegenzug tat auch ich viel für meine Haltung und ging so aufrecht wie möglich. Seitdem achte ich beim Schuhkauf immer auf möglichst hohe Absätze.

Die zweite Front, an der mir die Geschosse um die Ohren flogen, war mein Elternhaus. Präziser wäre es wohl, wenn ich mich als »zwischen die Fronten geraten« bezeichnen würde. Meine Eltern hatten den seit Langem schwelenden Konflikt zu einer offenen Konfrontation ausgebaut. Sie befanden sich im Kriegszustand, und wir Kinder mussten uns entscheiden, ob wir Freund oder Feind sein wollten. Je nachdem, mit wem man es gerade zu tun hatte, musste man schnell eine andere Fahne hissen. War ich mit meinem Vater allein, bestätigte ich ihm, dass seine Frau eine keifende Furie sein konnte, fernab jeglicher Logik. Schüttete mir meine Mutter ihr Herz aus, konnte ich ihr nur zustimmen, dass ihr Mann ein unzuverlässiger Hallodri sei. Diese Kriegslist wäre aufgegangen, hätte meine Schwester denn mitgespielt. Sie schlug sich jedoch recht schnell einzig auf die weibliche Seite und gab dort zum Besten, wie ich mich hinter Mutters Rücken über sie geäußert hatte.

Es kam, wie es kommen musste. Die Kriegsparteien verließen in entgegengesetzten Richtungen das Schlachtfeld und nahmen jeweils ein Kind als Beute mit. Ich blieb mit meinem Vater in der alten Wohnung, während Iris und meine Mutter zu Omi Lehne zogen, der Mutter meiner Mutter. Dort wäre ich auch lieber hin, da Omi Lehne ein schönes, geräumiges Haus mit einem verwunschenen Garten voller Obstbäume besaß sowie ein allzeit spendables Portemonnaie. »Hier Jung, hast ’n Schein« war ihre Standardformel bei jeder Verabschiedung.

Es gab aber auch Vorteile unserer Aufteilung. Mein Vater hatte keinen sonderlich ausgeprägten Ordnungssinn und nervte deshalb nicht rum, wenn es mal wieder »Wie sieht es denn hier aus?« bei uns aussah. Seine Ansprüche waren bescheidener Natur. War Landleberwurst und Bier im Kühlschrank, Nescafé Gold im Regal und Pumpernickel im Brotkasten, dann waren seine Bedürfnisse befriedigt. Um meine eigenen lukullischen Wünsche erfüllen zu können, legte er mir wöchentlich einen Zwanziger auf den Tisch. Geld, das ich gut gebrauchen konnte. Zusammen mit meinem Taschengeld wanderte es meist in den Plattenladen meines Vertrauens oder ins Park-Café. Trotzdem war ich zu jener Zeit ausgewogen ernährt und körperlich ohne jede Mangelerscheinung.

Damit komme ich zu Familie Mohrmann und ihrer Tochter Karin, der dritten und kompliziertesten Front. Sie war geprägt von sehr unterschiedlichen Abschnitten. Oder Schlachten. Sehr siegreichen, besser: entspannten (Karin). Und sehr strapaziösen, bei denen man ständig auf der Hut sein musste (ihre Mutter).

Anhand einer Szene lassen sich die Verhältnisse bei den Mohrmanns vielleicht am besten beschreiben. Circa drei oder vier Wochen nach dem Abtanzball überbrachte mir Karin die Einladung ihrer Eltern zu einem sonntäglichen Kaffeekränzchen. Im Kreis der gesamten Familie. Spätestens am Samstagabend vor meinem dortigen Auftritt erfasste mich eine ungemütliche Unruhe. Ich überlegte, wie ich rüberkommen wollte, ging die Möglichkeiten des äußeren Eindrucks auf Basis meines Kleiderschranks durch und bereitete Anti-Glatteis-Themen vor, auf die ich, in Not geraten, das Gespräch lenken konnte. Gerade noch rechtzeitig, also etwa eine halbe Stunde vorher, fiel mir ein Satz aus dem Mund meiner Mutter ein. Könnte aber auch der Volksmund gewesen sein: »Man kommt nicht mit leeren Händen.« Aber wo treibt man sonntags gegen halb drei einen Blumenstrauß auf? Und vor allem einen, der nichts kostet. Zusammenklauen ging nicht, es war Mitte Dezember. Aber leihen ging. Ich hetzte also mit dem Fahrrad zu Omi Lehne und redete nicht lange um den heißen Brei herum. Endergebnis: Sie lieh mir einen Strauß, den sie ohnehin am nächsten Tag hätte wegschmeißen müssen. Ich rupfte die überalterten Stängel heraus und arrangierte die übrigen Nelken, die noch über einen Rest Stehvermögen verfügten, zu einem einigermaßen ansehnlichen Bündel. Es kam ja sowieso mehr auf die Geste an.

Kaum hatte ich geklingelt, öffnete Karin lächelnd die Haustür und zischte mir zu: »Küssen später!« Direkt hinter ihr stand – empfangsbereit für die Nelken – Frau Mohrmann. Ich erinnerte mich sofort an ihren speckigen Rücken, den ich beim Elterntanz mehr als erwünscht zu spüren bekommen hatte. Meine Finger mussten sich geradezu in das Fettgewebe hineinkrallen, da mir die Dame ansonsten bei den Drehungen entglitten wäre.

Der Flur der Mohrmanns ähnelte eher einer Empfangshalle, jedenfalls war er viermal so groß wie unserer. Auffällig war ein ausladender Ölschinken an der Wand. Ich blieb davor stehen und hörte Frau Mohrmann sagen: »Ein echter Radziwill!« Es war nichts Abstraktes, aber dennoch ziemlich konfus. Irgendwie Dalí für Arme. Ich zählte still bis fünf, dann lobte ich den aufwendigen Rahmen des Bildes. Das war keine Show. Der gefiel mir wirklich. Die Endlosserie der Fettnäpfchen, die ich bei Frau Mohrmann zielsicher ansteuerte, begann in diesem Moment. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, die äußerlich zur Schau gestellte Lässigkeit wäre ein Spiegelbild meines Innenlebens gewesen.

Zum Glück erschien in diesem Augenblick Karins älterer Bruder und lockerte die Stimmung auf. Er kam die Treppe herunter gehüpft, ging direkt auf mich zu und sagte: »Hi, ich bin Peter. Kann dir leider nicht beistehen. Hab so ’nen ähnlichen Job wie du zu erledigen. Muss zu den Eltern meiner Freundin. Lass dich von den Zombies hier nur nicht einschüchtern!« Er schlug mir freundschaftlich auf die Schulter, zeigte seiner Schwester kurz einen hochgestreckten Daumen, und weg war er.

Karin nahm meinen Arm und sagte: »Komm rein. Mein Vater ist im Wohnzimmer, und erschrick nicht, mein Opa ist auch da. Aber der bekommt nicht mehr viel mit.«

Mutter Mohrmann krähte von hinten: »Guten Tag sagen sollte dein Galan dem Opa aber schon – und zwar ordentlich.«

Als ich ins Wohnzimmer trat, erhob sich Dr. Mohrmann aus seinem Sessel, legte die Süddeutsche auf den Boden, kam mir entgegen und zeigte ein unverdächtig freundliches Gesicht. Diese entspannenden Sekunden brachten mich dazu, ihn mit einem formvollendeten Diener zu begrüßen. War nicht geplant. Reine Intuition.

Dann war der Opa dran. Er saß schon an der Kaffeetafel, ohne dem Geschehen um ihn herum sonderlich große Aufmerksamkeit zu schenken. Ich marschierte auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Guten Tag, Herr Mohrmann!« Laut und zackig, also so, wie es sich zur damaligen Zeit gehörte. Womit ich in Fettnapf Nummer zwei gelandet war, denn es war der Vater von Karins Mutter.

Meine Anrede holte ihn aus seiner halb dementen Schläfrigkeit. Lautstark empörte er sich: »Von Metjendorf, wenn ich bitten darf. Hans-Joseph von Metjendorf. Mit Bindestrich. Und nicht der niedere Josef mit f, sondern der gebildete mit ph. Merken Sie sich das, mein Herr!« Eine Ansage wie vom Band, und ebenso wie eine solche versiegte seine Aktivität mit dem Ende der Aufnahme.

Bei Tisch, nachdem die Kaffee-oder-Tee-Frage geklärt war und ich meinen Stuhl das zehnte Mal zurechtgerückt hatte, nachdem die Kirsch-Sahne-Schnittchen verteilt waren und harmlose Plaudereien begonnen hatten, störte Frau Mohrmann die sich leise entwickelnde Harmonie: »Was lesen Sie denn so für Bücher, junger Mann?« Auf diese unnötige Frage war ich von Karin vorbereitet und, mangels passender eigener, mit Antworten ausgestattet worden. Wir hatten viel gelacht, als Karin mich bei der Generalprobe im Park-Café ausfragte und ich die paar Titel und Inhaltsangaben aus mir herausquetschte.

Auch heute lief alles hervorragend – bis ich derbe patzte. Ich erwähnte den Fänger im Weizen und verwechselte auch noch den Autor. Frau Mohrmann fragte spitz: »Meinen Sie den Fänger im Roggen?«

»Ja klar, sowieso, genau, was sonst? Böll muss man einfach gelesen haben. Seine Beschreibungen gesellschaftlicher Vorgänge …« Weiter kam ich nicht. Karin stieß aus der Tiefe ihrer Stille empor und übernahm für den Rest der Zeit die Konversation. Wer sie kennt, weiß, wie lobenswert dieser Einsatz von ihr war.

Zeitverzögert und in Häppchen bekam ich von Karin das Feedback serviert. Mutter M. soll mich einen »hohlen Schaumschläger« genannt haben: »Große Klappe, nichts dahinter!« Dr. M. hatte hingegen Partei für mich ergriffen. Er soll gesagt haben: »Der Junge hat Potenzial. Der macht Progress.« Und diesem Mann konnte man nun wirklich vertrauen, er war schließlich kein einfacher, dahergelaufener Arzt, nein, er leitete sein eigenes Institut. Röntgeninstitut Mohrmann. Er war demnach eine Kapazität des Durchblicks!

Für mich eine klare Bestätigung.

Ach, fast vergessen, da gab es auch noch Bärbel. Die kleine Schwester von Karin. Knapp vierzehn Jahre alt, Zahnspange, schlaffer, feuchter Händedruck und heiße Anwärterin auf den Titel »Die Kleine Stille«. Die Schweigsamkeit ihrer Schwester übertraf sie noch um Schiffsladungen. Dazu machte sie ein gleichgültiges Gesicht und schaffte es, diesen Ausdruck ohne jede Unterbrechung bis zum Abschied beizubehalten, was ihr das gefühllose Aussehen einer Schaufensterpuppe verlieh.

Meine Analyse der Familiendynamik im Hause Mohrmann, die ich auf dem Heimweg aufstellte und die sich über die Jahre bestätigen sollte, fiel eindeutig aus: Karin war zweifellos die Chefin, auch wenn das zu der Zeit noch niemand wahrhaben wollte. Und in ihrem Vater hatte sie einen zuverlässigen Adjutanten.

Überhaupt Karin. Unsere Beziehung lief ruhig in den von ihr vorgegebenen Bahnen. Wir trafen uns so oft es ging: Hallenbad, Tanztee, Schulfeten, Konzerte im Kurpark und Partys, die unsere Freunde in unregelmäßigen Abständen schmissen. Auf diesen Partys waren die Eltern meist nicht da, oder sie versuchten, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, sodass der Wanderschaft über alle Körperregionen nichts im Wege stand.

Bevor die speziell dafür eingerichteten Körperteile den Job übernahmen, mussten die Hände das Nötige erledigen. Petting hieß alles, was nicht schwanger machte, aber schon eine Menge Spaß.

Im Frühsommer, als meine Mutter endlich auszog und ich die Wohnung nur noch mit dem häufig abwesenden Handlungsreisenden teilen musste, erweiterten sich die Möglichkeiten des ungestörten Miteinanders schließlich enorm. Analytisch, wie es ihre Art war, erkannte die Lange Stille sofort nicht nur die schöne Seite dieser Entwicklung, sondern auch die gefährliche. Ohne alle Umschweife setzte sie das Thema auf die Tagesordnung: »Ich möchte erst mit dir schlafen, wenn wir mindestens ein Jahr zusammen sind.« Genau so sagte sie es, und mir verschlug es fast die Sprache. Mit dem Satz war jedoch ein Damm gebrochen, und während anfangs noch das Gewicht der schlechten Nachricht in mir überwog, gewann zusehends die gute die Oberhand. Denn wir fingen an, uns wenigstens verbal der Sache anzunähern.

Drei Monate vor Ablauf der Frist schlug Karin einen konkreten Zeitpunkt vor. Der Jahrestag des Abtanzballs sollte es sein. Ich recherchierte und bemerkte, dass es ein Sonntag sein würde. Karin lächelte nachsichtig und sagte: »Okay, dann einen Tag früher. Am Samstag.« Es gibt nichts Besseres im Leben als klare Ziele, die man durch simples Älterwerden erreicht.

Erwähnt werden muss auch noch eine vierte Front, an der ich gefordert war: Die Lange Stille verschlang Bücher wie Vogelkinder Regenwürmer. Sahen wir uns ein paar Tage nicht, hatte sie wieder zugeschlagen. Dann war es plötzlich vorbei mit der Stille. Begeistert vom verdauten Buchstabensalat ratterte sie die Inhaltsangaben herunter, und ich wusste mittlerweile schon, was danach kam. Immer der gleiche Satz: »Das musst du unbedingt lesen!« Ich, der militante Nichtleser. Gleichzeitig war ich jedoch auch ein eifriger Selbstdarsteller, der gemocht, gelobt und bewundert werden wollte. Und mit nichts konnte man bei Karin mehr punkten als mit gelesenen Büchern. Mir fiel es naturgemäß leicht, begeistert zu erzählen. Vorgeführte Begeisterung war sozusagen meine Spezialität. Aber ihre Wälzer brachten mich an den Rand der Verzweiflung. Keinen einzigen schaffte ich komplett. Alles, was sie mir vorschlug, war zu dröge, zu lang oder zu kompliziert. Ich war ehrlich bemüht, nur leider noch nicht reif für Literatur.

Doch dann entdeckte ich die Marktlücke. Mein Kompetenzfeld. Die Waffengattung, in der mir niemand das Wasser reichen konnte. Schon gar nicht die Lange Stille. Musik! Popmusik, um genau zu sein! Karin konnte zwar Noten lesen und aus einem Klavier abgehackte, statische Tonfolgen herausklimpern, die vielleicht im Mittelalter modern gewesen waren, aber der musikalische Zeitgeist hatte sie nie heimgesucht. Damit stand es unentschieden zwischen uns.

Gegenseitige Anerkennung ist ein genialer Kitt für jedes Miteinander. Man weiß sich vom anderen geschätzt und fühlt sich deshalb zu ihm hingezogen. War mir damals von der Technik her natürlich noch nicht klar und nebenbei auch egal. Hauptsache, es funktionierte. Und die Sache zwischen Karin und mir funktionierte prima. Obwohl ich eigentlich mehr auf eine »spektakuläre« Freundin an meiner Seite aus war, eine, mit der man hätte angeben können. Dennoch gab ich mich mit der Langen Stillen zufrieden, weil … Ja, warum eigentlich? War es etwa schon Liebe?

Zwischen Fräulein Czernatzke und mir herrschte nach dem Vorfall in der Umkleide monatelang Funkstille. Wir gingen uns aus dem Weg, und wenn wir uns sahen, übersahen wir uns. Das lief ein knappes Jahr so – nein, eigentlich nur sechs Monate. Dann kam er auf mich zu, leutselig, als wäre nie etwas gewesen: »Interessiert dich wahrscheinlich nicht«, meinte er höchst beiläufig, »aber meine Schwester arbeitet in der Reichsapotheke. Sie hat deiner Freundin vor ein paar Tagen die Pille verkauft. Nur so als Info.« Diese Nachricht erhielt ich fünf Wochen vor dem abgemachten Termin und sie steigerte meine Aufregung gewaltig.

Im Stadttheater steht Arthur Schnitzlers Reigen auf dem Programm. Die Premieren-Besucher sind von der Aufführung begeistert, zumindest überwiegend. Einige sind es nicht und wenige trauen sich beim Schlussapplaus zu pfeifen. Ganz vereinzelt hört man sogar Buhrufe.

Das Ehepaar Mohrmann tritt aus dem Foyer hinaus in die warme Abendluft und ist ein Spiegelbild des Meinungsspektrums.

»Ich fand es geradezu scheußlich!«, platzt es aus Frau Mohrmann heraus.

Ihr Mann dagegen findet: »Sehr modern inszeniert, nicht übel. War doch sehr unterhaltsam.«

»Unterhaltsam nennst du das? Typisch Mann. Ist dir etwa die repressive Gewalt entgangen, mit der die Männer im Stück die Frauen unter Druck gesetzt haben?«

»Druck? Ich habe nur einvernehmlichen Sex wahrgenommen, und zwar jedes Mal!«

»Ha, Wahrnehmung und Realität – die Frauen konnten doch gar nicht anders. Für mich sind sie alle mehr oder weniger gezwungen worden. Was hätten sie denn sonst tun sollen?«

»Stopp, stopp, stopp! Haben wir das gleiche Stück gesehen?« Herr Mohrmann sagt das mit Nachdruck und bleibt einen halben Schritt zurück.

»Du brauchst mich gar nicht so anzuschreien, ich höre sehr gut. Und deine Stimmlage beweist nur, wie recht ich habe.«

»Dann bitte noch mal von vorne: War der Sex einvernehmlich, oder hat eine der Damen gesagt: Ich will das nicht?«

»Darauf kommt es doch gar nicht an. Männer wollen immer nur das Eine. Wird dir doch wohl nicht entgangen sein, oder? Du siehst die Seelen der Frauen überhaupt nicht. Kein Mann hat einen Blick dafür.«

»Aha, und die Seelen der Frauen haben keinerlei Fortpflanzungstrieb, ja?«