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Ein junger Reliquienhändler auf der Suche nach Wahrheit und Liebe – für alle Leser:innen von Iny Lorentz und Melanie Metzenthin »›Von nun an wird die heilige Anna unsere Patronin sein. Sie wird uns Schutz vor Unglück, Krankheiten, Unwetter und Feinden bieten. Betet zu ihr, und es wird Euch immer wohlergehen‹, sprach er mit fester Stimme und senkte das Kästchen. ›Woher wollt Ihr wissen, dass dies wirklich die Gebeine der heiligen Anna sind und sie den Menschen Schutz bringen können?«, rief eine laute Stimme hinter ihm.‹« 1409: Leopold muss mit ansehen, wie auf Befehl des Lehnsherrn seine Familie wegen ketzerischer Aussagen seines Bruders aufgehängt wird. Leopold kann fliehen. Schweren Herzens lässt er seine große Liebe Allet zurück. Er schwört, Rache zu üben und seine Geliebte zu holen. Als er auf den fahrenden Händler Barthel trifft, nimmt dieser sich Leopolds an. Doch die Ware, die sie verkaufen, ist explosiv: gefälschte Reliquien. Leopold tritt in seine Fußstapfen, obwohl er damit die Ideale seines Bruders und seiner streng gläubigen Geliebten verrät. Sein Weg führt ihn zum Konstanzer Konzil, wo er durch Jan Hus an seinem Handeln zu zweifeln beginnt. Doch bevor er darüber nachdenken kann, taucht ein Handlanger seines Grundherrn auf, der ihm nach dem Leben trachtet … »›Man legt das Buch ungern wieder aus der Hand, da der flüssige Schreibstil den Leser gefangen hält. Aus diesem Grunde gebe ich diesem sehr gut recherchierten Buch 5 Sterne und eine ausdrückliche Leseempfehlung.« ((Leserstimme auf Netgalley))
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Cover & Impressum
Einordnung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Historischer Hintergrund
Danksagung
Glossar
Quellen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Handlungsorte: Das Heilige Römische Reich,
vor allem Großraum Würzburg, Augsburg und Konstanz
Zeit: Anfang 15. Jahrhundert
Anno 1409
Allet zupfte am Ausschnitt ihres Kleides, um sich Luft zu verschaffen. Gott schenkte ihnen zur Weihe der neuen Burgkapelle das herrlichste Sonnenwetter. Ein Schmetterling tanzte über die Häupter der Besucher hinweg und flog dann hinunter zum Wassergraben und der angrenzenden Wiese, auf der unzählige Blumen in den schönsten Farben blühten.
Burg Mainstein erhob sich mit der imposanten Mauer auf einem Hügel, umringt von Grasflächen. Auf den Wehrgängen und den drei Wehrtürmen überblickten die Burgwachen mit ihren aufgestellten Lanzen die Hereinströmenden. Ritter Georg von Dettelbach hatte Adlige, Geistliche und etliche Gefolgsleute zu dem Festtag geladen.
Bereits auf der Zugbrücke erfüllte der Duft nach gebratenem Fleisch und Backwerk die Luft. Allet vernahm Flötentöne, und ihr Herz machte einen freudigen Satz. Endlich wieder Musik!
Einerseits konnte sie es kaum erwarten, die Burg zu betreten, sich von Gerüchen, Geräuschen und der Musik betören zu lassen. Doch andererseits schnürte ihr die Vorstellung der vielen Menschen die Luft ab. Zu dem beleibten Mann mit spitzem Hut und dem weiten Umhang hielt sie daher ausreichend Abstand. Die adelige Frau in dem bestickten Kleid und einer Schmetterlingshaube hinter ihr kam ihr eindeutig zu nahe. Das machte sie nervös. Große Menschenansammlungen waren ihr seit jeher nicht geheuer. Sie brauchte die Weite, die Natur und Luft zum Atmen.
»Komm endlich!«, mahnte ihre Mutter sie und warf ihr einen strengen Blick zu, doch das scherte Allet nicht.
»Hast du die Rüstung gesehen?«, fragte ihr zehnjähriger Bruder Karl. Er hatte die schwarzen Haare von ihrem Vater geerbt, die ihm immer wild vom Kopf abstanden. Er hasste es, wenn seine Mutter ihm die Haare kämmte, und drückte sich meist davor, doch heute war es ihm nicht gelungen. Nun sah er streng aus und glich dem Vater umso mehr. Allet wuschelte ihm durchs Haar. »So sieht es schon besser aus.«
Er reagierte nicht darauf, sondern zog sie mit sich.
Allet stolperte fast über ihre Füße. »Nicht so schnell«, protestierte sie, aber da zerrte er sie schon zwischen zwei beleibten Frauen hindurch. Allet hielt die Luft an, fühlte sich erdrückt, schloss die Lider, sah wieder die panisch trampelnden Beine vor sich. Als sie im nächsten Moment die Augen öffnete, hatte sie endlich Platz.
Schräg vor ihnen lief ein stolzes Ross. Der Anblick war beeindruckend. Ein stattlicher Mann in Rüstung und Topfhelm ritt auf einem Schimmel. Ein gelb-blaues Wappen mit dem Emblem eines Schwertes war unter dem Bein erkennbar, das gleiche wie auf der Fahne, die der Edelmann in die Höhe hielt.
»Siehst du den Beutel?«, flüsterte ihr Bruder. Am hinteren Teil des Sattels baumelte zu beiden Seiten jeweils ein Bündel. Aus dem Linken lugten zwei Möhren heraus.
»Sollen wir die stibitzen?« Karl grinste schelmisch und ließ die Brauen wippen.
»Untersteh dich«, sagte Allet und hielt ihn am Arm fest.
»Warum nicht? Durch den Sehschlitz kann der Ritter sowieso kaum etwas erkennen«, zischte er.
»Hast du das große Schwert nicht gesehen? Es ist fast so lang wie du!« Es war an der Hüfte des Ritters befestigt.
»Na und?«, maulte Karl. Er wollte losrennen, doch Allet packte ihn an der Schulter. »Willst du deine Hand verlieren? Womöglich hackt er sie dir persönlich ab.«
»Aber …«
»Kein Aber! Mutter wird sicherlich ein paar Münzen für eine Leckerei übrighaben.«
Karl riss sich aus ihrem Griff los, nickte aber mürrisch. Was ihm als Nächstes einfallen würde, wollte sie gar nicht wissen. Er war nicht besser als sie in dem Alter. Doch wenn ihm etwas zustoßen würde, würde die Mutter ihr die Schuld dafür geben. Mit ihren vierzehn Lenzen musste Allet immer ein Auge auf ihre sechs jüngeren Geschwister haben.
Sie passierten das Burgtor, das zwei Wächter flankierten, die die Ankommenden gründlich beäugten. In der Vorburg wimmelte es von Marktständen und Menschen. Über einem Feuer drehte ein Knecht ein Schwein, ein Schmied beschlug einem Ross die Hufe, ein Gaukler ließ auf wundersame Weise mehrere Bälle in der Luft kreisen und ein Tuchhändler pries lauthals Stoffe aus dem fernen Venedig an.
Doch es war etwas anderes, das Allets Aufmerksamkeit auf sich zog: die Streichklänge einer Schlüsselfidel. Allet zog sich eine Kiste heran und stellte sich darauf, um über die Köpfe der Besucher hinwegzublicken. Als sie den Spielmann entdeckte, stieg sie wieder herunter und bahnte sich einen Weg durch die Menschen. An einer Mauer fand sie etwas Freiraum, wo sie entspannt der Musik lauschen konnte.
Die rhythmischen Klänge, zugleich voller Lebenslust und Melodie, strömten durch ihren Körper. Der Spielmann trug am Fuß eine Schelle mit fünf Glöckchen, die er im Takt klingen ließ. Er spielte mit solch einer Leichtigkeit und ging dabei auf und ab, wobei er den Zuhörern freudige, belustigte und mal überraschte Blicke zuwarf.
Allet wippte mit und ließ ihre Füße dazu tanzen. Sie fühlte sich leicht, fast schwerelos.
Der Mann trug Strümpfe in Rot und Grün. Die Schamkapsel war so dick, dass zwei Fäuste hineinpassten. Die Schnabelschuhe maßen zweieinhalb Fuß. Auf so großem Fuße konnte er sicherlich nicht leben, diese Länge war den Fürsten vorbehalten. Aber bei einem Gaukler würde an diesem Tag bestimmt keiner mit einer Messlatte kommen.
Ein Pärchen tanzte zu der Musik, Kinder klatschten. Wie behände der Spielmann den Streichstab bewegte und wie geschickt er die unteren Tasten betätigte. Allet beobachtete jede seiner Bewegungen, ließ sich von den Schwingungen ausfüllen und summte mit.
Wie gern würde sie auch einmal den Stab über die Saiten führen. Selbst eine Melodie erzeugen zu können, musste sich anfühlen, als wäre man ein Vogel und könnte über die Wälder fliegen. Sie blickte die steinernen Mauern empor zum wolkenlosen Himmel. Der Bergfried überragte die anderen Gebäude um das Dreifache. Eine Frauengestalt kam kurz am obersten Fenster zum Vorschein und verschwand wieder. Wahrscheinlich Clara, die Schwester von Georg. Eine Schönheit und eine adelige Frau, der es offenstand, jedes Instrument zu lernen, das ihr beliebte.
Allet war die Tochter eines Unfreien. Sie würde nie ein solches Musikinstrument spielen. Wer sollte es ihr beibringen? Außerdem hatte ihre Familie kein Geld für ein so wertvolles Stück. Auch wenn sie nicht mehr so viele Abgaben an ihren Grundherrn Ritter Georg von Dettelbach leisten mussten wie noch die Generation ihrer Großmutter, besaß ihre Familie die kleinste Parzelle Land im Dorf und konnte nur geringe Erträge auf dem Markt der nächsten Stadt feilbieten.
»Buh!«, jemand packte sie von hinten an den Schultern. Allet zuckte zusammen und drehte sich erschrocken um.
»Da bist du ja.« Leopold grinste, seine braunen Augen funkelten. Sie waren innen dunkel und wurden nach außen hin immer heller, erst orange, dann gelb. Genauso würde sie eine Sonne malen.
Ihr Herz begann einen Takt schneller zu schlagen. »Musst du mich immer so erschrecken?« Allet schlug ihm sachte gegen den Arm. »Wo seid ihr denn gewesen? Und seit wann bist du hier?« Das ganze Dorf hatte sich vor dem einstündigen Fußmarsch zur Burg versammelt. Nur Familie Genter war nicht dabei gewesen.
»Wir haben erfahren, dass mein Bruder Jörg auch zur Kapellenweihe kommen sollte, also sind wir schon früher losgegangen.« Auch heute trug Leopold wieder das grüne Tuch um den Hals, das sie ihm mit einer Blume bestickt und geschenkt hatte.
»Wieso hast du mir nichts gesagt?« Sie zog gespielt einen Schmollmund. Gestern Abend hatten sie sich noch im Wald getroffen. Sie waren einander seit Jahren versprochen. Aus ihrer kindlichen Freundschaft war mit der Zeit Liebe geworden. Leopold standen die braunen Haare genauso wild vom Kopf ab wie Allets Bruder Karl.
»Ein Bote kam erst heute Morgen.« Leopold zog entschuldigend die Schultern hoch.
Jörg war der älteste Sohn der Familie Genter und studierte an der Hohen Schule zu Wirtspurg. Sie waren die reichste Familie im Dorf, besaßen ein Pferd und das größte Ackerland. Sie konnten viel vom Getreide und Gemüse auf dem Markt verkaufen. Außerdem verdankte die Familie der geschickten Hand der Mutter beim Nähen zusätzliche Einnahmen, sodass sie ihrem ältesten Sohn das Studium ermöglichen konnten. Auch das wäre ihrem Großvater nicht möglich gewesen. Aber die Grundholde hatten sich in den letzten Jahrzehnten einige Eingeständnisse beim Burgherrn erkämpft.
»Wie lange wird er bleiben?«, fragte Allet.
Leopold zuckte mit den Achseln. »Das hat er nicht gesagt.«
Sie wandte sich wieder dem Spielmann zu. »Ist das nicht ein wundervolles Lied?« Ihr Fuß wippte erneut im Takt.
Er strich ihr über den Rücken. »Ich wusste, dass es dir gefällt.«
Ein warmes Gefühl durchströmte ihren Körper. Sie blickte sich um, aber sie konnte weder ihre Mutter noch ihren Vater entdecken. Die fünfjährigen Zwillinge Paul und Irma, ihre Geschwister, standen in der ersten Reihe der Schaulustigen und glucksten belustigt. Ihre blonden Locken tanzten bei jeder Bewegung. Die beiden hatten wie sie die Haarfarbe der Mutter geerbt. Wenn die Zwillinge da waren, war auch ihre Mutter nicht weit. Doch wahrscheinlich tauschte sie mit anderen Weibern den neusten Tratsch aus. Geschwind griff sie nach Leopolds Hand, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Ich muss wieder zu meiner Familie«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sein Atem kitzelte ihren Nacken und jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken.
Allet drückte seine Hand. »Heute Abend?«, fragte sie mit Hoffnung in ihren Worten und Sehnsucht in ihrem Herzen. Sie wollte alle Eindrücke und Geschichten des heutigen Tages mit ihm teilen.
»Worauf du dich verlassen kannst. Und dann habe ich eine Überraschung für dich.« Seine Augen leuchteten. Wie sie das Glitzern darin liebte.
»Was für eine Überraschung?«
Leopold grinste und zog ihr eine blonde Strähne aus der Bundhaube. »Da musst du dich gedulden.«
»Du Schuft«, sagte sie gespielt beleidigt und schlug nach ihm, doch er machte einen Sprung nach hinten.
»Zu langsam, meine holde Maid.« Er warf ihr eine Kusshand zu und verschwand in der Menge.
Allet seufzte und schob das Haar zurück unter die Haube. Auch wenn sie sich auf den Tag freute, sehnte sie bereits den Abend herbei.
Sie sah wieder zum Spielmann, der Gesellschaft von einem zweiten, ebenfalls bunt gekleideten Mann erhalten hatte, der eine Sackpfeife unter dem Arm hielt. Das Instrument erzeugte schrille Töne, harmonierte jedoch mit der Schlüsselfidel. Die Spielmänner spielten ein schnelles Tanzlied. Die Menschen bewegten sich zu der Musik, auch Allet konnte ihren Körper nicht stillhalten. Der Bläser stampfte geschwind im Takt den Fuß mit den Glöckchen auf den Boden.
Karl zog an ihrem Ärmel. »Komm mit. Vater wartet auf dich.«
Sie rollte mit den Augen, doch folgte ihrem Bruder. Es war nicht ratsam, ihren Vater warten zu lassen.
Ihre Familie stand zusammen mit einigen anderen Männern aus dem Dorf vor einem Weinausschank. Ihre zwei Jahre jüngere Schwester Gerlin drückte ihr einen Becher in die Hand. Ihre schwarzen Locken hatte sie wie ihre Mutter so sorgsam unter der Bundhaube verborgen, dass sich kein einziges Haar zeigte.
Als der Vater sie sah, nickte er ihr zu. Erst jetzt bemerkte sie, dass er sich mit Rudolf Matzen unterhielt. Ein grobschlächtiger Einfaltspinsel vom Nachbarhof. Rudolf sah sie mit seinem Silberblick lüstern an, wobei seine schlechten Zähne sichtbar wurden. Um seine breite Nase und auf der Stirn hatten sich tiefe Falten gegraben. Er zählte mindestens dreißig Lenze.
Sein Vater raunte ihm etwas zu, das Allet nicht verstand, woraufhin Rudolf seinen Becher in ihre Richtung hob.
»Ich glaube, du solltest ihm ebenfalls zuprosten«, nuschelte ihr Gerlin zu. Sie war eine Schönheit, nur ihre Zähne waren so wild gewachsen wie die Rüben im Garten, daher hielt sie stets den Mund geschlossen. Auch wenn sie sprach, sodass man sie meist kaum verstand.
»Warum sollte ich das?« Ein ungutes Gefühl beschlich Allet.
»Nun mach schon, sonst wird Vater noch ungehalten«, drängte ihre Schwester und hob ihren Arm an.
Nur widerwillig trank Allet von dem Würzwein, der für ihren Geschmack zu sehr nach Wermut und Salbei schmeckte.
Ihr Vater kam mit Rudolf auf sie zu, beide schienen in bester Stimmung zu sein. »Meine liebste Allet«, begann ihr Vater und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Allet schubste sie in einer langsamen, aber bestimmten Bewegung weg. Die beiden Männer waren an Größe und Statur sehr ähnlich, auch die zotteligen Haare und die Reihe schlechter Zähne hatten sie gemeinsam.
»Du bist mit deinen vierzehn Lenzen in einem Alter, in dem wir ans Heiraten denken müssen«, sagte ihr Vater.
»Das sehe ich auch so. Ich bin doch schon versprochen.«
»Schweig, du …« Die Augen ihres Vaters vervollständigten den Satz, ohne dass er es aussprechen musste. … du törichtes Gör!
Ihr Vater atmete tief durch. Hier vor allen anderen würde er seine Hand unter Kontrolle halten. »Peter Matzen ist auf der Suche nach einer Braut für seinen ältesten Sohn Rudolf.« Was erzählte ihr Vater da? »Wir wollen heute das Einverständnis von Ritter Georg für die Vermählung einholen. Aber ich denke, er wird nichts dagegen haben.« Ihr Vater schlug Rudolf auf die Schulter, beide Männer lachten.
»Aber …«, begann Allet ihren Einwand. Es war das erste Mal, dass ihr die Worte im Hals stecken blieben. »Was ist mit …«
»Schweig!« Die Augen ihres Vaters sprühten Funken.
Ihr Hals schwoll an. Sie würde sich nicht den Mund verbieten lassen, wenn es um ihre Hochzeit und darum ging, mit welchem Mann sie ihr restliches Leben verbringen musste. Sie würde die Schläge ertragen wie schon so oft. »Ich dachte, du wärest bereits mit Genter übereingekommen«, sagte sie.
Wenn ein Blick hätte einen tödlichen Pfeil abschießen können, hätte der ihres Vaters direkt ihr Herz getroffen. »Ulrich Genter hat in der letzten Dorfversammlung zu verstehen gegeben, dass er das Versprechen lösen will«, zischte er.
»Was?« Der Becher fiel ihr aus der Hand, der Wein ergoss sich auf ihr Kleid und den Boden.
»Und deswegen erwarte ich, dass du dankbar bist, dass Rudolf sich zu einer Vermählung bereiterklärt.«
Allet spürte, wie ihre Knie wegzusacken drohten.
***
Eine adelige Frau in einem langen Kleid aus feinster Seide mit Teufelsfenstern, die einen Blick auf das enganliegende Unterkleid freigaben, kreuzte Leopolds Weg. Sie trug eine Hörnerhaube, deren Schleier ihr komplettes Gesicht verhüllte, und zog den Duft nach Rosenwasser mit sich. Sie unterhielt sich mit einem Geistlichen. Diese Dame konnte sich die teuersten Kleider anziehen, dachte Leopold, seine Allet würde dennoch die schönste Frau auf dem Fest sein.
Er sah zum Bergfried hinauf, aus dessen oberstem Fenster eine Fahne mit Georgs ritterlichem Wappen hing. Der goldene Löwenkopf glänzte auf rotem Untergrund in der Sonne. Wie gern würde Leopold einen Blick in die Kammern des hohen Turms werfen. Er wich einem großgewachsenen Mann aus, der Heiligenbildchen verkaufte, und näherte sich dem zweiten Tor, das zur Kernburg führte. Auch hier beaufsichtigten zwei Wachen den Zugang und kreuzten die Speere, um den Durchgang zu versperren. Wie nur konnte er sie überlisten?
Leopold sah sich um. Eine Magd fütterte ein paar Hühner, die in einem Gatter herumliefen. Dann wandte sie sich ab und warf dem Pferdeknecht einen aufreizenden Blick zu. Leopold stibitzte in einem unbeobachteten Augenblick eines der Tiere, lief in die Nähe des Tores, duckte sich hinter ein Weinfass und warf das Federvieh den Wächtern vor die Füße. Das Huhn rannte gackernd umher.
Beide Wachen sahen dem Huhn hinterher, der eine trat einen Schritt vor, und hielt die Lanze aufrecht neben sich.
Leopold zwängte sich hinter dem Wachmann hindurch und schlüpfte durch das Tor in die Kernburg. Hier war es viel ruhiger, keine umherlaufenden Menschen, keine Händler, die ihre Waren feilboten. In der Mitte befand sich ein überdachter Brunnen mit Seilzug. An dem imposanten Wohnhaus stand eine steinerne Bank in der Sonne. Daneben ein Krug mit Blumen. Das würde Allet gefallen.
Er erblickte eine hölzerne Tür, die nur angelehnt war. Leopold schlich sich an der Mauer entlang. Wie es da drin wohl aussah? Als er einen erstickten Schrei vernahm, stockte er. Was war das gewesen? Er hörte eine Männerstimme, leise zwar, aber im scharfen Ton.
Leopold wagte einen Blick ins Innere, es roch nach geräuchertem Fleisch und frischen Kräutern. Einen Moment dauerte es, bis sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Er trat in eine Küche, in einer Ecke glimmte die Glut im Ofen, darüber hingen zwei Keulen zum Räuchern, auf dem Tisch lag ein umgestürzter Krug, Wein tropfte zu Boden.
Der Schrei einer Frau.
»Jetzt sei still!«, erschallte es als Antwort.
Leopold schlich um den Tisch herum und entdeckte in der Ecke einen Mann, der eine Frau zu Boden drückte. Was für ein Unhold! Leopold sprang nach vorn, packte den Kerl am Kragen und zog ihn auf die Füße.
Der Mann wedelte mit den Armen.
»Was wagt Ihr Euch …?« Leopold stockte und beäugte den Mann von oben bis unten. Seine pechschwarzen Haare waren ihm in die Stirn gefallen und schienen geradezu auf die klobige Nase zu weisen, an der ein Tropfen hing. Dabei schien es kein dahergelaufener Kerl zu sein, denn er trug eine edle Schecke aus Samt, unterschiedlich gefärbte Strümpfe und einen aufwendig gestickten Hosenlatz. Auch die Länge seiner Schnabelschuhe zeigte an, wie wohlhabend er war. Dies war kein einfacher Knecht, sondern ein Mann von Rang und Namen.
Die Frau erhob sich und strich ihr Kleid glatt. Das war doch Georgs Schwester Clara, dachte Leopold erschrocken. Sie griff nach der Hörnerhaube, die zu Boden gefallen war, und flüchtete durch eine innere Tür, hinter der eine Wendeltreppe lag. Clara war genauso klein wie ihr Bruder, aber eine äußerst reizende Erscheinung. Allet sogar ein wenig ähnlich.
Der Schwarzhaarige schubste Leopold nun grob von sich. »Was fällt dir ein? Du weißt nicht, wen du vor dir hast.« Als er anhand Leopolds Kleidung erkannt hatte, dass er jemanden aus dem niederen Rang vor sich hatte, war seine Ansprache gröber geworden. Die Adeligen hielten sich für etwas Besseres und doch waren sie im Verborgenen nicht edel und anmutig, sondern genauso der Unzucht, Dieberei und anderen Schandtaten verfallen, ging es Leopold durch den Kopf.
Er ließ seine Fingerknöchel knacken. »Und du anscheinend nicht, wie man Frauen behandelt.«
»Dir werde ich’s zeigen.« Sein Gegenüber zog ein Messer aus der Scheide, doch in dem Moment gab Leopold ihm einen Stoß und rannte hinaus, wobei er die Tür hinter sich zuschlug. Nachdem er durch das Tor zur Vorburg unter den Speeren der Wächter hindurchschlüpfte, hörte er Rufe hinter sich. Er ignorierte sie.
Auch wenn er den Kerl vor den Wächtern der Schandtat anklagen würde, wer sollte ihm glauben, wenn das Wort eines Adligen gegen das eines Landsknechts stand? Leopold begab sich geschwind unter die vielen Menschen und tat so, als würde er sich an einem Verkaufsstand für einen Flechtkorb interessieren. Als der schwarzhaarige Mann näherkam, verbarg sich Leopold hinter einer beleibten Frau, die mit dem Händler scherzte. Er spürte das Blut in seinem Kopf rauschen.
Als der Kerl verschwunden war, suchte Leopold seine Familie und fand sie vor einem Stand mit süßem Backwerk. Es roch nach Honigkuchen und allerlei fremdartigen Gewürzen.
»Brüderchen, wo hast du dich wieder rumgetrieben?« Jörg schlug ihm auf die Schulter und biss genüsslich in einen Rosinenwecken. Er trug ein edles Wams und einen mit Eisen beschlagenen Beutel am Gürtel. Außerdem einen spitzen Hut, an dessen Seite eine bizarre Feder wippte. Er sah wohlgenährt aus und hatte sich einen Bauchansatz angefuttert. Scheinbar bekam er vom Vater mehr Münzen, als für den Aufenthalt in Wirtspurg nottat.
Als Kinder hatten sie allerlei Schabernack ausgeheckt und seit jeher um die Gunst des Vaters gebuhlt. Sie hatten sich so ähnlich gesehen, dass sie von einigen Dorfältesten eine Zeitlang verwechselt worden waren. Diese Zeiten waren längst vorbei.
»Du solltest uns öfter besuchen, dann könntest du mir Gesellschaft leisten.« Auch beim Pflügen und Ernten auf dem Feld, fügte Leopold in Gedanken hinzu.
Jörg lachte, wobei ein Stück des Weckens aus seinem Mund fiel und sich in seinem Bart verfing. »Der Weg ist viel zu lang und beschwerlich.«
»Eine Tagesreise bloß.«
Jörg machte eine wegwerfende Handbewegung. »Außerdem nimmt mich das Studium voll ein.«
»Ist wahrscheinlich genauso anstrengend wie die Feldarbeit«, entgegnete Leopold mit einem ironischen Unterton. Dafür erntete er einen Blick wie früher, wenn Leopold ihm mal wieder einen unerhörten Streich vorgeschlagen hatte.
»Dort würde es dir auch gefallen. Ich muss dir unbedingt von …«
Der Schall einer Trompete vom Wehrgang unterbrach ihn. Es ging los. Die neue Burgkapelle sollte geweiht werden. Die Anwesenden strömten auf die Kapelle zu, die in der Vorburg an die Außenmauer gebaut worden war. Da nicht alle Menschen hineinpassten, hatte man davor ein hölzernes Podest gezimmert.
Ritter Georg stieg mit einem Bischof hinauf und baute sich vor den Anwesenden auf. Seine blonden Haare reichten ihm bis zu den Schultern. Er hielt eine lebhafte Ansprache und erklärte, wie bedeutend ihm das Seelenheil seiner Gefolgsleute war. Wer’s glaubte. Ihm waren doch nur eine prächtige Burg und pünktlich zahlende Untertanen wichtig. Für die Burgkapelle hatte der Ritter in den letzten beiden Jahren zusätzliche Abgaben gefordert.
In Form seiner Gewandung stellte er seinen Reichtum zur Schau und machte damit seine Kleinwüchsigkeit wett. Über seinem Kettenhemd schillerte ein grüner Wappenrock mit dem Emblem auf der Brust und zwei reichlich verzierten Gürteln, an dessen Seite ein langes Schwert hing. Über allem trug er einen Umhang in der Farbe des Wappenrocks. In diesem Aufzug musste ihm unendlich heiß sein, aber Georg schien Eindruck schinden zu wollen.
Der Bischof wandte sich der Kapelle zu, hob die Arme und sprach den Segensspruch. Danach besprengte er die Mauern mit Weihwasser. Ein magerer Geistlicher im schlichten Gewand eines Benediktiners brachte ihm ein hölzernes Kästchen. »Und hiermit überreiche ich Euch die Gebeine der heiligen Anna, Großmutter unseres Heilands.« Der Ritter nahm den Kasten entgegen. »Hier drin befindet sich ein Fingerknochen der heiligen Anna.«
Georg wandte sich den Schaulustigen zu und hielt das Kästchen mit beiden Händen in die Höhe, wobei sein rechter Arm zu zittern begann. Es schien ihn einige Anstrengung zu kosten. Es war bekannt, dass er sich im Kindesalter bei einer Jagd die rechte Hand verletzt hatte und sie seitdem nicht mehr gebrauchen konnte. »Von nun an wird die heilige Anna unsere Patronin sein. Sie wird uns Schutz vor Unglück, Krankheiten, Unwetter und Feinden bieten. Betet zu ihr, und es wird Euch immer wohlergehen«, sprach er mit fester Stimme und senkte das Kästchen.
»Woher wollt Ihr wissen, dass dies wirklich die Gebeine der heiligen Anna sind und sie den Menschen Schutz bringen können? Vielleicht sind es nur die Knochen eines Halunken oder Mörders?«, rief eine laute Stimme hinter ihm. Hatte etwa …?
Leopold wandte den Kopf und als ihm bewusst wurde, dass seine Ohren sich nicht getäuscht hatten, blieb ihm die Luft weg. Jörg war derjenige gewesen, der diesen Frevel über die Köpfe der Anwesenden hinweg gerufen hatte. Auf Lästerung der Heiligen stand der Tod. Wie konnte sein Bruder so etwas wagen und damit die ganze Familie in Gefahr bringen?
Ritter Georg lief puterrot an, seine linke Hand ballte er zur Faust, er reckte sich und suchte die Menge nach dem Übeltäter ab. Doch Jörg senkte das Haupt und machte sich unter den Umstehenden unsichtbar.
»Wer hat da gerufen?«, fragte Ritter Georg laut.
Jörg blieb unter den Menschen verborgen, keiner rührte sich.
»Vielleicht hat er recht«, kam eine Stimme von weiter vorn.
»Ja, genau!«, rief noch jemand. »Wo ist der Beweis für die Echtheit der Reliquie?«
Gemurmel kam auf.
Der Bischof hob beschwichtigend die Hände. »Ihr könnt Euch sicher sein, die Echtheit ist bewiesen. Diese Reliquie hat nicht nur die Feuerprobe überstanden, sondern auch eine Wunderheilung bewirkt.«
Ein Raunen ging durch die Schaulustigen.
»Eine Blinde wurde durch die Berührung der Reliquie wieder sehend. Es besteht also keinen Zweifel an der Echtheit.«
»Wir wollen selbst ein Wunder sehen«, forderte jemand, aber diesmal kleinlauter.
»Euer Glaube wird Euch das Seelenheil verschaffen, nicht der Zweifel. Wenn Ihr die heilige Anna um Beistand bittet, wird sie für Euch vor Gott zur Fürsprecherin. Nehmt dieses Geschenk in Demut an …«
Die nächsten Worte rauschten an Leopold vorbei. Er stieß seinen Bruder mit dem Ellbogen an und flüsterte: »Du hast mehr Schutzengel als der Heiland Apostel.«
Jörg zog die Stirn in Falten, an seinem Hals hatten sich rote Flecken gebildet. »Die irren! Niemand kann sich sicher sein«, zischte er.
»Du bringst uns mit diesen ketzerischen Reden nur in Gefahr.«
»Wenn’s doch wahr ist.« Er schnaubte.
Einige Köpfe drehten sich zu ihnen um.
»Psch! Jetzt halt’ s Maul!«, mahnte ihn Leopold.
Jörg beugte sich zu ihm. »Wenn du auch studieren würdest, würdest du mich verstehen. Ich muss dir unbedingt von einem Mann namens …«
Leopold machte eine wegwerfende Handbewegung. Er wollte das nicht hören. Wäre Jörg nur nicht aufgetaucht. Eigentlich hatte Leopold seinen Vater bitten wollen, bei dem Ritter die Einwilligung zur Vermählung mit Allet einzuholen, doch dann hatte sich zu Hause plötzlich mal wieder alles um seinen Bruder gedreht. Würde Jörg doch endlich wieder das Weite suchen, er brachte bloß Unruhe in die Familie – wie schon in Kindertagen.
Nachdem der Bischof die Gemüter der Anwesenden beruhigt hatte, zogen Georg und der Würdenträger gefolgt von niederen Geistlichen, Rittern und anderen Adeligen in die Burgkapelle ein. Nun würde der Bischof die heilige Messe beginnen, den Altar mit dem Gregoriuswasser besprengen, die Reliquien salben und unter dem Altar beisetzen. Aber für die einfachen Leute war in der kleinen Kapelle kein Platz. Ein Pulk hatte sich vor der Tür gebildet, einige reckten die Köpfe und versuchten, einen Blick ins Innere zu erhaschen.
Sein Vater trat zu ihnen, eine tiefe Furche hatte sich in seine Stirn gegraben. »Wir werden jetzt nach Hause gehen.«
»Aber wieso? Nach der Weihe gibt es Musik und Tanz«, widersprach Leopold. Außerdem hatte er noch nicht aufgegeben, dass er seinen Vater auf Allet ansprechen konnte. Nach der Weihe und einem fürstlichen Mahl würde der Ritter sicherlich in bester Laune sein. Es wäre ein perfekter Moment dafür, dass sein Vater ihren Grundherrn um die Erlaubnis der Vermählung bitten könnte.
»Du kannst dich bei deinem Bruder bedanken.« Sein Vater warf Jörg einen finsteren Blick zu. »Die Leute reden schon. Ich habe Colin beschwichtigt und ihm ein Huhn als Schweigegeld bieten müssen.« Colin war der griesgrämigste Mann aus dem Dorf, der den anderen Dorfbewohnern nicht die Eier im Hühnerstall gönnte. »Was, wenn die Waschweiber dem Ritter erzählen, wer die Unruhe bei der Kapellenweihe verursacht hat?«
Jörg holte tief Luft. »Dann könnte ich ihm erklären, dass er irrt. Und dass …«
»Schweig«, fauchte ihr Vater und hob die Hand. »Bis wir die Schwelle unseres Hauses betreten, will ich kein Wort darüber hören. Du hast genug Unheil angerichtet. Wer weiß, wie lange wir für diesen Fehler büßen müssen, wenn herauskommt, dass der ketzerische Zwischenruf von einem Mitglied unserer Familie stammte. Womöglich wird Georg unsere Abgaben erhöhen. Und dann kannst du Wirtspurg Lebewohl sagen.«
Leopold hielt instinktiv die Luft an.
***
Georg ließ sich in dem Rittersaal auf den Lehnstuhl sinken und betrachtete das Abbild seines Vaters auf dem Wandteppich an der Stirnseite des Saales. Aus Rücksicht auf seine Mutter hatte er ihn noch nicht ausgetauscht.
Es brodelte immer noch in ihm. Warum zum Teufel hatten seine Leute noch nicht herausgefunden, wer sich erdreistet hatte, an der Echtheit der Reliquie zu zweifeln und ihn damit zu diskreditieren – nicht nur vor all seinen Grundholden, sondern auch vor der ganzen Ritterschaft und dem Stadtadel. Und vor allem vor der Familie von Ravensburg!
Ravensburgs Tochter Loretta – was gäbe er dafür, diese Frau zu ehelichen. Doch er hatte Klaus von Ravensburg noch nicht von sich überzeugen können. Ob es an seiner Behinderung lag? Georg atmete tief durch und versuchte krampfhaft, die Finger seiner rechten Hand zu bewegen. Doch das Einzige, was er bewirkte, war ein leichtes Zucken des kleinen Fingers. Mit einer steifen Hand konnte er bei keinem Turnier glänzen. Dass sein treuster Freund und Diener Wilhelm regelmäßig für ihn aufs Pferd stieg und die Lanze hob, war nicht das Gleiche. Hinter vorgehaltener Hand tuschelten die anderen Ritter über ihn. Und jetzt auch noch das!
Dabei hatte der Tag so gut begonnen. Hermo, der älteste Sohn der Familie von Ravensburg hatte durchblicken lassen, dass er ein Auge auf Georgs Schwester Clara geworfen hatte. Georg hatte es eingerichtet, dass die beiden sich allein in der Küche begegnet waren. Er hatte Hermo versichert, dass er sich nehmen könne, was ihm beliebte, und dass er keinerlei Ansprüche stellen würde. Insgeheim hatte er gehofft, sich so einen Fürsprecher in der Familie von Ravensburg zu sichern.
Dann hatte diesem Nichtsnutz irgendein dahergelaufener Dorftrottel die Gelegenheit vermasselt. Und der Kerl war ihm auch noch entwischt und Hermo hatte ihn nicht ausreichend beschreiben können. Es sei zu dunkel in der Küche gewesen und der Kerl zu schnell. Was für ein Tölpel! So jemanden ließ man doch nicht laufen.
Und nun auch noch der Vorfall bei der Kapellenweihe. Klaus von Ravensburg hatte ihm danach vorgehalten, er würde seine Grundholde nicht unter Kontrolle haben. Georg musste unbedingt herausfinden, wer dafür verantwortlich war. Und dann würde er beweisen, dass er seine Untertanen mit starker Hand führte. So hoffte er, Loretta schon bald in sein Bett zu bringen. Er dachte an ihr ebenmäßiges Gesicht, das so rosig wirkte wie ein reifer Apfel, und an die festen Brüste, die man unter ihren Kleidern erahnen konnte. Es war an der Zeit, etwas zu unternehmen.
Er lehnte sich nach vorn. »Wer von euch hat den Umtriebigen während der Kapellenweihe gesehen, der es gewagt hat, gegen unsere heilige Anna das Wort zu erheben?« Er strich sich die paar Strähnen aus dem Gesicht, die sich in seinem Bart verfangen hatten.
In seiner Nähe beim Kamin standen sein engster Vertrauter Wilhelm, der Burgvogt, der Priester, der Hofnarr und die Wachen. Dahinter hatten sich die Handwerksleute versammelt. Er hatte sogar die Stallburschen, Knechte und Mägde kommen lassen. Er wollte keine Möglichkeit auslassen. Direkt unter einer Fackel standen seine Mutter und seine Schwester, daneben die beiden Kammerzofen. Im Licht- und Schattenspiel wirkten ihre Gesichter bedrohlich und abweisend, wo er doch gerade jetzt ihren Zuspruch hätte gebrauchen können.
»Wie schon gesagt, habe ich den Störenfried nicht gesehen.« Wilhelms Augen blitzten zornig auf und er fuhr sich über den kahlen Kopf. »Ich habe leider auf den Bischof geachtet.«
Georgs Kiefer mahlten. Das war nicht die Antwort, die er hören wollte. Sonst war auf Wilhelm doch immer Verlass.
»Auch ich war gebannt von der Emanation der Reliquie«, sagte der Priester. Die Wachen zuckten ebenfalls mit den Schultern.
Georg blickte seinen Burgvogt an, doch auch der schüttelte den Kopf.
Er sprang auf und lief vor seinem Stuhl auf und ab. »Es kann doch nicht sein, dass keiner von euch etwas gesehen oder in Erfahrung gebracht hat!«
Der Burgvogt hob entschuldigend die Hände. »Die Menschen standen vor dem Podest so eng gedrängt, dass man kaum ein einzelnes Gesicht erkennen konnte.«
Georg schnaufte. Er brauchte dringend diesen Namen, um Klaus von Ravensburg zu überzeugen, dass er seine Gefolgsleute im Griff hatte.
»Und ihr?« Er wies auf die Handwerker, Mägde und Knechte. »Wenn ihr etwas wisst, so tretet vor. Ich werde euch dafür reich belohnen.« Es kam keiner, sie hielten alle die Köpfe gesenkt. Zum Henker, das durfte doch nicht wahr sein!
»Dann verschwindet!«, rief er. »Wilhelm, du bleibst.«
Alle, bis auf seinen Freund, seine Mutter und seine Schwester eilten zur Tür hinaus. Dabei bewegte sich der Wandteppich mit der Abbildung seines Vaters, der ihm einen spöttischen Blick zuzuwerfen schien.
Als sie allein im Saal waren, sagte Georg zu Wilhelm: »Du wirst meinen Grundholden persönlich einen Besuch abstatten. Jedem Einzelnen. Biete ihnen einen Erlass der Hälfte ihrer Abgaben im nächsten Jahr, wenn sie dir den Namen des Übeltäters verraten.«
»Ein hervorragender Einfall«, bestätige Wilhelm. Vorfreude loderte in seinen Augen auf.
Georg sah ihm an, dass er sich bereits auf die Befragung freute. Er wusste, dass sein Handlanger nicht zimperlich mit den Landmännern umgehen würde. Normalerweise hielt er ihn zur Mäßigung an, doch heute war es ihm gleichgültig, wenn er nur diesen Namen bekam.
»Morgen schon«, fügte Georg hinzu, trat zu dem kleinen Tisch und füllte zwei Becher mit Wein.
»Ich denke, das wird nicht nötig sein«, ertönte die Stimme seiner Schwester. Überrascht sah er sie an.
Clara trat auf ihn zu. Sie hatte ihre blonden Haare nur unzureichend unter einer Hörnerhaube versteckt. Strähnen hatten sich gelöst und umspielten in unzüchtiger Weise ihr Gesicht. Das hellblaue Kleid war am Saum schmutzig. Anscheinend hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich nach der Begegnung mit Hermo wieder herzurichten.
Auch ihre Mutter sah Clara mit erhobenen Brauen an. »Du hast ihn gesehen und nichts gesagt?«
»Nun sprich schon.« Georg wurde ungeduldig.
Doch seine Schwester ließ sich Zeit, schritt bedächtig auf ihn zu, nahm ihm den Becher aus der Hand, trank einen Schluck von dem Wein und gab ihm das Gefäß zurück. »Du glaubst wohl, ich lasse alles mit mir machen und stehe dir dann zu Diensten.« Ihre Augen blitzten wütend auf.
Wut kochte in ihm hoch. Was fiel diesem Weib ein? Wenn sie nicht aufpasste, würde sie so enden wie ihre beiden älteren Brüder. Sie wäre schneller unter der Erde, als sie ein Ave Maria aufsagen könnte. Und doch sollte seine Mutter nicht erfahren, was er mit Hermo von Ravensburg abgesprochen hatte. »Was willst du?«, fragte er leise.
»Ich möchte, dass du mir erlaubst, meinen Gatten selbst zu wählen.« Sie hob die Brauen und sah ihn auffordernd an.
»Pah!« Er stellte den Becher zurück auf den Tisch. »Wo denkst du hin? Eine Heirat muss Vorteile für die Familie bringen, nichts weiter.«
»Und zwar bald.« Ein überhebliches Lächeln umspielte ihre Lippen.
Georg ballte die linke Hand zur Faust. »Hermo von Ravensburg wäre doch ein hervorragender Kandidat«, sagte er in einer spontanen Eingebung.
»Aber ich dachte …«, begann seine Mutter.
»Schweig!« Er hob die Hand.
Der Schrecken stand seiner Schwester ins Gesicht geschrieben, doch schien schnell in Wut umzuschwenken. »Das wagst du nicht.«
»Sei nicht so vorlaut. Ich bin der Burgherr und dein Vormund und bestimme über dein Wohl!«
Clara lachte auf. »Als ob du mein Wohl im Sinn hättest.«
»Das Wohl der Familie.«
»Dein Wohl, mehr nicht.« Sie wandte sich ab.
Georg packte sie am Arm und wirbelte sie herum, sodass sie ihn ansehen musste. »Deine Vermählung besprechen wir ein andermal. Ich will nun wissen, wer unsere Kapellenweihe in der lästerlichsten Art gestört hat.«
»Erst dein Versprechen.«
Georg atmete tief durch. Wenn er Klaus von Ravensburg überzeugen konnte, dass er die Gefolgsleute mit fester Hand führte, musste er nicht mehr den Umweg über Hermo gehen. Er würde Loretta ehelichen so oder so. Und eigentlich war es ihm einerlei, wen Clara heiratete. Also konnte er sich darauf einlassen. Nur ihre Forschheit ging ihm gehörig gegen den Strich. Aber dass sie dafür endlich mit einem Namen rausrückte, dafür würde er fast alles versprechen. Und wer sagte schon, dass man Versprechen halten musste?
»Also gut.« Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. »Wenn es dir so wichtig ist, dann wähle deinen Ehemann selbst. Nur von Adel muss er sein, du heiratest keinen Knecht.«
Clara lächelte zufrieden. »Schön.« Sie trat zum Tisch, schenkte sich ebenfalls einen Becher Wein ein und reichte ihm den seinen. »Trinken wir darauf. Und schwöre es mir.«
Auch seine Mutter kam hinzu und nahm einen Becher. Hatte sie etwa Tränen in den Augen? Kurz zögerte Georg, dann stieß er mit Clara und seiner Mutter an. »Ich gelobe, dass ich dir, liebste Clara, gewähre, dass du dir deinen Gatten unter den Rittern selbst auswählen darfst.« Der Wein rann sauer seine Kehle hinab. »Nun löse deinen Teil der Abmachung ein.«
»Aus einem Grund, den du dir vielleicht denken kannst, war ich zum Zeitpunkt der Kapellenweihe in meiner Kammer. Ich sah genau in dem Moment aus dem Fenster, als der laute Zwischenruf ertönte. Auch, wenn ich den Mann nur von hinten gesehen habe, habe ich ihn doch erkannt. Zuvor war er mir in seiner auffälligen Gewandung schon aufgefallen.« Sie machte einen betörenden Augenaufschlag, als wolle sie ihn verführen.
»Ja und? Wer war es?«
Sie lächelte wissend. »Jörg, der älteste Sohn der Familie Genter. Der Kerl, dem du letztes Jahr erlaubt hast, an der Hohen Schule in Wirtspurg zu studieren.«
Georgs Kiefer mahlten. Und so dankte man es ihm. Die Familie würde dafür büßen!
»Und nun erklärst du mir, welcher Dämon dir ins Ohr geflüstert hat«, fauchte Leopolds Vater Jörg zu, als sie in die Wohnstube traten.
Ihre Mutter holte einen Krug Bier und Becher für alle. Seine beiden Schwestern zogen sich in ihre Kammern zurück, um die guten Kleider auszuziehen.
Jörg ließ seinen Hut auf den Tisch segeln und setzte sich mit einem Seufzer auf die Bank – auf den Platz, den er früher immer eingenommen hatte, direkt neben seinen Vater. Mittlerweile war es Leopolds Platz. Dieser setzte sich stattdessen auf die Kiste auf der anderen Seite des Raumes. Er wollte nicht in den Disput mit hineingezogen werden. Das war eine Sache zwischen Jörg und seinem Vater. Und er war froh, dass endlich mal nicht er derjenige war, der den Ärger abbekam.
»Es war ein berechtigter Einwand. Oder hast du etwa die Authentika oder einen Pergamentstreifen mit Siegel gesehen, das die Echtheit der Reliquie beweist?«
»Warum sollten sie uns das auch zeigen? Wer sind wir schon?« Der Vater kratzte sich am Bart.
»Sie zeigen es uns nicht, weil es womöglich nicht existiert. Bei den Geistlichen in Wirtspurg und im ganzen Reich werden Stimmen laut, dass man mehrere Ochsenkarren allein mit den Holzreliquien vom Kreuze Christi vollladen könnte.«
»Das ist Blasphemie.« Der Vater schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das Studium bekommt dir wohl nicht.«
Die Mutter schlich aus dem Raum und schoss leise die Tür hinter sich. Die Luft war zum Zerreißen gespannt. Leopold überlegte, ob er sich ebenfalls hinausschleichen sollte, doch er war zu neugierig auf das Wortgefecht.
»Hast du denn noch nicht vom Wilsnacker Wunderblut gehört?«, fragte Jörg und richtete sich im Stuhl auf.
»Nein. Was tut das jetzt zur Sache?«
»In Wilsnack hat man auf einem Altar einer verlassenen Kirche drei Hostien gefunden – so rot, als seien sie vom Blut des Gekreuzigten getränkt worden. Ein wahres Wunder.« Er machte dabei ein Gesichtsausdruck, als ob er seinen eigenen Worten nicht trauen konnte.
»Dem Herrn sei Dank dürfen wir von solchen Wundern erfahren«, stimmte der Vater missmutig zu.
»Hier soll sichtbar geworden sein, wie aus den Hostien der Leib Christi entstanden ist. Aber …« Jörg hob in einer dramatischen Geste die Hand. »Der Bischof von Prag hat drei Magister eingesetzt, um das Wunder zu untersuchen. Und was glaubst du wohl, was bei dieser Untersuchung herausgekommen ist?«
»Jetzt hör auf mit diesen Spielchen und sag, was du zu sagen hast.« Die Falte auf der Stirn des Vaters wurde immer tiefer.
»Sie haben herausgefunden, dass das angebliche Wunder auf Lug und Trug basierte. Reinster Schwindel, der nur die Gläubigen zu Wallfahrten bewegen sollte. Schließlich bringen die Pilger reichlich Münzen mit.« Zum Zeichen rieb Jörg die Finger aneinander.
»Und was hat das mit unserer Reliquie der heiligen Anna zu tun? Nichts!«
»Jan Hus war einer dieser Magister bei der Untersuchung. Und der sagt, dass nur wenige der Geistlichen gerettet werden, da sie sich der Unreinheit, der Hurerei, Ausschweifung …«
»Wer zum Donnerwetter ist Jan Hus?«, rief sein Vater.
»Jetzt hör mir doch mal zu! Ich erkläre es dir doch gerade …« Jörg rieb sich über die Stirn, schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Jan Hus ist ein Priester und Gelehrter aus Prag. Ein angesehener Mann. Und wenn er Zweifel an der Rechtschaffenheit der Geistlichen … also was ich damit sagen will, ist, dass auch Geistliche sich irren können. Viele leben weniger gottesfürchtig als wir. Und denen sollen wir glauben, dass das die Gebeine der heiligen Anna sind, obwohl sie es selbst nicht einmal beurteilen können.«
»Da hast du es! Du entkräftest deine eigenen Reden. Vorhin hast du noch das Argument gebracht, dass Geistliche behaupten, es würde zu viele Kreuzreliquien geben. Und jetzt sagst du, wir könnten den Würdenträgern nicht glauben. Was denn nun?« Der Vater sprang auf. »Selbst ich, jemand, der weder des Lateins mächtig ist, noch Schriften lesen kann, erkenne den Unsinn, den deine Zunge von sich gibt.«
»Das ist kein Unsinn.« Jörg erhob sich ebenfalls. »Wenn du nur einmal unseren Doktor der Theologie an der Hohen Schule zu Wirtspurg hören würdest, dann …«
»Das will ich lieber nicht, und jetzt hör auf mit diesem Geschwätz. Deine Ketzerei bringt uns noch alle in Schwierigkeiten.«
»Du willst doch nur …«
»Ruhe jetzt! Wenn ich noch ein Wort davon höre, wirst du das Studium abbrechen. Du sollst Grammatik und Rhetorik lernen, anstatt dich von häretischen Lehren anstiften zu lassen. Und wenn du nicht aufpasst, ist dein Leben schneller zu Ende, als du Amen sagen kannst.« Die Tonlage des Vaters ließ keine Widerworte zu.
Jörg wollte erneut ansetzen, doch der Vater schimpfte weiter.
Leopold schlich sich aus der Stube, er wollte der überhitzten Luft entfliehen. Ein bisschen tat ihm sein Bruder leid, wie er von seinem Vater heruntergeputzt wurde, aber nur ein bisschen. Auch wenn Leopold selbst kein Unschuldsengel war, kannte er die Grenzen. Niemals würde er etwas wagen, was seiner Familie ernsthaft schaden konnte. Sein Bruder war zu weit gegangen.
Leopold hoffte, dass sein Vater Jörg wieder ziehen lassen würde. Er würde ihn hier nicht mehr ertragen. Er hatte sich mit dem Gedanken angefreundet, der älteste Sohn des Hofes zu sein und ihn irgendwann erben zu können. So würde er seinen Vater sicherlich von einer baldigen Ehe überzeugen können.
Leopold trat in die Küche, um sich Bier nachzuschenken. Es roch nach dem Brot, das seine Schwestern in der Frühe gebacken hatten. Dort saß seine Mutter nahe dem Kamin am Spinnrad. Die Tränen auf ihren Wangen glänzten im Licht der Glut. Er legte ihr die Hand auf die Schultern. »Die beiden werden sich schon wieder vertragen.« Man hörte die keifenden Stimmen durch die Wände.
Ihre Mutter schluchzte auf. »Jörg hat uns alle in Gefahr gebracht.«
»Ach was! Ritter Georg hat nicht gesehen, wer es war.«
»Und wenn es ihm jemand erzählt? Colin zum Beispiel?«
»Wird er schon nicht, dafür hat Vater doch gesorgt.«
»Beten wir, dass du recht behältst.« Sie schenkte ihm ein leidendes Lächeln.
»Ich werde noch mal nach den Tieren sehen«, sagte er und verschwand aus dem Haus. Es war ein lauer Sommerabend und einer der längsten Tage im Jahr. Die Sonne hatte noch Kraft und würde noch einige Stunden ihre wärmenden Strahlen zu ihnen schicken. Eine Schwalbe flog zum Stall, Bienen summten. Den Vorfall in der Kapelle ausgenommen, war es der perfekte Abend für seine Überraschung. Er begab sich in den Vorratsverschlag und suchte das gute Stück aus der Kiste. Als er es fand, strich er über das ebenmäßige Holz und lächelte. Das würde Allet gefallen.
***
Der Kater sprang auf den Fenstersims ihrer Kammer und schaute sie aus dunklen Augen an. Allet klopfte auf ihre Beine, was der Kater als Aufforderung betrachtete, es sich gemütlich zu machen. Ruprecht hatte sie ihn genannt, wie der König des Heiligen Römischen Reiches.
Es war eines der wenigen Tiere gewesen, die sie davor hatte bewahren können, dass der Vater es ertränkte. Die Katzen vermehrten sich so schnell, dass sie durch Inzucht und mangelnde Nahrung krank wurden. Und alle konnten sie nicht durchbringen. Aber ihrem Ruprecht steckte sie immer wieder Futter zu, auch wenn es der Vater verboten hatte.
Allet kraulte den Nacken des Tieres. Ruprecht schloss die Augen, reckte den Kopf und begann, laut zu schnurren. Das Geräusch vermochte sonst ihre Stimmung zu heben, doch heute fühlte sie sich leer und ausgelaugt. Es hatte ihre ganze Kraftanstrengung gebraucht, ihren Vater davon abzubringen, beim Ritter Georg nach der Erlaubnis für die Vermählung mit Rudolf Matzen zu fragen und es aufzuschieben. Wahrscheinlich hatte der Umstand, dass der Ritter sich nach der Kapellenweihe zurückgezogen hatte, maßgeblich dazu beigetragen. Doch sie hatte ihren Vater nicht überzeugen können, noch einmal mit Ulrich Genter zu sprechen. Irgendwie musste sie es schaffen! Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter, wenn sie an den einfältigen Blick, den dreckigen Bart und die schlechten Zähne von Rudolf dachte. Nein! Niemals.
Sie fasste sich an die Schläfe, die nach dem Schlag ihres Vaters immer noch schmerzte. Er hatte heute nicht einmal gewartet, bis sie die Tür vom Wohnhaus hinter sich geschlossen hatten. Doch das konnte sie ertragen, wenn sie nur nicht diesen Widerling heiraten musste.
Dann hörte sie den Ruf eines Uhus. Sie verscheuchte den Kater und trat zum Fenster. Hinter der dicken Buche stand Leopold und winkte ihr zu. So wie immer. Sie trug noch ihr feinstes Kleid. Wenn sie es anließ, würde sie es dreckig machen oder es gar an einem Ast aufreißen. Meist liefen sie tief in den Wald hinein. Vor lauter Kummer hatte sie nicht daran gedacht, sich umzuziehen.
Sie machte Leopold mit Handzeichen deutlich, dass er sich gedulden musste. So schnell sie konnte, öffnete sie die Verschnürung des Kleides, zog es über den Kopf und schlüpfte in ihr Arbeitskleid. Auch wenn sie sich für Leopold hübsch machen wollte, sie durfte es nicht wagen, ihr einziges gutes Kleid zu ruinieren. Nur die Kette, in die sie Margeriten geflochten hatte, behielt sie um und löste eine Haarsträhne aus der Haube.
Sie schlich die steile Treppe hinunter, jedoch knarzte sie bei jedem Tritt. Ihre Mutter steckte den Kopf aus der Küchentür. »Da bist du endlich. Hilfst du mir beim Kehren?«
»Ich wollte noch in den Wald, Kräuter und Blumen pflücken.«
Ihre Mutter seufzte. »Gut, aber bleib nicht zu lange weg. Und geh nicht zu weit in den Wald hinein.«
Allet gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Du kannst dich auf mich verlassen.« Ritter Georg hatte seinen Gefolgsleuten verboten, den Wald zu durchstreifen. Nur einhundert Schritt durfte man sich hineinbegeben, um Pilze und Beeren zu sammeln, die Schweine im Herbst mit Eicheln zu mästen und etwas Holz für den Ofen zu schlagen. Wurde man dabei erwischt, im Wald Hasen oder Rehe zu schießen oder im Fluss Fische zu fangen, konnte das einen das Augenlicht kosten.
Allet hatte einmal mit ansehen müssen, wie einem Mann auf dem Markt die Augen ausgestochen wurden. Und Georg galt als unbarmherzig, ihn sollte man nicht reizen. Doch Leopold und sie hatten in all den Jahren noch nie Wächter der Burg in den Wäldern auf Streifzug entdeckt, daher hielten sie sich nicht an diese Regel. Ihre Mutter schien das zu ahnen, daher wurde sie nicht müde, Allet zu ermahnen.
Allet trat ins Freie, die laue Sommerluft nahm sie in Empfang, aber sie verspürte eine innere Kälte. Schnell lief sie Leopold entgegen, ließ sich in seine Arme sinken und sog seinen herben Geruch in sich auf. Es tat so gut, von ihm gehalten zu werden. Sie wollte ihn mit ihren Sorgen überschütten, doch zunächst konnte sie bloß seine Nähe genießen.
»Komm, ich habe doch gesagt, dass ich eine Überraschung für dich habe.« Er nahm sie bei der Hand. Sie liefen über die Allmende, die Wiese und Weideflächen, die die Landmänner der Dorfgemeinschaft gemeinsam nutzen durften. Vorbei an dem Brunnen und den zwei Kühen von Colin, die genüsslich das Gras wiederkäuten.
»Nicht so schnell.« Allet kicherte. Als sie die Bäume erreichten, fühlte sie sich vor möglichen Blicken der Dorfbewohner geschützt. Auf dem Rückweg würde sie Blumen pflücken, um ihren Vorwand aufrecht zu erhalten.
Leopold zog sie hinter einen Busch mit roten Beeren und drückte sie an sich, er streichelte ihre Wange und sah ihr fest in die Augen. Ihre Atmung beschleunigte sich. Es gab nur einen Mann, den sie jemals ehelichen wollte – und das war Leopold. Sie musste ihm erzählen, was vorgefallen war. Gemeinsam würden sie sich überlegen, wie sie ihre Väter wieder zusammenbringen würden.
»Du warst heute die schönste Frau auf der Burg«, sagte er.
»Willst du mich um den Finger wickeln?« Sie schlug ihm sachte gegen die Brust, dennoch musste sie grinsen.
»Wenn du mir nicht glaubst.« Er zuckte mit den Schultern und trat einen Schritt zurück. Da war immer noch der Schalk in seinen Augen. Was hatte er vor? »Also. Mach die Augen zu.«
»Wieso?«, fragte Allet, doch tat, wie er verlangte.
Sie sah es vor ihren geschlossenen Lidern flackern. Wahrscheinlich prüfte er, ob sie wirklich nichts sah. »Gleich, kannst du die Augen wieder öffnen. Auf drei. Ein, zwei, drei.«
Sie öffnete die Lider und sah eine Flöte, die er in der Hand hielt. Er lächelte breit. War die etwa für sie? Sollte sie endlich selbst die lieblichen Töne erzeugen können? »Du bist verrückt! Wie viele Münzen hast du dafür ausgegeben?« Sie hatte auf der Burg keinen Marktstand mit Musikinstrumenten entdeckt, aber sie konnte ihn in dem Gewimmel übersehen haben.
»Keine einzige.«
»Du hast sie doch wohl nicht …«
»Nein.« Er grinste, zog das Messer aus der Scheide und ließ es einmal im Kreis durch die Luft wirbeln, bis er es am Schaft wieder auffing. »Zweifelst du etwa an der Kunstfertigkeit meiner Hände?«
Sie lächelte und nahm die Flöte entgegen. Es war eine Einhandflöte aus Holz geschnitzt mit zwei vorderen Löchern und einem Daumenloch hinten. Sie hatte vor einem Jahr einen Spielmann auf dem Markt gesehen, wie er mit einer solchen Flöte einhändig ein Lied gespielt und mit der anderen Hand eine Trommel geschlagen hatte. Sofort spukte die Melodie durch ihren Kopf, helle kurze Töne in schneller Abfolge, dann tiefe und langsame. Ob sie irgendwann auch so spielen könnte?
»Komm! Du kannst sie gleich ausprobieren, aber nicht hier.« Er packte sie an der Hand und zog sie hinter sich her – wie in Kindertagen.
Sie liefen über umgestürzte Bäume und durch stachelige Büsche, dann mussten sie den Fluss über einen wackeligen Steg überqueren. So gelangten sie an einen Abgrund, der fünfzig Fuß in die Tiefe reichte.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Schau, dort, ein Felsvorsprung. Ein idealer Ort für eine Musikeinlage, findest du nicht?« Er kletterte behände an der Steinwand entlang, bis er festen Boden unter den Füßen hatte, dann streckte er sich und hielt ihr auffordernd die Hand entgegen. Sie ärgerte sich, dass sie keine Beinkleider trug wie damals als Kind. Aber davon ließ sie sich nicht abhalten. Sie reichte ihm die Hand. Mit einem Sprung war sie bei ihm und landete in seinen Armen.
»Schau mal hinter dich. Noch eine Überraschung.«
Allet drehte sich um. An den Felsvorsprung schloss sich ein Höhleneingang an. »Warst du schon mal hier?«, fragte sie.
»Bisher noch nicht. Aber es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.«
Sie setzten sich auf die kniehohen Steine und Allet betrachtete die Flöte. Die Melodie nahm in ihrem Kopf Gestalt an, aber sie wusste nicht, wie sie die Töne auf dem Instrument erzeugen sollte.
»Nur wer versucht, kommt ans Ziel«, sagte Leopold.
Allet musste lächeln. Er hatte recht. Sie führte die Flöte an den Mund und blies hinein. Ein unheimlich schriller Ton schallte durch den Wald. Leopold krümmte sich vor Vergnügen.
»Jetzt lach nicht.« Nach ein paar Versuchen hatte sie den Dreh raus und es kamen Töne heraus, die sich zumindest wohlklingend anhörten. Sie hielt die Löcher in unterschiedlichen Varianten zu, um herauszufinden, wann die Töne tiefer und wann sie höher wurden. Sie variierte mit der Stärke der Luft, die sie hineinblies, und bekam ein Gefühl für das Instrument. Sie wurde mutiger und probierte eine erste Melodie, wobei die Töne nicht so herauskamen, wie sie es sich vorgestellt hatte, dennoch zitterten ihre Finger vor Aufregung.
Leopold nickte anerkennend. »Du wirst die beste Spielfrau im ganzen Heiligen Römischen Reich werden.«
Auf einmal sah sie Rudolf vor sich und die Freude verflog, sie blies die Luft langsamer hinein, die Töne wurden dunkler, trauriger … genauso wie ihr Herz. Sie ließ die Flöte sinken und blickte Leopold an.
»Was hast du? Gefällt sie dir nicht?« Er machte ein gekränktes Gesicht.
»Das ist es nicht.«
Er stemmte die Arme in die Hüften. »Ich habe mir so viel Mühe gegeben, jetzt erwarte ich …«
»Leo.« Sie sah ihm in die Augen. Ihr Herz drohte zu zerspringen. Wie sollte sie es nur sagen? Die Vorstellung war so bitter, dass sie es nicht wagte, es auszusprechen.
»Liebes!« Er legte eine Hand an ihre Wange und nahm sie mit seinem Blick gefangen. Braune Augen voller Zuversicht und Lebenslust. Die Augen eines Sonnenscheins. »Egal, was dich bedrückt. Lass uns jetzt nicht darüber nachdenken.«
Er zog ihr Gesicht zu sich, sein Atem kitzelte ihre Wangen, dann berührten sich ihre Lippen. Leopold umarmte sie und drückte sie fest an sich. Ihr Innerstes schien zu bersten. Er schmeckte süß und herb zugleich. Die Welt begann sich zu drehen. Allet erwiderte den Kuss, sie vergaß alles um sich herum und gab sich ganz dem Moment hin. Sie wünschte sich, dass dieser Augenblick nie verstreichen würde, dass sie Leopold niemals erzählen müsste, was ihr Vater geplant hatte, dass sie nie zurück zu ihrer Familie müsste. Hier im Wald bleiben und mit Leopold eine Familie gründen. Diese Vorstellung war so lieblich wie der Duft einer Wiese voll Frühlingsblumen.
Der Kuss endete. Allet zupfte an Leopolds Halstuch. »Trägst du es eigentlich auch nachts?« Seitdem er sich damals bei einem Diebstahl auf dem Markt die Narbe zugezogen hatte, verbarg er sie. Daher hatte sie ihm dieses Tuch bestickt und geschenkt. Von da an hatte sie ihn nicht ohne es gesehen.
Leopold grinste. »Das wüsstest du wohl gern.« Er begann, an der Verschnürung ihres Kleides zu nesteln. Sie spürte das Verlangen in ihrem Inneren, aber gleichzeitig die Furcht vor einer Strafe Gottes. Sanft drückte sie ihn von sich. »Das dürfen wir nicht.«
»Wieso nicht?«, hauchte er. »Bald teilen wir uns sowieso ein Ehebett. Ich wollte meinen Vater heute fragen, ob er sich die Einwilligung von Georg für die Vermählung einholt, doch dann ist mein Bruder aufgetaucht.« Er verdrehte die Augen. »Aber ich versichere dir, das hole ich bald nach. Und dann wird es nicht mehr lange dauern, bis …«
»Psch!« Sie legte ihm einen Finger an die Lippen. In ihr loderte ein Feuer, aber sie würde sich dem Verlangen nicht hingeben. Nein. Sie betete oft zu den Heiligen, damit diese für ihren Ungehorsam gegenüber ihren Eltern bei Gott Fürsprache einhielten. Doch wie schwer wog die Todsünde der Unzucht? Bei so einem Vergehen konnten die Heiligen sicherlich nicht helfen. Leopold musste bis zur Vermählung warten, aber es gab noch eine andere Schwierigkeit. »Ich muss dir etwas erzählen.« Sie knetete ihre Hände und atmete tief durch, um Kraft für die nächsten Worte zu sammeln. »Mein Vater … also … er hat heute mit Rudolf Matzen geredet …«
Leopold griff unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an, sodass sie ihn ansehen musste. »Egal, was dein Vater getan hat, er wird uns niemals trennen können.«
Nun brannten ihre Augen und Tränen liefen über ihre Wangen. »Natürlich kann er, er …«
»Da hat mein Vater auch noch ein Wort mitzureden. Und wenn er im Dorf etwas verkündet, kann dein Vater nichts dagegen einwenden. Und Familie Matzen schon gar nicht.«
Allet schluchzte auf. »Dein Vater hat gegenüber meinem verlauten lassen, dass er sich nicht mehr an das Versprechen halten will.«
»Was?« Leopold schreckte zurück. »Das kann nicht sein. Davon hat er mir nichts erzählt.«
Allet zuckte mit den Schultern. »So muss es aber gewesen sein. Warum sonst sollte mein Vater …« Ihre Kehle schnürte sich zu, als sie an Rudolf Matzen dachte. »Wir müssen einen Weg finden …«
»Das werden wir.« Er streichelte ihre Wange und wischte die Tränen fort. »Gleich morgen werde ich mit meinem Vater sprechen. Und dann wird alles gut. Glaub mir!«
Allet klammerte sich an diesen Gedanken und küsste ihn erneut. Ein Kuss voller Sehnsucht und mit dem Versprechen einer gemeinsamen Zukunft.
***
Leopold schnitt ein paar Späne von dem Holzstück ab, von dem er noch nicht wusste, was es werden sollte. Wie anmutig Allet ihre Finger bewegte. Wie konzentriert sie sich dem Flötenspiel widmete. Ein paar ihrer blonden Strähnen hatten sich aus der Haube gestohlen und umrahmten ihr ebenmäßiges Gesicht. Der Wind spielte so leicht mit ihren Haaren, wie sie der Flöte Töne entlockte. Sie war eins mit dem Instrument. Er hatte sich nie viel daraus gemacht und konnte nicht nachvollziehen, wie man so in der Musik versinken konnte. Aber er war glücklich, ihr eine Freude bereitet zu haben. Egal, welches Instrument sie spielen würde, ihr würde er bis in Ewigkeit zuhören.
Ihr Brustkorb hob und senkte sich, einem unsichtbaren Rhythmus folgend. Ihre Rundungen ließen sich in dem Kleid nur erahnen, doch es zeigte genug, dass es sich zwischen seinen Lenden regte.
Er schob das Messer zurück in die Lederscheide, legte das Holz zur Seite und setzte sich zu ihr. Wie lieblich sie roch, nach den Blumen, die seit dem Fest in ihrer Kette steckten. Er streichelte ihren Nacken, woraufhin sie den Kopf neigte, ihr Flötenspiel kurz unterbrach und lächelte. Er rückte näher an sie heran und küsste ihre Halsbeuge, wanderte hinauf zu ihrem Mund, stieß mit dem Gesicht die Flöte weg. Sie beschwerte sich halbherzig, doch ließ sich von seinem Kuss überzeugen. Seine Hand glitt ihren Rücken bis zur Hüfte hinunter, mit der anderen nahm er ihr die Flöte ab und legte sie hinter sich. Er presste Allet an sich, wollte sie spüren. Jetzt und hier!
»Nicht Leo.« Sie drückte ihn sanft von sich.
»Ich dachte, wir wären uns einig, dass wir unsere Väter überzeugen können.«
Sie stand auf und strich ihr Kleid glatt. »Willst du, dass Gott unserer Ehe wegen eines unbedachten Momentes den Zuspruch verwehrt?«
»Die heilige Anna wird für uns bei Gott Fürsprache halten.«
»Mach dich nicht lächerlich!« Sie nahm die Flöte und trat an den Höhleneingang heran, dabei drehte sie ihm den Rücken zu.
Leopold erhob sich ebenfalls, die freudige Erwartung zwischen seinen Beinen erlosch. »Verzeih mir, ich …« Es war ihm, als würde er einen entfernten Schrei hören. Er hielt inne und lauschte, vernahm jedoch nichts weiter. Er streichelte ihre Schulter und ließ die Hand wieder sinken. »Ich wollte dich nicht drängen.«
Sie drehte sich zu ihm um und schenkte ihm ein breites Lächeln. Er könnte diesem Gesicht nie einen Wunsch abschlagen. »Umso wichtiger, dass wir unser Anliegen schnell in aller Deutlichkeit bei unseren Vätern vorbringen.«
Sie nickte.
»Dann lass uns nach Hause gehen.«
Allet betrachtete die Flöte. »Lass mich sie noch ein bisschen ausprobieren.«
Auch wenn er es kaum abwarten konnte, seinen Vater zu sprechen, willigte er ein und lauschte ihrem Flötenspiel. Sie wurde immer geschickter, erzeugte richtige Melodien. Währenddessen griff er nach dem Holzstück und begann eine Eule zu schnitzen – ihr geheimes Zeichen. Das kleine Tier nahm Gestalt an, er gab sich viel Mühe bei der Ausarbeitung der Federn und merkte kaum, wie sich die Nacht ankündigte. Als es zu dämmern begann, traten sie den Rückweg an.
Auf halbem Wege stieg ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase.
»Riechst du das auch?«, fragte Allet und drückte seine Hand. Es lag Besorgnis in ihrem Gesicht.
»Feuer«, sagte er und plötzlich fuhr ihm der Schrecken durch die Glieder. Hatte er doch vorhin einen Schrei gehört?
Sie beschleunigten ihre Schritte. Je näher sie dem Dorf kamen, desto deutlicher wurde der Brandgeruch. Bald sahen sie eine hohe Rauchwolke zwischen den Wipfeln der Bäume. Das letzte Stück bis zu ihrem Dorf rannten sie. Als sie den Waldrand erreichten, drohten die Beine unter ihm wegzusacken.
Das Haus, das er sein ganzes Leben sein Zuhause genannt hatte, war abgebrannt, Feuer loderte aus den letzten Überresten empor, eine riesige Rauchwolke erhob sich gen Himmel. Und an dem Baum davor baumelten fünf Leiber. Leopold wollte losrennen, doch Allet stellte sich ihm in den Weg.
»Warte«, krächzte sie, die Augen tränenverschwommen schlug sie ihm gegen die Brust. »Ich will dich nicht verlieren.« Sie schluchzte auf. »Denk nach, Leo! Jemand hat deine Familie umgebracht. Wer könnte das tun?«
Er keuchte, umfasste mit einer Hand einen Ast, sodass seine Handinnenfläche schmerzte. Jörg. Der Zwischenruf auf der Kapellenweihe. Ritter Georg. Konnte das wirklich sein? Aber warum sollte der Ritter sie deswegen gleich umbringen lassen, war er so grausam? Das konnte doch nicht sein. Dorfbewohner liefen umher, schleppten Wassereimer zu dem Haus und versuchten, das Feuer zu löschen.
»Bleib hier. Ich werde fragen, was geschehen ist.« Allet drückte ihm einen Kuss auf die Wange und rannte über die Wiese. Sie verschwand hinter den anderen Häusern. Leopold hatte sie im Halbdunkeln aus den Augen verloren. Wo war sie nur? Dann sah er sie wieder zurückkehren.
Er unterdrückte den Drang, ihr entgegenzulaufen. Vielleicht war alles nur ein Irrtum und seine Familie lebte noch. Doch ihr Gesichtsausdruck sprach Bände und in diesem Moment zerbrach etwas in ihm.