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Eine Ermittlerin, die mit ihrem eigenen Trauma konfrontiert wird. Als Helena Briest in einer Kleinstadt im Sauerland ihre Privatdetektei eröffnet, ahnt sie noch nicht, dass gleich ihr erster Auftrag die Albträume ihrer eigenen Vergangenheit wieder aufwühlen wird: Die siebenjährige Tshala verschwindet – und die Polizei findet keine Spuren. Verzweifelte bittet die Familie des Mädchens Helena um Hilfe. Ist Tshala in der Gewalt eines Serientäters – oder ist sie Opfer eines fremdenfeindlichen Hintergrunds geworden? Je mehr Helena über die Familie und die Nachbarschaft in Erfahrung bringt, desto bodenloser scheint der Abgrund, der sich vor ihr auftut. Nur eins ist sicher: Die Uhr tickt– und jede Stunde könnte für das Mädchen die letzte sein … Fesselnde psychologische Spannung mit einer starken Ermittlerin – für Fans von Petra Hammesfahr und Romy Hausmann.
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Seitenzahl: 290
Über dieses Buch:
Als Helena Briest in einer Kleinstadt im Sauerland ihre Privatdetektei eröffnet, ahnt sie noch nicht, dass gleich ihr erster Auftrag die Albträume ihrer eigenen Vergangenheit wieder aufwühlen wird: Die siebenjährige Tshala verschwindet – und die Polizei findet keine Spuren. Verzweifelte bittet die Familie des Mädchens Helena um Hilfe. Ist Tshala in der Gewalt eines Serientäters – oder ist sie Opfer eines fremdenfeindlichen Hintergrunds geworden? Je mehr Helena über die Familie und die Nachbarschaft in Erfahrung bringt, desto bodenloser scheint der Abgrund, der sich vor ihr auftut. Nur eins ist sicher: Die Uhr tickt– und jede Stunde könnte für das Mädchen die letzte sein …
Über den Autor:
Bettina Lausen, geboren 1985, lebt mit ihrer Familie in Haan und hat einen Bachelor in Kulturwissenschaften mit den Schwerpunkten Literatur und Geschichte. Sie veröffentlichte bereits mehrere Romane, sowohl im historischen Bereich wie auch in der Spannung. Seit 2018 gibt sie Kurse für Kreatives Schreiben und verfasst Artikel für die Fachzeitschrift »Federwelt«. Außerdem ist sie als Schreibcoach und Lektorin tätig.
Die Autorin im Internet:
www.bettinalausen.de
www.instagram.com/bettina.lausen
www.facebook.com/bettinalausen.de
Bettina Lausen veröffentlichte bei dotbooks auch ihren historischen Roman »Die Reformatorin von Köln«.
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eBook-Neuausgabe Oktober 2024
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ISBN 978-3-98952-218-3
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Dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Bettina Lausen
Das vermisste Mädchen
Kriminalroman
dotbooks.
Das Bild für ihre Mutter landet in der Pfütze. Sie wird in ein Auto gezerrt. Schnell. Viel zu schnell. Sie hat das Auto gar nicht kommen hören. Hilfe! Sie will schreien, doch ihr Mund wird zugehalten. Was soll das? Sie zappelt und strampelt. Versucht sich zu drehen. Ihre Augen werden verbunden. Hilfe. »Hilfe!« Sie kann wieder schreien. Lauter. Kräftiger. Plötzlich kriegt sie keine Luft mehr. Muss würgen. Sie hat etwas im Mund. Es schmeckt ekelhaft, muffig. Ein Tuch. Ihr Herz pocht. Sie spürt die Schläge in ihrem Kopf hämmern. Sie will atmen, kann nicht. Was passiert mit mir? Sie versucht, um sich zu schlagen, doch ihre Hände werden festgehalten. Auf ihrem Rücken zusammengebunden. Viel zu eng! Das Band schneidet in ihre Haut. Sie versucht zu schreien. Kaum mehr als ein Brummen ist zu hören. Keine Chance. Sie bleibt ruhig liegen. Konzentriert sich auf die Atmung. Durch die Nase. Luft! Mama, bitte hilf mir!
Montag, 15.04.
Ich ging zu Fuß zur Detektei, wie ich es mir vorgenommen hatte. Die Fachwerkhäuser und die gepflasterte Straße strahlten altertümliches Flair aus. Links von mir lag die Kirche, davor plätscherte ein kleiner Springbrunnen. Ich bog rechts ab und blieb kurz vor dem alten Gebäude stehen, in dem sich das Museum von Menden befand. Das Gebäude war siebzehnhundertdreißig erbaut worden und stand unter Denkmalschutz, wie ich auf einer kleinen Infotafel las. Es war hier alles ganz anders als in Düsseldorf, wo ich in einem großen Bürokomplex gearbeitet hatte. Obwohl ich einem Umzug erst skeptisch gegenübergestanden hatte, gefiel mir die Atmosphäre dieser Kleinstadt immer besser. Ich bog in den kleinen Durchgang ein, in dem die Haustür zu meiner Detektei lag. Vor der Tür parkte ein Polizeiauto. Was war denn hier los? Ich schloss auf und trat ein. Im Flur versperrten mir zwei Polizistinnen, ein Mann um die vierzig und ein farbiges Paar den Weg. Stimmengewirr. Ich kam nicht umhin zuzuhören. Eine Afrikanerin schrie, die Polizistinnen sollten ihre Tochter finden. »Tshala, Tshala«, rief sie immer wieder. War Tshala nicht das Mädchen, das mir letzte Woche ein Bild geschenkt hatte? Auch der Vater redete auf die Beamten ein, erst auf Deutsch, dann in einer Sprache, die ich nicht verstand.
»Darf ich mal vorbei?«, fragte ich.
»Was wollen Sie hier?«, fragte mich der Mann. Jeans und Trenchcoat unterschieden ihn von den Beamtinnen. Obwohl er mich ernst ansah, hatte er eine sympathische Ausstrahlung. Er trug eine modische Brille, und seine grau melierten Haare gingen in dünne Koteletten über.
»Ich habe Räume in diesem Haus gemietet.«
Er sah die Polizistinnen ungläubig an.
Die dunkelhaarige Ordnungshüterin gab ihm Auskunft: »Wir haben alle Wohnungen überprüft. Eine ist seit diesem Monat neu vermietet an eine Frau namens Helena Briest.« Wie sie meinen Namen ausspuckte, gefiel mir nicht. »Auf dem Namensschild unten steht >Detektei<.«
»Auch das noch«, sagte er.
»Und wer sind Sie?«, fragte ich.
»Volker Nienstedt. Kripo.«
Ich nickte, drängte mich an ihnen vorbei und lief die Treppen hinauf. In meiner Detektei ließ ich meine Tasche auf den Boden fallen und setzte mich in meinen Sessel. Ein Mädchen war verschwunden, ausgerechnet in diesem Haus. Ich stützte meinen Kopf mit meinen Händen ab und rieb mir über die Stirn. Mir wurde heiß und ich lehnte mich zurück. Ich sah aus dem Fenster. Auf dem gegenüberliegenden Dach gingen zwei Tauben spazieren. Es klopfte an der Tür. Langsam erhob ich mich und öffnete sie. Vor mir stand der Farbige, der im Flur auf die Polizisten eingeredet hatte. Er hatte ein kantiges Gesicht, eine breite Nase und einen Schnurrbart. Sein Kopf war kahlgeschoren. Er streckte mir die Hand entgegen.
»Upenyu Kiwanika.«
Wie sollte ich mir das denn merken?
»Helena Briest.« Ich erwiderte seinen Händedruck.
»Sie sind Detektivin. Sie helfen uns«, sagte er bestimmend.
Ich schüttelte den Kopf, doch er dirigierte mich schon die Treppen hinunter. Überrascht von seiner Zielstrebigkeit, die keine Widerworte zuließ, folgte ich ihm.
In der Wohnung ockerfarbene Wände, aufgeräumte Schränke, ein ovaler Esstisch aus Holz und eine Sofagarnitur mit bunten Decken. Dort saß die Mutter und hielt die Hände eines Mädchens im Teenageralter und eines kleinen Jungen fest in ihrem Schoß. Verzweifelte Blicke. Die Tochter schaute permanent auf den Orientteppich, der die Hälfte des Fußbodens bedeckte. Auf einem herangezogenen Esszimmerstuhl saß ein schätzungsweise Zwanzigjähriger. Er trug ein enges Hemd und beobachtete mich mit wachen Augen. Der Vater lehnte sich an die Wand und bat mich, Platz zu nehmen. Ich ließ mich widerwillig auf dem freien Sessel nieder. Obwohl der Raum mit Menschen gefüllt war, spürte ich das alles überlagernde Fehlen der zweiten Tochter. Es war ungewöhnlich warm, trotzdem bekam ich eine Gänsehaut.
Entschuldige dich und geh, dachte ich, doch mein Mund und meine Beine gehorchten mir nicht. Ich blieb. Upenyu Kiwanika, ich musste ihn noch mal nach seinem Namen fragen, berichtete mir von Tshalas Verschwinden und von den bisherigen Unternehmungen der Polizei.
»Sie haben die Umgebung durchsucht. Mit Suchhunden und Hubschraubern. Hunderte haben gesucht«, begann er, ging dabei auf und ab und fasste sich an den Kopf. »Die Polizei hat Freunde und Nachbarn überprüft — nichts. Tshala ist nicht aufgetaucht. Und das Schlimmste ...« Er stoppte und sah mich fassungslos an, seine Augen geweitet, die Stirn in Falten gezogen. »Da gibt es einen Mord.«
Bei dem Wort »Mord« zuckte ich zusammen.
»Ein Mädchen ist ermordet worden. Letzte Woche. Hier ganz in der Nähe. Celina hieß sie.«
Davon hatte ich gehört. Lars hatte mir die Zeitung beim Frühstück hingeschoben. Nur flüchtig hatte ich über den Artikel gelesen.
»Acht Jahre war Celina. Ein Jahr älter als unsere Tshala. Stellen Sie sich vor.« Upenyu stand jetzt direkt vor mir und sah mich aus weit aufgerissenen Augen an. »Die Polizei vermutet eine Verbindung zwischen dem Mord an diesem Mädchen und dem Verschwinden von Tshala.«
Ich atmete tief durch, spürte seine Verzweiflung. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen und ihm gesagt, dass alles gut werden würde und wir seine Tochter finden würden. Doch ich saß steif auf dem Sessel, meine Glieder waren angespannt.
»Innerhalb einer Woche verschwindet ein zweites Mädchen«, fuhr er fort. »In der Nähe. Zwanzig Kilometer sind nicht viel.«
Ich nickte langsam.
»Aber ich sehe keinen Zusammenhang. Es gibt keine Beweise dafür.«
Upenyu ging wieder auf und ab und beteuerte mehrmals, dass Tshala nicht in die Hände dieses Mörders gefallen sein konnte. War das nur die Verzweiflung eines liebenden Vaters oder eine realistische Einschätzung?
»Und was soll ich tun?«, fragte ich.
»Vier Tage«, fuhr der Vater fort. »Vier Tage sind vergangen. Tshala ist immer noch fort. Die Polizei sucht nicht richtig. Sie hilft nie. Uns nicht. Wir sind Ausländer.«
Hatte er mir nicht gerade das Gegenteil geschildert?
»Der Kripobeamte gibt sich keine Mühe. Er sieht Tshala nicht. Er nimmt sie nicht wahr. Er kennt sie nicht. So wird er sie nie finden.«
Ich kenne sie auch nicht, dachte ich, aber nickte nur. Ich blickte zur Tür. Wie kam ich hier wieder raus?
Upenyu stand vor mir, zwang mich, ihn anzusehen. Ich atmete tief durch. Vier Tage waren schon vergangen. Wenn die Polizei eine Großfahndung gestartet und schon intensiv gesucht hatte, konnte sie nicht einfach nur weggelaufen sein.
Herr Kiwanika drückte mir ein Foto in die Hand. Ich hatte Tshala letzte Woche kennengelernt, als ich meine Detektei in diesem Haus bezogen hatte. Sie hatte im Treppenhaus gestanden und mich angelächelt. Hatte mir ein selbst gemaltes Bild gegeben und gesagt, es sei für mich. Es zeigte ein Geschenk mit einer bunten Schleife. Ich konnte mich noch genau an das süße Gesicht, die Rastazöpfe und die strahlenden Augen erinnern. Genauso sah sie mich von dem Foto an. Nun würden diese Augen nicht mehr strahlen. Nun war sie ihm ausgeliefert. Wehrlos. Bibberte. Schrie und weinte. Sehnte sich nach ihren Eltern. Mein Magen verkrampfte sich. Ich beugte mich nach vorn, versuchte den Schmerz zu ignorieren.
»Was haben Sie gerade gesagt?«, fragte ich Herrn Kiwanika.
»Es war nicht der Mörder. Tshala lebt.«
Herr Kiwanika stützte den Arm auf seinem Knie ab. Er schaute mich mit seinen schwarzen Augen durchdringend an und wartete. Ich sah wieder auf das Bild. Auf die Kleine. Ich schauderte, als ich mir ihre Situation vorstellte. Glaubte, ihre Angst zu spüren. Wieder ein Krampf im Magen. Oh, Tshala!
»Die Polizei hört nicht auf uns.«
Und war ich die richtige Person, um zu helfen? Konnte ich wirklich etwas tun?
»Wieso ich?«
»Sie sind Detektivin. Sie kennen die Tricks. Wissen, wie man sucht.«
Ich wollte ihm sagen, dass heute mein erster Tag war, doch als ich in seine Augen blickte, stockte ich. Ich erkannte seine Verzweiflung. Die Furcht. Die Angst, seine Tochter zu verlieren, vielleicht schon verloren zu haben. Es lag etwas in seinem Gesichtsausdruck, das ich bei einem anderen Menschen schon einmal gesehen hatte: Todesangst. Wenn er die Nachricht vom Tod seines Kindes erhielte, würde auch ein Stück von ihm sterben. Ich blickte in die Runde und sah in jedes einzelne Gesicht. Gesenkte Schultern, hängende Köpfe, verquollene Augen.
»Nun gut«, sagte ich und nickte.
Herr Kiwanika zwang sich zu einem Lächeln. »Danke.«
Ich schaute auf das Foto. Tshala, lebst du noch?
»Es gibt da noch etwas. Ich hoffe, Sie helfen uns trotzdem«, sagte Herr Kiwanika.
»Was meinen Sie?«, fragte ich.
»Unser Geld ist knapp. Können nicht viel zahlen. Ich arbeite bei einer Umzugsfirma. Ich verdiene nicht viel. Genug für die Familie. Mehr nicht.«
»Ich nehme fünfunddreißig Euro die Stunde. Plus Spesen.« Ich hatte im Internet recherchiert, wie viel die Konkurrenz nahm, und hatte meinen Stundensatz niedrig angesetzt, um an Aufträge zu gelangen. Trotzdem wollte ich nicht umsonst arbeiten.
»Das können wir nicht bezahlen«, sagte er.
So hatte ich mir meinen ersten Fall nicht vorgestellt.
»Was können Sie mir geben?«, fragte ich.
Er ging in den Flur, holte sein Portemonnaie aus seiner Jacke und gab mir einen Fünfziger. »Das muss erst mal reichen.«
»Das wird noch nicht mal meine Spesen decken«, protestierte ich.
Herr Kiwanika hatte seine Geldbörse wieder weggesteckt. Ich sah auf das Foto von Tshala. Eins war sicher: Sie brauchte Hilfe.
»Also gut«, sagte ich und steckte das Foto in meine Jackentasche. Ich nahm mir vor, das Thema später erneut anzusprechen. Jetzt musste ich mir überlegen, wie ich am besten vorgehen sollte. Als Erstes brauchte ich Informationen von der Familie.
»Sie sagten, Sie glauben nicht an eine Verbindung zwischen Celina und Tshala. Warum?«
»Ist ein Gefühl.«
»Und woran machen Sie dieses Gefühl fest?«
Herr Kiwanika zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Denken Sie nach. Wo liegt der Unterschied zwischen den beiden Mädchen?«
Er starrte einen Moment an die gegenüberliegende Wand. »Die Polizei hat das andere Mädchen schnell gefunden. Tshala nicht. Trotz der großen Suche.«
Das war durchaus ein erster Anhaltspunkt. Ich brauchte einen Notizblock, entschuldigte mich und holte einen aus meiner Detektei. Als ich zurückkam, telefonierte Upenyu Kiwanika lautstark in der Küche. Ich setzte mich zu der Mutter auf die Couch. Goldene Ohrringe und ein rot-gelbes Kopftuch schmückten ihr ebenmäßiges Gesicht. Sie war schlank, besaß volle Lippen und eine positive Ausstrahlung, obwohl sie zutiefst besorgt sein musste.
»Wo sind die Kinder?«, fragte ich.
»Sind in ihren Zimmern.«
»Wie heißen die beiden?«
»Bashira und Jomo.«
»Bashira ist das Mädchen und Jomo der Junge, nehme ich an.«
Die Mutter nickte.
»Und Ihr ältester Sohn?«
»Mugambi. Er ist nach Hause gefahren. Wohnt in Dortmund.« »Warum Dortmund?«
»Er studiert.«
Ich machte mir eine Notiz.
»Hilft Ihnen der Familienbetreuer von der Polizei ein wenig, mit der Situation fertigzuwerden?«, fragte ich weiter.
»Wir haben keinen.«
»Sie bekommen keine psychologische Unterstützung? Das verstehe ich nicht.«
Sie sah kurz zur Tür. Herr Kiwanika telefonierte immer noch in der Küche.
»Mein Mann hat Nein gesagt.«
»Warum? Es ist so wichtig für Sie und Ihre Kinder. Ein Ansprechpartner vor Ort kann viel Unterstützung geben.«
»Er will keine Polizei im Haus.«
Ich schüttelte verständnislos den Kopf, wollte aber zum Wesentlichen übergehen.
»Wie heißen Sie?«
»Feza Kiwanika.«
Ich notierte mir den Namen, da ich mir nicht sicher war, ob ich ihn behalten konnte.
»Und wo kommen Sie her?«, fragte ich weiter.
»Mein Mann kommt aus Kenia, ich aus Kongo, früher Zaire.« »Sie kommen aus verschiedenen Ländern?«
Sie nickte. »Wir haben uns in Deutschland kennengelernt.«
Ich machte mir wieder eine Notiz. Ich wusste nur sehr wenig über Afrika, geschweige denn über die Unterschiede der einzelnen Länder dort.
»Zurück zu Tshala. Wie alt ist sie?«
»Sieben.«
Ich erinnerte mich, dass Upenyu schon vorhin im Gespräch das Alter erwähnt hatte.
»Frau Kiwanika, bitte erzählen Sie mir noch mal genau, was passiert ist.«
Sie faltete die Hände im Schoß.
»Tshala hatte Schule bis elf halb ... halb zwölf. Sie geht mit zur Freundin ... danach kommt nach Hause. Meist ist sie ein bisschen vor zwölf hier.«
Feza sprach mit einem leichten französischen Akzent, und manchmal suchte sie nach den richtigen Ausdrücken.
»Wo wohnt Tshalas Freundin?«
»Lahrweg 19 b.«
Ich musste heute Morgen daran vorbeigegangen sein. Der Lahrweg war die Straße, die mich von zu Hause den Berg hinunter Richtung Stadt führte.
»Und wie heißt sie?«
»Marie.«
»Und der Nachname?«
»Stemmer.«
»Wieso kommt Tshala nicht direkt nach Hause?«, hakte ich nach.
»Sie mag gehen durch Friedhof, die Blumen, die Farben.«
»Und diesmal kam Tshala nicht nach Hause.«
Feza schüttelte den Kopf und berichtete, dass sie sich erst nichts dabei gedacht hatte. Vielleicht sei sie bei der Freundin geblieben. Manchmal dauere es einfach etwas. An genaue Uhrzeiten habe sich Feza in Deutschland nie richtig gewöhnen können. Als jedoch ihr Mann um fünfzehn Uhr nach Hause gekommen war, sei sie besorgt gewesen. Sie habe die Freundin und die Schule angerufen. Ohne Erfolg. Dann habe Upenyu die Polizei informiert.
»Was hat Marie erzählt?«
»Tshala kam mit zu ihr. Nichts ungewöhnlich. Alles wie immer.«
»Hat Maries Mutter etwas gesehen?«
»Nein.«
»Was hat die Polizei unternommen?«, fragte ich weiter.
»Die Polizei hat gefragt Nachbarn von Schule. Sie haben das Zimmer durchsucht, Fotos mitgenommen, wollten wissen, was sie für Kleidung trägt. Große Suche, viele Polizisten sind gekommen. Ein Hubschrauber flog über Stadt, Hunde liefen durch den Wald.«
Ich hatte den Trubel nicht mitbekommen, da ich mit Lars übers Wochenende in den Niederlanden gewesen war. Wir hatten lange Spaziergänge an der Nordsee gemacht und uns anschließend in den Strandcafés mit Tee und Cappuccino aufgewärmt.
»Was hat die Polizei herausgefunden?«, fragte ich.
Feza senkte ihren Blick. »Nichts. Viele Fragen, keine Ergebnisse. Polizist Herr Nien...stedt glaubt Verbindung mit anderem Mädchen ... es ...« Sie stockte.
»Das ermordet wurde. Ja«, ergänzte ich. Ich hoffte, dass der Kripobeamte sich irrte.
»Gibt es Indizien dafür, dass es derselbe Täter war?«, fragte ich.
»Tshala und Mädchen kamen nach Schule nicht nach Hause. Bei dem anderen Mädchen wurde Stofftier auf dem Heimweg gefunden. Bei Tshala ...«, sie schluckte, » ... ein Bild.«
»Wurde noch etwas gefunden?«
Kopfschütteln. Eine Strähne löste sich aus ihrem Kopftuch, die sie aufzwirbelte und zurück unter das Tuch schob.
»Und die Anwohner? Hat keiner was gesehen?«
»Polizei hat alle gefragt. Nichts.«
Wohin bist du gegangen, Tshala? Wo bist du deinem Entführer begegnet? Ich musste mir die Örtlichkeiten genau ansehen.
»Wo ist die Schule?«, fragte ich.
»Ist nicht weit. Die Kirche in der Stadt. Sankt Vincenz. Da vorne.« Sie zeigte mit dem Finger auf die Wand gegenüber dem Fernseher. »An Kirche vorbei, links, ein paar Meter, dann über die Kreuzung. Da ist die Josefschule.«
Die Schule musste auf meinem Weg von zu Hause Richtung Stadt liegen. Und der Friedhof — war ich nicht heute Morgen am Eingang vorbeigelaufen? Ich hatte nicht darauf geachtet.
»Wo wurde das Bild gefunden?«, fragte ich.
Es sei dort gewesen, wo der Lahrweg auf den Schwitter Weg traf, nicht weit von der Schule entfernt.
»Haben Schüler was gesehen?«
»Keiner.«
»Ihr Mann glaubt nicht an eine Verbindung zwischen den Entführungen der beiden Mädchen. Haben Sie eine Ahnung, wer für die Entführung Ihrer Tochter in Frage kommt?«
Feza schaute zur Tür, suchte Hilfe, wahrscheinlich von ihrem Mann, doch seine aufgeregte Stimme drang immer noch aus dem Nebenzimmer zu uns. Hatte sie Angst, etwas Falsches zu sagen?
»Papa!«, rief sie laut. Einen kurzen Moment später verstummte er und kam ins Wohnzimmer. Seine Augen wirkten müde, trotzdem strahlte er eine enorme Autorität aus. Er setzte sich zu uns mit geradem Rücken, breiten Schultern, die Hände auf den angewinkelten Knien, als wolle er jeden Augenblick aufspringen.
»Ich hatte Ihre Frau gefragt, was Sie glauben, wer für das Verschwinden Ihrer Tochter verantwortlich sein könnte.«
»Wir wissen es nicht«, sagte er bestimmt. »Finden Sie es heraus.«
***
Ein gleichmäßiges Motorengeräusch. Vor ihr räuspert sich jemand. Dunkel, tief. Es ist ein Mann. Sie schluchzt, röchelt, bekommt kaum Luft. Muss würgen von dem unausstehlichen Geschmack. Sie versucht das Tuch auszuspucken, schafft es nicht. Tränen quellen aus ihren Augen, befeuchten das Band. Sie dreht und windet sich. Nichts geschieht. Ihre Handgelenke brennen wie Feuer. Sie tritt um sich. Ihre Kräfte verlassen sie. Sie hofft, dass die Fahrt bald zu Ende ist, und hat gleichzeitig Angst davor. Denn dann wird er wieder zu ihr kommen. Der, der sie gefesselt und geknebelt hat. Der Wagen stoppt. Ihr Herz rast. Nein! Bitte nicht. Schweiß bildet sich auf ihrer Stirn. Ihr wird heiß und kalt. Er gibt wieder Gas. Es geht weiter. Ihre Glieder entspannen sich. Wohin fahren wir? Papa, bitte hilf mir!
Ein gelbes Haus mit einer Terrasse davor, die von einem Blumenbeet umgeben war. Ein Sonnenschirm lehnte an der Hauswand. Links führte eine steile Auffahrt zur Garage. Hier wohnte Marie Stemmer. Hier war Tshala am Freitag definitiv gewesen. Hatte sie auch hier gestanden und sich das Haus angeschaut? Wahrscheinlich nicht. Bestimmt hatte sie mit ihrer Freundin geredet, rumgealbert, vielleicht mit ihr über Bilder gesprochen, die sie in der Schule gemalt hatten. Dann hatten sie sich verabschiedet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag der Eingang zum katholischen Friedhof. Ich ging durch das Tor. Ruhe, Blätterrauschen, Vogelgezwitscher. Die vielen Namen. Die vielen Leben. Was hatte Tshala hierhergezogen? Nur die bunten Farben und Blumen? Die Stille und Ruhe? Das Für-sich-Sein? Oder war es nur der kürzeste Weg zurück? Ich ging den Hauptweg hinunter. Mir waren Friedhöfe immer unheimlich. Die vielen Toten, die traurigen Geschichten. Wo bist du entlanggelaufen, Tshala? Welche Gräber hast du dir angeschaut? Eine weißhaarige Frau mit einer Gartenschaufel kam mir entgegen, das Gesicht starr und unnahbar. Sie schaute zu Boden, wich meinem Blick konsequent aus. Dies war kein fröhlicher Ort. Passte dieser Ort zu Tshala? Ich musste noch mehr über das Mädchen erfahren, musste verstehen, begreifen und tief in sie eintauchen. Ich schlenderte die Querverbindungen entlang. Wo war sie hergelaufen? Hatte der Entführer ihr hier aufgelauert? Ich sah auf den Boden in der Hoffnung, Hinweise zu finden. Was machte ich mir nur für Illusionen? Alles, was verdächtig ausgesehen hatte, musste die Spurensicherung schon eingesammelt haben. Trotzdem musste ich mich selbst überzeugen. Je weiter ich ging, desto lauter wurden die Geräusche von der Straße. Am Ende des Friedhofes stand eine nahezu lebensgroße Mutter Maria. Die Hände gefaltet, betend mit einem traurigen, fast verzweifelten Gesichtsausdruck. Blumen und Friedhofskerzen zu ihren Füßen. Drei Bänke komplettierten die Gebetsstätte auf dem kleinen runden Platz. Ich blickte mich um. Hinter den Büschen und Hecken hätte sich der Entführer lange vor Tshala verstecken, sie beobachten können. War es hier passiert? Ich verließ den Friedhof und befand mich an der Straßenecke, wo der Lahrweg auf den Schwitter Weg traf. Hier musste das von Tshala gemalte Bild gefunden worden sein. Hatte sie es schon vor der Entführung verloren, oder war es bei dem Übergriff passiert? Gegenüber standen Wohnhäuser. Hatte jemand etwas gesehen? Was war mit den Autos, die vorbeifuhren? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine gewaltsame Entführung an dieser Straßenecke ungesehen blieb. Ich befand mich an keiner Hauptstraße, aber es fuhren erstaunlich viele Autos vorbei. Ich ging ein paar Schritte weiter Richtung Stadt und stand nach einer Kurve direkt vor der Schule. Ein rotes Klinkergebäude, mit Efeu bewachsen. An der Seitenmauer eine lachende Sonne, die ein Buch in den Händen hielt, darunter der Name: Josefschule Menden. Von hier aus waren es kaum fünf Minuten zu Fuß, bis Tshala zu Hause war. Ein kleines Zeitfenster für eine Entführung. War Tshala gezielt ausgewählt worden oder ein Zufallsopfer?
Ich ging zurück zu dem Haus, in dem Marie wohnen sollte. Ich klingelte, aber niemand öffnete. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um durch ein Fenster zu schauen, doch ich konnte nichts erkennen. Erneut klingelte ich, es tat sich immer noch nichts. Ich musste später noch mal zurückkommen.
Zurück in der Detektei suchte ich im Internet nach der Durchwahl von Herrn Nienstedt. Vergebens. Es gab nur die Nummer der Zentrale. Ich landete bei einer Beamtin, die sich weigerte, mich weiterzuverbinden, und mir nur einen Rückruf in den nächsten Tagen versprach. Um eigene Ermittlungen anstellen zu können, musste ich aus sicherer Quelle den Stand der Ermittlungen erfahren. Das konnte nicht warten. Also lockte ich sie.
»Ich habe wichtige Informationen im Fall Tshala Kiwanika, die Herrn Nienstedt interessieren könnten.«
Sie fragte mich nach Details, doch ich beharrte darauf, mit Herrn Nienstedt persönlich zu sprechen. Sie versprach mir, dass sich der zuständige Kollege im Laufe der nächsten Stunden bei mir melden würde, aber durchstellen könne sie mich nicht.
Wie sollte ich weiter vorgehen? Ich konnte nicht untätig in der Detektei rumsitzen und auf Informationen warten. Vier Tage war Tshala verschwunden. Dabei waren die ersten Stunden nach einer Entführung die wichtigsten. In denen war die Chance am größten, ein vermisstes Mädchen zu finden. Jetzt konnte Tshala schon tot sein. Ich durfte nicht daran denken. Mein Handy vibrierte. Bevor die Musik ertönte, nahm ich ab.
»Was haben Sie?«, fragte mich Herr Nienstedt, ohne mich zu begrüßen. Seine Stimme klang eiskalt und passte nicht zu dem sympathischen Eindruck, den ich heute Morgen von ihm gewonnen hatte. Als ich seine Stimme hörte, war ich mir nicht mehr sicher, ob der Anruf eine gute Idee gewesen war. Ich hatte nichts in der Hand.
»Die Anwohner müssen etwas gesehen haben. Was haben Sie von denen erfahren?«, fragte ich.
»Meine Kollegin hat mir gesagt, Sie haben Informationen für mich. Nicht, dass ich Ihnen welche geben soll. Also, was wollen Sie mir mitteilen?«, fragte er fordernd, fast genervt. Wahrscheinlich hatte er seit mehreren Tagen nicht richtig geschlafen.
»Ich wollte Ihnen sagen, dass die Familie Kiwanika mich gebeten hat, bei der Suche zu helfen. Also wollte ich wissen, in welche Richtung Sie ermitteln, damit wir uns nicht in die Quere kommen.«
Nachdem ich den Satz ausgesprochen hatte, wusste ich, dass diese Worte nicht das bewirken würden, was ich mir erhofft hatte.
»Sie kommen mir schon jetzt in die Quere. Hören Sie! Kindesentführung ist keine Bagatelle. Das ist Aufgabe der Kriminalpolizei und nicht die einer Hobbydetektivin. Egal, was die Familie Ihnen bietet, halten Sie sich aus der Sache raus! Sonst droht Ihnen eine Anzeige wegen Behinderung polizeilicher Ermittlungen. Haben Sie das verstanden?«
»Können Sie mir nicht wenigstens den Stand der Dinge ...«
»Frau Briest. Den Stand der Ermittlungen erfahren Sie aus den Medien.«
Ein Klicken ertönte in der Leitung. Auf eine Zusammenarbeit mit ihm brauchte ich nicht zu hoffen. Ich las im Internet die Nachrichtenmeldungen. Es waren immer die gleichen spärlichen Informationen: vermisstes afrikanisches Mädchen, das nach der Schule nicht nach Hause gekommen war. Die Letzte, die sie gesehen hatte, war die beste Freundin. Das selbst gemalte Bild. Die Frage nach der Verbindung mit dem Mord an Celina. Letzten Montag war die Achtjährige in Garbeck, einem Ortsteil von Balve, entführt und ermordet worden. Am Dienstag hatte eine Wanderin ihre Leiche in einem Bachlauf gefunden. Die Bevölkerung wurde um Hinweise gebeten. Ein Phantombild aufgrund einer Zeugenaussage hatte die Polizei veröffentlicht: ein schmaler Kopf, Seitenscheitel, Kinnbart und Brille. Der Gesichtsausdruck erschien freundlich. Wenn dieser Mensch wirklich so aussah wie auf dem Bild, könnte ich ihn mir nicht als Kriminellen vorstellen. Ich druckte das Bild aus und steckte es in meine Tasche. Gab es eine Verbindung zwischen den beiden Verbrechen? Da ich von Herrn Nienstedt keine Informationen zu erwarten hatte, musste ich sie mir selbst beschaffen. Ich wollte mir das Heimatdorf des ermordeten Mädchens ansehen, mit Anwohnern sprechen, vielleicht mit den Lehrern und Verwandten. Es war mittlerweile siebzehn Uhr. Heute war es dafür schon zu spät.
***
Die Schmerzen haben nachgelassen. Sie spürt ihre Hände nicht mehr. Ihre Beine sind verkrampft und steif. Wer tut mir das an? Was hat er mit mir vor? Diese Dunkelheit. Sie muss endlich etwas sehen. Sie reibt ihren Kopf an dem Sitz und versucht, das Band vor ihren Augen hochzuschieben. Ein Stückchen. Ja. Noch ein Stückchen. Sie blinzelt. Noch kann sie nichts sehen. Weiter! Weiter! Durch den Tränenschleier erkennt sie ihre Beine. Sie versucht es weiter, bis das Auto mit einem Ruck zum Stehen kommt. Handbremse. Er steigt aus. Oh nein! Ein Knall. Die Vordertür. Ihr Herz beginnt zu rasen. Sie will schreien, nur schreien, doch das Tuch hindert sie daran. Sie würgt. Versucht es mit der Zunge aus dem Mund zu drücken. Der ölige Geschmack zieht in ihre Nase. Sie muss sich übergeben. Hilfe. Um Himmels willen nicht jetzt. Die Hintertür wird aufgemacht. Wer bist du?, will sie fragen. Was willst du von mir? Bring mich zurück nach Hause. Ihre Gedanken bleiben lautlose Worte. Sie strampelt mit den Beinen, soweit es ihre Fußfesseln zulassen. Sie will nicht, dass er sie anfasst. Sie will ihn nicht sehen. Sie will nur in die Arme ihrer Mutter. Doch er packt sie an den Fußgelenken.
Upenyu reichte mir das Brot. Die Kruste war noch warm. Ich hatte bei den Kiwanikas geklingelt, als Feza den Tisch deckte. Sie ließen mich nicht mehr gehen, sondern holten ein Gedeck für mich. Sie waren gespannt darauf, was ich zu erzählen hatte. Der Eintopf aus Kohl, Paprika, Möhren und Mais schmeckte süßlich und scharf. Die Erdnüsse fand ich befremdlich, aber passend zum Gericht.
»Was haben Sie herausgefunden?«, fragte Upenyu. Er starrte mich aus seinen schmalen Augen konzentriert an. Sein kantiges Gesicht war von Sorgenfalten geprägt. Und doch lächelte er mich freundlich an.
»Noch nicht so viel«, gab ich zu.
Ich berichtete ihm von meinen Erkundungen auf dem Friedhof und dem Versuch, mit Herrn Nienstedt ins Gespräch zu kommen.
»Die Kripo verfolgt eine falsche Spur«, sagte er.
War es nur seine Verzweiflung, die ihn zu dieser Annahme brachte, oder steckte wirklich etwas dahinter?
»Die Polizei vermutet eine Verbindung, sucht intensiv nach dem Mörder von Celina. So zumindest die Nachrichten.«
Upenyu nickte. »Das stimmt. Aber Herr Nienstedt schaut nicht rechts, nicht links.«
»Ich habe vor, morgen nach Garbeck in das Heimatdorf von Celina zu fahren.«
Er ließ seinen Löffel auf den Teller fallen.
»Eine Sackgasse.«
»Ich muss mir einen Überblick verschaffen, um die Situation einschätzen zu können. Die Informationen bekomme ich von der Polizei nicht.«
»Fragen Sie uns.«
»Das reicht nicht. Ich muss mir selbst ein Bild machen.«
»Tun Sie, was ich sage.« Seine Augen funkelten. Die Muskeln zeichneten sich durch sein enges Oberhemd ab und spannten sich an.
»Ich will meinen Job gut erledigen, also arbeite ich so, wie ich es für richtig halte.«
»Ich bin der Auftraggeber.«
»Und deswegen bekomme ich von Ihnen die Spesen für die Fahrt dorthin. Ich nehme ...«
»Das ist unerhört«, sagte er laut und haute mit der Hand auf seinen Oberschenkel. Er stand auf und lief auf und ab, sprach schnell in einer afrikanischen Sprache. Er sah mich dabei an, als könnte ich ihn verstehen. Ich atmete tief durch.
»Beruhigen Sie sich wieder«, sagte ich.
Er blieb stehen und sah mich starr an. Seine Nasenflügel bewegten sich. Sicher, er musste verzweifelt sein, und ich wollte auch noch Geld von ihm, aber er hatte mich beauftragt. Upenyu ging in den Flur und kam kurze Zeit später mit dreißig Euro zurück.
»Gehen Sie sparsam damit um, mehr kann ich Ihnen diese Woche nicht geben.«
»Danke«, sagte ich und steckte das Geld in meine Hosentasche. Es würde zwar meine Ausgaben nur für kurze Zeit decken, doch ich gab mich vorerst damit zufrieden. Upenyu setzte sich und schob sich einen Löffel Eintopf in den Mund.
»Ich werde trotzdem nach Garbeck fahren«, sagte ich, um auf das Thema zurückzukommen.
»Ich habe doch gesagt ...«
Seine Frau fasste ihn am Arm und redete beschwichtigend auf ihn ein: »Papa, sie macht richtig. Sie sollte untersuchen alles.«
Nachdem sich die Situation wieder entspannt hatte, fragte ich nach Tshala. »Ich will sie näher kennenlernen. Möchte ihre Hobbys, Gewohnheiten und Eigenheiten erfahren. Ich muss alles über sie wissen.«
Nun lächelte Upenyu. »Sie ist ein braves Mädchen. Sehr gut in der Schule. Eine der Besten. Sie malt gerne. Viele Bilder hängen in der Küche und im Flur. Sie ist fröhlich. Sie spielt gerne mit ihrer Freundin Marie.«
»Und wieso brachte sie Marie nach Hause, anstatt direkt nach der Schule hierherzukommen?« Bei der Frage schaute ich Feza an, doch Upenyu antwortete: »Sie mag Marie.«
»Und wieso ging sie jeden Tag über den Friedhof zurück?« Ich blickte in die Runde. Feza schaute ihren Mann an, Bashira löffelte konzentriert ihren Eintopf, und Jomo spielte an seinen kurzen Dreadlocks herum.
»Sie mochte den Weg«, sagte Upenyu.
»Verband sie etwas mit dieser Umgebung? Ich war dort. Ruhe, Religion, Trauer. Überall sind Kreuze, an jeder Ecke begegnet man Jesus. Eine Gebetsstätte vor der Heiligen Maria. Welche Bedeutung hatte das für Tshala?«
Upenyu schüttelte energisch den Kopf. »Keine. Wir glauben an Allah.«
Verheimlichte er mir etwas, oder kannte er seine Tochter nicht richtig? Ich holte das ausgedruckte Phantombild aus meiner Handtasche und zeigte es ihnen.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Upenyu nahm mir das Bild ab, betrachtete es und reichte es mir zurück.
»Nein. Das hat die Polizei schon gefragt.«
Ich steckte die Kopie wieder weg. Ich hätte es mir denken können.
Nach dem Essen nutzte ich die Chance, Bashira allein zu sprechen. Sie teilte sich das Zimmer mit Tshala. Zwei Betten. Über dem einen hingen Poster von Boybands und über dem anderen selbst gemalte Bilder. Der Schreibtisch war übersät mit Papier und Buntstiften. An der Stirnseite ein Schrank mit Büchern und einer Stereoanlage, daneben ein paar CDs. Ich ließ mich auf einem der bunten Bürostühle nieder.
»Vermisst du deine Schwester?«
Bashira nickte. Sie besaß die schmalen Augen und das kantige Gesicht ihres Vaters. Ihre bauschigen Haare bändigte sie mit einem Haarreifen. Mehrere Pickel sprossen auf ihrem Gesicht.
»Versteht ihr euch gut?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete sie kaum hörbar.
»Was magst du besonders an ihr?«
Bashira setzte sich auf ihre Hände, ihre Arme nah am Körper, als ob sie sich so klein wie möglich machen wollte.
»Tshala ist immer so fröhlich. Sie lacht laut und viel. Sie bringt mich auch oft zum Lachen.«
»Und warum geht sie über den Friedhof?«
»Sie mag Blumen. Manchmal sitzt sie davor und zeichnet sie ab. Diese hier hat sie letzte Woche gemalt.«
Sie zeigte auf ein Bild, das an dem Schrank hing: eine violette Blume mit birnenförmigen Blütenblättern.
»Kommt sie öfter spät nach Hause?«
Bashira nickte. »Ein paarmal musste ich sie holen. Meist sitzt sie auf einer Bank und malt.«
»Und was sagen deine Eltern dazu?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Mama ist es egal. Freiheit ist wichtig, sagt sie. Papa gefällt es nicht. Er will immer wissen, wo wir sind. Aber wenn er auf der Arbeit ist, merkt er es nicht.«
»Gibt es etwas, das dich an deiner Schwester stört?«
Sie schaute zu Boden, als wolle sie es nicht zugeben. »Ich mag nicht, dass sie überall ihre Stifte liegen lässt. Sie ist unordentlich. Außerdem macht sie viel Quatsch, ärgert mich und Jomo oft. Das ist anstrengend.«
Ich begann die herumliegenden Buntstifte auf dem Schreibtisch in die Plastikbecher zu stellen. Dann begutachtete ich die Bilder auf dem Tisch. Das oberste zeigte ein buntes Geschenk. Eine überdimensionale Schleife, deren Bänder sich auf dem Boden schlängelten. Ein Bild, wie Tshala es mir gegeben hatte.
»Warum ein Geschenk?«
»Sie hatte sich so auf ihre Geschenke gefreut. Jetzt Donnerstag ist ihr Tag. Wir wollten feiern.«
Ich nahm mir vor, Tshala bis zu ihrem Geburtstag zu finden.