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Der sechszehnjährige Arthur Owls wird zuhause von einem unerwarteten Gast überrascht, der ihn auf eine abenteuerliche Reise in einer anderen Welt schickt. Und während Arthur versucht, seinen Platz in dieser neuen Welt und inmitten ihrer Bewohner zu finden, bereitet sich in den Schatten ein alter Feind darauf vor, Randwelt in die Dunkelheit zu reißen. Doch um diesen Feind bezwingen zu können, müssen Arthur und seine neuen Freunde damit beginnen, die zerrissene Vergangenheit ihrer Familien und Völker zusammenfügen.
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Seitenzahl: 690
Veröffentlichungsjahr: 2023
Edwin van Bargen
Die Legende von Arthur Owls
-Randwelt-
Liebe Mama,
lieber Papa,
dieses Buch ist wie wir.
Die einen werden es mögen,
die anderen nicht.
Es ist nicht perfekt, hat seine Ecken und Kanten,
aber es gibt sein Bestes, das zu sein, was es ist.
Darum widme ich es euch
mit dem unendlichen Dank eines Sohnes.
Edwin van Bargen
Die Legende
von
Arthur Owls
-Randwelt-
Ein spezieller Dank geht an Michael Strohschein, der mir die Kapitelbilder zur Verfügung gestellt hat
Teil 1 Arthur Owls S.007
Kapitel 01: Zuhause im Nirgendwo S.008
Kapitel 02: das Männlein und der Fall S.025
Teil 2 die Welten im Wandel S.041
Kapitel 03: eine neue Welt S.042
Kapitel 04: die Zusammenkunft S.061
Kapitel 05: der Fremde aus dem Silbermeer S.079
Teil 3 von alten Göttern und neuen Helden S.096
Kapitel 06: die Wanderung der Gesangen S.097
Kapitel 07: die Geschichte des Arthur Owls S.114
Teil 4 die Reisenden S.125
Kapitel 08: der Aufbruch von Licht und Finsternis S.126
Kapitel 09: die Reise beginnt S.144
Kapitel 10: Urheim S.155
Kapitel 11: die Krähenhexen S.171
Teil 5 die Schatten im Licht S.191
Kapitel 12: Zeit der Wölfe S.192
Kapitel 13: Nebel der Vergangenheit S.209
Kapitel 14: auf den Spuren der alten Zeit S.255
Teil 6 das Turnier S.297
Kapitel 15: Mondheim S.298
Kapitel 16: der Angriff S.331
Kapitel 17: im Reich der Wächter S.343
Kapitel 18: die drei Prüfungen S.363
Kapitel 19: das Lied der alten Barria S.368
Kapitel 20: die drei Hammerschläge des Centron S.391
Kapitel 21: die Eiskathedrale S.413
Kapitel 22: Außenwelt S.430
Teil 7 hinter den Spiegeln S.442
Kapitel 23: schicksalhafte Begegnungen S.443
Kapitel 24: die Schlacht um Mondheim S.454
Kapitel 25: das Geheimnis der Dunkelheit S.479
Kapitel 26: Sol Bhora S.508
Kapitel 27: Entscheidung in Sol Bhora S.521
Kapitel 28: Gardaar S.539
Teil 8 ein neuer Anfang S.581
Kapitel 29: ein Weg, ein Schicksal S.582
Kapitel 30: das Ende ist der Anfang ist das Ende S.615
Teil 1 Arthur Owls
Kapitel 01: Zuhause im Nirgendwo
Mit leisem, rhythmischem Klopfen schlagen die Regentropfen gegen die Scheibe des kleinen, weiß gerahmten Fensters. Dicke, schwarze Wolken ziehen wie dunkle Riesen über den vergessenen Ort mitten im Nirgendwo.
Nur der Mond versucht, hier und da sein Licht durch die Dunkelheit zu werfen. Und ist er auch schon viele Nächte über dieser Welt aufgegangen, so ist es diesmal doch anders. Silbrig-rot steht er voll am Himmel und erhellt nur knapp einen Meter des kleinen Dachbodenzimmers. Als ob er versucht, seinen Betrachter mit aller Macht vor dem, was da kommen wird, zu warnen. Doch leider gibt es hier heute keine Betrachter. Die Straßen sind leer und ohne Leben. Selige Stille ruht über den Häusern des kleinen Vorortes. Die Menschen schlafen.
So auch Arthur Owls. Er liegt unter seiner Decke und wirft den Kopf wild von einer Seite zur anderen. Sein blondes, struppiges, kurzes Haar ist nass vom Schweiß und klebt ihm an der hellen Stirn. Er träumt.
Arthur ist ein unscheinbarer Junge. Nicht dick, nicht dünn, nicht groß oder klein, er ist der Durchschnitt.
Doch wer genau hinschaut, dem werden seine wachen Augen auffallen, welche der Spiegel eines hellen Geistes sind.
Und wer noch genauer hinschaut, der wird bemerken, dass die grüne Iris dieser Augen von einem dünnen, silbernen Ring umschlossen ist. Wenn die Natur schon einige Wunder vollbracht haben mag, dieses hier gehört nicht zu ihren Werken. Doch bisher hat leider niemand genau hingesehen. Somit gehören jene Augen weiterhin nur einem unscheinbaren Jungen in einem Vorort einer kleinen Stadt mitten im Nirgendwo.
Bis heute. Oder besser gesagt bis morgen, denn dann ist Arthurs siebzehnter Geburtstag.
Schon seit Tagen spürt er die Aufregung tief in seinem Inneren. Dieses Kribbeln im Bauch, die Vorfreude angesichts der Feier und der Gäste. Die Aussicht auf ein neues Lebensjahr. Wieder ein bisschen älter, wieder etwas weiser und wieder einen Schritt näher am großen Ziel, irgendwann einmal der erwachsene Arthur zu sein.
Genau diese Vorfreude hat ihn am Abend lange nicht einschlafen lassen und ihn am Ende in eine unruhige Nacht getrieben. In einen Schlaf, beherrscht von Träumen, die Arthur dicke Schweißperlen auf die Stirn locken. Es scheint kein Entkommen zu geben. Kein Erwachen. Keine Flucht.
Es ist nicht so, dass Arthur noch nie schlecht geträumt hätte, aber diese unruhigen Nächte häuften sich im vergangenen Jahr. Sie wurden länger und intensiver.
Immer wieder erscheint dann jene unheimliche Gestalt. Sie ist stumm und trotzdem strahlt von ihr eine Bedrohung aus. Wo sie in einem Traum als Schatten auftaucht, ist sie in einem anderen als Nebel, als Licht oder als ein kurzes Flackern zu sehen. Wie ein Körper ohne Umrisse. Eine Gestalt ohne Gestalt. Es gibt keinen Anhaltspunkt, ob es sich um ein Tier, einen Menschen oder ein anderes Geschöpf handelt. Nur eins steht außer Frage … es erweckt eine Angst in Arthur, die so alt wie die Welt selbst ist.
Immer wieder hatte er versucht, sich dieses Wesen nach dem Erwachen ins Gedächtnis zu rufen. Oft sprang er aus dem Bett, hastete zu seinem Schreibtisch und versuchte, dieses Geschöpf auf Papier zu bannen. Erfolglos. Die Erinnerung war oft zu verschwommen, zu schwach und zu schnell verschwunden.
Anfangs hatte Arthur seinen Eltern noch von diesen Träumen erzählt. Auch von der Gestalt ohne Gestalt, aber beide waren nicht im Stande, ihm zu helfen.
Daniel und Clara Owls sind keine schlechten Eltern. Sie sind auch keine schlechten Menschen. Sie leben lediglich in einer anderen Welt. Sie sind Erwachsene. Und so gern sie ihrem Sohn auch helfen möchten, so wenig haben sie Verständnis für die Welt eines Sechzehnjährigen. Ein Albtraum ist ein Albtraum, egal wie oft eine seltsame Gestalt ihn beherrscht.
Darum hörte Arthur irgendwann auf, ihnen von diesen schlimmen Nächten zu erzählen. Und im Lauf der Zeit hat er sich daran gewöhnt. Das alles ist zu einem unangenehmen Teil seines Lebens geworden.
Somit bebt es nun wieder unter den geschlossenen Lidern. Sein Kopf wälzt sich über das Kopfkissen. Und auch jetzt gibt es wieder kein Entkommen.
Der Traum hält Arthur fest im Griff.
Durch die dichten Äste endlos vieler Bäume heult der Wind. Die unzähligen Blätter lassen ein bedrohliches Rauschen erklingen und tanzen rhythmisch dazu.
Arthur steht inmitten dieses Schauspiels. Der Traum ist so real, dass die Kälte ihm die Haare zu Berge stehen lässt. Sein Atem steigt nebelgleich aus seinem Mund empor und schwebt dem Nachthimmel entgegen.
Arthur zittert und schlingt seine Arme um den Körper. Als er an sich herunterschaut, bemerkt er, dass er keine Schuhe trägt.
Der Waldboden ist weich und seine Zehen graben sich in die Erde, als ob er selbst Wurzeln schlagen wolle. Doch er muss sich bewegen. Die Kälte zwingt ihn dazu. Langsam setzt er einen Fuß nach vorn und drückt den zitternden Körper gegen den erbarmungslosen Wind. Seine Haare fliegen wild umher und er hat Mühe, die Augen offen zu halten.
Zwischen den Bäumen hört er ein lautes Geräusch. Das Brechen eines Astes. Er bleibt stehen und lauscht. Doch so schnell, wie es kam, ist es wieder verschwunden und es folgt eine unwirkliche Stille im tosenden Wind.
Arthur geht weiter. Da die Nacht und der blasse Mond scheinbar völlig ohne Licht sind, weiß er gar nicht, wohin er sich bewegen soll.
Wieder bricht Holz. Diesmal leiser, doch deutlich hörbar. Das Knicken eines Zweiges. Erneut folgt Stille.
Mit jedem Schritt von Arthur steigt in ihm die Verzweiflung. Dieser Wald will einfach kein Ende nehmen und irgendetwas ist dort draußen. Es lauert in den Schatten, beobachtet jede einzelne Bewegung von Arthur und wartet auf den richtigen Zeitpunkt. Doch dieser scheint nicht zu kommen. Somit macht der junge Owls weiter einen Schritt nach dem anderen.
Gerade, als er sich der Situation ergeben will, steht er im Torbogen einer hohen Mauer und schaut auf ein altes, fast schon zerfallenes Haus. Wie Mahnmale ragen dessen schwarze, verbrannte Wände in den Himmel. Das zweistöckige Gebäude strahlt mit seinen kleinen Fenstern, dem dunklen, spitzen Dach und der großen Eingangstür aus massivem Holz eine süße Traurigkeit aus. Die Mauer des Torbogens umschließt das Grundstück ringförmig. Der Wall aus schweren Steinen, moosbewachsen und unüberwindbar, scheint das skurrile Bauwerk zu schützen. Aber vor was?
Im Hof steht ein alter, krumm gewachsener Baum mit blutroten Blättern. Er ist alt und knorrig. Seine Wurzeln drücken sich schon aus dem Erdreich hervor. Der Weg zur Eingangstür des Hauses ist gepflastert und zieht sich wie eine Schlange über die Weite des Hofes.
Arthur setzt einen Fuß darauf. Er hält inne. Hier, inmitten dieser alten Mauern, geht kein Lüftchen. Die Stille ist schon fast erdrückend und Arthur läuft es kalt den Rücken hinunter.
Was ist das?, denkt er und lauscht gebannt. Ein leises, kaum hörbares Flüstern dringt an sein Ohr. Er kann nicht feststellen, wie viele Stimmen er da hört, aber sie bilden einen lieblichen, doch bedrohlich lockenden Chor. Sie verlangen, dass er zum Haus kommt. Sie versprechen, ihm etwas zu zeigen.
Arthur gibt der Forderung nach und läuft behutsam dem dunklen Gebäude entgegen.
Als er am krummen Baum angekommen ist, bemerkt er etwas in dessen Rinde. Eingeritzt stehen dort die Buchstaben HN und IN. Vorsichtig streckt er die Hand danach aus und fährt mit seinen Fingern sanft über die breiten Furchen. Plötzlich fängt die Rinde an, leicht zu vibrieren.
Erst vermag Arthur es kaum zu spüren, doch eine Sekunde später dringt es vom Boden her in seine Füße und fährt an den Knochen hinauf bis hinein in den Kopf. Irgendetwas passiert hier.
Er hat den Gedanken längst nicht vollendet, da bricht ein Feuersturm durch jedes Fenster, jede Tür, jede Fuge des Gemäuers. Die Luft erhitzt sich im Bruchteil eines Momentes und raubt Arthur den Atem.
Er fährt herum und rennt, als ob die Hölle persönlich versucht, ihn zu holen. Doch egal wie schnell er läuft, der Weg scheint sich endlos auszudehnen und der Torbogen rückt in unerreichbare Ferne.
Als Arthur einen Blick über seine Schulter wirft, packt ihn das blanke Entsetzen.
Aus dem tobenden Feuersturm tritt sie hervor. Die Gestalt ohne Gestalt. Das Untier. Die nackte Angst ergreift den jungen Owls.
In diesem Moment beginnt der Boden erst zu beben und dann zu reißen.
Während Arthur versucht, sein Gleichgewicht zu halten, stürmt das Wesen auf ihn zu. Mit unbändiger Gewalt nähert es sich dem jungen Owls und streckt die langen Klauen nach ihm aus. Je näher sie kommt, desto klarer werden ihre Umrisse. Und kurz bevor sie ihn packen wird, scheint alles wie eingefroren. Kein Laut, keine Bewegung.
Aus der rötlich schimmernden Feuersbrunst wird ein flammender Wirbelsturm. Dieser wechselt seine Farbe von Rot zu Silber und beginnt damit, alles um ihn herum anzuziehen.
Die Blätter des krummen Baumes reißen als erstes von den Ästen. Gefolgt von den Steinen des Weges bis hin zu den dunklen Ziegeln des Hauses. Alles fällt der Anziehung zum Opfer und lässt den Sturm stetig anschwellen. In seiner Verzweiflung greift Arthur nach Steinen, Sträuchern oder Wurzeln, doch nichts davon kann ihn lange genug halten, um ihn vor seinem Schicksal zu bewahren.
Auch die Gestalt kämpft unerbittlich, doch erfolglos, gegen die Urgewalt an. Und als schließlich die ersten Außenmauern des alten Hauses bersten, reißt es das Wesen fort.
Ein unmenschlicher Schrei dringt durch das Tosen hindurch an Arthurs Ohr. Dieser versucht, sich mit aller Kraft zu halten. Der Sog ist so unbarmherzig, dass er ihm den Atem raubt. Als die letzten Grundmauern des Hauses aus dem Fundament gerissen werden und selbst das Licht zu schwinden scheint, verlassen Arthur seine Kräfte.
Ein Finger nach dem anderen löst sich und er wird vom Feuersturm verschlungen.
»Neeeeeeeeeiiiiiiiiinnnnn«, schreit Arthur, richtet sich hastig auf und starrt mit angsterfüllten Augen an die Wand. Sein Atem ist schwer und sein Herz rast wütend in seiner Brust.
Es ist hell. Die Sonne hat Arthurs Zimmer in ein warmes, freundliches Sommerlicht getaucht.
Die holzvertäfelten Wände schimmern sanft und geben dem Raum einen Hauch Nostalgie. Das Zimmer ist nicht groß, aber sehr gemütlich.
Arthur hat es sich nach seinen Vorstellungen eingerichtet. Und es spiegelt einen schlauen, interessierten und etwas quirligen Jungen wider.
Das Bett steht mitten im Raum und ist umrandet von Klamottenhaufen. Auf einem kleinen Nachttisch daneben liegt ein Buch über Astronomie. Alle anderen Bücher stehen in zwei großen Regalen gegenüber der Fußseite des Bettes. Sie sind allesamt abgegriffen und zerlesen. Man sieht ihnen an, dass sie heiß und innig geliebt werden.
Direkt neben der Zimmertür steht eine kleine Kommode. Auf ihr ruht ein alter Plattenspieler aus den 80ern. Arthur hatte ihn am Straßenrand gefunden, wo das Gerät auf seine Abholung zur Deponie wartete. Mit ein paar Handgriffen, einer neuen Nadel und einem ersetzten Riemen hatte er den Spieler wieder zum Laufen gebracht.
Er war sehr glücklich über diesen Fund, denn der alte Großvater Owls hatte seinem Enkel zum zehnten Geburtstag eine Kiste voll mit alten Schallplatten geschenkt.
»Arthur«, hat der alte Owls damals gesagt. »Es gibt Dinge, die sind für den Moment und welche, die sind für eine Weile. Doch am wichtigsten sind jene, die für die Ewigkeit sind. In dieser Kiste befinden sich viele solcher Dinge und ich hoffe, du wirst ihren Wert zu schätzen wissen«.
Natürlich begriff Arthur nicht gleich, was Großvater Owls damit sagen wollte, aber er nahm jede einzelne Platte sehr genau in Augenschein. Und heute sind sie ein so fester Bestandteil des Lebens, dass die Menschen in seinem engen Umfeld manchmal mit dem Kopf schütteln.
Sein bester Freund Napoleon Greif zieht ihn immer wieder damit auf, wie man sich in einer modernen Welt der digitalen Musik nur mit so einem Schrott beschäftigen kann. Doch Arthur lässt sich nicht beirren.
Gleiches gilt für sein Teleskop, welches am kleinen, weißgerahmten Fenster steht. Jeden Abend nimmt er sich die Zeit, sich etwas in den Sternen zu verlieren. Oder in den Häusern der Nachbarn. Je nach Laune. Das ist manchmal besser als Fernsehen.
»Arthur! Arthur, bis du wach? Das Frühstück ist fertig!«, ruft seine Mutter von unten aus der Küche zu ihm herauf.
»Ich komme, Mama«, antwortet er mit trockener Kehle.
Noch immer sitzt Arthur wie gelähmt in seinem Bett. Dieser Traum fühlt sich auch jetzt noch sehr echt an. Realer, als alles Geträumte vorher. Doch diesmal ist es anders. Er hat sie gesehen. Klar und deutlich war die Gestalt in dieser Nacht zu erkennen. Er muss nicht einmal aufstehen, zum Schreibtisch rennen und sie aufmalen. Er kann sie noch immer sehen.
Und vergessen wird er diesen Anblick nicht so schnell. Den des schwarzen Wolfs.
Als Arthur Owls die Küche betritt, steht seine Mutter Clara neben der Kaffeemaschine und drückt den Knopf, um sie einzuschalten. Gluckernd und schnaufend erwacht das Gerät zum Leben und beginnt damit, das Wasser zu erhitzen.
Clara greift mit ihren zarten, gepflegten Händen nach einer Tasse im Schrank und wirft ihrem Sohn einen liebevollen Blick zu. Ihre Augen sind strahlend grün und schauen unter einem fransigen Pony hervor. Ihr Haar ist schulterlang, leicht gewellt und glänzend braun. In dem grauen Zweiteiler, den sie fürs Büro trägt, sieht sie noch schlanker aus, als sie eh schon ist.
Sie gibt ihrem Sohn eine Frühstücksschale in die Hand und drückt ihm einen dicken Kuss auf die Stirn. Die Beziehung der beiden ist wie aus dem Bilderbuch und ihre Kommunikation benötigt manchmal keine Worte.
Clara weiß, dass ihr Sohn in der Früh ungenießbar sein kann und hat es sich abgewöhnt, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln. Vor dem Frühstück und einer längeren Anlaufzeit ist aus Arthur nicht mehr herauszubekommen als ein mhmm.
»Guten Morgen, mein Sohn.«
Daniel Owls sitzt, mit der Zeitung in der einen und einer Tasse Tee in der anderen Hand, am großen Esstisch. Er ist ein schlanker, drahtiger Mann mit dunkelblondem, kurzem Haar, markanten, aber freundlichen Gesichtszügen und der typischen Gelassenheit eines Mannes, der im Leben etwas erreicht hat. Durch dünn umrahmte Brillengläser schaut er mit seinen braunen Augen über die Zeitung hinweg dabei zu, wie sein Sohn sich lustlos Müsli in eine Schale schüttet, Milch darüber gießt, um dann mit dem Löffel darin zu stochern.
»Ist alles in Ordnung, Arthur?«
»Ja klar, warum?«
»Um ganz ehrlich zu sein, du siehst aus, als ob der Teufel persönlich hinter dir her gewesen wäre.«
Arthur starrt für einen Moment ernst in seine Schüssel. Wieder kommen ihm die Bilder der letzten Nacht in den Sinn. Er nimmt etwas Müsli mit dem Löffel auf.
»Ich habe nur unruhig geschlafen.«
Daniel und Clara tauschen einen flüchtigen Blick aus.
Arthur bekommt davon allerdings nichts mit und ist weiterhin mit seinem Müsli beschäftigt.
Sein Vater weiß, dass er etwas verheimlicht, aber er lässt ihn in Ruhe und widmet sich wieder seiner Zeitung. Ihm ist klar, dass sein Sohn, was die Sturheit angeht, ein echter Owls ist. Darum soll er sich ruhig erst einmal sammeln. Er wird später einen neuen Versuch starten, um zu hören, was Arthur bedrückt.
Dieser wirft derweil einen kurzen Blick aus dem Küchenfenster und wundert sich. Er hat etwas dort draußen gesehen. Einen Schatten, klein und schnell, kaum zu bemerken.
Der junge Owls springt so heftig vom Stuhl auf, dass seinem Vater fast die Tasse in den Schoß fällt.
»Herrgott, Arthur, was soll das denn?«
»Hast du das gesehen, Papa?«
»Gesehen? Was? Ich war leider damit beschäftigt, meine Hose zu retten und mich nicht zu verbrühen. Was hast du denn gesehen?«
Doch der Schatten ist wie vom Erdboden verschluckt. So sehr Arthur sich auch anstrengt, es gibt nichts zu sehen. Abgesehen von der Straße und den anderen alltäglichen Dingen.
Ein paar Autos fahren vorbei, die ersten Kinder sind auf dem Weg zur Schule und Herr Brand von gegenüber holt seine Zeitung rein. Im blauen Bademantel. Halb offen. Wie immer.
Daniel wirft Clara erneut einen besorgten Blick zu. Sie geht zu ihrem Sohn und tätschelt ihm die Stirn.
»Schatz, bist du sicher, dass es dir gut geht? Fühlst du dich nicht?«
»Nein, Mama, es ist alles in Ordnung. Ich habe mich geirrt. Dort draußen war nichts. Ich mache mich jetzt los.«
Arthur schultert den Rucksack, nimmt die Jacke und lässt seine Eltern irritiert in der Küche zurück.
Draußen, in der Auffahrt des Hauses, nimmt er sich sein rotes Fahrrad und läuft langsam zur Straße hin, um auf seinen besten Freund zu warten. Doch irgendwie überkommt ihn ein seltsamer Schauer. So ein Gefühl, beobachtet zu werden. Als er sich umdreht, ist wieder nichts zu sehen. Ohne Zweifel, das Unbehagen bleibt.
Napoleon Greif fährt mit seinem Fahrrad die Straße entlang zum Haus der Familie Owls.
Arthur und er sind tatsächlich schon immer befreundet. Die beiden sind zusammen aufgewachsen. Sie haben miteinander geredet, gespielt, Blödsinn angestellt, geweint und gelacht und sind in all der Zeit zu einer festen Einheit zusammengewachsen.
Hierbei handelt es sich nicht um eine dieser flüchtigen Freundschaften, welche schon durch ein falsches Wort zu zerbrechen drohen, sondern um eine dieser besonderen Verbindungen. Ein durch Dick und Dünn wie man es oft nur aus Filmen kennt. Und darüber ist Napoleon Greif sehr froh.
Er ist nicht gerade der Typ, der schnell Freundschaften schließt. Mit seinem zerzausten Haar, dem senfgelbem Pullover, der beigen Cordhose und der geflickten Brille wirkt er manchmal wie ein schrulliger alter Kauz. Die Ticks und die Tatsache, dass Napoleons Eltern bei der Wahl seines Namens auch noch besonders viel Kreativität bewiesen haben, runden das Bild des ewig seltsamen Vorstadtjungen ab. Dass seine Mutter ihm die Haare schneidet, sei dabei nur am Rande bemerkt.
Aber hinter der Fassade steckt mehr, als die anderen, außer Arthur natürlich, ahnen. Napoleon ist intelligent. Nicht nur im Sinn von schlau, sondern eher im Sinn von begabt. Fast schon hochbegabt. Sein Gehirn saugt Wissen auf wie ein Schwamm und speichert es ab, ohne es wieder zu verlieren.
Für ihn und die Familie ist diese Begabung oft Fluch und Segen zugleich, doch seine Eltern sind sich sicher, dass ihr Sohn für etwas Besonderes bestimmt ist. Allerdings teilen nur wenige Mitmenschen diesen grenzenlosen Optimismus, allen voran Napoleon selbst. Er hält sich lieber bedeckt und blendet die Welt manchmal aus. Dann schließt er sich in seinem Zimmer ein, hört Heavy Metal und experimentiert. Das beruhigt ihn und färbt die unzähligen Reize dieser Welt einen Moment lang grau. Das sind seine besten Zeiten.
Als er dem Haus der Familie Owls näherkommt, ist er sich diesmal nicht sicher, ob tatsächlich er der Spinner ist, oder doch sein Freund Arthur.
Dieser steht nämlich wie eine Statue in der Auffahrt und starrt in die Hecke. Er bemerkt Napoleon nicht einmal, als der von seinem Fahrrad springt, sich Arthur nähert und ihm die Hand auf die Schulter legt.
»Das ist wirklich eine prachtvolle Hecke. Saftig grün und gestutzt wie für einen König.«
Arthur fällt aus seinen Gedanken und dreht sich zu Napoleon.
»Äh … entschuldige, was sagst du?«
»Die Hecke. Du starrst sie an, als ob du sie um ein Date bitten möchtest. Wenn du mich fragst, ich denke nicht, dass das mit euch lange halten würde, aber ich will dir da nicht reinreden. Liebe wem Liebe gebührt.«
»Ich dachte nur...«
»Du dachtest was?«
»Ach nichts, lass uns fahren, wir sind spät dran.«
»Ein Abschiedskuss?«
»Halt die Klappe, Napoleon.«
Die Jungs steigen auf ihre Räder und fahren los.
Aus der Hecke heraus werden sie dabei beobachtet, wie sie um die nächste Kurve biegen und verschwinden.
Chemie war für Arthur schon immer ein Buch mit sieben Siegeln. Und auch jetzt weiß er gar nicht mehr, wann genau er in der jetzigen Unterrichtsstunde den Faden verloren hat.
Napoleon hingegen langweilt sich und kritzelt in seinem Arbeitsheft herum.
Die Stimme der Chemielehrerin Frau Marschman breitet sich monoton und einschläfernd im Klassenzimmer aus und scheitert kläglich beim Versuch, den Schülern die nötige Motivation zu vermitteln.
Während Napoleon seinen Körper auf nur zwei Stuhlbeinen balanciert, schaut Arthur abwesend aus dem Fenster. Der Tag, welcher so sonnig begann, wird nun düster. Der Himmel zieht sich wieder mit grauen Wolken zu und erste zarte Wassertropfen prallen gegen das Fenster. Mit jeder Sekunde scheinen es mehr zu werden, bis ein Platzregen einsetzt, wie ihn die Menschen hier im Nirgendwo schon lang nicht mehr gesehen haben.
Und inmitten dieser Tropfen, unten im Hof, erscheinen sie plötzlich. Augen.
Nur einen Wimpernschlag, einen Moment lang, doch Arthur kann sie deutlich sehen. Sie funkeln unmenschlich in das Innere des Klassenzimmers. Stechend und suchend. Der junge Owls sieht direkt in sie hinein.
Schlagartig ertönt ein lautes Geräusch. Napoleon hat sein Gleichgewicht verloren, ist mit dem Stuhl nach hinten gekippt, hat dabei alle Arbeitsmaterialien mitgerissen und ist mit einem großen Knall zu Boden gefallen.
Das schallende Gelächter seiner Mitschüler lässt nicht lange auf sich warten.
Arthur, nur kurz von diesem Schauspiel abgelenkt, schaut wieder zurück zum Hof. Die Augen sind weg.
Hat er sich das alles eingebildet? Er fängt langsam an, an seinem Verstand zu zweifeln.
Arthur und Napoleon schieben ihre Räder, die Schulrucksäcke auf dem Rücken, die große Hauptstraße entlang. Der Schultag war für Arthur eine endlose Aneinanderreihung von seltsamen Geschehnissen. Und alles wurde immer wieder von dem Gefühl überschattet, beobachtet zu werden.
Auch jetzt scheint ihm etwas im Nacken zu sitzen. Immer wieder wirft er Blicke über seine Schulter. Doch jedes Mal kommt er zum selben Ergebnis. Nichts. Da ist einfach nichts zu sehen.
Während Napoleon selbstsicher über die Vorzüge von Nachthemden für Herren philosophiert, läuft Arthur, den Blick erneut nach hinten gerichtet, krachend gegen ein Verkehrsschild.
»Verdammt! Was ist nur los heute!?«, flucht er und reibt sich die wachsende Beule. Sein kauziger Freund schaut ihn fragend an.
»Sag mal, kann es sein, dass du heute etwas neben der Spur bist? Das geht schon den ganzen Tag so. Du hörst nicht zu, du redest kaum, du rennst gegen Schilder. Du verheimlichst doch etwas. Was ist los?«
»Ich weiß es selbst nicht. Kennst du dieses Gefühl, wenn du ahnst, dass irgendetwas Schlimmes passieren wird?«
»Klar, das habe ich vor jeder Sportstunde«, scherzt Napoleon und lacht über seinen eigenen Witz.
»Nein, mal ganz im Ernst. Ich glaube, dass heute noch etwas passieren wird.«
»Da könntest du recht behalten, sieh‘ mal da!«
Arthur dreht sich um.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht ein Mädchen. Sie ist für ihr Alter seltsam gekleidet. Als ob sie einem anderen Jahrhundert entsprungen ist. Selbst ihre schwarzen langen Haare sind altmodisch geflochten und ihre Brille hat einen dicken, dunklen Rahmen.
Es ist Missy Mandragon. Sie besucht mit Arthur und Napoleon eine Klasse, aber keiner der Jungs hat sich jemals mit ihr unterhalten. Sie ist eine Außenseiterin, die lieber für sich alleine bleibt. Dennoch bewundert Arthur sie irgendwie. Immerhin ist sie die Einzige an der Schule, die schon einen Nasenring tragen darf. Mehr weiß er allerdings nicht über sie. Sie verliert sich jede Pause in alten, staubigen Büchern und spricht selten mit anderen Schülern. Sie kommt spät und geht früh, um niemandem begegnen zu müssen.
Doch nun ist Missy leider jemandem begegnet. Und zwar Clyde Baker und seinen zwei Hohlbirnen von Begleitern.
Clyde, der dümmliche Benny und der lange Chuck sind die drei übelsten Gestalten an Arthurs Schule. Eigentlich suchen sie nur dann keinen Ärger, wenn sie schlafen. Den Rest der Zeit verbringen sie damit, andere zu schikaniere. Und diesmal ist Missy leider an sie geraten.
Die drei Raufbolde haben ihr die Bücher aus der Hand geschlagen und ziehen immer wieder an ihren Zöpfen.
Arthur war zwar nie das, was man einen Helden nennt, aber die Moral war schon immer sein innerer Kompass. Und Ungerechtigkeit findet er höchst verwerflich. Was auch der Grund ist, warum er sein Fahrrad ablegt und, über die Straße hinweg, direkt auf Missy und die drei Schläger zuläuft.
Nur Napoleon ist mit dieser Reaktion nicht ganz zufrieden.
»Arthur, was hast du vor?«
»Ich helfe Izzy, was sonst?«
»Also erstens, sie heißt Missy, und zweitens, werden dich die drei Idioten in den Boden rammen.«
»Das kann sein, aber ich habe etwas, was die drei Trottel nicht haben. Ich habe die Überraschung auf meiner Seite.«
»Ich glaube, du solltest mal mehr auf Glück setzen, als auf Überraschungsmomente.«
Arthur steigt die kleine Bordsteinkante hinauf und kommt direkt neben Clyde und seinen Schlägern zum Stehen.
Missy steht ihm mit Tränen in den Augen gegenüber und schaut ihn an.
»Hey! Lasst sie los!«
Die drei Raufbolde werfen sich fragende Blicke zu und brechen in überhebliches Gelächter aus. Clyde stellt sich grinsend vor Arthur und stößt ihn mit dem Zeigefinger unsanft gegen den Brustkorb.
»Und was genau willst du dagegen tun, Owls?«
Arthur ballt seine rechte Faust, holt weit aus, nimmt Clydes dümmliches Gesicht ins Visier, lässt sie nach vorn rasen und trifft … ins Leere.
Der kampferprobte, flinke Clyde weicht der Faust ohne Mühe aus und stößt dem jungen Owls den Ellenbogen in die Magengrube.
Arthur geht nach Luft ringend zu Boden. Ihm wird schwarz vor Augen und für einen Moment tritt er völlig weg.
Als er wieder zu sich kommt, kann er Napoleons verschwommenes Gesicht über sich erkennen. Der Bauch schmerzt noch, aber nicht mehr so schlimm, wie beim Einschlag von Clydes Ellenbogen.
»Napoleon? Lebe ich noch?«
»Du bist dem Tod knapp entkommen.«
»Clyde und seine Hohlbirnen?«
»Sie sind weg. Sie meinten, dass sie Gegner suchen, keine Opfer.«
»Das ist ja mal was ganz Neues. Und Izzy?«
»Missy. Die sagte noch leise, dass es ihr leidtut, hat ihre Bücher eingesammelt und ist dann auch abgehauen.«
Napoleon reicht seinem besten Freund die Hand und hilft ihm wieder auf die Beine. Beide schleichen angeschlagen zu ihren Rädern zurück.
»Frauen, was?«, grinst Arthur und greift nach seinem Rucksack.
Napoleon nickt zustimmend.
»Frauen.«
Kapitel 02: das Männlein und der Fall
Nach dem Abendessen sitzt Arthur an seinem Schreibtisch und liest in einem alten Astronomie-Buch. Nur eine kleine Lampe auf dem Tisch spendet Licht.
Auch wenn Arthur noch immer der Bauch schmerzt, denkt er nicht daran, jetzt ins Bett zu gehen. Er ist tief in dem Buch versunken. Neben den Schallplatten war auch dies ein Geschenk seines Großvaters.
Opa Owls hat schon immer ein gutes Händchen bewiesen, wenn es darum ging, seinem Enkel eine Freude zu machen. Die Verbindung zwischen den beiden ist etwas Besonderes.
Seit Arthur ein kleiner Junge war, ist er regelmäßig zu seinem Großvater gefahren. Er verbrachte die Schulferien immer in der idyllischen Hütte von Opa Owls, ließ sich Geschichten von früher erzählen, Stockbrot am Feuer rösten und die Sterne erklären. Seine Großmutter war noch vor Arthurs Geburt verstorben. Er kannte sie nur von den alten Bildern und Geschichten. Und auch wenn er sie niemals kennengelernt hat, vermisst er sie trotzdem irgendwie.
Arthur hebt den Blick und schaut über sein Buch hinweg auf das Bild seiner Großeltern, welches direkt unter der Lampe auf dem Tisch steht. Es wurde vor vielen Jahren in den Bergen aufgenommen und lässt jeden Betrachter tiefes und inniges Glück erahnen.
Während Arthur sich im Lächeln der Großeltern verliert, verspürt er eine leichte, kühle Brise im Nacken. Seine Haare stellen sich auf. Er dreht sich um und starrt in sein Zimmer.
Aus dem Nichts heraus erscheinen sie erneut. Die Augen.
Plötzlich schweben sie im Raum und starren ihn an.
Vor Schreck stößt sich Arthur mit seinem Stuhl nach hinten und schlägt so heftig gegen den Tisch, dass sowohl das Bild, als auch das Buch zu Boden fallen. Wie zu Stein erstarrt sitzt er auf seinem Stuhl und steht völlig neben sich.
In diesem Moment beginnt etwas, sich um die Augen herum zu regen. Aus der Luft heraus bildet sich, wie durch Nebel und Licht brechend, ein Umriss. Immer dichter wird die Erscheinung bis schlussendlich ein kleines Wesen im Raum steht.
Es ist nicht größer als ein Kleinkind, hat eine lange, gekrümmte Nase, ein breites Grinsen im Gesicht, spitz zulaufende Ohren und große, durchdringende Augen. Seine Arme sind verhältnismäßig lang und reichen bis zu den knochigen Knien. Die Füße sind groß und haarig und scheinen nicht zum Rest zu passen. Auf dem Kopf sitzt eine dunkelrote Kappe und die Kleidung des Wesens erinnert an Lumpen.
Arthur möchte schreien, aber er bringt keinen Ton hervor. Sein Hals fühlt sich an, als ob er mit Sand gefüllt ist.
Das kleine Wesen tritt einen Schritt nach vorn, schaut sich vorsichtig um und hebt beschwichtigend die Hände.
»Bitte, Herr … bitte nicht schreien!«
Es spricht, denkt Arthur, das Ding spricht!
Und wieder geht das Wesen einen Schritt auf ihn zu.
»Bin nicht hier, um Euch ein Leid zu tun, Herr Owls.«
»Wer bist du? WAS bist du!?«, fragt Arthur mit zittriger Stimme. Seine Muskeln spannen so sehr, dass die Sehnen fast zu reißen scheinen. Der junge Owls bleibt in Bereitschaft. Beim kleinsten Anflug von Gefahr wird er aus dem Zimmer stürmen. Er spürt, wie sich sein Brustkorb hektisch hebt und senkt. Sein Herz rast. Er kann das Wesen nicht einschätzen. Es scheint harmlos zu sein, aber diese rothaarige Mörderpuppe aus dem Film war auch recht niedlich.
Die zwergenhafte Gestalt verbeugt sich tief.
»Name ist Ghuil, bin ein Morphognom, Herr.«
»Ein Morphognom? Was ist das denn? Und was willst du in meinem Zimmer? Und warum nennst du mich Herr?«
»Viele Fragen, mein Herr. Sehr viele Fragen. Arthur Owls muss sich beruhigen.«
»Oh man, woher kennst du meinen Namen!? Ich muss dich warnen, ich habe mich heute schon geprügelt. Wenn ich einmal in Fahrt bin, kann es gefährlich werden!«
»Will Meister Owls alles erklären«, antwortet Ghuil ruhig. »Alles, was er wissen muss.«
Ghuil gräbt mit den Händen tief in einer Tasche seiner Lumpenkleidung, holt einen kleinen, würfelähnlichen Gegenstand hervor und hält ihn Arthur entgegen.
Dieser schaut mit einer Mischung aus Angst und Neugier auf das kleine Objekt. Der Morphognom spürt die Verunsicherung und tritt freundlich lächelnd erneut einen Schritt näher heran.
»Nimm es, Herr. Keine Gefahr.«
»Was ist das, G-Ghuil?«
»Ist ein Memorian, Herr. Ein ganz Besonderes. Eines der Wichtigsten.«
»Ein Memorian? Von so etwas habe ich noch nie gehört. Was macht es denn?«
»Es zeigt, was gesehen wurde. Erinnerungen. Viele Jahre, manchmal Jahrhunderte, gar Jahrtausende alt. Je mehr gesehen wurde, desto mehr weiß es. Dies hier kennt die letzte Geschichte. Die wichtige Geschichte.«
Arthur schaut auf den kleinen, goldenen Gegenstand.
Es ist sowas wie ein Speicher?
Plötzlich reißt ihn die Stimme seiner Mutter aus den Gedanken. Vom unteren Absatz der Treppe dringt sie deutlich in sein Zimmer herauf.
»Liebling? Ist alle in Ordnung bei dir?«
Arthur Owls schaut Ghuil tief in die Augen. In ihnen kann er einen Anflug von Verzweiflung entdecken. Der Rest hinter diesem Anblick scheint ungefährlich zu sein. Von ihnen geht zwar Entschlossenheit und Weisheit aus, aber auch Sanftmut. Dieses Wesen, wo immer es hergekommen zu sein scheint, wirkt nicht bedrohlich. Jedenfalls nicht für ihn. Sicherlich stellt es alles, an was er jemals geglaubt hat, in Frage und hat sein Verständnis von Logik völlig pulverisiert, aber wirklich Angst verspürt er nicht.
»Alles gut, Mama. Ich lege mich gleich schlafen. Ich habe etwas Kopfweh.«
»Brauchst du etwas, mein Schatz?«
»N-nein, nein … alles gut!«
Clara Owls entfernt sich von der Treppe und in Arthurs Zimmer fällt die Spannung von ihm und dem Morphognom ab.
»Ghuil?«
»Ja, Herr?«
»Wie funktioniert dieses Memorian?«
»Herr muss es nur nehmen und geschehen lassen.«
»Tut es weh?«
»Nein, Herr. Keine Schmerzen. Ehrenwort.«
»Zeig mir, wie es geht.«
Das kleine Wesen nimmt Arthurs Hand, öffnet sie und legt das Memorian sanft in die Innenfläche. Mit seinen langen Fingern verschließt er die Hand wieder und tritt einen Schritt zurück. Er neigt seinen Kopf und flüstert leise in einer unverständlichen Sprache.
Ein zaghaftes Schimmern dringt zwischen Arthurs Fingern hindurch. Wie die kräftigen Strahlen einer frühen Sonne erhellen Lichtblitze das Dachbodenzimmer. Die Helligkeit zwingt Arthur und Ghuil, die Augen schützend zu bedecken.
Im nächsten Moment scheint ein Stern zu explodieren. Inmitten des gleißenden Lichts, taucht Arthur Owls in eine unbekannte Finsternis ein.
Der Weg ist steinig und beschwerlich. Schon seit einiger Zeit brennen die Waden wie Feuer. Die Füße werden langsam so schwer wie Stein und ein Schneesturm peitscht über das Gesicht.
Voran läuft ein Mann. Man sieht im Gestöber nicht viel von ihm, doch er scheint groß zu sein mit langem, schwarzem Haar. Auf dem breiten Kreuz trägt er einen eisernen Schild. Darauf kann man ein Emblem erahnen. Ein silberner Kreis, welcher scheinbar versucht, sich in einen schwarzen Ring zu drängen. Oder sich über ihn zu legen. An der Innenkante des silbernen Kreises entlang wurde eine Inschrift eingraviert.
Der Mann dreht sich um und schaut zurück. Er ruft etwas. Aber der Sturm verschluckt jedes Wort. Er wartet, um die Distanz zueinander zu verringern. Aus der Nähe betrachtet, sieht man, dass er noch jung an Jahren ist. Sicherlich schon ein Mann, aber noch ohne Erfahrung. Ein kurzer, stoppeliger Bart lässt ihn älter erscheinen, doch seine fast schwarzen Augen und die ebene Haut verraten, dass er noch nicht viele Winter erlebt hat. Wieder ruft er etwas. Diesmal ist es deutlich zu hören.
»B’harduin! Komm, wir müssen weiter!«
B’harduin? Ich bin nicht B’harduin. Ich bin Arthur! Arthur Owls.
Arthur öffnet den Mund und will antworten, doch er kann nicht. Es ist nicht sein Mund. Es ist auch nicht seine Stimme und es ist auch nicht sein Körper. Er ist ein Geduldeter. Ein Gast in einem Fremden, in einer anderen Welt, zu einer ungewissen Zeit. Er ist nur ein Zuschauer. Niemand merkt, dass er da ist und ihm fehlt jede Möglichkeit, das Geschehen zu ändern oder zu lenken.
Durch die fremden Augen schaut er hinauf zu den Bergen. Sie ragen hoch in den Himmel empor und die Spitzen sind in einem undurchdringlichen Nebel verschwunden. Auf der rauen, schneebedeckten Oberfläche jener steinernen Titanen scheint es kein Leben zu geben. Der unerbittliche Frost hält in diesem Winkel der Welt alles fest in seinem Bann.
Der junge Mann schaut ebenfalls hinauf und ruft: »Warum nennt man sie die klagenden Berge?«
Arthur kennt die Antwort nicht, aber der Mann, in dem er steckt, entgegnet: »Hör gut hin, junger Freund. Kannst du nicht ihr trauriges Lied vernehmen? Was würdest du tun, wenn du lebendig bist, aber tausende von Lebzeiten an einen Ort gebunden?«
»Ich würde klagen, B’harduin«, erwidert er lächelnd. »Doch sage mir, was meinst du mit lebendig? Willst du sagen, dass das Gebirge lebt?«
»Es sieht, es hört, es erinnert sich und wenn es sein muss, wehrt es sich. Wenn es uns für eine Gefahr hält, würde es uns mit Stein, Holz und Tier überrennen. Wir beschreiten hier vergessene Pfade. Die klagenden Berge können dich für immer verschwinden lassen, wenn sie dies wollen. Die Spur ganzer Völker hat sich hier schon verloren. Als ob es sie niemals gegeben hat. Doch wenn wir ganz still sind und uns unauffällig verhalten, können wir es schaffen. Wir müssen es schaffen. Unser aller Schicksal hängt davon ab.«
»Das, alter Freund, nur das ist der Grund, warum ich dich auf solch gottlosem Weg begleite. Diese Berge sind gefährlich.«
»Schau, Trimond, das Gebirge hat alles Leben gesehen und gehört und war doch niemals Teil davon. Es wundert mich nicht, dass sie hier lebt. Es sieht ihr ähnlich.«
Arthur versteht nichts von dem, was der Mann da erklärt. Er kann nur weiter beobachten und zuhören. Doch er weiß nun wenigstens die Namen der beiden Männer.
Der junge, wild aussehende Mann, ist Trimond.
Und er selbst, also der Körper, muss B’harduin sein. Er scheint alt zu sein. Sehr alt. Und trotzdem geht eine mächtige Kraft von ihm aus. Arthur kann es deutlich spüren.
Beide Männer setzen sich wieder, dem Schnee trotzend, in Bewegung. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Wanderns und des Aufstiegs, vorbei an den Überresten derer, die versuchten, die Berge zu bezwingen, erreichen die Gefährten ihr Ziel.
Vor ihnen ragt ein schweres Tor in die Höhe. Es ist gut zwölf Mann hoch und wurde direkt aus der Felswand gehauen.
Trimond, B’harduin und somit auch Arthur stehen regungslos und stumm vor diesem massiven Meisterwerk der Baukunst. Bis Trimond die Stille schließlich durchbricht.
»Das ist unglaublich. Ich habe so etwas noch niemals zuvor gesehen. Es scheint seit Jahrhunderten nicht bewegt worden zu sein. Man muss es wohl gebaut haben, um die großen Heere abzuwehren.«
»Ich wünschte, es wäre so. Doch es wurde nicht gebaut, um das Innere des Berges vor der Welt hier draußen zu schützen. Es wurde gebaut, um die Welt hier draußen vor dem Inneren des Berges zu bewahren.«
In diesem Moment dringt ein markerschütterndes Brüllen durch die Felsen und hallt bis in die Ebenen des Tals hinab.
Der alte Mann kneift leicht die Augen zusammen.
»Sie ist wach.«
Arthur lässt das Memorian aus der Hand gleiten. Es fällt zu Boden und von einem Augenblick zum anderen erlischt das helle Licht.
Ghuil stürzt hastig auf die Knie und hebt das kleine Objekt behutsam wieder auf.
»Bitte, Herr … müsst vorsichtig sein. Ist das Einzige. Ohne es wird Randwelt sterben!«
Arthur neigt fragend den Kopf.
»Randwelt? Kommst du dort her?«
»Ja, das ist meine Welt. Und es ist auch Eure Welt. Jedenfalls war sie es. Bis das Dunkel kam. Doch nun werdet Ihr zurückkehren und Ghuil und den anderen helfen. Ihr seid der Herr!«
»Ghuil, ich weiß nicht, wovon du redest. Was soll das alles?«
»Wenn der Herr das Memorian nimmt, wird er verstehen. Schnell! Die Zeit drängt. Das Memorian gibt dem Herrn nur heute die Möglichkeit alles zu sehen. Eilt Euch!«
Ghuil hält Arthur das kleine, goldene Objekt entgegen und schaut ihm dabei flehend in die Augen.
Der junge Owls greift es zögerlich und schließt es erneut in seine Hand ein. Wieder dringt das Licht hervor und hüllt alles ein.
»Trimond, warte! Diese Gänge sind tückisch. Manche führen ins Nichts, andere tief unter die Erde und einige gar ins Verderben. Einer! Nur ein Einziger führt uns zu ihr. Ich kann sie spüren. Sie hat sich tief in die Schatten zurückgezogen. Ich habe immer gehofft, diesen Ort niemals betreten zu müssen. Doch, in Anbetracht der Ereignisse, blieb mir keine Wahl.«
Arthur spürt deutlich den Widerwillen B’harduins, unter den Berg zu gehen. Der alte Mann entfacht ein Feuer in seiner Hand und erleuchtet den Weg. Wie kalter Atem zieht ein leichter Wind durch die Gänge.
Angesichts der unzähligen, möglichen Wege, schaut Trimond den Alten verunsichert an. Jeder Pfad gleicht dem nächsten und es scheint aussichtslos, den richtigen auch nur zu erahnen. Der junge Mann wendet sich B’harduin zu.
»Alter Freund, wer ist sie? Ich trat mit dir diese Reise als Begleiter an, um zu helfen. Aber jetzt, da wir hier sind, muss ich gestehen, dass mich langsam der Mut verlässt. Ich würde mich über mehr Informationen freuen.«
Der Alte schaut seinen Gefährten zermürbt an. Er weiß, dass er ihm gegenüber ehrlich sein muss. Auch wenn es ihn zerreißt, Trimond in solche Gefahr bringen zu müssen.
»Sie hat keinen Namen. Und wenn sie jemals einen hatte, ist er seit Jahrtausenden vergessen. Sie ist die Letzte des ersten Volkes von Randwelt. Die No:khau waren lange vor uns die Herrscher unserer Welt. Tief in den schwarzen Wäldern lag ihr Königreich.«
»Ja, ich kenne die alten Legenden über die No:khau. Die Wilden aus den schwarzen Wäldern. Roh und unbändig, gnadenlos und eher den Tieren gleich, als den Menschen.«
»Oh Trimond, das sind alte Geschichten. Zusammengekehrte Erzählungen ohne jegliches Wissen dahinter. Die No:khau mögen wild gewesen sein, aber sie waren zivilisierter und fortschrittlicher, als man uns glauben lassen möchte. Und sie alle wurden mit dem dritten Auge geboren.«
»Du meinst, sie waren in der Lage, die Zukunft zu sehen?«
Trimond folgt B’harduin in einen schmalen Gang. Das Gesicht des alten Mannes sieht im unruhigen Licht der Flamme noch ledriger und zerfurchter aus.
Und Arthur spürt mit jedem Schritt die aufsteigende Unruhe. Doch gefangen im Körper und im Geist B’harduins, steigt er mit ihm hinab in die Tiefen unter dem Berg.
Trimond wartet weiterhin auf eine Antwort.
»Richtig. Sie sahen die Zukunft.«
»Doch warum sind sie alle fort, wenn sie doch so weitsichtig waren?«
»Ganz einfach, mein junger Freund. Die No:khau konnten zwar die bevorstehende Veränderung der Welt sehen, doch nicht ihre eigene. Und somit auch nicht ihren zukünftigen Platz in eben dieser Welt. Und als die Wälder anfingen, zu dem zu werden, was sie heute bedauerlicherweise sind, traf ihr Herrscher eine folgenschwere Entscheidung.«
»Sie gingen fort?«
B’harduin hält an einer Abzweigung inne und orientiert sich neu. Einen Moment später laufen er und sein Gefährte weiter.
»Ganz genau. Sie gingen fort. In blinder Arroganz und mit falscher Hoffnung, führte ihr König sie in die klagenden Berge.«
»Wo sie alle verschwanden.«
»Nicht alle. Einer ihres Volkes gelang es, zu überleben. Doch dies war nur die Legende. Ich musste mir sicher sein. Ich begab mich in die Bibliothek von Eichenheim. Und dort, unter unzähligen Schriften und nach vielen schlaflosen Nächten, fand ich einen Hinweis. Nur ein einziges Buch, kaum wahrnehmbar, erwähnte sie am Rand einer Geschichte. Auf meinen Reisen durch Randwelt fand ich später Aufzeichnungen darüber, dass sie sich angeblich in den Berg retten konnte und dieser versiegelt wurde. Aus Angst.«
Wieder bleiben die beiden Gefährten stehen. Es ist, als ob die Dunkelheit immer dichter wird. So dicht, dass sie das Licht der Flamme in B’harduins Hand zu verschlucken droht. Der kalte Atem ist deutlicher zu spüren, doch die beiden müssen weiter.
Arthur erkennt, dass der Alte es eilig hat. Auch Trimond scheint dies zu bemerken und begibt sich, fast schon widerwillig, erneut auf den Weg.
»Und darum sind wir hier? Wir suchen die letzte Überlebende eines toten Volkes? Um was zu tun? Uns zu ihnen zu gesellen?«
»Sei nicht närrisch, Trimond! Glaubst du denn, ich wüsste nicht um die Gefahr? Doch sie ist unsere einzige Hoffnung.«
»B’harduin! Wozu brauchen wir Hoffnung? Randwelt lebt in Frieden! Nachtfall und seine Söhne sind tot und den letzten Krieg haben wir vor vier Jahrhunderten erlebt. Was willst du hier? Was wollen wir hier?«
»Leise! Du wirst es nicht verstehen, Trimond. Du darfst es nicht verstehen. Noch nicht. Wir müssen zu ihr, weil sie etwas weiß. Es heißt, sie hat den Mond in jener Nacht gesehen.«
Trimonds Gesicht wird blass. Er bleibt stehen und schaut B’harduin entsetzt an. Die Stille wird plötzlich unerträglich.
»Sie hat ihn gesehen? Und lebt!? Das ist unmöglich. Dann sollten wir erst recht nicht hier sein!«
»Ich weiß, Trimond. Doch es ist nötig. Wir sind fast da, ich kann es spüren. Bleib‘ hinter mir und halte dich zurück. Sie wird es uns nicht leicht machen, aber ich brauche sie … ich muss die Prophezeiung hören.«
Aus dem Dunkel des Ganges heraus, erreichen B’harduin und Trimond eine große, in den Fels gehauene Halle. Ein paar Fackeln erleuchten den langgezogenen Raum. In der Mitte dieser Halle ragen Säulen bis unter die Decke und gehen in ein perfektes Kreuzgewölbe über. Alles hier erinnert an einen schlichten, kargen Tempel.
Die Gefährten setzen sich vorsichtig in Bewegung und schreiten leise zur Mitte des riesigen Raumes hin.
Trimond hat eine Hand am Schwert und schaut sich mit wachen Augen immer wieder um.
Der alte Mann ist so aufgewühlt, dass selbst Arthur vor Spannung aus der Erinnerung fliehen möchte. Doch er darf nicht. Das Memorian gibt ihm nur diese eine Chance. Also bleibt er und wartet mit den anderen beiden darauf, dass etwas passiert.
Im Zentrum der Halle ist der Atem des Berges am stärksten. Keines der Feuer scheint auch nur ein bisschen Wärme abzugeben.
»Was wollt ihr?«, zischt es mit bebender Stimme aus dem Zwielicht hervor. »Ihr seid hier nicht willkommen! GEHT!«
B’harduin und Trimond fahren zusammen und drehen sich kampfbereit in die Richtung, aus der die Stimme kommt. In den Schatten bewegt sich etwas.
Eine Gestalt erscheint geschmeidig, fast schon schwebend, und bleibt im Licht stehen. Trotz ihrer zerrissenen und schmutzigen Kleidung sieht sie anmutig aus. Es ist eine Frau. Ihre Haut ist weiß wie Schnee und ihre bodenlangen Haare sind tiefschwarz. Sie bewegen sich seltsam treibend um ihren Körper herum. Als ob sie unter Wasser seien. Sie umfließen ein hübsches, zierliches Gesicht, in welchem die Zeit deutlich ihre Spuren hinterlassen hat. Tiefe Falten umschließen den Mund und die Nase. Augen hat sie keine.
Arthur wird es plötzlich unheimlich.
Du musst weiter machen, denkt er und beobachtet die Gestalt. Sie steht einfach nur da. Ihre Arme hängen reglos an ihr herunter und die Beine sind leicht gebeugt, als ob sie eine schwere Last tragen würde. Sie wirkt zerbrechlich, aber Arthur spürt, dass dies nur der Schein ist. Ihre Stimme donnert erneut durch die Halle. Diesmal lauter.
»Ihr ... sollt ... GEHEN!«
B’harduin verbeugt sich tief und ergeben. Er muss Feingefühl beweisen, um an das zu kommen, was er sucht. Und um am Leben zu bleiben.
»Mein Freund Trimond und ich sind nicht Euer Feind. Wir kommen mit edler Absicht. Mein Name ist ...«
»Ich kenne Euren Namen, B’harduin. Ich kenne euer aller Namen. Und ich weiß um eure Absicht. Ihr sucht, was niemand zu suchen wagte. Ihr ahnt, was niemand wahrhaben will. Doch bei allem Mut, edel ist dieser Weg nicht. Ich kann euch nicht helfen.«
Der Alte spürt den Zorn des Wesens. Doch der scheint sich nicht gegen ihn zu richten. Irgendetwas stimmt nicht.
Die Frau ohne Augen wendet sich von den beiden Eindringlingen ab.
In seiner Verzweiflung stürzt Trimond nach vorn. B’harduin versucht, den jungen Freund aufzuhalten doch es ist zu spät.
»Bitte! Hört ihn an! Ihr müsst uns helfen!«
Die Schatten und das Feuer der Fackeln ziehen blitzschnell zu der Gestalt. Ein Sturm aus Flammen und Dunkelheit umschließt sie und hebt sie in die Luft. Als sie sich erneut zu dem Alten und seinen Begleiter umdreht, ist ihre wahre Natur zu sehen.
Sie schwebt über dem Boden, umgeben von einer infernalischen Aura. Sie ist weiterhin zierlich, ihre Haare umschmeicheln immer noch ruhig ihren Körper, doch ihre Haut ist nun schwarz. Und sie hat Augen. Drei an der Zahl. Zwei davon sind menschengleich und das Dritte befindet sich, mittig über den anderen, auf der Stirn. Aus ihnen brechen dunkle Flammen hervor.
Trimond ist wie gelähmt und B’harduin stellt sich zwischen seinen Freund und das Feuerwesen. Doch es ist zu spät.
Innerhalb eines Wimpernschlages wird der Alte zur Seite gestoßen und die zierliche Gestalt packt Trimond fest am Hals.
Der spürt das Feuer um sich herum. Es ist kalt wie der ungnädigste Winter und sticht auf seiner Haut wie tausend Nadeln. Die Lippen des jungen Mannes färben sich blau und er kann seinen Körper kaum noch spüren. Die No:khau schaut ihm tief in die Augen.
»Wo war Euer Volk, Trimond? Wo war Euer Volk, als wir die Wälder verlassen mussten? Wo war Euer Volk, als wir in den klagenden Bergen untergingen? Wo waren deine Väter, als man mich vor der Welt wegschloss? Und nun erbittest du Hilfe? Ich kenne deine treulose Blutlinie und wenn du dieses Gebirge noch einmal betrittst, wirst du es nie wieder verlassen!«
Das Wesen packt fester zu und Trimond treibt es die Luft aus der Lunge. Ihm wird fast schwarz vor Augen, doch er kann sich dem festen Griff nicht entziehen.
»Bitte! Ich ...«
»Du sollst es erfahren, närrischer Mensch. Und nun zahle deinen Preis.«
»NEIN!«, ruft B’harduin und wird erneut von einer Flamme zu Boden gerissen.
Das Wesen zieht sich Trimond nah vor das Gesicht und schaut ihm noch tiefer in die Augen.
Er versucht, sich zu wehren und ihrem Blick zu entrinnen, doch vergebens ist all seine Mühe. Plötzlich erlöschen alle Lichter. Die Luft kehrt zurück in die Lunge des jungen Mannes. Der Druck im Hals lässt nach und er fällt hart zu Boden.
Auch B’harduin kann sich wieder auf die Beine kämpfen. Arthur spürt die Erschöpfung in dem alten Körper … und die Angst. Langsam entfachen sich die lichtspendenden Flammen in den Feuerschalen erneut.
B’harduin stürzt zu seinem jungen Begleiter, nimmt dessen Oberkörper in die Arme und hebt ihn an.
Den Ältesten sei Dank, er lebt.
Trimonds Brustkorb hebt sich schwer.
Vor ihnen steht nun wieder die Frau. Zierlich, zerbrechlich, leicht gebeugt, weiße Haut und keine Augen. Sie entfernt sich, rückwärts laufend, Schritt für Schritt von den beiden Männern.
»Hör gut zu, alter Mann. Es sind drei an der Zahl. Zwei findest du im Licht, eine im Dunkel. Er muss Anspruch erheben und ...«
Arthur fällt erschöpft auf seine Knie. Er hält das Memorian weiter in den Händen, aber das Licht ist erloschen.
»Ghuil? Was ist passiert?«
»Ihr habt es gesehen, Herr. Habe ich recht? Nun könnt Ihr sie retten!«
»Es ist unvollständig, Ghuil. Ich habe kein Ende gesehen!«
Der Morphognom schaut Arthur entsetzt an. Er schein blass zu werden.
»Das ist nicht möglich! Das war nicht vorgesehen. Es kann nicht ohne Ende sein!«
Ghuils Gesicht verfinstert sich zu einer ernsten Miene.
»Herr, Ihr müsst mit mir kommen!«
Arthur erhebt sich langsam und spürt, dass ihm leicht schwindelig ist. Er schaut den Gnom fragend an.
»Mit dir kommen? Wohin denn?«
»Nach Randwelt. Schnell!«
»Ghuil, ich kann nicht einfach mit dir kommen. Meine Eltern, die Schule … das geht nicht.«
Ghuil hebt flehend seine Hände und greift Arthur am Pullover.
»Ghuil wird es regeln. Hat es dem Alten versprochen. Der Herr muss nun mitkommen.«
Arthur versucht, sich dem Griff des Gnoms zu entziehen, und tritt rückwärts. Er bemerkt nicht die Veränderung der Luft. Den Wirbel, welcher sich hinter ihm auftut.
Ghuil tritt wieder einen Schritt näher an den jungen Owls heran.
»Der Herr muss nun stark sein. Und er muss vertrauen.«
Mit seinem langen, knochigen Finger tippt der Morphognom leicht gegen Arthurs Brust. Zu sanft, um ihm weh zu tun, doch kräftig genug, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Der junge Owls kippt nach hinten, rudert kurz mit den Armen und fällt rückwärts in den Luftwirbel hinein.
Im nächsten Augenblick ist dieser verschwunden und Ghuil bleibt allein in dem kleinen Dachbodenzimmer zurück.
»Ghuil wird es regeln.«
Teil 2 die Welten im Wandel
Kapitel 03: eine neue Welt
Arthur scheint nahezu endlos zu fallen. Oben und unten existiert hier genauso wenig wie Raum und Zeit. Sind es Jahre oder Stunden? Minuten oder ein ganzes Leben? Er weiß es nicht. Er kann es nicht spüren, nicht sehen. Es gibt keinen Halt oder fixen Punkt zur Orientierung.
Wie ein abgerissenes Blatt im Wind wirbelt der junge Owls herum. Er schreit so laut er kann, doch selbst der Schall hat hier im Nichts keine Macht. Es ist wie ein rasanter Flug durch das Weltall, nur ohne Sterne. Im Augenwinkel sieht Arthur Bilder aufflackern und wieder verschwinden. Sie kommen und gehen zu schnell, als dass er auch nur erahnen könnte, was da passiert.
Und plötzlich kommt der Aufprall. Er ist nicht hart genug, um sich ernsthaft zu verletzen oder gar zu sterben, aber heftig genug, um sich einen ordentlichen Kopfschmerz einzufangen. Unglaublicher Druck schießt durch Arthurs Körper, presst die Luft aus seiner Lunge und lässt die Knochen vibrieren. Und dann, nur für einen Moment, gleicht alles einem Stillleben.
Arthur Owls liegt regungslos auf dem Waldboden. Unter sich spürt er die von den Bäumen gefallenen Blätter. Es riecht nach Erde und vergangenem Regen. Das Licht der Sonne bricht vereinzelt durch die hohen Kronen und man hört hier und da das Leben im Unterholz.
Allmählich kehrt die Bewegung in Arthurs Körper zurück. Langsam und unter ächzendem Stöhnen stemmt er sich auf die Hände und drückt den Oberkörper in die Höhe. Er fühlt sich schwerer als sonst. An seiner Brust und im Haar hängt Laub. Das Gesicht ist schmutzig und die Sicht noch immer verschwommen. Er richtet sich weiter auf, bis er auf dem Boden kniet und sich umsieht. Um ihn herum ist nichts außer Wald. Noch immer dröhnt sein Schädel, doch der Schmerz schwindet langsam aus seinen Knochen.
Wo bin ich?
Schlussendlich stellt er sich auf die noch wackeligen Beine. Es ist hell und angenehm warm.
»GHUIL!?«, ruft er laut. Keine Antwort. Und wieder ruft er laut nach dem Morphognom. Als sich weiterhin nichts regt, ruft er noch einmal. Und ein letztes Mal. Doch Ghuil scheint nicht in der Nähe zu sein.
Ich muss herausfinden, wo ich bin.
In der Nähe hört Arthur ein leises, aber ihm bekanntes Rauschen.
Klingt nach Wasser.
Von Durst und Neugier getrieben, geht der junge Owls dem Geräusch nach. In der Nähe findet er auch, was er gesucht hat. Einen Fluss.
Arthurs Augen weiten sich vor Staunen. Nicht, dass er noch nie fließendes Gewässer gesehen hätte, aber dieses hier ist anders. Alles sieht aus, als wäre es einem Gemälde entsprungen.
Von majestätischen Bergen herab, schlängelt sich ein klarer, blauer Strang ins Tal. Beide Ufer sind gesäumt mit außergewöhnlichen Bäumen. Ihre Blätter sind anders als alles, was Arthur jemals zuvor gesehen hat, und ihre Kronen erstrahlen in intensiven Farben. Sattes Rot, saftiges Grün bis hin zu Goldtönen, alles ist vorhanden. Das Licht einer warmen Sonne lässt die Gipfel der Berge hell schimmern und das Wasser des Flusses schon fast unwirklich glitzern. Bis auf ein monotones Rauschen ist kaum ein Laut zu hören. Eine leichte Brise zieht zwischen den alten, zerfurchten Baumstämmen hindurch und lässt Arthurs Haar sanft wehen.
Er geht dem Fluss entgegen. Seine Kehle ist trocken und der Durst drängt ihn.
Am Ufer angekommen, fällt Arthur auf die Knie und taucht seine Hände tief ein. Es ist erfrischend. Er fängt etwas Wasser auf, führt es zum Mund und lässt es die trockene Kehle hinunterlaufen. Er spürt, wie die Kühle den Magen erreicht. Dann nimmt er erneut etwas Wasser auf und wäscht sein Gesicht.
Das tut gut.
Und gerade, als er ein letztes Mal einen Schluck nehmen will, scheint der Fluss sich zu verändern. Sein klares Blau verfärbt sich erst zu einem leichten Rosé und nach und nach zu einem tiefen Rot.
Arthur springt schlagartig zurück auf die Beine und betrachtet entsetzt das Schauspiel.
»Oh Mist! Was ist das denn jetzt!?«
Das blutrote Wasser beginnt, in der Mitte des Flusses zu kreisen. Immer schneller und schneller, bis ein Strudel entsteht. Alles scheint vom Ufer weg zur Mitte zu drängen und mitgerissen zu werden. Aus dem gewaltigen Strudel dringt ein dröhnendes Klagen. So laut, dass Arthur sich die Ohren zuhalten muss.
Vom Ohrenschmerz übermannt und entsetzt, taumelt er ungläubig zwei Schritte rückwärts und spürt plötzlich einen Widerstand. Er versucht noch, die Balance zu halten, doch es ist zu spät, um zu reagieren. Er befindet sich schon im Fall. Und während er nach hinten kippt, beginnt die Welt um ihn herum zu wachsen. Alles wird rasant größer und scheint sich immer weiter von ihm zu entfernen. Die Berge, die Bäume, alles wächst scheinbar ins Unendliche.
Dann wird es schwarz. Arthur fällt nicht mehr, er liegt und bevor er ohnmächtig wird, hört er noch eine Stimme.
»Legt ihm Ketten an und bringt ihn in den Kerker!«
Als Arthur die Augen öffnet, spürt er wieder dieses dumpfe Gefühl im Kopf. Doch diesmal ist es anders. Um ihn herum scheint nur fahles Licht.
Er richtet sich auf und schaut auf eine schwere, metallisch glänzende Gittertür. Er sitzt auf einem lieblos zusammengezimmerten Bett inmitten von kalten, kargen Mauern. Der Raum ist klein, gerade groß genug, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen und schaurig erleuchtet von einer einzigen Fackel. In der hinteren Ecke steht ein kleiner Tisch mit einer Wasserschale darauf und auf dem Boden daneben befindet sich ein Eimer.
Ist das etwa ein Kerker!?
Arthur springt von der hölzernen Liege und bewegt sich flink zur Gittertür. Das Material, aus welchem sie besteht, fühlt sich seltsam an. Arthur dachte erst, dass es Stahl sei, aber es scheint leichter zu sein. Trotzdem fühlt es sich härter an als alles, was er kennt.
In seiner Not packt Arthur mit beiden Händen die Stäbe und rüttelt heftig daran. Die Tür bewegt sich keinen einzigen Zentimeter.
Erst jetzt fällt dem jungen Owls auf, dass seine Hände seltsam aussehen. Sie wirken ein wenig größer und kräftiger. Die Ärmel des karierten Hemdes reichen kaum noch bis zu den Handgelenken. Es scheint, als ob Arthurs Kleidung eingegangen wäre. Die Hose und das Shirt spannen unangenehm und seine Schuhe drücken so sehr, dass es langsam anfängt, zu schmerzen.
Irritiert läuft Arthur zum Tisch, um sein Gesicht zu befeuchten. Im Wasser sieht er sein Spiegelbild. Er schreckt zurück. Die Reflexion zeigt definitiv noch Arthur. Aber ein Sechszehnjähriger ist dort nicht zu sehen.
Der junge Owls berührt vorsichtig sein Gesicht. Er ist es, kein Zweifel. Aber er ist älter. Im Wasser sieht er noch immer einen Jungen, der aber fast schon zu einem Mann gereift zu sein scheint.
Arthur sackt auf die Holzliege und starrt regungslos an die massive Steinwand.
»Ok Arthur«, sagt er zu sich selbst, »dreh jetzt nicht durch. Entweder bist du völlig verrückt oder dieser kleine Mistkerl hat dich in einen riesen Haufen Ärger geworfen. Wir behalten schön einen kühlen Kopf und finden heraus...«
»Aufstehen!«, wird sein Selbstgespräch schroff unterbrochen.
Der junge Owls fährt zusammen.
An der Tür steht ein hochgewachsener Kerl mit markantem Gesicht, einem wuchtigen Kinn und wilden, durchdringenden, braunen Augen. Sein Haar und sein Bart sind lang und dunkelgrau meliert. Er hat ein breites Kreuz und scheint einer jener harten Hunde zu sein, welche Arthur aus den Filmen kennt. Nur dass dieser harte Hund hier eine braune Lederrüstung, ein breites Schwert sowie einen noch breiteren Schild auf dem Rücken trägt.
»Ich sagte aufstehen! Der König will dich sehen!«
Arthur erhebt sich langsam und unsicher vom Bett.
»Der König? Was denn für ein König? Kann mir mal bitte einer erklären, was das hier alles soll? Wo bin ich? Was passiert hier?«
Der bärtige Hüne holt einen Schlüssel hervor und schiebt ihn ins Schloss. Mit einem kräftigen Ruck schnappt dies zurück und öffnet das Gitter.