Die Leiche im Moor - Nick Louth - E-Book

Die Leiche im Moor E-Book

Nick Louth

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Beschreibung

Der Kriminologe Martin Knight genießt in der Fachwelt hohes Ansehen, ist Familienvater und gut situiert. Er ist regelmäßig zu Gast in den Medien und als scharfzüngiger Kritiker des britischen Justizsystems der Polizei ein Dorn im Auge. Dann jedoch verschwindet seine Frau. Liz ist eine brillante Wissenschaftlerin und stellvertretende Leiterin einer Schule. Ihr Verschwinden scheint unerklärlich. Und dann taucht Martin unter. DCI Gillard soll das Verschwinden aufklären, doch er trägt ein Geheimnis mit sich herum. Für ihn ist die Angelegenheit persönlich. Denn dreißig Jahre zuvor hatte er eine Beziehung mit der Verschwundenen. Sie brach ihm das Herz und entschied sich für einen anderen – Martin Knight. Im malerischen Surrey in Südengland entspannt sich eine Dreiecksgeschichte aus Liebe und Tod, die für alle Beteiligten weitaus dunklere Wendungen nimmt als zunächst angenommen. Die Bestseller-Reihe aus Großbritannien jetzt auch auf Deutsch! Ein packender Thriller des Bestsellerautors Nick Louth

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Die Leiche im Moor

 

Nick Louthist Bestseller-Autor und preisgekrönter Wirtschaftsjournalist. Er studierte an der London School of Economics und arbeitete ab 1987 als Auslandskorrespondent für die Agentur Reuters. Mehrere Jahre schrieb er als Kolumnist für die Financial Times und veröffentlicht on- wie offline regelmäßig in diversen Wirtschaftsmagazinen. Nick Louth ist verheiratet und lebt im britischen Lincolnshire.

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www.nicklouth.com

 

Weitere Titel von Nick Louth

Die Suche

Auf Englisch:

Trapped

Heartbreaker

Bite

Mirror Mirror

DCI Craig Gillard Crime Thrillers

The Body in the Marsh

The Body on the Shore

The Body in the Mist

The Body in the Snow

The Body Under the Bridge

The Body on the Island

The Bodies at Westgrave Hall

The Body on the Moor

The Body Beneath the Willows

The Body in the Stairwell

The Body in the Shadows

The Body in Nightingale Park

DI Jan Talantire Crime Thrillers

The Two Deaths of Ruth Lyle

 

Nick Louth

DieLeiche

imMoor

Aus dem Englischen von Christian Lux

 

Impressum

Copyright @ 2024 Nick Louth

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Body in the Marsh«.

Für die Originalausgabe:

Copyright © Nick Louth, 2017

published in the UK by Canelo

© der Übersetzung: Christian Lux, 2023

Deutsche Tolino-Ausgabe:

Christian Lux,

Luxemburgplatz 1,

65185 Wiesbaden

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Print ISBN 9798870914930

Images © Canelo, Nick Louth

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Unternehmen, Behörden, Organisationen, Orte und Ereignisse sind entweder fiktiv oder werden fiktiv genutzt. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig.

 

für Louise, wie immer

 

Sie hasste beengte Räume und hatte schon immer Angst vor der Dunkelheit gehabt. Doch die winzige Speisekammer war immer noch der beste Platz, um sich vor ihm zu verstecken. Ein Ort, an dem er nie nachschauen würde. Schon als Kind hatte sie beim Versteckspielen in dem Verschlag gekauert.

Leere Regale, mit pergamentartigem, steifem Zeitungspapier ausgelegt, das beim kleinsten Atemzug raschelte. Früher standen darauf die selbstgemachten Marmeladen ihrer Großmutter, Mehl von Be-Ro, Rindertalg von Atora und Dose um Dose Fertigkonserven von Fray Bentos. Durchsichtige Spinnen, mit gestelzten Beinen und ohne Körper, tippelten wie gläserne Gespenster auf dem hohen Regal zwischen den Bierflaschen ihres Großvaters und einer Keksdose herum. Da waren die Picknicks am Meer gewesen, der Schrei der Möwen und das Eis von Wall's, in Blöcke geformt und in eine Eiswaffel gedrückt. Ihre Erinnerungen ließen ihren Atem ruhiger werden, und sie dämpften ihre Angst wie der feste Griff einer elterlichen Hand.

Sie erinnerte sich an einen Tag, als sie sieben Jahre alt war. Sie hatte sich seit Stunden mit einer Taschenlampe versteckt und die ganzen Zeitungen in den Regalen gelesen. Ein Artikel stach hervor. Im Daily Express. Er stammte vom 23. Juni 1954. Grausame Entdeckung. Ermittler ratlos. Der Leichnam einer jungen Frau im Moor. Romney Marsh, nur eine Meile entfernt. Eine zerstückelte Leiche. Zerstückelt. In Einzelteile zerlegt! Sie hatte das Wort nachschlagen müssen, und sie spürte Angst und Aufregung zugleich. Sie las den Artikel wieder und wieder. Zwei Tage lang hatte sie nicht schlafen können. War der Mörder noch in der Gegend? Würde er kommen und auch sie holen, fragte sie ihre Großmutter.

Das langsame Knirschen der Reifen über den Schotter, ein dumpfes Geräusch, als würde Butter und Zucker mit einem Holzlöffel geschlagen, holte sie aus ihren Gedanken ins Hier und Jetzt zurück. Eine zufallende Autotür. Ihr Herz schlug, als sie den Schlüssel im rostigen Schloss vernahm, und die Tür quietschte, nur wenige Meter entfernt von der Stelle, an der sie kauerte. Er durfte sie nicht finden, sonst würde alles jetzt enden.

Und wieder war da der prophezeiende Schrei der Möwen: Tod, Tod, Tod. Die Leiche im Moor.

Zerstückelt.

Kapitel 1

Scafell, Lake District, Freitag, 14. Oktober 2016

Drei Uhr an einem Freitagnachmittag. Ein eisiger Regen kam von der Seite, die Felswand glitzerte. Craig Gillard biss die Zähne zusammen und riskierte einen Blick nach unten. Zwei Seilstränge hoch auf dem Botterill's Slab am Scafell's Central Buttress, einer der schwierigsten Kletterrouten Großbritanniens. Unter ihm waberten Wolkenschleier und verdeckten die rauen Geröllflächen Hunderte von Metern tiefer, auch den noch entfernter gelegenen Serpentinenpfad in Richtung Mickledore und den Parkplatz von Wasdale.

Ein langes Wochenende im Lake District, dreihundert Meilen nördlich seiner Basis in Surrey, war seine Art, seine Arbeit als Detective vergessen zu können. Hier war er nicht Chefermittler, hier zollte man ihm keinen Respekt, er war einfach ein 48-jähriger Mann mit ein paar Seilen und Stahlteilen, spärlich ausgerüstet gegen die Elemente und den stetigen Sog der Schwerkraft. Er hatte Angst. Doch hier, auf der härtesten Kletterpartie, die er je im Alleingang unternommen hatte, war es eine andere Angst als die Sorgen, die ihn bei der Polizeiarbeit plagten. Im Laufe der Jahre hatte er es mit messerschwingenden Drogendealern zu tun gehabt, war durch eine Schrotladung verwundet worden und hatte auch das unangenehme Gefühl in der Magengrube vor einer Drogenrazzia gespürt. Das hier aber war vollkommen anders. Mehr noch als Kälte und Wind war es ein Kampf zwischen ihm und sich selbst. Er stieß an seine ureigenen Grenzen. Er musste seine Angst überwinden. Gegen die Müdigkeit ankämpfen.

Die Tropfen des nächsten Regenschauers wanderten wie eiskalte Fingerseinen Nacken und die angespannten Schulterblätter hinab. Das Wetter war okay gewesen, als er losgegangen war: bedeckt und leichter Wind aus Südwest, doch der anwachsende Westwind und Regen setzten früher ein als vorhergesagt. Seine linke Hand war ausgekühlt vom Buddeln im Geröll, um die Erdklumpen und Bruchstücke freizulegen, die in einem der Vorsprünge weiter unten gesteckt hatten. Dabei hatte er sich eine Schürfwunde zugezogen, die leicht blutete, und er wollte eine Pause machen, um die Wunde zu verbinden. Zwei der Finger der linken Hand – sein Mittelfinger und der kleine – waren taub, kein sonderlich gutes Omen, schließlich war er noch nicht mal auf halber Höhe. Er ließ die Klemme los, hängte seine Schlinge mit einem Karabiner an den nächstgelegenen Bolzen und fischte eine Packung mit medizinischem Klebeband aus einer der Außentaschen.

Eine schwere Sturmböe kam auf und brachte Gillard auf seiner unsicheren Sitzstange ins Wanken. Schwere Wolken ließen nur fahles Licht hindurch, und an der Felswand flossen Rinnsale herab. Als er das Klebeband über die Wunde wickelte, blickte er von einer Bewegung am Boden abgelenkt nach unten. Ein Hund lief um einen Felsbrocken im Gestrüpp herum. Er griff nach seinem Rucksack, löste die Verschlüsse und kramte nach seinem Fernglas. Er schnallte sich den Trageriemen des Zeiss Terra um den Hals, eine Schutzmaßnahme gegen ungeschickte Finger, und drückte die eiskalte Linse an seine Augen. Er sah eine Frau, die auf der Seite lag. Sie trug einen olivgrünen Regenmantel, einen dunkelblauen Hut und rosa Leggings. Sie befand sich einige hundert Meter oberhalb des Pfades und war von dort aus nicht zu erkennen. Die vorbei eilenden Wanderer hatten ihre Kapuzen auf, die Gesichter zum Weg gerichtet, den Rücken zum Schneeregen, und alle liefen in dieselbe Richtung. Abwärts, von der Frau weg. Niemand konnte sie erblicken.

Ein verdrehtes Knie oder ein verdrehter Knöchel, konnte hier oben an einem Tag wie diesem tödlich verlaufen.

Er rief zu der Frau hinunter, doch sie lag im Gegenwind. Hoffnungslos. Die tosenden Windstöße rissen seine Worte fort. Stattdessen prasselte ein Schwall von Styropor ähnlichen Hagelkörnern auf ihn ein, die von allen Oberflächen abprallten und ihm ins Gesicht schlugen. Die Temperatur war in der letzten Minute um mehrere Grad gefallen, und im Westen türmten sich schiefergraue Schneewolken auf. Die Frau brauchte Hilfe. Er griff in seine Jacke, holte sein iPhone hervor.

Und ließ es fallen.

Das Plastikgehäuse prallte einmal gegen die Granitwand und stürzte ins Leere, wo es innerhalb einer Sekunde aus dem Blickfeld verschwand. Er erlaubte sich zwei Sekunden fantasievolles Fluchen, dann widmete er sich wieder methodisch seiner Aufgabe: Er ordnete seine Ausrüstung neu und begann eine Reihe behutsamer, aber zügiger Abseilaktionen, bei denen er sich wünschte, er hätte ein Seil mitgenommen, um schneller voranzukommen. Der Wind kam mal waagerecht, mal von unten, und jede Böe barg eisige, peitschende Spritzer. Es kam ihm wie eine Stunde vor, doch in weniger als zwanzig Minuten war er unten am oberen Rand des Geröllfelds.

Er zwang seine steif gefrorenen Finger, den Rucksack zu öffnen, und holte Bergschuhe, Gamaschen und Fäustlinge heraus. Es fühlte sich an, als würde er sich mit Essstäbchen anziehen. Dann tastete er nach den Wärmepads und riss die Umhüllung mit den Zähnen auf. Im Rucksack hatte er Schokolade, Wasser, eine Notfalldecke, einen Kompass, ein Erste-Hilfe-Set und eine robuste LED-Taschenlampe. Als er fertig war, drehte er sich im Schneeregen um und robbte quer über eine Geröllrinne nach der anderen in Richtung der Stelle, wo er die Frau gesehen hatte. Lange, rutschige Schritte, von denen jeder eine Mini-Lawine aus Steinen und Geröll um seine Knöchel herum auslöste. Als er einen Kamm erklomm, konnte er sie erkennen. Sie saß mit dem Rücken an einem haushohen Felsen im Windschatten des Schnees. Sie winkte ihm verzweifelt zu, und er trottete hinüber.

»Gott sei Dank«, sagte sie, das Gesicht rosarot vor Kälte und umrahmt von dunklen, nassen Haarsträhnen. Sie zitterte, und ihre Finger waren knochenweiß. »Ich habe mir das Bein verletzt, als ich dem verdammten Hund hinterhergejagt bin«, sagte sie.

Der junge schwarze Labrador wedelte mit dem Schwanz und lehnte sich an sie.

»Das hatte ich mir schon gedacht. Wir müssen Sie schnell von diesem Berg runterbringen.«

Sie trug billig aussehende Turnschuhe, die durchnässt, verschlammt und abgenutzt waren. Einen dünnen Mantel, einen durchnässten Hut. Keine richtigen Stiefel, keine Tasche, keine Handschuhe, keinen Kompass, keine Karte, keine Trillerpfeife. Offensichtlich hatte sie keine Ahnung. Sie schien um die dreißig Jahre alt zu sein, eigentlich alt genug, um es besser zu wissen. In Craigs Kopf lief ein Vortrag ab, aber für den Moment gab es andere Prioritäten.

»Ziehen Sie die an«, sagte Craig und streifte seine Handschuhe ab.

»Und was ist mit Ihnen?«, fragte sie und zog sie dennoch an. »Ihre Hände sehen auch ganz durchgefroren aus.«

»Ich habe noch ein dünneres Paar in meiner Tasche«, log er. »Und wie heißen Sie?«

»Sam.«

»Ich bin Craig.«

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Craig.«

Sie stieß einen Seufzer aus und blinzelte in den Schnee.

»Mein Gott, wie soll ich da runterkommen? Mein verdammtes Knie. Ich kann nicht auftreten.«

»Lassen Sie mich mal sehen.«Sie hob den Saum ihres Regenmantels an. Die Leggings waren zerrissen, und ihr Knie, das bereits geschwollen war, hatte die Wade hinunter geblutet.

»Ich werde vorsichtig drücken, sagen Sie mir, wenn es weh tut.« Er drückte vorsichtig an den Rändern.

»Aua! Verdammt, Sie haben versprochen, vorsichtig zu sein.«

Dann versuchte er, das Gelenk zu beugen, und ihre Klage erhöhte sich um eine Oktave. Der Hund begann wild zu bellen.

»Alles gut, Boris, er versucht nur zu helfen.«

Craig lächelte und kraulte den Hund hinter seinen warmen, samtigen Ohren, was ihm ein langsames, zustimmendes Schwanzwedeln einbrachte.

»Ich glaube nicht, dass es gebrochen ist, aber es ist eine schwere Verstauchung. Haben Sie die Bergwacht gerufen?«

»Mein Akku ist leer.« Er muss sie wohl angestarrt haben, denn sie erwiderte: »Ich habe nicht gedacht, dass ich bis hier oben komme. Ich bin übers Wochenende bei meinen Eltern in Keswick, und sie sagten, Boris bräuchte einen ausgedehnten Spaziergang, aber dann ist er mir abgehauen und den Hang hinaufgestürmt.«

»Da drüben liegt ein totes Schaf, das hat er wahrscheinlich gerochen.«

»Noch ein paar Stunden länger und ich wäre wahrscheinlich in der gleichen Situation gewesen«, sagte sie und lachte.

Ihr Lächeln war bezaubernd.

»Rufen Sie sie an?«

»Ah. Mir ist mein Telefon runtergefallen.«

»Sie haben Ihr Handy fallen lassen?« Sie sah ihn ungläubig an und begann dann zu lächeln. »Ist es kaputt?«

»Ich war da oben«, sagte er und deutete auf die Felsen, die gerade durch die Wolken zu sehen waren. »Denke schon, ja. Ich hatte es ausgepackt, um die Bergwacht zu rufen ...«

»Für mich?«

»Ja.«

»Entschuldigung! Dann schulde ich Ihnen wohl ein neues Handy.«

»Schon okay. Lag an meinem linken Daumen. Trotzdem blöd, es war ein iPhone.«

»Oh weh.«

»Aber ein altes Modell.«

»Dennoch Mist. Wie sollen wir so Hilfe bekommen?«

»Können Sie aufstehen?«

»Gerade so.«

Mit seiner Hilfe richtete sie sich mit ihrem gesunden Bein auf, das andere Bein jedoch war nicht belastbar. Sie versuchte, ein paar Schritte zu humpeln, den Arm um seine Schulter gelegt, aber er war zu groß für sie und der Boden zu uneben. Nach ein paar Schritten blieb er stehen.

»So werden wir beide erfrieren«, sagte er und ließ sie sich gegen den Felsen lehnen. »Wie viel wiegen Sie?«

Sie starrte ihn mit offenem Mund an.

»Nun, ich bin nicht gerade Kate Moss, falls Sie es noch nicht bemerkt haben. Sie werden mich nicht tragen können.«

»Also wenn Ihnen das lieber ist, können wir natürlich den kleinen Mini-Hubschrauber zusammenbauen, den ich immer in meinem Rucksack habe. Der fliegt uns hier raus.«

»Sehr witzig.« Sie stöhnte frustriert auf. »Oh Mann, ich gehe mit dem Hund spazieren und brauche am Ende Superman, um gerettet zu werden.«

Craig lachte und verstaute Sams kleinen Rucksack in seinem eigenen. Dann schnallte er ihn sich vor die Brust.

Mit dem Rücken zu ihr ging er in die Hocke.

»Schon mal einen Elefanten hochgehoben?«, fragte sie und legte ihre Arme um seinen Hals.

Trotz ihrer Beteuerungen war sie nicht schwer und zierlich genug, dass er sie huckepack nehmen und seine Hände unter ihrem Po zusammenführen konnte. Die Wärme war ein willkommener Nebeneffekt. Nach und nach tastete er sich den Abhang hinunter.

»Hüh!«, rief sie und kicherte ihm ins Ohr. »Ich besorge dir einen schönen Ballen Heu in Wasdale«.

Als Antwort gab er ein kleines Wiehern von sich.

Die erste halbe Stunde war die schwerste, denn die rauen Felsen, die im Gestrüpp versteckt waren, und die unebenen Grasbüschel führten zu Rucklern, die sie aufschreien ließen. »Tut mir leid, dass ich dir ins Ohr quietsche«, sagte sie. Der Schneeregen verwandelte sich in Dauerschnee, und mit einem Mal konnte man kaum mehr als fünf Meter weit sehen. Craig fasste einen Entschluss.

»Planänderung. Das wird wehtun, aber in fünf Minuten sind wir auf dem Pfad.«

Er hievte sie höher auf seinen Rücken, ermahnte sie, sich festzuhalten, und begann, einen langen, steilen Steig voller Geröll entlangzulaufen. Der Hund preschte voraus und war im weißen Nichts fast nicht mehr auszumachen. Craig konnte sich mit dem zusätzlichen Gewicht kaum auf den Beinen halten, jeder Riesenschritt war ein kalkuliertes, aber berauschendes Risiko. Als er den Pfad erreichte, war er außer Atem, und eine euphorische Hitze stieg in seinem Oberkörper auf, Schweiß sammelte sich warm auf seinem Rücken und unter den Achseln, verdrängte die Kälte und erreichte schließlich seine schmerzenden Hände. Er setzte Sam an einem Felsen ab und teilte seine Schokolade mit ihr.

»Auch noch Fairtrade«, sagte sie. »Du bist gut ausgerüstet, um moderne Frauen zu retten, was?«

»Ich habe im Januar mal eine ganze Gruppe von Frauen auf dem Ben Nevis gerettet«, sagte er. »Die waren auf ihrem allerersten Versuch, einen Gipfel zu besteigen, mit Eispickel und Tampons.«

Sam stöhnte auf. Eine Stunde später erreichten sie endlich das verschneite Wasdale. Der See lag vor ihnen in einem düsteren Graugrün, das von zinnoberroten Wellen durchzogen war. Der Parkplatz lag nun in Sichtweite, und dahinter zeichnete sich der Anblick eines warmen und einladenden Pubs ab.

***

Mit einem folgsamen und schläfrigen Boris zwischen ihren Knien saß Sam dampfend in dem belebten Gasthaus mit Steinwänden und beobachtete Craig, der an derBar Kaffee bestellte. Sein zerzaustes silbergraues Haar und sein schroffes Bergsteigergesicht standen ihm gut, und für sein Alter, vielleicht Mitte vierzig, war er offensichtlich in ausgezeichneter Form. Er hatte sie klaglos mehrere Meilen lang geschleppt und dabei nur zweimal gestoppt. Ihr widerlicher Ex, Gary, wäre trotz seiner Ausbildung als Fallschirmjäger nicht besser gewesen. Wahrscheinlich hätte er sie kriechen lassen. Craig hatte ihr Knie bandagiert, ihre Schnittwunden versorgt und diese großartigen Wärmepads in ihre durchnässten Turnschuhe gesteckt. Er hatte auch noch weiter gedacht. Obwohl sie sein Angebot, sie ins Krankenhaus zu bringen, abgelehnt hatte, hatte er ihr von einem anderen Wanderer ein Telefon geliehen, damit sie ihre Eltern verständigen konnte. Er hatte angeboten, sie den neunzig Minuten langen Weg zurück nach Keswick zu fahren, um ihren Vater abzuholen und ihn herzubringen, damit er ihr Auto abholen würde, das sie wegen ihres Knies nicht mehr fahren konnte. Craig war zwar ein Jahrzehnt älter als Gary, aber ein echter Fang. Für jemanden, der das richtige Alter hatte, ermahnte sie sich.

Sie humpelte derweil zur Damentoilette, um sich zurechtzumachen und sich wieder wie ein Mensch fühlen zu können. Der Anblick im Spiegel war schockierend: Ihr schulterlanges, rabenschwarzes Haar war zerzaust und hexengleich, ihr Gesicht knallrot und ihre Lippen blass und rissig. Mit etwas Lippenstift, einem Hauch Eyeliner und kräftig aufgetragenem Puder fühlte sie sich gleich viel besser. Ihre Selbstachtung war wiederhergestellt, und sie fand Craig, der vor der Tür gewartet hatte, um ihr zu helfen, sich zwischen den Stühlen und Tischen hindurch zu ihrem Platz in der Ecke am Feuer durchzuschlängeln.

»Hast du dich etwas aufgewärmt?«, fragte Craig, während sein Blick auf das Häufchen Regenmantel auf dem Stuhl neben ihnen wanderte.

»Ja, danke. Aber mein Bein ist ein Problem für meine Arbeit. Ich muss eigentlich die Hälfte des Tages auf dem Fahrrad verbringen.«

Sie hatte sich entschieden, ihm anzuvertrauen, was sie beruflich machte, etwas, das sie nur selten tat, bis sie ein Gefühl dafür hatte, wie die Reaktion ausfallen würde.

»Ach wirklich?«

»Ich bin Hilfspolizistin. Ich unterstütze die Polizei.«

Er lachte und sah an die Decke.

»Das ist ja lustig«, sagte er.

Vielleicht hatte sie ihn falsch eingeschätzt. Sie hatte festgestellt, dass die meisten eine feste Meinung über die Polizei hatten, in welche Richtung auch immer.

»Also wir machen wirklich einen guten Job, für weniger Geld ...«, ihre Stimme wurde schrill, und sie merkte, dass sie mit ihrem Finger auf ihn zeigte.

»Das weiß ich.« Er hob die Hände, um sich zu ergeben. »Wo bist du im Einsatz?«, fragte er.

Wann hatte er nur die Zeit gefunden, sich die Haare zu kämmen?

»Caterham, in Surrey.« Sie sah, wie ihm die Kinnlade herunterfiel. »Habe erst letzten Monat angefangen. Die werden mich für eine Idiotin halten.«

»Nein, werden sie nicht. Die werden dich einfach ans Telefon setzen, bis dein Bein wieder gesund ist.«

Nun strahlte er richtig, wie warmes Sonnenlicht. Seine Augen wirkten im Licht graugrün.

»Ich bin auch bei der Einheit in Surrey, bei der Station in Guildford. Aber ich lebe in Banstead. Nicht allzu weit von dir entfernt.«

»Nicht im Ernst. Was machst du da?«

Er nahm seine Brieftasche und legte seine Visitenkarte vor sie hin. Sie hielt sie hoch und las mit einem amerikanisch gefärbten Akzent ironisch vor: »Detective Chief Inspector Craig Gillard. Held und Retter. Für jedes Wetter gerüstet. Spezialgebiet: Huckepack nehmen.«

***

Eine halbe Stunde später saßen sie bei zunehmender Dunkelheit in Craigs Auto, das auf der A66 Richtung Keswick unterwegs war. Er hatte ihr viele Fragen gestellt, und sie hatte ihm von Gary erzählt. Wie sie sich von ihm getrennt und er sich geweigert hatte, das zu akzeptieren. Wie er sie Tag und Nacht anrief, ihr drohte, und wie er besonders nachts vorbeikam, um sie zu sehen. Selbst nachdem er bei ihr eingebrochen war, blieb die Polizei zögerlich, etwas zu tun. Also hatte sie sich Geld von ihrem Vater geliehen, um vor Gericht ein Kontaktverbot zu erwirken, die Anhörung dafür war für nächsten Monat angesetzt. Craig hörte schweigend zu.

»Bist du eigentlich verheiratet?«, fragte sie und merkte plötzlich, dass sie nichts über ihn wusste.

»War ich mal.«

Sein Blick verengte sich, als könnte er etwas auf der Straße nicht richtig erkennen.

»Aber nur kurz. Es hat nicht funktioniert. Ich nehme an, ich bin recht schwierig. Das hat Valerie zumindest gesagt.«

Er wandte sich Sam zu und zuckte mit den Achseln. »Aber das liegt zum Teil am Job. Das wirst du noch sehen.«

Sam hatte bereits bemerkt, dass Craigs Wagen, ein grauer Nissan, ungewöhnlich sauber für jemanden war, der gern wandern ging. Keinerlei Lehm im Fußraum, keinerlei hingeworfene Kleidungsstücke auf dem Rücksitz oder der Gepäckablage, keine Bonbonpapiere oder anderer Müll in den Seitenfächern, keine Flecken auf den Sitzen, keine Fettflecken auf dem Lenkrad. Ein geordneter Kopf offenbar. Allerdings möglicherweise einer ohne jedwede Leidenschaft. Als sie die Straße ihrer Eltern erreichten, die aus mehreren Reihenhäusern bestand, sagte sie: »Ich bin dir so dankbar für alles, was du heute getan hast, Craig. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wäre, wenn du mich da oben nicht gesehen hättest. Du hast mir vermutlich das Leben gerettet, und mir nicht einmal erlaubt, dich auf einen Kaffee einzuladen.«

»Vielleicht ergibt sich dafür mal eine andere Gelegenheit«, sagte er. »Für den Kaffee. Und viel Glück mit dem Berufsstart.«

Er stieg aus, um ihr beim Auspacken ihrer Sachen aus dem Kofferraum zu helfen, und bevor sie sich von ihm den Weg hinunterführen ließ, drehte sie ihm ihr Gesicht zu, reckte sich und gab ihm einen Kuss. Kurz nur, aber auf die Lippen, und er erwiderte ihn mit einem zusätzlichen Touch Bartstoppeln.

»Danke, Craig.«

Als sie sich abwandte, spürte sie seinen Blick auf sich. Sie wollte aufrecht gehen und ein wenig die Hüften bewegen, doch beim ersten Schritt taumelte sie geradewegs gegen den Torpfosten.

Kapitel 2

Der tragische und unnötige Tod von Mädchen F. ist eine bestürzende Anklage gegen die Borniertheit, die Kurzsichtigkeit und die Trägheit der britischen Polizei. Dieses junge Mädchen flehte in einem verzweifelten Hilferuf um Gerechtigkeit. Da sie aber nicht dem Stereotyp eines Opfers entsprach, wurden ihr stattdessen Vorurteile, Ausflüchte und – sogar noch Jahre nach ihrem Tod – Plattitüden entgegengebracht.

(LSE-Kriminologe Professor Martin Knight, im Interview mit BBC Newsnight, September 2013)

Dienstag, 18. Oktober, 8 Uhr morgens

Gillard fuhr zurück ins Hauptquartier der Surrey Police und fühlte sich unruhig. Was in Cumbria noch Schneeregen gewesen war, hatte sich in Surrey in Regen verwandelt, aber davon viel. Für den Rest des Wochenendes war das Wetter nicht mehr besser geworden, und obwohl er insgesamt gut sechzig Meilen gewandert war – eine ganze Runde um den See Wastwater, dann den Kirk Fell hinauf und schließlich umgeben von einer Schar Schulkinder bis zum Gipfel des Great Gable – hatte er seine letzte Gelegenheit für eine wirklich anspruchsvolle Klettertour vertan. Mit einem beklemmenden Gefühl erinnerte er sich daran, dass bald ein weiterer Bericht über das Mädchen F. veröffentlicht werden würde, ein Fall, der jahrelang die Polizei von Surrey geplagt hatte. Ein dreizehnjähriges Mädchen hatte sich 2009 vor einen Zug geworfen, nachdem es über wiederholte Misshandlungen durch ältere Männer berichtet hatte. Der Fall, der von Anfang an falsch gehandhabt wurde und bei dem es immer noch keinen Verdächtigen gab, lag nun in den Händen der Experten für nachträgliche Besserwisserei. Hochbezahlte Anwälte, Kinderpsychologen und Kriminologen, die in aller Ruhe abwägen können, wie man damals hätte verfahren sollen. Im Fadenkreuz der Öffentlichkeit stand dabei auch Detective Superintendent Paddy Kincaid, Gillards eigener Chef. Damals, im Jahr 2009, untersuchte Kincaid als leitender Ermittler den Selbstmord des Mädchen F. Er hatte jedoch kaum Fortschritte bei der Suche nach den Tätern gemacht, die sie missbraucht hatten. Nach Kritik von Seiten der Anwälte der Familie wurde er schließlich von dem Fall abgezogen.

Die Atmosphäre im Hauptquartier dürfte miserabel sein, dachte Gillard. Um sich aufzumuntern, schob er eine CD mit Hits aus den 80er Jahren ein und dachte an Sam Phillips, der schlecht vorbereiteten Bergsteigerin, aber gutaussehenden Hilfspolizistin.

Als er die Sicherheitskontrolle passierte, erblickte er das imposante Gebäude von Mount Browne. Der ehemalige Wohnsitz des Earl of Sligo war ein rotes Backsteingebäude im gotischen Stil mit Koppelfenstern und hohen Giebeln, das auf einem weitläufigen Gelände lag. Dahinter befanden sich ein überfüllter Parkplatz und ein hässliches Bürogebäude aus den 1960er Jahren, in dem er die letzten fünf Jahre gearbeitet hatte.

Gillards Stellvertreterin, Detective Sergeant Claire Mulholland, war bereits im Einsatzraum und hielt ihre gesprungene Tasse mit der abblätternden Lasur in der Hand: Mama – die weltbeste Ermittlerin. Ihr Sohn Collum hatte die Tasse in der Schule gebastelt, als er acht Jahre alt war, und obwohl sich der Henkel in den sieben Jahren seither gelöst hatte, gab es wohl kaum jemanden, der ihr diese Prahlerei verübeln würde. Wenn sie auch nicht die Beste war, so war sie doch verdammt gut. Claires kräftiger Körperbau täuschte über ihre frühere Karriere als Tanzlehrerin und Taekwondo-Lehrerin hinweg. Am Tag nach Abschluss ihrer Ausbildung zur Polizeibeamtin war die 1,65 m große blonde Mutter von drei Kindern zu einer Drogenrazzia abkommandiert worden, mit der Anweisung, im Hintergrund und aus dem Weg zu bleiben. Doch als der 1,90 m große Schläger der Bande versuchte, einen ihrer Kollegen zu erstechen, hatte Claire ihn bekanntermaßen mit einem einzigen Tritt in den Magen zu Fall gebracht.

Nachdem er sie begrüßt hatte, fragte Gillard: »Wie ist der Stand bei Mädchen F.?«

»Coldrick hat Alison Rigby gebeten, die Untersuchung des Falls wieder aufzunehmen«, sagte sie.

Assistant Chief Constable Rigby war eine Überfliegerin, die vor drei Monaten von Chief Constable Graham Coldrick zur stellvertretenden Polizeichefin ernannt worden war. Sie kam von der National Crime Agency und hatte den Ruf, ein echter Kontrollfreak zu sein.

»Das wird Kincaid nicht glücklich machen«, sagte Gillard, der das Lächeln auf seinem Gesicht nicht unterdrücken konnte.

***

Das Polizeirevier Caterham konnte man mit einer heruntergekommenen Stadtbücherei verwechseln, wäre da nicht der verwaiste Streifenwagen vor der Tür. Das Gebäude war für eine bestimmte Belegschaftsgröße errichtet worden, doch eigentlich war das Revier nun nur noch sporadisch besetzt. Eigentlich nur drei Hilfspolizisten und ein Büroangestellter. Heute war es jedoch ein eher typischer Tag. Hilfspolizistin Samantha Phillips war die einzige Beamtin im Gebäude, die Anrufe entgegennahm, Vorfälle protokollierte und die ganze langweilige Büroarbeit erledigte.

Es war schon später Vormittag, als die Zentrale in Surrey eine Meldung über eine vermisste Person in der Umgebung durchgab.

»Oh, hallo. Mein Name ist Katherine Parkinson, und ich möchte eine vermisste Person melden. Es geht um Liz Knight. Sie ist eine enge Freundin von mir und seit zwei Tagen nicht mehr zur Arbeit erschienen. Das ist wirklich nicht normal, wenn man stellvertretende Direktorin einer weiterführenden Schule ist. Ihr Mann ist auf einer Konferenz in York, und als ich ihn anrief, sagte er, dass er sie seit Freitag nicht mehr gesehen habe. Ich mache mir wirklich große Sorgen. Das ist so untypisch für sie.«

Sam nahm jedes Detail auf. Weiblich, 48 Jahre, seit mindestens zwei Tagen verschwunden. Beantwortet E-Mails nicht, ihr Handy scheint ausgeschaltet, und sie geht nicht ans Telefon ihres Festnetzanschlusses. Geht nicht an die Tür. Die Adresse ist Chaldon Rise, eine schöne Reihenhaussiedlung in Old Coulsdon, wo die südlichen Ausläufer der Londoner Vorstädte an die Kreidehügel der North Downs herangewachsen waren. Ein Ort, an dem Sam leben würde, wenn sie einen Sechser im Lotto hätte.

Sam erinnerte sich an ihre Ausbildung, als man ihr beigebracht hat, Vermisstenanzeigen aufzunehmen und fragte: »Würden Sie Mrs Knight als gefährdete Person bezeichnen?«

»Meinen Sie leicht beeinflussbar oder geistig beeinträchtigt, etwas in der Art?« Die Anruferin lachte sanft. »Nein, ich würde Liz ganz und gar nicht als gefährdet bezeichnen. Sie ist eine dynamische, vielbeschäftigte, selbstsichere und hochintelligente Person, die sich vollkommen um sich selbst kümmern kann.«

»Hat sie Kinder?«

»Ja, zwei. Also es sind keine Kinder mehr, und sie leben nicht mehr bei ihr. Oliver ist Anwalt, Mitte 20, er hat was aus sich gemacht, und Chloe ist gerade fürs Studium nach Cambridge, das ist die Alma Mater ihrer Mutter. Es leben nur Liz und ihr Ehemann im Haus, aber er ist oft verreist.«

»Arbeiten Sie mit ihr zusammen, Ms Parkinson?«

»Nein, aber ich kenne sie seit dreißig Jahren. Wir spielen auch Theater zusammen.Wir sind in einer kleinen Laiengruppe am Mikado-Theater, aber sie war gestern Abend nicht bei der Probe, was ihr überhaupt nicht ähnlich sieht.«

»Wann haben Sie mit ihrem Ehemann gesprochen?«

»Gerade eben vor einer Stunde oder so. Er verlässt die Konferenz, um heimzukommen, wobei er nicht glücklich darüber ist.«

»Warum nicht?«

»Nun, er denkt, ich übertreibe. Er hält mich wahrscheinlich für etwas dumm. Er wollte auch nicht, dass ich sie bei Ihnen als vermisst melde.«

»Hat er gesagt, warum nicht?«

»Nun, er sagt, er glaubt zu wissen, wo sie sein könnte.«

»Warum haben Sie das nicht früher erwähnt?«, fragte Sam und ließ ihren Stift immer wieder über ihre Finger gleiten.

»Naja, er glaubt, sie sei nach Great Wickings. Das ist ihr Ferienhaus an der Küste von Kent. Eine hübsche kleine Holzhütte, eher ein überwachsener Verschlag, in der Nähe dieser Monstrosität, dem Atomkraftwerk von Dungeness. Jedenfalls geht sie dort immer hin, wenn sie nachdenken muss oder wenn die beiden Krach haben. Sie hat dort ein Atelier. Sie malt gern die Küste.«

»Und Sie halten es für unwahrscheinlich, dass sie dort ist?«, fragte Sam.

»Kann sein, vielleicht. Ich habe dort angerufen und Nachrichten hinterlassen. Aber es ist seltsam. Es wäre durchaus möglich, dass sie nicht mit ihm reden will, wenn sie dort nach einem Streit hin ist. Sehr gut möglich. Aber sie würde dann doch mal ans Telefon gehen und mit mir sprechen. Ich meine, ich bin ihre engste Freundin. Seit Jahren. Sie hat ja keinen Zoff mit mir. Und ihr ist Höflichkeit und Verlässlichkeit sehr wichtig. Ich kann mir also nicht vorstellen, dass sie sich in der Schule und für die Theaterprobe nicht krank melden würde.«

Sam stimmte der Einschätzung zu.

»Hören Sie«, sagte Kathy, »kann sein, dass sich das alles nur um einen häuslichen Familienkrach handelt, aber ich wäre untröstlich, wenn ihr etwas passiert wäre und sich niemand bei euch gemeldet hätte. Man hört heutzutage so fürchterliche Geschichten, nicht wahr?«

»Das stimmt.«

»Noch etwas«, fügte sie hinzu. »Wenn Sie mit Martin sprechen, sagen Sie ihm bitte nicht, dass ich sie als vermisst gemeldet habe. Er ist ein bisschen aufbrausend und denkt vielleicht, dass ich mich einmische. Könnten Sie ihm sagen, dass es von der Schule kam?«

»Ich werde Ihren Namen nicht erwähnen«, sagte Sam und bedankte sich bei ihr. Dann legte sie auf.

***

In den nächsten drei Stunden sprach Sam Phillips mit dem Direktor an Mrs Knights Schule, mit ihrer Freundin Helen Jennings und mit Bruce Cornwell, dem Regisseur des Mikado-Theaters. Alle bestätigten Katherine Parkinsons Geschichte. Liz Knight schien verschwunden, und seit letzter Woche hatte niemand mehr von ihr gehört. Dann unternahm sie einen vierten Versuch, den Ehemann, Martin Knight, zu erreichen.

»Knight.«

Das Wort wurde wie ein ungeduldiges Wiederhören gebellt.

»Mein Name ist Sam Phillips von der Surrey Police. Spreche ich mit Martin Knight?«

Sie konnte im Hintergrund hören, wie der Zugbegleiter eine Durchsage machte.

»Professor Martin Knight, ja.«

»Wohnhaft in Chaldon Rise 16, Old Couldson, Surrey? Könnten Sie Ihre Postleitzahl bestätigen, Sir?«

»Himmelherrgott. Ich glaube, ich hätte lieber erst mal Ihre, junge Dame. Da kann ja jeder kommen ...«

Nach ein paar Minuten Austausch von Formalitäten hatte Knight sich durchgesetzt und die Hilfspolizistin bestätigte die Adresse des Reviers.

»Dann können wir nun zum eigentlichen Grund meines Anrufs kommen, Mr Knight ...«

»Professor ...«

»... Uns wurde gemeldet, dass Ihre Frau, Elizabeth, vermisst wird ...«

»Ich kenne den Namen meiner Frau, PC Phillips. Das sind Sie doch, nehme ich an?«

»Mein eigentlicher Titel ist PCSO. Nun aber zu Ihrer Frau...«

»Sollten Sie nicht auf Streife sein? Mit Warnweste oder ähnlichem rumfahren und nach Anzeichen von antisozialem Verhalten suchen? Ich hatte gerade eine Besprechung mit der Innenministerin, und sie war sehr offen für meine Ansicht, dass bei weit über hunderttausend Pfund pro nachgewiesenem Verbrechen die Ausgaben für das PCSO-Programm an anderer Stelle besser angelegt wären.« Er hielt einen Moment inne, und seine Stimme wurde sanfter. »Hören Sie, es tut mir sehr leid, dass Sie damit behelligt worden sind. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wo Liz ist, und ich werde heute Abend dorthin fahren.«

Guter Bulle, böser Bulle, dachte Sam. Und er ist nicht einmal ein Polizist.

Sie blieb hartnäckig.

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Beim Frühstück am Freitagmorgen. Da hat sie erwähnt, dass sie übers Wochenende zum Malen nach Kent fährt, wo sie sicher immer noch ist.«

»Ich habe gerade in ihrem Ferienhaus angerufen. Sie hat nicht geantwortet ...«

Es entstand eine kurze Stille.

»Hören Sie, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie unsere Kinder nicht anrufen würden. Chloe ist gerade erst nach Cambridge, und es würde sie sehr beunruhigen. Zumindest nicht, bis ich die Gelegenheit hatte, mir Great Wickings selbst anzusehen. Ich rufe Sie gegen sechs oder so an. Wenn Liz nicht da ist, haben Sie meine volle Erlaubnis, den Garten umzugraben und unter der Veranda zu wühlen«, lachte er leise.

Sam notierte sich die Adresse in Great Wickings. Schließlich fragte sie: »Können Sie bitte die Nummer in Ihrem Display anrufen, sobald sie da sind? Bitte geben Sie die Fallnummer 459 an.«

»Besser noch. Ich werde sie ans Telefon holen, damit sie mit Ihnen sprechen kann und Sie sich keine Sorgen machen müssen«, sagte er. »Ich möchte mich im Namen meiner Frau entschuldigen, dass sie Ihnen so viel Mühe macht.«

Dann legte er auf.

»Ich glaube, ich würde untertauchen, um den loszuwerden«, murmelte Sam, als sie nach ihrem Notizblock griff.

***

Sam Phillips hätte um sechs Feierabend gehabt, und nun war es schon fast sieben. Es war ein betriebsamer Nachmittag gewesen. Ein Kleinkind war nach einem Unfall mit einem Einkaufswagen in Purley mit aller Eile ins Krankenhaus eingeliefert worden, und es gab Berichte über Vandalismus am Bahnhof Coulsdon South. Gerade wollte sie ihren Computer herunterfahren, da fiel ihr Professor Knight ein. Sie rief das Ereignisprotokoll ab und sprach mit jemandem von der Leitstelle. Kein Anruf.

In dem Augenblick kam DCI Craig Gillard in Fahrradmontur herein: Figurbetonte Bekleidung, ein flotter Helm mit Kamera und weiche spitze Schuhe in Grün, die beim Gehen klickten.

»Hallo, Fremder«, sagte sie, hielt den Atem an und dachte: Das kann kein Zufall sein.

»Hallo Sam. Wie gehtʼs deinem Knie?«

»Ganz in Ordnung, solange ich sitze und es mit Eis kühle. Und natürlich hört der Rest des Teams nicht auf, den Vorfall zu bedauern.«

Er ist extra gekommen, um mich zu sehen!

Er lächelte.

»Ich war bloß auf der Durchfahrt, aber ich dachte, ich nehme mal die Beweismittel für den Jackson-Fall mit.«

Sehr glaubwürdige Geschichte. Sam hatte von dem Fall nichts gehört, sah aber nach. »Ist das die Aktentasche, die gestern abgegeben wurde?«

»Genau. Sie ist noch nicht auf Fingerabdrücke oder Drogenrückstände überprüft worden, oder?«

»Nein, sie ist immer noch hier.«

Sam öffnete die Asservatenkammer, die kaum mehr war als ein großer Büroschrank, und wies Craig hinein.

»Sie liegt auf dem obersten Brett, falls du da drankommst.«

Craig streckte sich und zog eine große braune Asservatentasche herunter, während Sam einen Blick auf seine muskulösen Beine warf und auf seinen schönen festen Hintern. Er sah wirklich gut aus.

Er nahm die Tasche und zögerte kurz, bevor er zum Ausgang ging.

»Danke, Sam. Wir sehen uns.«

Sam spürte einen Anflug von Panik. Oh je, er war schüchtern. Komm schon, Craig, na komm. Sag was. »Kann ich dich um einen Gefallen bitten, bevor du gehst?«, platzte es aus ihr heraus.

»Na klar.« Er drehte sich um und lächelte sie an.

Sie bemerkte, wie sie rot wurde. »Ich hatte heute Morgen eine Vermisstenanzeige.«

Sie beschrieb ihm den Fall in groben Zügen.

»Ihr Mann hat sich aufgemacht, sie zu suchen, und hat versprochen, in jedem Fall vor einer Stunde anzurufen. Das hat er nicht getan, er hat auch nicht auf meine Nachrichten geantwortet, also bin ich zu ihrer Adresse gefahren. Niemand ist an die Tür gegangen und laut den Nachbarn ist weder ihr Auto dort noch das seine. Und ich dachte, ob du ihn vielleicht für mich anrufen könntest? Das letzte Mal war er ziemlich ruppig zu mir. Er prahlte damit, der beste Freund der Innenministerin zu sein.«

Gillard lachte.

»Die Schote habe ich schon öfter gehört.«

Wieder dieses Lächeln. Sam schob ihm das Formular zu.

»Es ist Professor Knight«, betonte sie. »Er ist ganz schön von sich eingenommen, um ehrlich zu sein. Wenn ihn jemand anruft, der wie du etwas älter ist, wird er vielleicht etwas mehr Respekt zeigen.«

Gillard ließ es klingeln, und als sich der Anrufbeantworter meldete, hinterließ er eine Nachricht und legte auf. »Ich versuchʼs etwas später nochmal«, sagte er. »Es stimmt übrigens, dass er die Innenministerin kennt«, sagte Gillard, den Blick noch immer auf den Notizen zur Befragung.

Sam beobachtete, wie sich sein Gesichtsausdruck verhärtete und dann wieder entspannte, als versuchte Gillard, etwas Mächtiges zurückzuhalten. Dieses Ringen um Fassung hatte sie schon einmal beobachtet, als sie einen Polizisten begleitet hatte, um einer Mutter mitzuteilen, dass ihr Sohn vom Motorrad gestürzt und dabei umgekommen war.

»Liz Knight wird also vermisst.«

Er presste die Lippen aufeinander.

»Mrs Elizabeth Knight, ja. Kennst du sie etwa?«

Er sah Sam mit schmalen grün-grauen Augen an.

»Ja, flüchtig.«

Sam hatte die Ausbildung zur PC erst vor einem Monat abgeschlossen, doch sie wusste, was eine glatte Lüge war, wenn sie eine hörte.

Kapitel 3

Craig Gillard kannte Liz Knight seit fast genau dreißig Jahren. Genauer gesagt, hatte er sie vor dreißig Jahren für ein paar kurze, aber glückliche Wochen gekannt. Er und Roger Carlton waren damals Oberstufenschüler am Beechcroft Technical College in Purley, und auf Rogers Anregung hin hatten sie sich auf den sommerlichen Scheunentanz der Wallington-High-School für Mädchen begeben. Sie hatten dabei nur ein Ziel vor Augen – wie Roger es ausdrückte: Jeder von ihnen sollte ein hochkarätiges Exemplar von dieser Schule für Snobs aufreißen und dann bis zur Besinnungslosigkeit durchvögeln. An manchen privaten Jungeninternaten der Gegend waren Freikarten verteilt worden, nicht aber an den nahegelegenen Schulen für Purleys Arbeiterklasse. Rogers älterer Bruder Clive war Laborassistent an einem der Internate und hatte eine Handvoll Eintrittskarten abgezweigt.

Roger, eins achtzig groß und Rugbyspieler, war nach eigener Aussage der Erfahrenere von beiden. »Ich habe die erste Wahl, versteht sich. Du kannst die mit den flachen Brüsten haben«, hatte er gelacht. Craig war das egal gewesen, solange er am Ende zum Zug kam. Roger trug ein Miami-Vice-T-Shirt unter einer weißen Jacke, Leviʼs 501, Cowboystiefel und Sonnenbrille. Craig trug ein schwarzes langärmeliges Shirt und eine Adam-Ant-Weste mit silbernen Knöpfen, dazu ein Paar Pikes, die er aus einem Second-Hand-Laden hatte. Er hatte es etwas mit dem Aftershave übertrieben, in der Hoffnung, damit die Aufmerksamkeit von seiner Akne abzulenken. Roger hatte ihm vorgeworfen, wie ein billiger marokkanischer Stricher zu riechen, als ob er über irgendwelches Wissen auf dem Gebiet verfügen würde. Nach je drei Pints Stella liefen sie um Viertel vor elf auf der Party auf, ohne zu wissen, dass diese sich bereits dem Ende zuneigte.

»Wow, schau dir das mal an«, sagte Roger, der ein umwerfend hübsches Mädchen beobachtete, das mit zwei Freundinnen gemeinsam lachte. »Ich hab jetzt schon einen Steifen.«

Craig fühlte sich von diesen selbstbewussten, langbeinigen Mädchen mit ihren eleganten Kleidern, glänzendem Haar und hellen Augen eingeschüchtert. Sie gaben ihm das Gefühl, minderwertig und unwürdig zu sein. Die anderen Jungs, nun ja, in vielen Fällen Männer, wirkten kultiviert und wohlhabend in ihren teuren Anzügen. Da verspürte er zum ersten Mal das, was sein Vater Klassenneid genannt hätte.

Craig und Roger wappneten sich jeweils mit einem Glas Buck's Fizz, an dem Roger monierte, es sei fast reiner Orangensaft, und richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Nachzüglerinnen. Trotz ihres eisernen Pakts, als Team zu agieren, tanzte Roger bald mit einem hochgewachsenen Mädchen mit langer Nase und Brille, die allerdings mit dem ausgestattet war, was er als »ziemlich dolle Dinger« bezeichnet hätte. Craig ging zum übriggebliebenen Büfett, das auf einem Klapptisch auslag.

Dabei fiel ihm ein hübsches, zierliches Mädchen mit kastanienbraunem Haar und wohlgeformten Beinen auf, das in einer gemischten Gruppe stand, die Roger wohl als »Abklatsch« bezeichnet hätte: die weniger scharfen Bräute, Brillenträgerinnen mit glattem Haar, flachen Schuhen und langen Röcken mit Falten oder, in einem Fall, Cord. Die Jungs um sie herum waren hager, schlaksig und hatten abstehende Ohren. Die Mathematiker und Programmierer von morgen. In Anbetracht dieser weniger überwältigenden Konstellation ging Craig, einen Teller Ananas und Käse in der Hand, auf die Gruppe zu.

»Möchte jemand einen Happen?«, fragte er – vielleicht der seltsamste Anmachspruch, den er je ausprobiert hatte.

»Okay, ich nehme einen ›Happen‹«, sagte das hübsche Mädchen und lächelte ihn mit sanften braunen Augen an.

»Tuʼs nicht, davon kriegst du nur Pickel«, rief einer der größeren Jungs und richtete seinen Blick dabei auf Craig.

»Sei kein Idiot, Tim«, sagte das Mädchen und wandte sich von ihm ab. »Von welcher Schule bist du?«, fragte sie Craig.

»Eton«, sagte er.

Dieses eine Wort löste schallendes Gelächter in der Gruppe aus, in der das zweifellos für das Allerlustigste gehalten wurde, was man je zu Ohren bekommen hatte. Das Mädchen starrte sie wütend an.

»Komm mit, Eton-Ananas, lass uns was trinken gehen. Diese Spötter kannst du einfach ignorieren.«

Sie fasste ihn am Ellenbogen; ihre Finger lagen warm und angenehm auf seiner Haut. Als sie sich etwas entfernt hatten, ließ sie los und sagte: »Du bist ganz schön mutig, weißt du?«

»Was meinst du?«

»Dich hier so einzuschleichen, bei der Nobelschule. Das ist gewissermaßen Feindgebiet.«

Sie lächelte und strich sich eine Strähne hinters Ohr.

»Und, wie heißt du?«

»Craig. Und ich habe eine Eintrittskarte, hat mich ʼnen Fünfer gekostet.«

»Aha, obendrein ein Schwarzmarktgänger. Nun, carpe diem!«

Sie stieß ihren Plastikbecher mit Buck's Fizz gegen seinen.

»Ich bin Liz. Na, wohin planst du als nächstes zu gehen?«

Craig sah sich um, als ließe es sich irgendwo hingehen. Die Band war dabei, ihre Instrumente einzupacken, und teure Elterntaxis begannen, sich an der Einfahrt unten am Hügel zu drängen.

»Äh, nirgendwohin. Aber wir können ins The Bell gehen, wenn du magst. Die bedienen auch nach Geschäftsschluss noch.« Seine eigene Forschheit überraschte ihn.

Liz lachte laut auf, ein viel tieferes und ansteckenderes Lachen, als er erwartet hatte.

»Nein, du Dussel, nach dem Sommer. Auf welche Uni?«

»Oh, das habe ich noch nicht entschieden.«

In Wahrheit war er sich ganz und gar nicht sicher, ob seine Noten reichen würden.

»Und du?«

»Ich gehe nach Cambridge. Das ist sozusagen Tradition in meiner Familie. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, Musik zu studieren, aber es ist sehr schwer, damit sein Brot zu verdienen, nicht wahr? Deshalb werde ich Geschichte und Neuere Sprachen am Corpus Christi studieren. Aber vielleicht wechsele ich für den Master und die Promotion zu Wirtschaftswissenschaften.«

Sie nippte an ihrem Drink und sah ihn aus dem Blickwinkel an, um seine Reaktion abzuschätzen.

»Und was hast du für deine Beerdigung geplant?«

»Haha, wie geistreich. Na komm, lass uns beim The Bell klingeln.«

Mit diesen Worten hakte sie sich bei ihm unter und führte ihn die lange gewundene Einfahrt entlang, die von Rhododendren und Rosenbüschen flankiert zur Cressington Road führte. Tatsächlich war dieses gemächliche Hinunterschlendern des Hügels mit einer Frau an seinem Arm und Rosenduft in der Nase der erste Strahl reinen Sonnenlichts, der durch die grauen Wolken seiner Jugend stach. Es war ihm nie gelungen, die nächsten zwei Stunden ihres Gesprächs zu rekonstruieren, abgesehen von dem Umstand, dass er sich die Hälfte dessen, was sie sagte, nicht erschließen konnte. Die Art, in der sie seltsame, vermutlich lateinische Wendungen in ihre Rede mischte, und die Weise, wie sie ein aufrichtiges Interesse an seinen Auffassungen zu zeigen schien: über Politik, über Religion, und über Bücher. Ihr Kopf wirkte wie eine Bibliothek voller Bücher, die er nicht gelesen hatte, aber lesen wollte. Sie vermochte es, mühelos aus ihnen zu zitieren.

Als der Pub schließlich zumachte und der hintere Barbereich, den die minderjährigen Trinker zu frequentieren pflegten, von einem weltmüden Wirt geräumt wurde, der sich lautstark fragte, ob denn auch nur einer von ihnen ein Zuhause habe, entdeckte Craig Roger. Er stand mit seinem Bruder und einer Gruppe Kumpels auf dem Parkplatz. Ihre einzigen Partner waren Bierdosen. Wolfsgeheul dröhnte durch die Luft, als sie Craig mit einem hübschen Mädchen erblickten. Rogers Gesicht zeigte unverhohlenen Neid. Von diesem Augenblick hatte Craig geträumt.

Liz sah ihn an und fragte: »Freunde von dir?«

»Tja. Also ich kenne sie. Ignorier sie einfach.«

»Na, dann geben wir ihnen doch ein bisschen Gesprächsstoff.« Sie streckte sich ihm entgegen und küsste ihn sanft auf den Mund. Es war das zarteste, wärmste und aufregendste Gefühl, das er je empfunden hatte.

»Das sollte deinen Kurs in die Höhe schnellen lassen, wenn du sie das nächste Mal siehst«, flüsterte sie.

Liz erlaubte es ihm, sie bis zum Ende der Straße zu begleiten. Sie zeigte auf ihr Zuhause, ein großes freistehendes Haus im Tudorstil aus den Dreißigerjahren in einer abgelegenen Straße mit Blick über das Tal Richtung Farthing Downs, einem örtlichen Ausflugsziel. Sie küssten einander für ein paar wunderschöne Minuten, bis sie ihn daran erinnerte, dass es bereits nach eins war. Sie notierte sich seine Nummer, versprach, ihn anzurufen und wies ihm den Weg nach Hause. Craig schwebte die gesamten fünf Kilometer bis South Croydon zurück, trunken von Träumereien.

Kapitel 4

Im Krankenhaus zu liegen, ist gar nicht so schlimm. Ein neues Jahrtausend ist angebrochen, und die Belegschaft behandelt dich nicht so, als wärst du verrückt. Das Essen ist trostlos und erinnert an eine Anstalt, nicht so sehr aufgrund des Geschmacks, sondern wegen der Kita-Atmosphäre: unzerbrechliche Melaminteller, auslaufsichere Trinkbecher, fragile Plastikmesser, die kaum in der Lage sind, Linguine zu verletzen, geschweige denn Pulsadern. Alles, was jetzt noch fehlt, sind ein Bällebad und eine Hüpfburg. Aber manche der anderen Patienten sind, nun ja, zum Schaudern. Wie eine Prognose für diejenigen, die sich nicht selbst aus düsteren Tiefen herausziehen können, drücken sich diese Schattenwesen durch Schweigen aus. Das Allerschrecklichste aber kam von außerhalb.. Es war der Blick meiner Kinder, als sie zu Besuch kamen. Chloe glotzte mich an und fragte schließlich: »Mama, ist das eine Irrenanstalt?« Martin hat sie gerüffelt, aber irgendwo hat sie diesen Ausdruck ja aufgeschnappt.

Oliver konnte mir überhaupt nicht in die Augen sehen. Er hat die ganze Zeit mit seinem Gameboy gespielt, und als ich meinen Arm um seine Schultern legte, um ihn zu drücken, hat er sich weggewunden, als wäre ich dieses Wesen aus Alien, das irgendwem aus dem Magen schießt. Und die ganze Zeit hindurch lächelte mein Göttergatte, dieser Mann, dessen Verhalten mich erst hierhergebracht hat, nachsichtig, in jedem Arm eins der Kinder, als wären sie in den Zoo gekommen, um das hier zu sehen, das unheimlichste, zugleich aber am meisten bedrohte Tier an diesem Ort.

Liz Knight, Brief an Kathy Parkinson, Februar 2000

Dienstagabend

Craig kam kurz nach halb acht nach Hause.Von acht bis Mitternacht war er der diensthabende Detective Chief Inspector. Bevor er sich ins System einloggte, wo ihn unweigerlich eine Flut unbedeutender Fälle erwarten würde, beschloss er, es nochmal bei Professor Knight zu versuchen. Er müsste jetzt eigentlich in Dungeness angekommen sein. Unter Knights Mobilnummer erreichte er wieder nur die Mailbox, woraufhin Craig das Festnetz des Ferienhauses wählte. Es klingelte kaum, schon wurde abgehoben.

»Knight.«

»Professor Knight, hier spricht Chief Inspector Gillard von der Surrey Police. Wir erwarteten einen Anruf von Ihnen, und anscheinend sind Sie ja bereits am Haus angekommen.«

»Gütiger Himmel, machen Sie mal halblang, ich bin gerade erst angekommen. Ich bin wortwörtlich reingekommen und habe den Mantel abgelegt. Ich wollte wirklich gerade anrufen.«

»Ich darf also annehmen, dass Mrs Knight dort ist.«

»Tatsächlich ist das wohl nicht der Fall, nein. Ihr Auto ist nicht hier, sie muss irgendwo draußen sein. Obwohl es meines Erachtens viel zu dunkel ist, um zu malen. Bleiben Sie dran, dann sehe ich in ihrem Atelier nach. Dann haben wir Klarheit.«

»Ich bleibe am Apparat, Sir«, sagte Gillard.

Das Rauschen verwies auf ein schnurloses Telefon in Bewegung. »Liz, Liebling, bist du da?« Gillard hörte Schritte und das Knarren einer Tür.

»Liz?«

Knights Stimme kam zurück an den Hörer.

»Es sieht nicht so aus, als hätte sie das Atelier genutzt. Sie wollte über das Wochenende herkommen, aber das Malzeug ist weggepackt. Das ist sehr merkwürdig. Es tut mir leid, dass ich es nicht richtig ernst genommen habe, als die Hilfspolizistin vorhin anrief. Jetzt muss ich gestehen, dass ich ein bisschen besorgt bin.«

»Dann sehen Sie sich mal gut um, und rufen Sie mich in jedem Fall an. Bis Mitternacht habe ich Bereitschaft, danach können Sie eine Nachricht beim diensthabenden Beamten hinterlassen. Sie wird sicherlich auftauchen.«

»Ja, bestimmt. Auf Wiederhören.«

Die Verbindung war beendet.

Gillard war erleichtert darüber, dass es Knight nicht bewusst war, dass sie einander bereits begegnet waren, und das mehrfach, vor Jahrzehnten. Vom allerersten Mal hatte Knight keine Ahnung, vielleicht hatte er nicht einmal Gillards Existenz bemerkt. Dem jedoch hatte sich der Rivale auf den ersten Blick ins Gedächtnis gebrannt. Heiligabend 1986. Er war gerade erst neunzehn und fuhr auf seiner Kawasaki 250. Eine extrem schnelle Maschine, die er auf Kredit gekauft hatte, vor allem, um seine Freunde zu beeindrucken. Er hatte an einer roten Ampel am unteren Ende der Marlpit Lane gehalten. Vor ihm stand ein Wagen, ein MGB 1.8 Roadster in britischem Renn-Grün, ein prachtvolles Auto, das seine wildesten Träume übertraf. Durch die Heckscheibe konnte Gillard sehen, wie eine Mitfahrerin sich nach rechts wandte, um mit dem Fahrer zu sprechen. Sie hatte braunes, gewelltes Haar, das sie mit der Hand zurück strich, und eine zarte Nase. Dieses Profil würde er jederzeit wiedererkennen. Die beiden Profile, Mann und Frau, verschmolzen und küssten sich, selbst dann noch als die Ampel auf Grün sprang. Mit aller Kraft drückte Craig die blecherne Hupe der Kawasaki, gab Gas und raste vorbei. Als er auf die A23 bog, riss er in einem riskanten Manöver das Vorderrad hoch und bretterte mit über hundert Sachen Richtung Gatwick, Zornestränen in den schmerzgetrübten Augen.

Gillard ging zum Kühlschrank und griff sich drei Fertiggerichte von Marks & Spencer. Er überlegte kurz und entschied sich für Green Thai-Curry, stach die Packung mit einem Messer an und schob sie in die Mikrowelle. Dazu nahm er sich ein gut gekühltes Cobra-Bier und setzte sich vor den Fernseher. Schon wieder musste er an die quirlige junge Hilfspolizistin Sam Phillips denken, die wortwörtlich in sein Leben gefallen war. Sie hatte tolle schwarze Locken und schön geformte Lippen, die zum Küssen einluden. Aber er hatte seine Chance vertan, sie um ein Date zu bitten. Nun, dafür gab es auch einen Grund. Sobald ihm klar geworden war, dass Liz vermisst wurde, erschien es ihm schlichtweg falsch. Dies war nicht der richtige Moment, an jemanden anderes zu denken.

***

Die Geräusche unten waren unaufdringlich, doch Sam wurde schlagartig wach. Ein Klicken und ein Quietschen, als würde eine Tür geöffnet. Sie griff nach ihrem Smartphone, das sie nun immer neben dem Bett liegen hatte. Sie knipste die Nachttischlampe an und lauschte. Nach dem letzten Mal waren zwei große Riegel an der Innenseite der Schlafzimmertür angebracht worden, sowie ein Fensterschloss der neuesten Generation. Den Monteuren gegenüber hatte sie als Ausrede angeführt, dass es in diesem Teil von Croydon viele Einbrüche gebe. Aber in Wirklichkeit war das alles wegen Gary. Nach einem erneuten Umzug und dem Antreten des neuen Jobs hatte sie gedacht, dass sie sich sicherer fühlen würde. Dieses Gefühl hielt allerdings nicht an. Innerhalb eines Monats hatte er sie gefunden, ihr Auto kaputt geschlagen und das Wort »Hure« an ihre Haustür gesprüht. Er würde niemals aufgeben. Das hatte er immer gesagt. Sie gehöre ihm für immer. Wenn ihn eine gerichtliche Anordnung nicht einschüchtern konnte, dann gab es nichts auf der Welt, was ihn aufhalten würde. Es war ihm einfach egal. Eine lange Minute lang hörte sie nichts und begann zu entspannen, da knarrte die Treppe.

Sie war drauf und dran, den Notruf zu wählen, doch sie zögerte. Gary hatte es geschafft, ihren Ruf bei der Londoner Polizei zu ruinieren, in deren Bezirk sie lebte. Die ersten beiden Male, als sie bei lauten Geräuschen um drei Uhr morgens angerufen hatte, waren die Cops mit heulenden Sirenen herbeigeeilt, jedoch war niemand mehr da, als sie ankamen. Keine Anzeichen für Einbruch. Der Blick, den sie von den männlichen Beamten erntete, als sie erzählte, womit sie ihren Lebensunterhalt bestritt, sprach ebenfalls Bände. Ihre neuen Nachbarn hatten sich am nächsten Tag über den Vorfall beschwert. Beim dritten Notruf vor bloß einer Woche kam die Streife erst nach einer Stunde. Ohne Sirenen. Und man behandelte sie so, als wäre sie die Kriminelle. Gary war clever. Er fuhr eine Kampagne, um ihre Glaubwürdigkeit gegenüber ihren Freunden, Nachbarn und Kollegen zu untergraben. Er sagte ihr: Du wirst niemanden haben außer mir, weil alle anderen wissen, wie wertlos du bist.

Sie scrollte zu den kürzlich hinzugefügten Kontakten, wo Craigs Dienstnummer angezeigt wurde. Es war vier Uhr morgens. Konnte sie es wagen, ihn anzurufen, um ihn um einen weiteren Gefallen zu bitten? Die Klinke der Schlafzimmertür bewegte sich langsam und verstohlen. Das Herz pochte ihr bis zum Hals, während sie beobachtete, wie die Klinke sich zum Anschlag bewegte und die Tür sich bloß einen Millimeter öffnete, bis sie an die Riegel stieß. Die gezischten Worte kamen eindeutig vom Treppenabsatz: »Samantha, ichbin's, dein geliebter, aber vernachlässigter Freund. Lass mich rein.«

Sie drückte auf die Anruftaste, und zum zweiten Mal in dieser Woche begann sie, unkontrolliert zu zittern.

***

Der ungewohnte Klingelton seines neuen iPhones riss ihn glatt aus seinen Träumen, und er griff danach, um den Lärm abzuschalten. Irgendwie hatte Gillard damit gerechnet, Martin Knight in der Leitung zu haben. Als er stattdessen Sams Stimme und den Zustand hörte, in dem sie sich befand, war er nach einer Sekunde aus dem Bett, nach einer Minute angezogen und nach zwei Minuten, in denen er sich lediglich noch eine Stichschutzweste gegriffen hatte, saß er in seinem Ford Focus. Sie hatte ihn angefleht, nicht die Polizei hinzuzurufen, jedoch eingewilligt, am Apparat zu bleiben, während er die Adresse ins Navi tippte. Es zeigte zwanzig Minuten an, aber zu dieser nächtlichen Stunde würde er nur die Hälfte der Zeit brauchen. Er steckte das Smartphone in die Halterung über dem Armaturenbrett, aktivierte den Freisprechmodus und raste mit achtzig die Winkworth Road hinunter, als er Sams Schreie hörte, während die Schlafzimmertür eingetreten wurde. Eine Männerstimme, ein Knall, Wimmern, zehn Sekunden später war die Leitung tot. Keine Antwort auf seinen Rückrufversuch.

Der Rest der Fahrt bestand aus unerträglicher Ungewissheit. Erst als er in Sams Straße einbog, rief sie ihn von ihrem Diensthandy aus an. Sie schluchzte, ihr Ex hatte sich gerade aus dem Staub gemacht.

»Bist du okay?«

»Er hat mich ein paarmal geschlagen, aber ja.«

Während sie das sagte, schoss ein weißer Audi A3 in entgegengesetzter Richtung an Craig vorbei. Er vollzog einen diskreten U-Turn und folgte dem Wagen rechts Richtung Hauptstraße. Er bat Sam, ihren Ex zu beschreiben. Die Details waren nicht ermutigend. Gary Harrison war eins neunzig groß, als Fallschirmjäger in Afghanistan stationiert gewesen und arbeitete jetzt als Koch. Sammelte Messer. Jähzornig. Die Stichschutzweste war ein guter Instinkt gewesen.

»Gerate nicht mit ihm aneinander, Craig, ich will nicht, dass du verletzt wirst.«

»Keine Angst, ich bin vorsichtig.«

»Er hat mir wieder das Telefon geklaut. Das wird er jetzt durchsuchen, um zu gucken, ob ich einen Freund habe.«

»Und, hast du einen?«

»Bis vor einem Monat, ja. Dann hat Gary ihn bedroht. Jetzt wird er deinen Namen und deine Nummer finden.«

»Damit kann ich umgehen.«

An einer Ampel bremste Craig hinter dem Wagen. Die Straßenbeleuchtung hinderte ihn daran, den Fahrer zu erkennen, aber er merkte sich das Nummernschild. Der Wagen fuhr nun langsamer, und Craig konnte den hämmernden Rap-Bass vernehmen, der durch die Karosserie drang. Nichts wies darauf hin, dass der Fahrer sich darüber bewusst wäre, verfolgt zu werden. In Anbetracht des geringen Verkehrsaufkommens würde sich das jedoch zwangsläufig demnächst ändern. Craig ließ sich ein paar hundert Meter zurückfallen und plante, Harrison bis zu seinem Zuhause zu verfolgen – eine Adresse in New Addington, die Sam ihm gerade gegeben hatte. Aber dann hielt der Audi an einer 24-Stunden-Tankstelle am Purley Way. Craig glitt mit seinem Wagen in einen freien Platz bei der Autowaschanlage, zog sich ein Paar schwarze Handschuhe an und beobachtete die Szenerie. Der Mann, der aus dem Auto stieg, sah genau so aus, wie Sam ihn beschrieben hatte: Kurzhaarschnitt, braune Bomberjacke, Jeans und hohe Turnschuhe. Sein selbstbewusster Gang war der eines Fitnessstudio-Besuchers, als hätte er eine unsichtbare Teppichrolle unter jedem Arm. Er spielte mit seinem Autoschlüssel und schien vor sich hinzusummen. Kein oranges Licht deutete auf eine Verriegelung des Wagens hin.

Craig wurde bewusst, dass Gary Harrison vermutlich ziemlich selbstzufrieden war.

Arschloch.

Harrison betrat die Tanke, während Craig seinen Wagen neben den Audi fuhr, als wollte er auftanken; er durchsuchte das Türfach nach brauchbaren Werkzeugen. Nicht viel da. Ein Ladegerät und ein Kabel, eine Rolle Panzertape, und eine robuste Einkaufstüte. Er stopfte das alles in seine Taschen, stieg aus dem Wagen und ging drei Meter, um sich durch die Hintertür Zugang zum Audi zu verschaffen. Er positionierte sich seitlings, soweit der hintere Fußraum es zuließ, während die anthrazitgraue Polsterung seiner Stichschutzweste als Tarnung diente. Die Sportsitze waren keine Standardausstattung, und Craig suchte schnell nach dem Hebel zum Zurücklehnen. Eine Minute später war Harrison zurück, warf eine knisternde Tüte mit irgendeinem Snack auf den Beifahrersitz, ließ den Motor an und erstickte den Fahrerraum mit Musik. Der Audi verließ den Vorplatz, bog scharf auf den Purley Way, und kurz später nach links. Craig sah bloß noch die Straßenbeleuchtung und die Giebel der Häuser, was noch immer ausreichte, um eine Wohngegend von der Hauptstraße zu unterscheiden. Er wartete, bis das Geräusch des vorbeiziehenden Verkehrs nachließ und der Wagen die Fahrt verlangsamte.

Dann schnellte er zwischen den Vordersitzen hoch und zog die Plastiktüte über Harrisons Kopf, zwirbelte sie um den Hals und zog den Kopf nach hinten. Ein schockiertes Japsen, und der Wagen kam mitten auf der Straße quietschend zum Stehen. Craig wickelte das Kabel um den Hals und siegelte so die Tüte ab, dann band er das alles an der Kopflehne des Fahrersitzes fest. Harrison warf seine Hände nach hinten, um Craig zu greifen, der den Sitzhebel betätigte, um Harrison herunterzuziehen und ihn besser bearbeiten zu können. Ein heftiger Schlag auf den Solarplexus, zwei Schläge ins Gesicht, und Harrison war außer Gefecht. Blut drang unter dem Plastik hervor, sowie der unmenschliche Klang von Ersticken.

Gillard streckte die Hand nach vorne und schaltete die Musik aus, das Ladekabel noch immer fest um die Kopfstütze gewickelt. Dann legte er den Kopf an die Plastiktüte und flüsterte in seinem besten Süd-Londoner Gangsterakzent: »Hör gut zu, du dreckiges Arschloch.«

Harrisons Hände griffen unbeholfen nach der Tüte, unter der sich sein Mund und seine Nase abzeichneten, während die Luft immer dünner wurde. Hinter der Supermarkt-Werbung auf der Tüte konnte Craig sehen, wie Harrisons Augen sich voller Angst weiteten, und nicht in der Lage waren, irgendetwas jenseits des blaugestreiften, blutbefleckten Logos zu sehen.

Gillard schlug ihm mit dem Ellenbogen ins Gesicht.

»Hey, beruhig dich und hör zu, wenn ich rede.«

Die Hände hörten auf, sich zu bewegen.

»Gary, du bist ein widerlicher kleiner Tyrann! Aber das ist jetzt nicht mehr deine Liga. Lass Sam in Frieden! Wenn du dich auch nur in einem Radius von zehn Kilometern an sie heranbewegst, überschüttete ich dich mit Benzin und verbrenne dich am lebendigen Leib. Ich habe Übung darin, und glaub mir, das sind heftige Schmerzen. Niemand wird dich beweinen, und deine Asche wird bestenfalls im Katzenklo landen. Verstehst du?«

Die Tüte nickte und sonderte noch mehr keuchende Geräusche aus.

»Versuch bloß nicht, den Schlaumeier zu spielen, okay? Deine Wohnung steht unter Beobachtung, ich weiß, wen du anrufst, und ich weiß, wo du hingehst. Verstehst du?«

Die Tüte nickte erneut. Craig ließ das Kabel ein wenig los und lockerte es von der Kopflehne, sodass etwas Luft in die Tüte gelangen konnte. Ein mächtiges, zischendes Einatmen, und Craig zog das Kabel wieder zu. Er drehte Harrison zu sich, band seine Hände mit dem Tape zusammen und warf ihn auf den Rücksitz.

»Jetzt bleib da liegen und leg deine Beine über die Kopflehnen. Wenn du sie in den nächsten zehn Minuten bewegen solltest, werde ich das mitbekommen.«

Er entfernte das Kabel vom Hals, ersetzte es mit Panzertape und ließ eine kleine Lücke, sodass Luft in die Tüte gelangte. Er durchsuchte Harrisons Bomberjacke, fand Sams Telefon und schnappte sich auch Harrisons, ebenso wie die Autoschlüssel.