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Der Roman spielt in China am Ende des 19. Jahrhunderts. Erzählt wird die Geschichte des jungen, reichen Chinesen Kin-Fo, der das Leben als solches nicht zu schätzen weiß. Wohlhabend, aber völlig antriebslos, lebt er in den Tag hinein, ab und zu durch allerlei Kurzweil zerstreut. Zu seinem direkten Umfeld zählt der im Hause lebende Philosoph Wang, ein bekehrter, früher militanter Gegner des Kaisers. Um sich zu zerstreuen, wird ihm geraten zu heiraten. Wang machte dafür die in Peking lebende junge Witwe Lé-U ausfindig. Aber der gerade einsetzende Optimismus von Kin-Fo wird schlagartig gebremst, als aus den Staaten die Meldung kommt, dass durch einen Konkurs der Bank, deren Aktien er besitzt, seine Vermögenswerte dahin geschmolzen sind. Daraufhin sagt er die geplante Hochzeit mit Lé-U ab und schließt bei der amerikanischen Versicherungsgesellschaft der Hundertjährigen eine auf zwei Monate Laufzeit begrenzte Lebensversicherung über 200.000 Dollar ab, die auch das Ableben durch Selbstmord mit einschließt. Kin-Fo stellt fest, dass es nicht so einfach ist Selbstmord zu begehen. Deswegen bittet er Wang um einen ungewöhnlichen Freundschaftsdienst. Wang soll ihn umbringen. Jules Verne (1828-1905) war ein französischer Schriftsteller.
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Seitenzahl: 293
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»Man muß doch zugeben, daß das Leben seine guten Seiten hat! rief der eine Theilnehmer einer Tafelrunde aus, der sich mit dem Arme gegen die Marmorlehne seines Sessels stützte und seelenvergnügt eine überzuckerte Wasserlilienwurzel verzehrte.
– Aber auch seine schlechten! bemerkte ein Anderer, unterbrochen von Hustenanfällen, da ihn die Spitze einer delicaten Haifischflosse zu ersticken drohte.
– Werdet nur endlich Philosophen! mischte sich da eine ältere Persönlichkeit ein, auf deren Nase eine ungeheure Brille mit runden, in Holz gefaßten Gläsern ruhte. Heute denkt man zu ersticken und morgen geht Alles so glatt ab, wie ein Schluck von diesem Nektar durch die Gurgel rinnt! Das ist das Bild des Menschenlebens!«
Mit diesen Worten leerte der sich in Alles schickende Epikuräer ein Glas des herrlichen erwärmten Weines, dessen leichte Dampfwölkchen aus einem blitzenden, metallenen Theekessel aufwirbelten.
»Was mich betrifft, ließ sich ein vierter Tischgenosse vernehmen, so erscheint mir unser Erdenwallen nur dann beachtenswerth, wenn man nichts thut und auch die Mittel besitzt, der süßen Muße zu fröhnen!
– Falsch! Grundfalsch! warf da der Fünfte ein. Das wahre Glück gewährt nur die Arbeit. Wer die größte Summe von Kenntnissen erwirbt, der ist damit auf dem Wege, wirklich glücklich zu sein....
– Und zu lernen, daß er, bei Lichte besehen, doch nichts weiß.
– Ist das nicht der Weisheit Anfang?
– Gewiß, doch wo ist deren Ende?
– Die Weisheit hat kein Ende! erwiderte philosophisch der Mann mit der Brille. Gesunden Menschenverstand zu besitzen, bleibt doch die höchste Befriedigung!«
Nun wendete sich der erste Tafelgast direct an den Amphitryo, der das obere Ende des Tisches, das heißt den untergeordnetsten Platz einnahm, wie es die landesüblichen Gesetze der Höflichkeit erheischten. Theilnahmslos und etwas zerstreut, hörte dieser, ohne ein Wort dazu zu sagen, obigem Meinungsaustausche inter pocula zu.
– Was denkt wohl unser liebenswürdiger Gastgeber über diese Auseinandersetzungen bei vollem Glase? Hält er das Menschenleben heutzutage für gut oder schlecht? Ist er ein Freund oder Feind desselben?
– Pah!« antwortete der Angeredete.
Das ist so recht eigentlich das beliebteste Wort aller gleichgiltigen Seelen. Es sagt sowohl Alles als gar nichts. Es gehört allen Sprachen an und sollte sich in jedem Wörterbuche der Erdkugel finden. Es ist etwa das »artikulirte Mundaufthun«.
Die fünf Gäste, welche jener Gelangweilte bewirthete, stürmten jetzt aber, jeder für seine Ansicht, mit Argumenten aller Art auf ihn ein. Man wollte mit aller Gewalt seine Meinung hören. Anfänglich verweigerte er jede Antwort und sagte zuletzt nur, daß das Leben im Grunde weder gut, noch schlecht zu nennen sei. Seiner Meinung nach wäre es eine ziemlich zwecklose, im Ganzen genommen etwas unerquickliche »Erfindung«.
»Nun da habt Ihr ganz unseren alten Freund!
– Wie kann er nur so sprechen, da noch nicht die Falte eines Rosenblattes seine Ruhe gestört hat?
– Und wo er noch so jung ist!
– Jung und kerngesund!
– Gesund und reich!
– Sehr reich!
– Mehr als reich!
– Vielleicht nur zu reich!«
Diese Ausrufe kreuzten sich wie die Raketen eines Feuerwerkes, ohne auf dem unerregbaren Gesichte des Amphitryonen auch nur ein leises Lächeln hervorzurufen. Er begnügte sich, mit den Achseln zu zucken, wie ein Mensch, der noch niemals, nicht einmal eine kurze Stunde lang, im Buche seines Lebens geblättert, ja, der noch nicht einmal dessen erste Bogen aufgeschnitten hat.
Und doch zählte dieses Muster von Indifferentismus erst einunddreißig Sommer, erfreute sich der besten Gesundheit, besaß ein großes Vermögen, einen nicht ungebildeten Geist und natürliche Anlagen, die ihn weit über den Mittelschlag der Menschheit erhoben – mit einem Worte, er hatte Alles, was so manchem Anderen fehlt, um der Glücklichste unter der Sonne zu sein. Warum war er das nicht?
Warum?
Da ließ sich die ernste Stimme des Philosophen vernehmen, der gemessen sprach wie der Führer des altgriechischen Chors.
»Wenn Du hiernieden nicht glücklich bist, mein Freund, sagte er, so kommt das nur daher, daß Dein Glück stets ein rein negatives war. Mit dem Glücke verhält sich's wie mit der Gesundheit. Um sie zu genießen, muß man sie einmal entbehrt haben. Du bist niemals krank.... oder richtiger, niemals unglücklich gewesen! Das ist's, was Deinem Leben fehlt. Wer vermag wohl das Glück zu schätzen, wenn ihn nicht, auch nur einen Augenblick lang, das Unglück beugte?«
Mit diesen salbungsvollen Worten erhob der Philosoph sein Glas voll des feinsten Champagners.
»Ich wünsche der Sonne unseres Wirthes ein klein wenig Schatten, rief er, seinem Leben nur einmal das Gefühl des Schmerzes!«
Hierauf leerte er den Becher in einem Zuge.
Der Amphitryo machte eine leise Handbewegung und versank wieder in seine gewohnte Apathie.
Und wo fand dieses Gespräch wohl statt? Etwa in einem europäischen Speisesaale von Wien, Paris, Petersburg oder London? Unterhielten sich die sechs Tischgenossen wohl im Salon eines Restaurants der Neuen oder der Alten Welt? Wer waren die Leute, welche, ohne viel getrunken zu haben, derartige, Fragen bei einem reichlichen Mahle verhandelten?
Auf jeden Fall keine Franzosen, denn sie sprachen nicht von Politik.
Die sechs Tafelfreunde saßen am Tische eines mittelgroßen, verschwenderisch ausgestatteten Salons. Durch die blauen und orangefarbenen Scheiben leuchteten eben die Strahlen der niedergehenden Sonne. Draußen am Fenstergebälk schaukelten Guirlanden von natürlichen und künstlichen Blumen im sanften Hauche des Abendwindes, und einige bunte farbige Laternen mischten ihren milden Schein mit dem ersterbenden Schimmer des Tages. Ueber den Fensteröffnungen wanden sich reizende Arabesken hin, da und dort unterbrochen von herrlichen Bildhauereien verschiedener Art, welche himmlische und irdische Schönheiten, Thiere und Pflanzen einer phantastischen Fauna und Flora darstellten.
An den Wänden des mit Seidentapeten geschmückten Salons glänzten Spiegel mit Spiegelglasrahmen. Eine an der Decke angebrachte »Punka« milderte die umgebende Temperatur durch die Bewegung ihrer Perkalinflügel.
Die Tafel selbst bildete ein großes, schwarz lackirtes Viereck. Kein Tischtuch verhüllte die Fläche desselben, welche das reiche Silber- und Porzellangeschirr gleich der reinsten Krystallscheibe widerspiegelte. An Stelle der Servietten hatte jeder Tischgast eine gewisse Anzahl seiner Papierbogen, jeden mit passendem Sinnspruch, neben sich liegen. Rund um die Tafel standen Sessel mit marmornen Rückenlehnen, welche unter jenen Breitegraden offenbar vor den Seidenpolstern unserer modernen Hausgeräthe den Vorzug verdienten.
Die Bedienung besorgten recht hübsche junge Mädchen mit Lilienblüthen und Chrysanthemum in den schwarzen Flechten und mit coquett um die Arme geschlungenen Spangen aus Gold oder Nephrit. Heiter lächelnd, brachten sie die Gerichte oder entfernten das Geschirr stets nur mit einer Hand, während sie mit der anderen graziös einen breiten Fächer schwangen, der die Luftströmungen von der Punka der Zimmerdecke lebhafter in Bewegung setzte.
Die Tafel selbst ließ nichts zu wünschen übrig. Man konnte nicht wohl köstlichere Gerichte erdenken, als sie die berühmte Küche hier lieferte. Der Herr des Hauses hatte sich, im Bewußtsein, es hier mit Kennern zu thun zu haben, bei der Bereitung der hundertfünfzig Gänge dieser Mahlzeit fast selbst übertroffen.
Die Einleitung bildeten kleine Zuckerkuchen, Caviar, gebackene Heuschrecken, getrocknete Früchte und Ning-Po-Austern. Dann folgten in kurzen Zwischenräumen Setzeier von Enten, Tauben und Kibitzen, Schwalbennester mit Rührei »Fricassé von »Gingseng«, Kiemen vom Stör mit Compote, Walfischnerven mit Zuckersauce, Flußalant, gelbe Krabben in Ragout, Sperlingskröpfe und Lämmerangen mit Knoblauch, Rübchen mit der Milch von Aprikosenkernen, Seegurken, Bambusschößlinge mit Sauce, gezuckerter Salat von jungen Radieschen u.s.w. Ananas aus Singapore, Erdnußbaum-Mandeln, saftige Mango- und Long-yen-Früchte mit zartem, weißem Fleisch, »Litchi« mit gelblicher Pulpa, Wasserkastanien, eingemachte Orangen aus Canton und dergleichen bildeten die Endgerichte dieser schon drei Stunden dauernden Mahlzeit, bei der in reichlicher Menge Bier, Champagner und Chao-Chigne-Wein getrunken ward, während der unvermeidliche Reis, den die Tischgäste mit Hilfe kleiner Elfenbeinstäbchen verzehrten, das Dessert des sachkundig angeordneten Speisezettels bildete.
Endlich brachten die jungen Dienerinnen mit lauem Wasser getränkte Servietten herbei, mit welchen jeder Tafelgenosse sich unter großer Befriedigung das Gesicht abwischte.
Immerhin trat jetzt nur eine Art Zwischenakt der Mahlzeit ein, ein Stündchen des dolce far niente, das durch musikalische Vorträge verkürzt wurde.
Im Salon sammelte sich nun eine Truppe Sängerinnen und Instrumentisten. Die jungen, sehr hübschen Tänzerinnen bewahrten eine höchst bescheidene und decente Haltung. Aber die Musik und die Vortragsweise! Da gab es ein Miauen und Glucken ohne Takt und Zusammenklang und Töne, welche bis zur letzten Grenze der menschlichen Gehörfähigkeit hinausgingen. Die Instrumente, darunter Violinen, deren Saiten sich mit den Roßhaaren der Bögen verwickelten, mit Schlangenhaut an Stelle des Resonanzbodens überzogene Guitarren, schreiende Clarinetten, Harmonikas in Gestalt kleiner tragbarer Orgeln waren der Sänger und Sängerinnen ganz würdig, die sie mit dem Aufgebote aller Stimmmittel begleiteten.
Der Dirigent dieses Carneval-Orchesters hatte beim Eintritt das Verzeichniß seines Repertoires vertheilt. Auf ein Zeichen des Amphitryonen, der ihm die Auswahl selbst überließ, spielten die Musiker das »Bouquet der zehn Blumen«, ein Stück, das damals sehr in Aufnahme und bei der seinen Welt sehr beliebt war.
Darauf zog sich die reichlich bezahlte Sänger- und Tänzergesellschaft unter lebhaften Bravo-Rufen zurück, deren sie auch in den übrigen Salons noch genug erntete.
Die sechs Tischgenossen verließen nun, ohne weitere Ceremonien oder Redensarten, die Tafel, doch nur, um an einer anderen Platz zu nehmen.
An dieser zweiten stand für Jeden eine kleine bedeckte, mit der Abbildung des wie gewöhnlich auf dem hergebrachten Flosse stehenden Bodhidharama (ein berühmter Buddhisten-Priester) geschmückte Tasse bereit. Dazu wurde eine gewisse Menge Thee geliefert, welche Jeder selbst in das kochende Wasser der Tasse warf, und ohne Zucker fast sofort genoß.
Das war aber ein Thee! Hier brauchte man nicht zu fürchten, daß die, Firma Gibb-Gibb & Comp., welche denselben geliefert, ihn durch Zumischungfremdartiger Blätter verfälscht habe, noch daß er schon einmal abgebrüht worden und nur noch zum Reinigen der Teppiche geeignet sei, oder daß ihn ein gewissenloser Fälscher mittels Curcuma gelb oder mittels Berlinerblau grün gefärbt habe. Nein, das war echter Kaiserthee in tadelloser Reinheit! Das waren die köstlichen, der Theeblume selbst ähnlichen Blätter der ersten Ernte im März, die man nur selten benützt, weil die Pflanze dadurch eingeht, die Blätter, welche nur Kinder mit Handschuhen zu pflücken berechtigt sind.
Ein Europäer würde nicht genug Lobsprüche über dieses Getränk zu verschwenden wissen, das unsere sechs, Freunde – bewährte Kenner, welche dabei kein Wort verloren – in kleinen Zügen schlürften.
Damit soll indeß nicht gesagt sein, daß sie die Vorzüge dieses herrlichen Aufgusses nicht zu würdigen gewußt hätten. Als Leute aus guter Gesellschaft, reich bekleidet mit der »Han-chaol«, einer Art leichtem Vorhemd, dem »Ma-kual«, einem kurzen Rocke, der »Haol«, einem längeren, an der Seite zugeknöpften Unterkleid; an den Füßen gelbe Stiefelchen mit durchbrochenen Schäften tragend, dazu seidene, in der Taille mit einer troddelgeschmückten Schärpe gehaltene Beinkleider, waren die Männer ja auch in dem Lande geboren, wo der Theestrauch jährlich seine Ernte wohlriechender Blätter liefert. Sie hatten jene Mahlzeit, in der Schwalbennester, Seegurken, Walfischnerven und Haifischflossen figurirten, verzehrt, wie sie es der Vorzüglichkeit ihrer Zubereitung wegen verdiente; der Speisezettel aber, der jeden, Fremden in Verwunderung gesetzt hätte, enthielt für sie nichts Außergewöhnliches.
Woran von ihnen aber Keiner gedacht hätte, das war die Mittheilung, welche der Gastgeber seinen Freunden noch machen sollte, als sie eben die Tafel verlassen wollten. Jetzt erst erfuhren jene, weshalb die heutige Einladung erfolgt war.
Noch standen die Tassen halb gefüllt. Da, als der Gleichgiltige die seine zum letzten Male leerte, begann er, die Arme auf den Tisch gestützt und mit den Augen ziellos umherblickend, wie folgt:
»Meine Freunde! Nun hört mich einmal ohne Lachen an. Der Würfel ist gefallen. Ich gedenke in mein Leben ein neues Element einzuführen, das vielleicht dessen Monotonie zu verscheuchen vermag! Ob es zum Glück oder Unglück führen wird, kann nur die Zukunft lehren. Der Schmaus, zu dem ich Euch heute bat, soll das Abschiedsfest meines – Junggesellenlebens sein. In vierzehn Tagen werde ich verheirathet und....
– Und der Glücklichste unter der Sonne sein! fiel der Optimist ein. Pass' auf, alle Vorzeichen sind Dir günstig!«
Wirklich warfen eben die Lampen knisternd einen fahlen Schein, die Elstern schaukelten sich auf den Blumenguirlanden der Fenster und wagrecht schwammen die kleinen Theeblätter in den Tassen. Lauter günstige und für untrüglich angesehene Vorbedeutungen.
Alle beeilten sich denn auch, ihren Wirth zu beglückwünschen, der diese Gratulationen indeß sehr kühl aufnahm. Da er die Person, welche die Rolle des »neuen Elementes« zu spielen bestimmt war, aber nicht selbst nannte, beging auch Niemand die Indiscretion, ihn danach zu fragen.
Der Philosoph allein hatte bei den eifrigen Beglückwünschungen geschwiegen. Mit gekreuzten Armen und halbgeschlossenen Augen saß er da, während ein ironisches Lächeln seine Lippen umspielte, so als ob er weder mit den Darbringern, noch mit dem Empfänger jener Gratulationen vollkommen einverstanden wäre.
Da stand der Letztere selbst auf, legte die Hand auf seine Schulter und fragte mit weniger ruhiger Stimme, als man sonst bei ihm gewöhnt war:
»Bin ich etwa schon zu alt, um zu heirathen?
– Nein.
– Vielleicht zu jung?
– Noch weniger.
– Meinst Du, daß ich Unrecht thue?
– Vielleicht!
– Die, welche ich gewählt und die Du übrigens kennst, besitzt alle Eigenschaften, um mich glücklich zu machen.
– Das weiß ich.
– Nun und....
– Du hast nicht alle Eigenschaften, um es zu werden. Sich im Leben allein zu langweilen, ist schlimm! Zu Zweien – das ist noch schlimmer!
– Ich werde also niemals glücklich sein?....
– Nein, wenigstens wenn Du das Unglück nicht kennen lernst.
– Das Unglück kann mich nicht treffen!
– Desto schlimmer, so bist Du unheilbar!
– O, über diese Philosophen! rief der jüngste der Freunde. Man darf gar nicht auf sie hören. Das sind Theorie-Maschinen. Sie fabriciren dergleichen von jeder Sorte! Es ist nicht der Mühe werth, darauf Gewicht zu legen. Verheirathe Dich, bester Freund, nimm Dir ein Weib! Ich würd' es Dir nachthun, hätte ich nicht gelobt, unvermählt zu bleiben. Tritt in die Ehe, und mögen, wie unsere Dichter sagen, die beiden Phönix Dir immer in trautem Bunde erscheinen. Ich trinke auf das Wohl unseres Wirthes, meine Freunde!
– Und ich, erwiderte der Philosoph, auf das demnächstige Eingreifen einer barmherzigen Schutzgöttin, die unseren Freund, um ihn glücklich zu machen, einmal die Schale des Unglücks kosten läßt!«
Nach diesem bizarren Trinkspruche erhoben sich die Tafelgenossen und berührten einander mit vorgestreckten Fäusten, etwa wie die Boxer vor dem Wettkampfe; dann senkten sie die Hände langsam, erhoben sie, sich dazu verbeugend, wieder und nahmen von einander Abschied.
Aus der Beschreibung des Saales, in dem obige Mahlzeit abgehalten wurde, aus dem eigenartigen Speisezettel der letzteren, aus der Kleidung der Tischgäste und der Art ihrer Ausdrucksweise, vielleicht auch aus der Eigenthümlichkeit ihrer Theorien hat der Leser wahrscheinlich schon errathen, daß hier von Chinesen die Rede ist, doch nicht von solchen »Kindern des Himmels«, wie man sie wohl auf spanischen Wänden oder importirtem Porzellangeschirr abgebildet sieht, sondern von modernen Bewohnern des »Himmlischen Reiches«, welche durch ihre Studien, ihre Reisen und häufigen Berührungen mit den Völkern des Abendlandes schon halb und halb »europäisirt« waren.
Der reiche Kin-Fo hatte in Begleitung seines von ihm unzertrennlichen Hausgenossen, des Philosophen Wang, vier seiner vertrautesten Jugendfreunde, nämlich Par-Shen, einen Mandarinen vierter Klasse mit blauem Knopfe, Yin-Pang, einen reichen Seidenhändler aus der Pharmaceuten-Straße in Canton, Tim, den vollendeten Lebemann, und Hual, den Gelehrten, auf einem der bekannten Blumenschiffe des Perlenflusses bewirthet.
Es geschah das am siebenundzwanzigsten Tage des vierten Mondes während der ersten der fünf Wachen, in die man die Stunden der chinesischen Zeit so poetisch einzutheilen pflegt.
Wenn Kin-Fo seinen Freunden einen Abschiedsschmaus in Canton gegeben hatte, so kam das daher, daß er selbst einen Theil seiner Jugend in jener Hauptstadt der Provinz Kuang-Tong verlebte. Von den zahlreichen Bekannten, an denen es einem reichen, freigebigen jungen Manne ja niemals fehlt, waren ihm jetzt nur noch die vier, auf das Blumenschiff eingeladenen Freunde übrig geblieben. Die übrigen, welche die Wechselfälle des Lebens nach allen Seiten hin verschlagen hatte, hätte er heute wohl vergeblich um sich zu vereinigen gesucht.
Kin-Fo wohnte zu der Zeit in Shang-Haï, und nur um seine tödtliche Langweile zu unterbrechen, begab er sich für einige Tage nach Canton. Noch an demselben Abend gedachte er jedoch den Dampfer zu benutzen, der die Hauptküstenpunkte jener Provinz anläuft, um ruhig nach seinem Yamen zurückzukehren.
Wenn Wang dabei Kin-Fo begleitete, so erklärt sich das dadurch, daß er seinem ehemaligen Schüler, den er auch jetzt noch täglich zu belehren suchte, eben niemals von der Seite wich. Dieser freilich schlug die guten Lehren meist in den Wind. Wie viele schöne Grundsätze und Sprüche der Weisheit gingen dabei verloren! Doch die »Theorien-Maschine« – wie der Lebemann Tim sich äußerte – arbeitete unverdrossen weiter.
Kin-Fo war so in rechtem Sinne des Wortes der Typus jener Chinesen des Nordens, deren Race einer vollständigen Umwandlung entgegengeht, während sie sich vor einer Vermischung mit den Tataren zu bewahren wußten. In den südlichen Provinzen, wo die höchsten wie die niedrigsten Klassen sich vielfach mit der Mantschu-Race kreuzten, trifft man kaum jemals auf solche Erscheinungen. In Kin-Fo's Adern rollte, weder von Seite seines Vaters noch seiner Mutter, deren Familien sich seit der Zeit der Eroberung des Reiches sehr zurückgezogen hatten, auch nicht ein Tropfen tatarischen Blutes. Groß, wohlgebaut und von mehr weißer als gelber Hautfarbe, konnte er mit seinen geradlinigen Augenbrauen, den horizontalen oder doch nur unmerklich nach den Schläfen hin aufsteigenden Augen, der feingeschnittenen Nase und bei seinem keineswegs abgeplatteten Gesicht recht wohl mit den schönsten Erscheinungen der abendländischen Völker in die Schranken treten.
Den Chinesen erkannte man in Kin-Fo wirklich nur an dem sorgsam rasirten Schädel, der Stirn und dem bartlosen Kinn, sowie an dem prächtigen Zopfe, der vom Hinterhaupte aus wie eine Schlange aus Bergwachs über den Rücken herabfiel. Sehr sorgfältig bezüglich seiner äußeren Erscheinung, trug er einen seinen, die Lippen halbkreisförmig überdachenden Schnurrbart und ein Bärtchen unter denselben, das dem Punkte unter einer Note auffallend ähnlich sah. Seine Nägel waren über einen Centimeter lang, ein Beweis seiner Zugehörigkeit zu denjenigen Gesellschaftsklassen, welche auch ohne zu arbeiten, leben können. Vielleicht trug auch die Nonchalance seines Auftretens neben einer gewissen Hochmüthigkeit seiner Haltung zu der vollendeten Erscheinung des »großen Herrn« bei, die sich in seiner ganzen Person ausprägte.
Uebrigens rühmte sich Kin-Fo, in Peking geboren zu sein, worauf alle Chinesen ohne Unterschied sehr stolz sind. Er konnte Jedem, der ihn fragte, mit ruhigem Selbstbewußtsein antworten: »Ich bin von hohem Stamme!«
Sein Vater Tchung-Heu wohnte nämlich zur Zeit der Geburt des Sohnes in Peking, und dieser hatte sich erst seit sechs Jahren in Shang-Haï niedergelassen.
Dieser würdige, einer hervorragenden Familie aus dem Norden des Reiches entstammende Chinese besaß, wie die meisten seiner Landsleute, sehr entwickelte Anlagen zum Handel. Während der ersten Jahre seiner selbständigen Thätigkeit kaufte, verkaufte und exportirte er alle Erzeugnisse des dichtbevölkerten Landes, Papier aus Sevatow und Seidenwaaren aus Su-Tchen ebenso wie candirten Zucker aus Formosa, Thee aus Hankow und Foochow, Eisen aus Hanon wie rothes und gelbes Kupfer aus der Provinz Yunanne. Sein Hauptgeschäft, sein »Hong«, befand sich in Shang-Haï, doch besaß er auch Filial-Comptoirs in Nan-King, Tien-Tsin, Macao und Hong-Kong. Sehr vertraut mit europäischen Zuständen, beförderten ihm die englischen Dampfer seine Waarenballen und übermittelte ihm der elektrische Draht die Marktpreise der Seidenstoffe in Lyon und des Opiums in Calcutta. Er befreundete sich schnell mit jedem Kulturfortschritte, wie mit dem Dampfe und der Elektricität, im Gegensatze zu den meisten Chinesen, welche sich dagegen ablehnend verhalten unter dem Einflusse der Mandarinen und der Regierung, deren Ansehen dadurch mehr und mehr abnimmt.
Kurz, Tchung-Heu ging sowohl rücksichtlich des Binnenhandels im Reiche selbst wie bei seinen Transactionen mit den portugiesischen, deutschen, englischen, französischen und amerikanischen Geschäftshäusern in Shang-Haï, Macao und Hong-Kong so geschickt zu Werke, daß sich sein Vermögen zur Zeit der Geburt Kin-Fo's schon auf 400.000 Dollars bezifferte.
Während der nächstfolgenden Jahre erreichte dasselbe die doppelte Höhe, Dank einem neuen Geschäftszweige, dem, Kuli-Handel mit der Neuen Welt«. Bekanntlich leidet China an Uebervölkerung, trotz der ungeheueren Ausdehnung seines Gebietes, das man dichterisch das Himmlische Reich, das Reich der Mitte oder das Land der Blumen genannt hat.
Man schätzt die Zahl der Bewohner auf mehr als 300 Millionen, das heißt fast den vierten Theil der Bevölkerung der Erde überhaupt. So wenig nun der ärmere Chinese auch ißt, so ißt er doch immer, und trotz der unzähligen Reisplantagen und der endlosen Hirse- und Kornfelder vermag ihn China nicht hinreichend zu ernähren. Daher stammt der Ueberfluß, der nun durch die Breschen zu entweichen sacht, welche englische und französische Kanonen in die materiellen und moralischen Mauern des Himmlischen Reiches geschossen haben.
Eben dieser Ueberfluß fließt nach Nordamerika, vorzüglich nach Californien hin ab. Es geschieht das aber mit solcher Heftigkeit, daß der Congreß sich gegenüber dieser Ueberschwemmung, die man wegwerfender Weise als »gelbe Pest« bezeichnete, zu beschränkenden Maßregeln entschließen mußte. Man gelangte nämlich zu der Ueberzeugung, daß fünfzig Millionen nach den Vereinigten Staaten ausgewanderte Chinesen ihr Vaterland nicht merklich schwächen konnten, während sich damit die Absorption der angelsächsischen Race zu Gunsten der mongolischen vollzogen haben würde.
Jedenfalls nahm die Auswanderung große Dimensionen an. Die von einer Handvoll Reis, einer Tasse Thee und einer Pfeife Tabak lebenden Kulis, welche sich in jede Thätigkeit fanden, wußten sich am Salzsee, in Oregon und vorzüglich in Californien, wo sie die Arbeitslöhne bedeutend herabdrückten, sehr bald Geltung zu verschaffen.
Es bildeten sich Gesellschaften zum Zwecke der Beförderung jener so wenig kostspieligen Emigranten. Fünf solche arbeiteten in fünf Provinzen des Himmlischen Reiches mit der Anwerbung derselben, eine sechste hatte ihren Sitz in San-Francisco. Die ersteren beförderten die Waare, die letztere nahm sie in Empfang. Eine weitere Agentur, die des »Ting-Tong«, schaffte sie wieder zurück.
Letzteres verlangt eine Erklärung.
Die Chinesen sind wohl bereit, ihr Vaterland zu verlassen und bei den »Melikauern«, so nennen sie die Bewohner der Vereinigten Staaten, ihr Glück zu versuchen, doch nur unter der einen Bedingung, daß ihre Leichen getreulich zurückbefördert werden, um in heimischer Erde eine Ruhestätte zu finden. Das ist eine der Hauptbedingungen ihrer Contracte, eine conditio sine qua non, zu welcher sich die Gesellschaften den Auswanderern gegenüber verpflichten müssen und der sie sich unter keinerlei Vorwand zu entziehen im Stande sind.
Die Ting-Tong, früher die Todten-Agentur genannt, verfügt über ihre besonderen Fonds, und ihr fällt die Aufgabe zu, die Leichenschiffe zu heuern und zu befrachten, welche mit voller Ladung nach Shang- Haï, Hong-Kong oder Tien-Tsin zurücksegeln. Dieses Geschäft bildet wiederum einen Handelszweig und eine neue Quelle von Einnahmen.
Dem scharf blickenden und unternehmenden Tchung-Heu entging das natürlich nicht. Bei seinem 1866 eingetretenen Tode war er Vorsteher der Gesellschaft Kuang-Than, in der Provinz gleichen Namens, und Vicevorsitzender der Gesellschaft der Leichencasse in San-Francisco.
Damals erbte der nun vater- und mutterlose Kin-Fo ein Vermögen von über drei Viertelmillionen Dollars, angelegt in Actien der Californischen Centralbank, welche er sich sorgsam zu bewahren suchte.
Als er seinen Vater verlor, hätte der junge Erbe allein gestanden, wenn nicht Wang, der von ihm unzertrennliche Wang gewesen wäre, der ihm als Lehrer und Freund treu blieb.
Wer war denn dieser Wang eigentlich? Seit siebzehn Jahren schon wohnte er in dem Yamen von Shang-Haï. Er war der stete Genosse des Vaters gewesen, wie später der des Sohnes. Und woher kam er? Welche Vergangenheit lag hinter ihm? Das waren ebenso viele Fragen als Räthsel, über welche nur Tchung-Heu und Kin-Fo hätten Auskunft geben können.
Wenn sie das gewollt – was übrigens sehr unwahrscheinlich war – so hätte man Folgendes gehört:
Es weiß Jedermann, daß China vor allen anderen das Reich ist, wo Revolutionen gleich viele Jahre lang fortdauern und Hunderttausende von Menschen in Bewegung setzen können. Im 17. Jahrhundert nun herrschte die berühmte, ihrem Ursprunge nach chinesische Dynastie der Ming schon dreihundert Jahre lang über das Himmlische Reich, als das Haupt derselben, der sich gegen die, seine Hauptstadt bedrängenden Rebellen zu schwach fühlte, im Jahre 1648 einen Tatarenkönig um Hilfe anging.
Dieser König ließ sich nicht zweimal bitten; er eilte herbei und vertrieb zwar die Rebellen, benützte aber zugleich die Gelegenheit, Den, der seine Hilfe erbeten hatte, selbst zu stürzen und seinen eigenen Sohn, Chun-Tche, zum Kaiser ausrufen zu lassen.
Von dieser Zeit ab trat die Herrschaft des tatarischen Stammes an Stelle der des chinesischen, und die Mantschu-Kaiser bestiegen den Thron.
Nach und nach vermischten sich, vorzüglich in den niederen Volksschichten, die beiden Racen, während die reichen Familien des Nordens vielfach auf das strenge Auseinanderhalten chinesischen und tatarischen Blutes achteten. So unterscheidet man, vorzüglich in den mittleren Provinzen des Nordens, diese beiden Typen auch noch heutigen Tages ohne Schwierigkeit. In jenen Gegenden sammelten sich die »Unversöhnlichen« als treue Anhänger des gestürzten Herrscherhauses.
Kin-Fo's Vater zählte zu den letzteren und verleugnete niemals die Ueberlieferungen seiner Familie, welche es verschmäht hatte, mit den Tataren zu pactiren. Eine Erhebung gegen die Herrschaft der Fremdlinge, auch nach deren fast dreihundertjährigem Besitze der Gewalt, hätte ohne Zweifel seine Zustimmung und Unterstützung gefunden.
Es bedarf wohl kaum der Versicherung, daß Kin-Fo seine politischen Anschauungen nach allen Seiten theilte.
Im Jahre 1860 herrschte noch Kaiser S'Hiene-Fong, der England und Frankreich den Krieg erklärte – ein Krieg, der mit dem am 25. October desselben Jahres in Peking abgeschlossenen Vertrage endigte.
Schon vor dieser Zeit bedrohte die herrschende Dynastie aber eine gefährliche Empörung. Die Tschang-Mao oder Taï-Ping, die »langhaarigen Rebellen«, hatten sich 1853 Nan-Kings und 1855 Shang-Haïs bemächtigt. Nach S'Hiene-Fong's Ableben hatte sein junger Sohn große Mühe, die Taï-Ping zu Paaren zu treiben. Ohne den Vicekönig Li, den Prinzen Kong und vorzüglich ohne die Unterstützung des englischen Oberst Gordon möchte er wohl kaum noch auf seinem Throne sitzen.
Die für eine Rebellion gut organisirten Taï-Ping wollten, als erklärte Feinde der Tataren, die Dynastie der Tsing durch die der Wang ersetzen. Sie bildeten vier verschiedene Heerhaufen; der erste, mit schwarzer Fahne, hatte die Aufgabe zu tödten; der zweite, mit rothem Banner, sollte Feuer anlegen; der dritte, mit gelber, sollte plündern, und dem vierten, mit weißer Fahne lag es ob, die drei anderen zu verproviantiren.
In dem Districte Kiang-Su spielten sich die wichtigsten Ereignisse ab. Su-Tchen und Kia-Hing, fünf Meilen von Shang-Haï, fielen den Rebellen in die Hände und wurden von den kaiserlichen Truppen nur mit Mühe zurückrobert. Auch das sehr bedrohte Shang-Haï wurde am 18. August 1860 angegriffen, gerade als die Generale Grant und Montauban, die Befehlshaber der englisch-französischen Armee, die Forts am Peï-Ho bombardirten.
Jener Zeit bewohnte Tchung-Heu, Kin-Fo's Vater, eine Besitzung in der Nähe Shang-Haïs, unsern der prachtvollen Brücke, welche chinesische Ingenieure über den Su-Tchen gebaut hatten. Die Erhebung der Taï-Ping sah er natürlich, da sie ihre Spitze gegen die Tataren richtete, mit wohlwollendem Auge an.
An jenem 18. August, an dem die Rebellen nach blutigem Kampfe von Shang-Haï abgedrängt wurden, war es, als sich das Thor zu Tchung-Heu's Wohnung rasch öffnete.
Ein Flüchtling, der seinen Verfolgern glücklich entgangen war, warf sich flehend Tchung-Heu zu Füßen. Der Unglückliche besaß keine Waffe mehr, sich vertheidigen zu können. Wenn ihn Der, bei dem er eine Freistatt sachte, der kaiserlichen Soldateska auslieferte, war er verloren.
Unmöglich konnte aber Kin-Fo's Vater an einem in sein Haus geflüchteten Taï-Ping zum Verräther werden.
Er verschloß hinter jenem vielmehr eiligst seine Thür.
»Ich will nicht fragen und mag es niemals wissen, was Du bist, was Du gethan, noch woher Du kommst! Du bist mein Gast und in dieser Eigenschaft allein schon bei mir in sicherer Hut.«
Der Flüchtling wollte sprechen, um ihm zu danken.... Fast fehlte ihm die Kraft dazu.
»Dein Name? fragte ihn Tchung-Heu.
– Wang.«
In der That rettete Tchung-Heu's Edelmuth damals Wang das Leben, ein Edelmuth, der dem Ersteren den eigenen Kopf gekostet hätte, wenn man vermuthete, daß er einem Rebellen Zuflucht gäbe. Tchung-Heu gehörte aber zu den Männern der alten Zeit, denen jeder Gast heilig war.
Einige Jahre später erlag die Empörung vollständig. Schon 1864 nahm das Oberhaupt der Taï-Ping in Nan-King, wo er residirte, Gift, um nicht den Kaiserlichen in die Hände zu fallen.
Seit dem erwähnten Tage blieb Wang in dem Hause seines Wohlthäters. Ueber seine Vergangenheit verlangte Niemand Ausschluß, Niemand richtete deshalb auch nur eine entfernte Frage an ihn. Vielleicht fürchtete man mehr zu hören, als erwünscht sein mochte. Die durch die Rebellen begangenen Grausamkeiten wurden als wahrhaft fürchterliche geschildert. Ob nun Wang unter dem schwarzen, rothen, gelben oder weißen Banner gedient, wollte man am liebsten nicht wissen, und bestrebte man sich, den guten Glauben zu bewahren, daß er nur dem Verproviantirungs-Heere angehört habe.
Der mit dem ihm zugefallenen Lose so glückliche Wang wurde also der stete Genosse des gastlichen Hauses. Auch nach Tchung-Heu's Ableben wollte sich der Sohn auf keinen, Fall von ihm trennen, so sehr hatte er sich an die Gesellschaft des liebenswürdigen Mannes gewöhnt.
Wer hätte aber auch zur Zeit des Beginnes unserer Geschichte einen alten Taï-Ping – einen Mörder, Plünderer oder Brandstifter, ganz nach Belieben – in jenem fünfzigjährigen Philosophen, dem Moralprediger mit der Riesenbrille, jenem chinesischen Chinesen mit den schiefen geschlitzten Augen und dem althergebrachten Schnurrbart wieder erkannt? Gab ihm nicht sein langes Oberkleid von wenig auffallender Färbung, sein in Folge von Fettleibigkeit etwas nach oben gerutschter Gürtel, die nach kaiserlicher Vorschrift geordnete Frisur nebst der Kopfbedeckung, das heißt einer Art Pelzhut, von dessen Rande eine Quaste von rothen, Fäden herabhing, vollkommen das Aussehen eines würdigen Professors der Weltweisheit, eines jener Gelehrten, die sich aller 80.000 Zeichen der chinesischen Schrift mit Geläufigkeit zu bedienen wissen, eines Eingeweihten der höheren Sprachweise, eines mit Auszeichnung Geprüften, der damit das Recht erlangt hatte, in Peking durch das große, nur für bevorzugte Söhne des Himmels reservirte Thor zu gehen?
Vielleicht hatte der frühere Rebell, seine blutige Vergangenheit vergessend, sich im Umgange mit dem wackeren Tchung-Heu zähmen gelernt und war allmälich auf den Weg der speculativen Philosophie übergeleitet worden. So waren auch an jenem Abend Kin-Fo und Wang, die sich niemals trennten, bei dem geschilderten Abschiedsschmaus zusammen in Canton und gingen ebenso miteinander längs der Quais hin, um den Dampfer aufzusuchen, der sie in kurzer Zeit wieder nach Shang-Haï zurückführen sollte.
Kin-Fo wanderte schweigsam, selbst etwas sorgenvoll dahin. Wang blickte weder nach rechts, noch nach links, philosophirte über den Mond und die glitzernden Sterne, ging lächelnd durch das »Thor der ewigen Reinheit«, das er für sich nicht zu hoch fand, ferner durch das »der ewigen Freude«, dessen Flügel nur für ihn geöffnet schienen, und verschwand endlich im Schatten der Thürme der Pagode »Zu den fünfhundert Gottheiten«.
Hier lag der Steamer »Perma« schon unter Dampf. Kin-Fo und Wang nahmen die beiden für sie aufbewahrten Cabinen ein. Die rasche Strömung des Perlenflusses, der mit seinem Schlamme täglich die Leichname Hingerichteter dem Meere zuwälzt, verlieh dem Schiffe eine außerordentliche Schnelligkeit. Einem Pfeile gleich, flog der Dampfer vorüber an Ruinen, welche von den Kanonen Frankreichs herrührten, vor der neun Etagen hohen Pagode Haf-Way's, vor der Jardyne-Spitze, nahe bei Whampoa, wo die größeren Schiffe vor Anker gehen, und zwischen den Inseln und Bambusdickichten der beiden Ufer dahin.
Die hundertfünfzig Kilometer, das heißt die dreihundertfünfundsiebzig »Lis«, welche Canton von der Mündung des Stromes trennten, wurden im Laufe der Nacht zurückgelegt.
Mit Sonnenaufgang passirte die »Perma« den »Rachen des Tigers« und endlich die beiden Hafenmauern an der Küste. Einen Augenblick leuchtete der 1825 Fuß hohe Victoria-Peak der Insel Hong-Kong durch den Morgennebel, und nach ungemein günstiger Ueberfahrt dampften Kin-Fo und unser Philosoph erst in dem gelblichen Wasser des Blauen Flusses hinauf und landeten endlich in Shang-Haï, an dem zur Provinz Kiang-Nan gehörigen Ufer.
Ein chinesisches Sprichwort sagt:
»Wenn die Säbel rosten, glänzen die Spaten –
»Wenn die Kerker leer werden, füllen sich die Speicher –
»Wenn die Tempelstufen von den Tritten der Gläubigen abgenützt und die Gerichtshoftreppen mit Gras bedeckt sind –
»Wenn die Aerzte zu Fuße gehen und die Fleischer reiten –
»Dann ist das Reich am besten verwaltet.«
Das Spichwort ist gut. Man könnte es wohl mit demselben Rechte auf alle Staaten der Alten und Neuen Welt anwenden. Wenn es aber überhaupt einen giebt, wo dieser fromme Wunsch seiner Erfüllung am fernsten ist, so ist
das vor Allem das Himmlische Reich. Hier glänzen die Säbel und rosten die Spaten, hier strotzen die Kerker von Unglücklichen und leeren sich die Speicher. Die Fleischer gehen weit mehr zu Fuß als die Aerzte, und wenn auch die Pagoden noch fromme Seelen anlocken, so fehlt es dagegen auch den Gerichtshöfen niemals weder an Anklägern, noch an Vertheidigern.
Uebrigens kann ein Reich von 180.000 Quadratmeilen, das von Norden nach Süden über 800, von Osten nach Westen mehr als 900 Meilen mißt, das ohne die Tributärstaaten, die Mongolei, Mantschurei, Tibet, Tonking, Korea, die Inseln Liu-Tchu u.a.m., allein achtzehn ungeheuere Provinzen umfaßt, ein solches Reich kann wohl auch niemals tadellos verwaltet werden.
Wenn die Chinesen darüber nur einen leisen Zweifel hegen, so sind alle Fremden in dieser Hinsicht vollkommen einig. Höchstens der Kaiser allein, der in seinem Palaste eingeschlossen lebt und nur sehr selten durch dessen, von einer dreifachen Stadtmauer beschützten Thore herauskommt, dieser Sohn des Himmels, der Vater und die Mutter seiner zahllosen Unterthanen, dem durch das Recht der Geburt die Einkünfte des Reiches zufließen, dieser Selbstherrscher, der nachBelieben Gesetze giebt oder aufhebt, dem das Recht über Leben und Tod Aller zusteht und vor dem sich alle Stirnen in den Staub beugen – nur er allein ist vielleicht der Meinung, daß hier Alles besser geordnet ist als in der übrigen Welt. Es wäre auch vergeblich, ihn davon überzeugen zu wollen, daß er sich irre. Ein Sohn des Himmels irrt sich eben niemals.
Von Kin-Fo war man fast versucht zu glauben, daß er die europäische Regierungsweise der chinesischen vorzog. So wohnte er schon nicht in Shang-Hat, sondern außerhalb auf dem Gebiete der englischen Niederlassung, die sich eine gewisse Autonomie zu bewahren gewußt hat.
Die eigentliche Stadt Shang-Haï liegt am linken Ufer des kleinen Flusses Huang-Pu, der sich rechtwinkelig mit dem Wusung vereinigt und in den Yantse-Kiang oder Blauen Fluß ausmündet, der dem Gelben Meere zuströmt.
Sie bildet ein von Norden nach Süden verlaufendes Oval und hat in ihren hohen Mauern fünf nach den Vorstädten führende Thore. Ein unentwirrbares Netz mit groben Steinen gepflasterter Straßen, welche unsere modernen Reinigungsmaschinen bald verderben würden; dunkle Läden ohne Vorbau oder Schaufenster, in denen sich halbnackte Händler bewegen; kein Wagen, kein Palankin und nur selten ein Reiter; einige Tempel der Einheimischen neben Kapellen der Ausländer; an Stelle von Spaziergängen nichts als ein »Theegarten« und ein ziemlich morastiger Paradeplatz auf ausgefülltem Lande, das früher Reisplantagen einnahmen und dem noch heute sumpfige Gase entströmen; und in jenen Straßen mit ihren schmalen, aber tiefen Häusern eine Bevölkerung von über 200.000 Seelen – das ist das Bild dieser, bezüglich ihrer Wohnlichkeit wenig einladenden, für den Handel aber doch ungemein wichtigen Stadt.
Hier war es nämlich, wo die Fremden nach dem Vertrage von Nan-King zuerst das Recht erlangten, Comptoirs zu errichten. Diese Stadt diente den europäischen Kaufleuten als das erste offene Thor für ihren Handel nach China. Außerhalb Shang-Haïs und seiner Vorstädte überließ dazu die Regierung gegen eine jährliche Rente drei Stück Land den Engländern, Amerikanern und Franzosen, welche zusammen etwa 2000 Köpfe zählen.
Ueber die französische Niederlassung, die unbedeutendste von allen, ist nicht viel zu sagen. Dieselbe grenzt fast an die nördliche Umwallung der Stadt und reicht bis zu dem Bache Yang-King-Pang, der sie von dem englischen Gebiete trennt. Hier erheben sich die Kirchen der Lazaristen und der Jesuiten, welche auch, vier Meilen von Shang-Haï, das Collegium von Tsikave besitzen, wo