Die letzte Heldin - Emily Tesh - E-Book

Die letzte Heldin E-Book

Emily Tesh

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Beschreibung

Seit die außerirdischen Majoda die Erde zerstört haben, gibt es nur noch wenige Orte in der Galaxis, die ausschließlich von Menschen bewohnt werden. Einer davon ist die Raumstation Gaea, die Heimat der jungen Kyr. Sie ist die beste Kämpferin ihres Jahrgangs, und sie kennt nur ein Ziel: Rache für die Vernichtung der Erde zu nehmen. Doch als sie in die Kinderstation Gaeas befohlen wird, um für den Rest ihres Lebens Babys zu bekommen, und ihr Bruder auf eine Selbstmordmission muss, wird Kyr klar, dass das Oberkommando einen Fehler gemacht hat. Sie flieht von Gaea und macht sich auf die Suche nach ihrem Bruder – und muss dabei feststellen, dass alles, was sie über die Galaxis, die Menschheit und die Majoda zu wissen glaubte, eine Lüge ist …

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Seitenzahl: 691

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Das Buch

Die ferne Zukunft. Vor Jahrhunderten ist die Menschheit ins All aufgebrochen – mit fatalen Folgen. Sie traf auf die außerirdischen Majoda, einen Zusammenschluss von Alien-Völkern. Es kam zu einem interstellaren Krieg, in dem die Aliens eine Geheimwaffe gegen die Erde einsetzten, die unseren Planeten vernichtet hat. Jetzt, Jahrzehnte später, ist die Raumstation Gaia alles, was von der Menschheit noch übrig ist. Kyr und ihr Zwillingsbruder Magnus, Nachfahren von genetisch modifizierten Supersoldaten, stehen kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag. Kyr hat ihr ganzes Leben auf Gaia verbracht und kennt nur ein Ziel: Rache für die Erde zu nehmen. Doch dann erobern Gaias Soldaten ein Alien-Schiff, und kurz darauf verschwindet Magnus – angeblich desertiert. Kyr tut das Undenkbare: Sie widersetzt sich dem Oberkommando, befreit das Alien und flieht mit dessen Raumschiff – und muss feststellen, dass alles, was sie über die Galaxis, die Majoda und den Krieg zu wissen glaubte, Lügen sind …

Die Autorin

Emily Tesh veröffentlichte zwei Kurzromane, für die sie mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Die letzte Heldin ist ihr erster Science-Fiction-Roman.

Mehr über Emily Tesh und ihre Werke erfahren Sie auf:

www.diezukunft.de

EMILY TESH

DIE LETZTE HELDIN

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von Nina Lieke

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

SOMEDESPERATEGLORY

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 08/2024

Redaktion: Uta Dahnke

Copyright © 2023 by Emily Tesh

Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung des Originalmotivs von Cynthia Sheppard

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31508-5V001

www.diezukunft.de

Trigger-Warnung:

Die letzte Heldin zeigt sexistische, homophobe, transphobe, rassistische und ableistische Haltungen, thematisiert sexuellen Missbrauch und erzwungene Schwangerschaften, Gewalt, Kindesmissbrauch, missbräuchliche Radikalisierung von Kindern, Genozid, Suizidgedanken und Suizid.

ὡς τρὶς ἂν παρ᾽ἀσπίδα στῆναι θέλοιμ᾽ἂν μᾶλλον ἢ τεκεῖν ἅπαξ.

Lieber kämpfe ich in drei Schlachten, als auch nur ein Kind zu gebären.

Euripides: Medea

ERSTER TEIL

GAIA

Wer sind die Menschen?

Diese missverstandenen Nachzügler*innen auf der intergalaktischen Bühne haben eine stolze Geschichte. Es wird oft vergessen, dass die Menschheit zu den drei einzigen nachgewiesenen Spezies gehört, die die Schattenraum-Technologie ohne Hilfe von außen entdeckt haben. Niemand würde den Lirem mangelnde Intelligenz vorwerfen, ganz zu schweigen von den Majo Zi, und genauso sollte man auch die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes nicht unterschätzen.

Ein weitverbreiteter Irrtum ist, dass Menschen unkontrollierbar und brutal sind. Es stimmt, dass sie sich in einem gefährlichen Lebensraum zu den mächtigsten Prädator*innen entwickelten und daher über einige bemerkenswerte physische Eigenschaften verfügen. Sie sind stärker und schneller als die meisten anderen Spezies, und ihre anpassungsfähigen, äußerst belastbaren Körper sind in der Lage, schlimmste Verletzungen zu überleben. Diese Tatsachen bedeuten jedoch keineswegs, dass sie unentwegt und ohne Grund gewaltsam vorgehen. Man sollte sich immer im Klaren darüber sein, dass ein Mensch stets in dem Bewusstsein handelt, etwas absolut Angemessenes zu tun, wenn er oder sie angreift.

(…) zumeist in weiblich und männlich unterteilt, obschon es beachtliche Minderheiten gibt, die weder noch sind. Diese Kategorisierung wird als so bedeutsam betrachtet, dass die meisten menschlichen Sprachen, so auch das gebräuchliche Terran- oder T-Standard, diese Unterscheidung ausdrücken. Sie werden feststellen, dass Menschen, mit denen Sie Umgang haben, darauf bestehen werden, auch Sie einer der menschlichen Geschlechterkategorien zuzuordnen. Gelingt ihnen das nicht, kann das bei ihnen Stress oder Verlegenheit auslösen. Die Zuordnung ist völlig willkürlich: Die Menschen betrachten die Lirem gemeinhin als weiblich (wobei sie das Pronomen »sie« verwenden), alle Zunimmer als männlich (er) und die meisten anderen als keines von beidem (hier wiederholen sie zum Beispiel den Namen der Person, aber es existieren auch andere Lösungen). Wenn ein Mensch das Pronomen es verwendet, dann dürfen Sie annehmen, dass er Sie beleidigen oder sogar bedrohen will, und sollten sich schleunigst aus dem Staub machen (…).

(…) Beachten Sie die jeweiligen Statusmerkmale und verhalten Sie sich hochrangigen Menschen gegenüber respektvoll. Denken Sie daran, Verhalten zu vermeiden, das als Bedrohung gedeutet werden könnte, besonders großen jungen Männern gegenüber, die biologisch zu Überreaktionen veranlagt sind. Machen Sie sich bewusst, dass längerer Blickkontakt oft als Provokation interpretiert wird. Die anderen Menschen sind für gewöhnlich weniger aufbrausend, aber sie alle neigen dazu, unruhig zu werden, wenn sie sich bedroht fühlen. Was auch immer Sie tun, nähern Sie sich niemals einem Menschenkind ohne Erlaubnis seiner »Familie« (…).

(…) Ein Mensch versucht instinktiv und mit allen Mitteln, die Interessen seines Stammes zu verteidigen. Besonders die männlichen Menschen sind dabei von Natur aus aggressiv und territorial. Die gängige Vorstellung von Menschen als gewalttätigen Wahnsinnigen rührt im Grunde von der Tatsache her, dass wir nicht verstehen, wie genau die physischen Fähigkeiten der Menschen mit ihren Instinkten zusammenhängen. Die Geschichte der Menschen und auch deren Medien sind voll von »Soldaten« und »Heldinnen« – von Individuen, die im Namen ihres Stammes Gewalt ausüben –, und erstaunlicherweise werden diese als bewunderungswürdig angesehen.

Die Menschheit, ein bekannter Ratgeber der Majoda

Welchem Gott auch immer ihr folgen mögt, KAUFTDIESESBUCHNICHT, WENNIHRWIRKLICHETWASÜBERMENSCHENERFAHRENWOLLT. Nichts als ein Haufen bioessenzialistischer Scheiße.

Anonyme Rezension, in einem chrysothemischen Netzwerk gepostet

1

AGOGE

Der Himmel wurde von grünen, subrealen Blitzen durchzuckt, als ein Weisheitskreuzer aus dem Schattenraum stürzte. Kyr atmete tief ein, kniff die Augen zusammen, um in den Hyperraum dahinter sehen zu können, und hielt nach dem winzigen Geschoss Ausschau, das im Windschatten des Kreuzers den Durchbruch schaffte, fast unsichtbar hinter dessen glänzender Masse. Ihr ramponierter Kampfanzug registrierte es noch nicht, aber im sichtbaren Lichtspektrum waren menschliche Augen Sensoren mit großer Reichweite, die die Majo immer wieder unterschätzten.

Da.

Sie hatte noch zwei Ladungen ihres Sprunghakens übrig. Ihn jetzt einzusetzen, würde jedoch den Alarm des Majo-Schiffs auslösen. Im letzten Nahkampf war ihre Maske zerbrochen und nur Kleber und Hoffnung hielten sie noch notdürftig zusammen. Wenn sie erneut riss, hier oben, weit über den Wolken in der äußeren Erdatmosphäre, wo die Schlacht tobte, würde Kyr ersticken.

Ein Kreuzer dieser Größe bot locker siebentausend Soldat*innen und zahllosen tödlichen Drohnen Platz, aber er war nur eine Ablenkung. Der Pfeil war die eigentliche Bedrohung. Die faustgroße Bombe aus Antimaterie, die er mit sich trug, hatte die Kraft, das Herz des Planeten dort unten zu zerfetzen. Die Sekundärnutzlast würde Kern und Kruste vernichten. Wenn Kyr das Geschoss nicht erwischte und unschädlich machte, würde von der lebendigen blauen Rundung des Planeten unter ihr bald nichts mehr übrig sein als eine endlose Spur aus Eis, irgendwo zwischen Mars und Merkur.

Kyr zögerte, dachte nach. Sie hatte noch sechs Minuten, ehe der Lauf der Rakete nicht mehr zu verändern und der Planet verloren war. Sie konnte ihren Sprunghaken verwenden, um sie zu erreichen. Dadurch würde sie jedoch den Kreuzer alarmieren und sich mit der Kampfkunst der Majo auseinandersetzen müssen, während sie versuchte, die Bombe zu entschärfen. Oder sie konnte ihre Gegner*innen überlisten. Die Verteidigungsplattform, auf der sie stand, war übersät mit Wracks abgeschossener feindlicher Kampfflugzeuge. Kyr konnte versuchen, eines davon wieder zum Fliegen zu bringen, um sich an dem Kreuzer vorbei zu dem tödlichen Stachel an dessen Schwanzende zu stehlen. Der Rest ihrer Einheit war weg, die Plattform zerstört. Selbst wenn die Majo ahnten, dass noch eine menschliche Kriegerin übrig war, würden sie sie nicht als Bedrohung empfinden.

Und das war ihr Fehler.

Solange die Kinder der Erde leben, soll der Feind uns fürchten.

Die in Kyrs Kampfanzug eingebauten Alarmvorrichtungen schrillten los, und der Feed am Rand ihres Sichtfeldes informierte sie darüber, dass sie dauerhafte neurologische Schäden riskierte, als sie, mit einer kaputten Kampfmaske als einzigem Schutz, seitwärts durch den Schattenraum geschleudert wurde. Sie rang nach Luft, spürte, wie erst arktische Kälte und dann unerträgliche Hitze durch ihre Adern jagten und wieder verschwanden. Wellen grünen Lichts wogten um sie herum, als sie auf der schmalen Nase der Rakete landete. Sie warf sich flach auf den Bauch, klammerte sich mit ihren Schenkeln fest und fing an, mit dem Knauf ihres Feldmessers auf deren Verkleidung einzuschlagen.

Fremdartige Worte waren in die Abdeckung eingeritzt, und ein Wort darunter kannte Kyr: Ma-jo. Es war der Name, den sie sich selbst gegeben hatten, ihrem Volk, ihrer Sprache und ihrer Kraftquelle.

Es bedeutete »Weisheit«.

Die Unterseite des Kreuzers öffnete sich nun, und aus dem dunklen Inneren strömten Reihen um Reihen von Majo-Krieger*innen hinaus in die Finsternis. Die unbemannte Rakete schwankte beträchtlich von einer Seite zur anderen.

Kyr fluchte triumphierend, als sich die Verkleidung löste, um fünfzehntausend Meter unter ihr ins Meer zu stürzen. Ohne sich umzusehen, erledigte sie zwei herannahende Majo mit ihrer Schusswaffe.

Die planetenvernichtende Bombe steckte in einer Kugel aus Kupfer. Mit angehaltenem Atem starrte Kyr sie an. Sie hatte keine Ahnung, wie man sie öffnete oder gar entschärfte. Doch der Auslösemechanismus kam ihr bekannt vor. So etwas hatte sie schon einmal auf einer Skizze gesehen. Ruhig, ganz ruhig, dachte Kyr und machte sich mit langsamen Handgriffen an die Arbeit, wobei sie versuchte, an alles zu denken, was sie über die Ingenieurskunst der Majo gelernt hatte.

Nur noch vierzig Sekunden. Kyr hatte es fast geschafft, da schob sich plötzlich eine zweite Abdeckung über die Kugel, grün glitzernd im Licht der Schattenraum-Materialisierung, und eine Stimme sagte: »Sie handeln im Widerspruch zur Weisheit. Unterlassen Sie diese Handlung.«

»Ihr könnt mich mal«, knurrte Kyr und holte erneut ihr Messer hervor.

»Ihre Handlungen sind unklug«, wiederholte die Stimme. »Ihre Handlungen sind unklug. Die Weisheit handelt zum Wohle der Allgemeinheit. Ihre Handlungen sind unklug.«

»Da unten leben vierzehn Milliarden Menschen, verdammt«, keuchte Kyr und schlug auf die Abdeckung ein. Sie war noch nie so weit gekommen wie heute.

Ein stechender Schmerz fuhr ihr in den Oberschenkel. Der Schuss des Majo-Kriegers war an einer bereits beschädigten Stelle ihres Kampfanzugs eingetreten. Kyr verlor den Halt und fiel und fiel und fiel, und im Fallen sah sie, wie der Kreuzer so schnell, wie er aufgetaucht war, wieder im Nichts verschwand. Die Rakete schoss hinab, dem Blau entgegen.

Das Letzte, was Kyr sah, war die Explosion der Antimaterie, die nun begann. Das Ende ihrer Welt. So, wie sie es schon Hunderte Male beobachtet hatte.

Die Simulation endete. Langsam setzte sich Kyr auf dem grauen Boden aus Plastahl auf und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Zum vierten Mal hatte sie das Doomsday-Szenario heute durchgespielt, und jetzt quälte sie der dumpfe Kopfschmerz, der einsetzte, wenn man zu viel Zeit in der Agoge verbrachte. Sie rieb sich den Kiefer, als könnte sie den Schmerz einfach wegmassieren, und kam dann langsam auf die Füße.

»Gut gemacht, Valkyr«, rief ihr Onkel Jole zu.

Er machte einen schleppenden Schritt auf sie zu. Selbst mit der alten Kriegsverletzung war Commander Aulus Jole noch immer eine beeindruckende Erscheinung. Wie die meisten Soldaten überragte auch er seine Mitbürger*innen deutlich – Kyr um einen ganzen Kopf, und sie war nicht gerade klein –, und auch der Rest seiner Physis wies auf für den Krieg selektierte Gene hin, auf militärtaugliche Nanotechnologie-Implantate und darauf, dass hier jemand als Kind immer genug zu essen bekommen hatte. Er sah Kyr ähnlich genug, um tatsächlich ihr Onkel sein zu können. Sie beide hatten die gleiche weltraumblasse Haut wie die meisten hier auf Station Gaia. Aber auch das Grau ihrer Augen war gleich, genau wie das Blond ihrer Haare – obschon Onkel Joles kurz geschnitten waren, während Kyr, wie vorgeschrieben, einen Pferdeschwanz trug. An Commander Joles Kragen prangten zwei Geschwaderabzeichen: die eingravierte Erdkugel des Führungsstabs und eine Nadel in Lilienform für das Hagenen-Geschwader, die Elite des Terranischen Expeditionskorps, seiner alten Einheit.

»Training in der Pause?«, fragte er. »Du bist ja schlimmer als ich.«

Das war ein Witz: Niemand war schlimmer als Aulus Jole, wenn es um Agoge-Simulationen ging. Die meisten oberen Level basierten auf seinen eigenen Erfahrungen als Mitglied des Hagenen-Geschwaders, in dem er einer der erfolgreichsten Agent*innen der Terranischen Föderation gewesen war. Er hatte Stützpunkte der Majo hochgenommen, bürgerliche Einrichtungen verteidigt und seine Truppen in die offenen Feuergefechte der letzten Kriegstage geführt. Und dann war da natürlich noch das Szenario, das Kyr gerade durchlaufen hatte. Aulus Jole war es gewesen, der auf einer manövrierunfähigen Verteidigungsplattform gestanden und dem Ende seiner Welt entgegengesehen hatte. Aulus Jole war es gewesen, versehrt durch das Feuer der Majo, der nur Sekunden zu spät gekommen war.

Kyr wusste, dass er einmal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, denn ihre ältere Schwester Ursa hatte ihn gefunden. Wahrscheinlich, dachte sie, war es mehr als einmal gewesen. In ihren Träumen sah sie, wie sich der Blaue Planet auflöste. Es fühlte sich an, als würde die entstandene Leere frisch behauene Eissplitter aus ihrem Herzen ziehen – und sie war noch nicht einmal dabei gewesen. Sie war noch nicht einmal geboren.

»Ich habe trotzdem versagt«, sagte Kyr. »Ich habe es nicht geschafft. Tut mir leid.«

»Wir alle haben versagt. Doch die Kinder der Erde harren aus. Und solange wir leben …«

»… soll der Feind uns fürchten«, schloss Kyr gemeinsam mit ihm.

Jole legte eine Hand auf ihre Schulter, sodass sie zusammenfuhr und zu ihm aufblickte. »Ich bin stolz auf dich, Kyr«, sagte er. »Ich sage dir das nicht oft genug. Geh zu den anderen und ruh dich aus. Du hast jetzt eine Pausenschicht.«

Pause war ein Witz. Kyr wusste, wo die anderen Mädchen vom Haus der Sperlinge waren: Sie übten sich im Nahkampf auf den Bodenmatten, machten Schießübungen oder absolvierten ihren Freiwilligendienst im Systeme-Geschwader oder in der Krippe. Pausen waren Zeitverschwendung, ein Luxus für Leute, die einen Planeten ihr Eigen nennen konnten. Für die Soldat*innen der Station Gaia, die letzten echten Kinder der Erde, existierten so etwas wie Pausen nicht.

Kyr ging trotzdem, wenn auch widerwillig. Ihr Kopf tat noch immer weh. Als sich die Agoge hinter ihr schloss, sah sie ein Schimmern in der Luft, wo die Verteidigungsplattform wieder auftauchte. Jole spielte das Szenario noch einmal durch.

Sie war noch keine fünf Schritte den düsteren, schlecht beleuchteten Korridor hinuntergelaufen, der von den Räumen der Agoge zurück zu den Drill-Räumen führte, als Cleo aus dem Schatten eines Nebengangs auf sie zutrat. Sie war genau wie Kyr ein Sperling und hatte wahrscheinlich selbst gerade irgendein Programm beendet. Cleo hatte dunkelbraune Haut und dicht gelocktes Haar, das sie kurz geschnitten tragen durfte, weil es sich unmöglich zu einem ordentlichen Pferdeschwanz bändigen ließ. Wie Kyr war auch sie eine Zuchtkriegerin, ein Kind der genetisch erweiterten Blutlinie der besten Soldatinnen und Soldaten der Menschheit. Ihre Trainingsergebnisse waren nur geringfügig schlechter als Kyrs und sogar einmal besser gewesen, bevor die Pubertät Kyr einen unschlagbaren Vorteil in Größe und Stärke eingebracht hatte.

Cleo war die größte ihres Hauses gewesen, als sie damals mit sieben Jahren ihre Kadettinnenausbildung begonnen hatten, war dann aber nicht in dem Maß weitergewachsen, wie es der genetische Plan für sie vorgesehen hatte. Sie war eine hervorragende Schützin und das einzige Mädchen in ihrer Alterskohorte, dem es von Zeit zu Zeit gelang, Kyr im Nahkampf zu schlagen, aber bis ins zwölfte Level einer Agoge-Simulation wie Doomsday hatte sie es bisher nicht geschafft – und es war unwahrscheinlich, dass sie es jemals schaffen würde. Aber bald würden die Zuordnungen vorgenommen werden und dann hatte das Kadettinnentraining keine Bedeutung mehr.

Cleo funkelte Kyr finster an, die Arme vor der Brust verschränkt. »Was hat er zu dir gesagt?«

Nicht schon wieder. »Nichts«, sagte Kyr. »Gut gemacht, das war alles.«

»Und was hast du gesagt?«

»Ich hab Danke gesagt«, antwortete Kyr.

»Was ist mit den Zuordnungen?«

»Was soll damit sein?«

»Du hast nicht gefragt?«

»Nein, Cleo, ich hab nicht gefragt«, sagte Kyr mit schwindender Geduld. »Er ist der befehlshabende Offizier.«

»Aber auch dein Onkel, oder etwa nicht?«, zischte Cleo. »Du könntest ihn fragen. Zur Abwechslung könnte einmal was dabei herausspringen, dass du was Besseres bist. Aber du hast nicht an uns andere gedacht, denn du bist ja die große Valkyr, und dein Haus spielt nur eine Rolle, wenn es dich gut dastehen lässt.«

»Was bist du, acht?«, erwiderte Kyr. »Hör auf, Streit mit mir zu suchen. Arbeite an dir, wenn du neidisch bist. Wenn du ins Kampf-Geschwader willst, dann verdien es dir. Du kannst es noch bis Level Zwölf schaffen, wenn du dich anstrengst.«

Kyr hatte Cleo ermutigen wollen. Aber Cleo nahm es anders auf. Ihr Gesichtsausdruck wurde kalt, und aus ihren schwarzen Augen sprach unverhohlene Antipathie. »Du hast echt keine Ahnung, oder, Valkyr?«, sagte sie. »Keine Ahnung. In Ordnung. Dann verpiss dich einfach.«

Aber Kyr wusste nicht, wohin. Die Kasernen waren zum Schlafen gedacht, und niemand verschwendete seine Zeit in der Spielhalle, außer Schwächlingen und zukünftigen Verräter*innen. Und ungeachtet dessen, was Kyr stets beigebracht worden war und was sie ihrer Spezies schuldig war – als Überlebende und als Frau –, überkamen sie in der Krippe, dem Flügel, der weibliche Freiwillige niemals abwies, immer Langeweile und Unwohlsein. Doch Commander Joles Rat, sie solle sich ausruhen, hatte etwas von einem Befehl gehabt, und Kyr gehorchte seinen Befehlen. Sie lief weiter, den Blick auf ihre Füße und die angeschlagenen Plastahl-Fliesen gerichtet, und versuchte, Cleo aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sie war in letzter Zeit immer schwieriger im Umgang geworden, und Kyr wollte nicht mehr an sie denken. Stattdessen dachte sie an gar nichts. Aber dieses Garnichts verwandelte sich wieder und wieder in den Tod ihres Planeten.

Als sie die blecherne Musik aus der Spielhalle hörte, blickte Kyr auf. Dort drinnen war es hell, und sie konnte ein paar Gestalten rumhängen sehen. Niemanden, den Kyr kannte oder kennenlernen wollte. Niemanden, der es wert war, kennengelernt zu werden.

Ursa hätte sie ermahnt, nicht so voreingenommen zu sein, aber Ursas Meinung hatte aufgehört, wichtig zu sein, als sie fortgegangen war.

Mit plötzlicher Entschlossenheit machte Kyr auf dem Absatz kehrt und lief zurück durch die steinernen Tunnel, die zum Herzen der Station führten, zur Agricola.

Station Gaia war mit Mühe und Not gerade so autark. Für die Bevölkerung war die Tatsache, dass sie keinen Planeten in der Lebenszone bewohnten, wo Wasser und Luft und Nahrung und Wärme einen verlässlichen Luxus darstellten, sondern auf und in einem steinigen Planetoiden, der vierhundert Jahre brauchte, um einmal Persara zu umrunden, einen fernen blauen Stern, Gegenstand von Stolz und großem Leid zugleich. Das Wasser auf Gaia stammte von einem vereisten Asteroiden, der mit einem Kabel aus Militärbeständen an ihrem kleinen Gesteinsbrocken festgemacht war. Die Wärmeversorgung stellten riesige notdürftige Solarreflektoren von ehemaligen Weltraum-Schlachtschiffen sicher, und das Sonnentracker-Geschwader war unermüdlich im Einsatz, um sie vor umherfliegenden Trümmerteilen zu schützen. Für die Versorgung mit Nahrung und Luft war das Agricola-Geschwader zuständig.

Kyr hielt kurz inne, bevor sie durch die Plastikplane in die große Halle schlüpfte, die Gaia am Leben hielt. Sie spürte den altbekannten Anflug von Stolz. Gaia mochte vielleicht nicht schön oder reich sein, aber es war doch unglaublich, wozu die Menschheit fähig war, selbst hier, auf diesem toten Gesteinsbrocken in diesem wertlosen Teil des Universums.

Aus Sonnenleuchten strömte gelbes Licht auf das gierige Grün. Jeder Zentimeter wurde hier genutzt: Wein rankte an den Leitern empor, die aus der dunklen Tiefe bis ganz oben zur steinernen Decke reichten. Kondenströpfchen liefen die Wände hinunter und dichter Nebel hing in der Luft. Und inmitten der vollgestopften Ordnung dieses in alle Richtungen wuchernden Gartens ragten große dunkle Umrisse empor, die all dies zusammenhielten: die riesigen Stämme von Gaias eigenem Wald, sorgsam veredelten Bäumen, die die Atmosphäre aufbereiteten und sie alle davor bewahrten, hier draußen in den dunklen Tiefen des Weltraums zu ersticken.

Die Bäume waren von großem Wert, denn sie waren unersetzbar. Vor fünfzehn Jahren, als Kyr zwei war, waren die Schattenmotoren im Inneren der Station durch Überlastung ausgefallen. Es war gelungen, Gaia zu retten, aber achtundsechzig Menschen hatten ihr Leben verloren, und die interdimensionale Explosion hatte ihr empfindliches Genlabor zerstört. Gaia hatte nicht die Mittel, es wiederaufzubauen. Diese Bäume hier waren steril und konnten nun auch nicht mehr geklont werden. Sie mussten also lange halten.

Kyr wusste genau, wonach sie suchte. Sie steuerte die nächstgelegene Leiter an und begann zu klettern, bis sie die schattigen Höhen der Agricola erreicht hatte, wo sich die Zweige zu einem großen grünen Schutzdach vereinten. Wie ein dösender Löwe lag Magnus auf einem breiten Ast. Kyrs Zwilling war noch größer als sie. Keiner von ihnen war mit Naniten ausgestattet, aber sie waren vor dem Unglück geboren, als die Krippe noch echte Zuchtkrieger*innen hervorzubringen vermochte. Beide waren durch Kreuzung derselben Individuen wie Ursa entstanden, bevor ihre genetischen Vorfahren starben. Ursa hatte bereits besondere Anzeichen gezeigt, darum erschien es damals sinnvoll, Geschwister zu erzeugen, selbst wenn es dem Populationsgesetz widersprach.

Und sie waren tatsächlich etwas Besonderes. Kyr wusste das. Sie waren unter den besten Krieger*innenkindern der Erde die besten. Kyr war groß und muskulös, und Mags hatte diesen Eigenschaften inzwischen noch eine Massigkeit hinzugefügt, die ihm nun den breiten, kraftvollen Körper verlieh, bei dessen Anblick sich die Majo in die Hosen schissen. Unter den vielen empfindungsfähigen Alien-Arten, die die Gruppe der sogenannten Majoda bildeten, wurden nur die staksigen Zunimmer größer als einen Meter siebzig. In der Agoge hatte Kyr gegen zwei Meter fünfzig große Zunimmer gekämpft. Deren Knochen waren leicht und spröde, und wenn man sie im richtigen Winkel erwischte, konnte man ihnen mühelos das Rückgrat brechen. Kyr wog mehr als einer von ihnen, und Mags wahrscheinlich mehr als zwei.

Andererseits wirkte er wie ein wandelndes Propagandaplakat. Früher hätte man ihm – riesig, blond, breitschultrig – einen Gemeinsam-stark-Slogan auf die Stirn klatschen und damit Nachwuchs für das Interstellare Terranische Expeditionskorps anwerben können. Seit dem Untergang der Welt spielten menschliche Schauspieler mit seinem Aussehen die Bösewichte in Majo-Filmen. Kollaborateure. Kyr ekelte allein der Gedanke daran.

Ihre Stimme klang etwas zu scharf, als sie ihn fragte: »Was machst du?«

Mags öffnete die Augen. »Hi, Kyr.«

»Warum schläfst du?«

»Wir haben Pause«, antwortete Mags. »Schlaf dient der Erholung.«

»Wir können es uns nicht leisten zu schlafen.«

»Was nützt es einem, am Leben zu sein, wenn man nicht schlafen darf?«

Etwas in Kyr fing an zu brodeln. »Magnus, wir befinden uns in einem Krieg, wir sterben, sie haben uns alles genommen, und du …«

»Oh, hey, hey, Vallie, hey«, sagte Mags beschwichtigend und setzte sich auf. Dabei verwandelte er sich vor Kyrs Augen von einem unbesiegbaren Giganten zurück in den weichherzigen Dummkopf von früher, der ein willkommenes Opfer für jeden Raufbold in der Krippe gewesen war. »Weine doch nicht. Warum weinst du?«

»Tue ich gar nicht«, sagte Kyr. Sie saß neben ihm auf dem breiten Ast. Die Luft roch schwer und süß, und auf ihrem Gesicht und ihren Armen bildeten sich kleine Kondenströpfchen. Agricola war lebendiger als jeder andere Ort auf Gaia. Mags legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich hab sie fast besiegt«, sagte Kyr. »In Onkel Joles Szenario. Doomsday. Ich hab sie fast besiegt. Und dann doch nicht.«

»Oh«, sagte Mags.

»Nichts oh. Das ist wichtig! Du weißt, dass es wichtig ist. Und für dich ist das vielleicht in Ordnung, du hast es ja schon geschafft.«

»Einmal«, sagte Mags. »Und ich glaube, danach hat Onkel Jole es schwerer gemacht. Dir ist klar, dass man es nicht schaffen können soll, oder?«

»Es war wegen der Weisheit«, sagte Kyr. »Ich hatte es bis zur Rakete geschafft, und dann hat die Weisheit einen neuen Schild über die Bombe gestülpt und dann …«

»Ja, genau«, sagte Mags. »Das meine ich doch. Die Weisheit macht, dass man nicht gewinnen kann. Weil sie unbesiegbar sind mit der Weisheit.«

»Wie hast du es dann geschafft?«, wollte Kyr wissen. Sie hatte nie danach gefragt, weil sie es selbst hatte versuchen wollen. Aber jetzt war sie so nah dran gewesen. »Wie hast du gewonnen?«

Mags nahm seinen Arm von Kyrs Schultern, legte sich wieder auf seinen gewaltigen Ast und blickte hinauf in das Muster, das Zweige und Blätter über ihnen bildeten. Dann fragte er: »Kennst du Avi?«

»Wen?«

»Avi. Haus der Otter, eine Kohorte über uns. Systeme-Geschwader.«

»Oh, der Queere?« Sie hatte lediglich ein vages Bild der Person, um die es ging, im Kopf. Klein, rote Haare, Silberblick. Keine Kriegszucht. Gaia war zwar von Überlebenden des Terranischen Expeditionskorps gegründet worden, aber Armeen bestanden nie nur aus Soldaten und Soldatinnen, und in den Häusern der Kadetten und Kadettinnen gab es immer auch Techniker*innen, Reinigungskräfte, medizinisches und Verwaltungspersonal. Kyr wusste, wie wichtig diese Personen waren. Genetische Vielfalt war überlebenswichtig für eine Spezies, und es waren ohnehin nur so wenige echte Menschen übrig. Ohne Menschen wie … wie Lisabel, aus ihrem Haus, die wie gemacht für das Krippen-Geschwader war, hatte die Menschheit keine Zukunft.

»Klar«, sagte Mags mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. »Der Queere.«

»Was denn?«

Mags antwortete nicht.

»Was ist mit ihm?«, fragte Kyr. »Woher kennst du ihn?«

»Hab ihn in der Spielhalle getroffen, während einer Pausenschicht.«

»Was hast du in der Spielhalle gemacht?«

»Ausgeruht und entspannt?«, antwortete Mags. »Ich finde es entspannend, haushoch bei Videospielen zu verlieren.«

»Du verlierst?«

»Alle verlieren mal irgendwo, Vallie.«

Kyr, auf die das nicht zutraf, sah ihn streng an. Aber Mags ließ nur wieder friedlich den Blick hinauf in die verschlungenen Zweige wandern. Direkt über ihren Köpfen hatte eine Pflanze gerade angefangen zu blühen. Sie hing voller praller, wächsern-lilafarbener Blüten. Kyr kannte den Namen der Pflanze nicht. Sie hatte keinerlei Hoffnung, jemals der Agricola zugeordnet zu werden. »Also, was ist denn nun mit Avi?«

»Avi«, sagte Magnus, »verliert nicht bei Videospielen. Er hat mich geschlagen. Und dann sind wir ins Gespräch gekommen.«

»Worüber redet man mit so jemandem?«, fragte Kyr. »Er geht weg, oder nicht?« Es war unglaublich, wie selbstsüchtig manche Menschen waren. Fast alle, die so gestrickt waren wie dieser Avi, hatten ihre Zuordnung verweigert und Station Gaia verlassen, um zu den Majo überzulaufen. Als wäre Sex wichtiger, als die eigene Art zu retten oder Rache zu nehmen für eine vernichtete Welt.

»Ich weiß nicht, ob er geht. Es wäre schade, ihn zu verlieren. Er ist so gut in dem, was er tut«, antwortete Mags.

»Systeme?«, sagte Kyr. »Das ist wichtig, klar …«

»Videospiele«, sagte Mags.

»Ach komm schon.«

»Ich meine es ernst! So habe ich gewonnen. Avi hat mich durch die Simulation geführt.«

»Ich kann mich nicht erinnern, jemals gehört zu haben, dass er in einer Doomsday-Simulation mal Level Zwölf erreicht hätte.« Und das wäre Kyr nicht entgangen: Sie verfolgte die Trainingsergebnisse genau, von den Jungs wie von den Mädchen. Daher wusste sie auch, dass es in ihrer ganzen Kohorte nur eine Handvoll Jungen gab (fünf, genau fünf), die besser abgeschnitten hatten als sie. Insgesamt trainierten sechs andere regelmäßig auf Level Zwölf, dem schwersten. Unter den Mädchen, das war klar, konnte niemand Kyr das Wasser reichen. Jungs hatten von Natur aus einen Vorteil. Mags, der perfekte Soldat, war einer von den fünfen. Die Ergebnisse seit seinem letzten Wachstumsschub waren die besten in der kurzen Geschichte Gaias.

»Na ja, wir waren ein Team«, sagte Magnus. »Ich bin mit Ohrstöpseln rein, und er hat die ganze Zeit über mit mir geredet. Dabei hat er die Agoge noch nicht einmal mitkonzipiert …« Kyr schnaubte. Natürlich wurde ein kurzsichtiger Neunzehnjähriger, der es nie in die Top Dreißig geschafft hatte, nicht auch nur in der Nähe des Militärtrainings geduldet, dem Herzstück von Gaias Macht. »Wirklich, Vallie, es war einfach unglaublich. Er ist der klügste Mensch, den ich je getroffen habe. Er hat mir bei ein paar erfolglosen Durchgängen zugeguckt und dann vorgeschlagen, dass ich es noch einmal ernsthaft versuchen soll, während er sagt, wo’s langgeht. Und mit ihm in meinem Ohr hat es einfach … es hat einfach irgendwie Spaß gemacht. Er wusste immer, was als Nächstes passieren würde und was ich tun musste. Ich habe einfach mitgemacht. Es war magisch.«

»Also hast du geschummelt«, sagte Kyr.

»Es war nicht offiziell«, erwiderte Mags. »Es war ein Pausen-Ding, und ich kriege keine Punkte dafür.« Mags wusste, wie wichtig die Trainingsergebnisse waren.

»Die ganze Station wusste davon«, sagte Kyr. »Alle wussten, dass du Level Zwölf geschafft hast.« Magnus hätte unsere Welt retten können, so hatten es die Leute ausgedrückt. Magnus. Kyr hatte jede freie Minute das Doomsday-Szenario trainiert, seit sie es erfahren hatte. Und jetzt stellte sich heraus, dass alles nur Fake war, dass irgendein Spielhallenwaschlappen, für den die Agoge nur ein Spiel war, Magnus ausgenutzt hatte, so, wie er immer von allen ausgenutzt worden war.

»Es war eine einmalige Sache«, sagte Mags. »Avi wollte herausfinden, ob wir es schaffen könnten.« Er stützte sich auf einen Ellenbogen auf und sah Kyr nun durchdringend an. »Aber du verstehst, was ich meine, oder? Wir sollten einen wie ihn nicht verlieren.«

»Einen Betrüger wie ihn?«

»Die betrügen doch auch, oder etwa nicht? Die Weisheit betrügt. Warum sollten wir nicht unsere eigenen Betrüger haben? Abgesehen davon, ist es kein Betrug, wenn jemand anders einem in der Agoge Anweisungen gibt. Das machen wir doch auch bei Taktikübungen so, das ist normal. Avi ist einfach wirklich schlau. Ich finde, sie sollten ihm ein Kommando übertragen.«

»Na klar«, sagte Kyr und schnaubte, konnte aber gleichzeitig ein Lächeln nicht unterdrücken. So war Mags eben, er hatte ein Herz für hoffnungslose Fälle. »Okay, na schön, es ist gut von dir, so nett zu sein. Jemand wie Avi hat wahrscheinlich nicht viele Freund*innen, oder? Sei aber bitte nicht zu traurig, wenn er geht.«

Mags legte sich wieder hin. Eine lila Blüte hatte sich aus dem wächsernen Wirrwarr über ihnen gelöst und segelte nun zu ihnen auf den Ast hinunter. Er hob sie auf und legte sie sich vorsichtig auf die Stirn. Ohne Kyr anzusehen, sagte er: »Ich will nicht, dass er geht.«

»Menschen gehen«, sagte Kyr. »Wenn sie nicht stark genug, engagiert genug oder ehrbar genug sind. Ursa ist gegangen.«

Mags machte das gleiche gequälte Gesicht, das er immer machte, wenn jemand ihre ältere Schwester erwähnte. »Ja«, sagte er. »Das ist sie wohl.«

2

SPERLINGE

Kyr war so an den Rhythmus der Achtstundenschichten auf Station Gaia gewöhnt, dass sie nie zu spät kam. Zehn Minuten vor Schichtwechsel hatte sie sich bereits aus den versteckten Baumwipfeln der Agricola geschwungen, während Mags sich weigerte, sich zu bewegen. »Ich gehe erst, wenn ich die Glocke höre«, sagte er. »Pause ist auch eine Schicht. Fünfminutenregel.«

Fünf Minuten blieben einem zwischen dem Schichtwechsel und einem schwarzen Punkt. Kyr hatte in ihrem Leben genau zwei schwarze Punkte bekommen, beide mit sieben, als sie die Krippe gerade verlassen hatte. Das war in ihrem Haus die beste Bilanz. Mags war beinahe genauso gut, auch wenn er immer eine recht unbekümmerte Haltung bezüglich Pünktlichkeit an den Tag legte. Kyr wusste, dass zwischen ihm und ein paar anderen Jungs aus dem Haus der Kojoten ein Wettbewerb lief, bei dem es darum ging, nach genau vier Minuten und neunundfünfzig Sekunden am Ziel anzukommen. Am schwersten war das, wenn man von der Sonnentracker- zur Drill-Schicht musste, aber mithilfe eines Wurfhakens war es möglich.

Kyr schaffte vier Minuten fünfundfünfzig.

Nicht, dass sie es darauf ankommen lassen würde. Sie wollte sich nur beweisen, dass sie es mit jedem Einzelnen von den Kojoten aufnehmen konnte.

Kyrs Haus, die Sperlinge, hatten vor der Pause Drill gehabt, würden nun also etwas essen und vor dem Schlafengehen noch eine Viertelstunde im Oikos absolvieren. Kyr joggte von der Agricola aus durch die Felstunnel, zwei Ebenen hinunter zu den mit Plastahl ausgekleideten Korridoren des Oikos-Flügels im Erdgeschoss der Station. Die Schicht war meistens langweilig – Reparieren, Putzen, Nähen. Als Kyr die Küchenräume erreichte, beendete das Haus, das vor den Sperlingen dran war, gerade seine Schicht: Es waren Amseln, eine Schar zwölfjähriger Mädchen, die sich gackernd mit dem Wasser aus ihren Wischeimern bespritzten. Kyr sah, dass sie ihren Job noch nicht erledigt hatten. Der schwarze Staub des Planetoiden, der in jede Ritze der Station gelangte und selbst vor gefliesten Räumen wie diesem nicht haltmachte, zog sich in feuchten Schlieren über den Boden. Kyr trat auf den Nachwuchs zu und verschränkte die Arme vor der Brust.

Das Kichern erstarb.

»Sagt mir, warum wir Wasser brauchen«, forderte Kyr die Mädchen auf. Sie war nicht wütend. Es hatte keinen Sinn, auf Schwachköpfe wütend zu werden. Sie war nur verstimmt, denn Kadettinnen im Alter der Amseln sollten es besser wissen. Und außerdem genoss sie es wie immer, im Recht zu sein.

Schweigen.

»Du da«, sagte Kyr und pickte sich die Kleine raus, die am lautesten gelacht hatte. »Sag es mir.«

»Ähm, zum Trinken, Valkyr?«, sagte das Mädchen. Kyr spürte einen Anflug von Genugtuung darüber, dass sie ihren Namen kannte. »Und zum Waschen und zum Kochen und zum Saubermachen.«

»Zum Leben«, sagte Kyr. Sie zog die Augenbrauen hoch. Die Menschen von Gaia sollten ihre Pflichten kennen. Und es war Kyrs Pflicht wie auch ihr Vergnügen, dafür zu sorgen, dass sich Kinder wie diese hier benahmen.

»Zum Leben«, wiederholten die Amseln zerknirscht im Chor.

»Und warum habt ihr dann damit gespielt?«, fragte Kyr und zeigte auf eine Pfütze zu ihren Füßen. Das kostbare Wasser sickerte bereits zwischen den Fliesen in den Boden. Wer auch immer diese Küchenräume gebaut hatte, hatte bestimmt sein Bestes getan, aber dieses Material war nie für eine Raumstation vorgesehen gewesen; zwischen den Fliesen waren breite Fugen, deren Mörtel bröckelte und den schwarzen Stein darunter freilegte. »Trink das.«

»Da ist aber Seife drin …«

»Trink das.«

Das Mädchen drehte sich Hilfe suchend zu den anderen um, doch die wichen ihrem Blick aus. Dann sah es Kyr mit erbärmlich feuchten Augen an. Kyr runzelte die Stirn. Es gab wenig, was sie mehr ärgerte, als wenn jemand manipulativ auf die Tränendrüse drückte. Gefühle waren nicht wichtig. Und sie zu benutzen, um sich einer verdienten Strafe zu widersetzen, war erbärmlich. »Glaubst du, dein Geheule wird dich vor den Majo retten?«, fragte sie. »Ich warte.«

Die Tränen der kleinen Amsel kullerten ihr nun über die Wangen, aber sie war schlau genug, nicht zu schluchzen. Sie kniete sich hin und begann, den Fleck aufzulecken, der mittlerweile nur noch aus feuchtem schwarzem Staub bestand. Mit schwarz verschmiertem Kinn blickte sie hoch zu Kyr. Kyr konnte sehen, dass sie sich Mühe gab, nicht das Gesicht zu verziehen.

Sie wartete mit grimmiger Miene.

Die Amsel beugte sich erneut hinab und fuhr mit der Zunge über den Boden.

»Und, kann man das gut trinken?«

»Nein, Valkyr«, sagte das Mädchen. Die schwarzen Schlieren zogen sich inzwischen über ihr halbes Gesicht.

»Wird es hier morgen regnen?«

»Nein, Valkyr.«

»Hol dir einen schwarzen Punkt«, sagte Kyr. Die älteren Kadett*innen hatten das Recht, sie an die jüngeren zu vergeben. »Und dann räumt das alles hier auf.«

Noch während Kyr sprach, läutete die Glocke zum Schichtwechsel. Die Amseln sahen einander an. Sie hatten fünf Minuten. Kyr beobachtete sie ohne Mitgefühl. Wenn sie klug waren, würden sie eine unter ihnen bestimmen, die für alle sauber machte; auf diesem Wege würde ihr Haus weniger schwarze Punkte wegen Unpünktlichkeit bekommen. Diejenige, die zu spät käme, in diesem Fall deutlich zu spät, würde statt der nächsten Pausenschicht eine Strafschicht absolvieren müssen, aber das Haus wäre aus dem Schneider. Und in Zukunft würde niemand von ihnen mehr Wasser für so etwas Dummes wie Spielen verschwenden.

»Geht ruhig«, sagte die Kleine, die von Kyr gezwungen worden war, den Dreck aufzulecken. Sie weinte noch immer, aber ihre Stimme war fest. Dafür musste Kyr ihr Respekt zollen. »Ich mach das.«

Die übrigen Amseln zerstreuten sich und huschten an den größeren Sperlingen vorbei, die mit dem letzten Glockenläuten hereinströmten. Lisabel – die Einzige in Kyrs Haus, die dumme Kinder bemitleidete – warf dem zurückgebliebenen Mädchen einen mitfühlenden Blick zu. Kyr tat so, als hätte sie es nicht gesehen, denn sie mochte Lisabel sehr.

Sie waren zu siebt im Haus der Sperlinge: Cleo und Jeanne, Zenobia und Victoria und Artemisia, Lisabel – die eigentlich Isabella hieß, benannt nach einer historischen Kriegerin und Königin – und Kyr. Sie bildeten das einzige reine Mädchenhaus in ihrer Alterskohorte. Die Jungs verteilten sich auf das Haus der Kojoten und das Haus der Katzen. Die Ergebnisse der Sperlinge übertrafen die der Katzen, was weitgehend an Kyr lag. Und darauf war Kyr stolz. Die Kojoten zu schlagen, war jedoch unmöglich, denn sie waren allesamt Zuchtkrieger. Bei den Sperlingen stammten nur Kyr, Jeanne und Cleo von Zuchtkrieger*innen ab. Cleo war trotz ihrer geringen Größe eine exzellente, fokussierte und aggressive Kämpferin. Jeanne war eins fünfundachtzig groß, rothaarig, sommersprossig und drahtig. Ihre Stärke lag in ihrer vollkommen unerschütterlichen Ruhe. Während der letzten zwei Monate hatte Jeanne ab und zu zusammen mit Kyr Level-Zwölf-Szenarios durchgespielt. Kyr selbst tat das seit fast einem Jahr.

Sie drei, dachte Kyr, würden sich mit größter Wahrscheinlichkeit für eines der Kampf-Geschwader qualifizieren, obwohl sie Mädchen waren. Was die anderen Sperlinge anging – sie hatte hart mit ihnen gearbeitet, hatte sie bis an ihre Grenzen gebracht, das Beste aus ihnen herausgeholt. Ihr Haus war besser als jedes andere Mädchenhaus. Kyr überlegte, dass Arti, die keine Zuchtkriegerin war, aber tough und zäh und überraschend breitschultrig für eine Menschenfrau aus der Basislinie, ebenfalls gute Chancen hatte.

Dass Cleo sich solche Sorgen machte, was die Zuordnungen anging, verstand Kyr nicht. Der Führungsstab hatte ihre Trainingsergebnisse vorliegen, kannte ihre Talente, hatte sie zehn Jahre lang als Kadettinnen beobachtet. Er wusste, was sie alle wert waren. Vic war klein und nervös, aber clever. Mit ihrer großen Leidenschaft für Solarsegel gehörte sie eindeutig zu den Sonnentrackern. Lisabel mit ihrer Schönheit, ihren blauen Augen und ihrem glänzenden dunklen Haar, die noch dazu unglaublich warmherzig war, würde in die Krippe kommen. Und Zenobia mit ihren klaren Zügen, ihrer nüchternen Ausdrucksweise und ihrem gelassenen Pragmatismus war wie für den Oikos gemacht. Es war alles glasklar.

Und sie alle gehörten Kyr.

»Wo ist Jeanne?«, fragte sie, als sie sich nach dem gemeinsamen Kochen zum Essen hinsetzten. Die fünf Gnadenminuten waren längst vergangen.

Die anderen tauschten verstohlene Blicke.

»Sie wurde zugeordnet«, sagte Cleo schließlich. »Während der Pause.« Sie schien die eigenartige kleine Auseinandersetzung mit Kyr vor der Agoge vergessen zu haben. Aufmerksam blickte sie nun in Kyrs Gesicht, fast so, als würde sie nach etwas suchen oder als würde sie ihr etwas sagen wollen. Kyr wünschte, Cleo wäre nicht so verdammt seltsam.

Dann plötzlich ging ihr auf, was Cleo da überhaupt gesagt hatte. »Wirklich?«, fragte sie. Auf einmal bekam Commander Joles Bemerkung, er sei stolz auf sie, eine ganz neue Bedeutung. Er musste gerade vom Treffen mit dem Führungsstab zurückgekommen sein. Zehn Jahre Training für diesen Moment. Alles, was Kyr im Leben wollte, war, der Menschheit zu dienen. »Welches Geschwader?«

»Ferox«, sagte Cleo, immer noch auf Kyr konzentriert. Die anderen Sperlinge schwiegen.

»Ja«, sagte Kyr schließlich und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Die Kampf-Geschwader brachten einem Respekt und Luxusvergütungen ein und boten einem die Chance, im Rang aufzusteigen. Das war eine fantastische Zuordnung und entsprach voll und ganz Jeannes Können. Außerdem war sie ein gutes Zeichen für Cleo. Und auch für Kyr, wenn sie auch nie die geringsten Zweifel an ihren eigenen Möglichkeiten gehabt hatte. Jetzt sprang sie auf, ließ ihren halb aufgegessenen Kartoffeleintopf stehen und lief in die Küche, um einen Kanister klaren, dreifach gebrannten Korn aus dem oberen Regal zu holen, dazu ein paar verbeulte Blechbecher. »Lisabel!«, rief sie.

Lisabel kam und nahm ihr die Becher ab, die Kyr mit einer bescheidenen Menge Schnaps füllte, bevor sie sich lächelnd auf ihren Stuhl zurückfallen ließ. Ihr gesamtes dreizehntes Lebensjahr hatte sie damit zugebracht, mit Jeanne die Nahkampfszenen von Level Fünf zu durchlaufen. Immer und immer wieder hatte sie sie gezwungen, sich Mühe zu geben, hatte ihr gezeigt, wie man Handgranaten abfing und die Nichtkombattanten unter den Majo als Schilde benutzte. Es war das alles wert gewesen.

»Das Glück ist mit den Tapferen!«, sagte Kyr und hob ihren Becher. Das war das Motto des Ferox-Geschwaders. Die übrigen Sperlinge wiederholten es, und Arti und Vic stießen an, bevor sie den höllisch scharfen Wodka hinunterstürzten. Kyr gab vor, nichts zu bemerken. Die beiden dachten wohl, sie wüsste nicht, dass sie heimlich rumknutschten. Aber das spielte keine Rolle, das wusste Kyr. Manchmal gab es eben genetische Sackgassen, das wusste jeder, und das Einzige, was zählte, war die eigene Pflicht.

Kyr grinste. »Vielleicht seid ihr als Nächstes dran«, sagte sie. »Wo willst du hin, Arti? Auch Ferox?«

Stille. Dann endlich antwortete Arti: »Zu den Scythica. Ich mag die kleinen Pferdeanstecker.«

Vic knuffte sie liebevoll in die Seite. »Ich will zu den Sonnentrackern«, sagte sie. »Ich weiß, dass der Winkel der oberen Zellen verändert werden kann. Wenn ich dorthin komme, müssen sie mir einfach zuhören.«

»Wahnsinn, Victoria, wir hatten ja keine Ahnung. Erzähl uns mehr!«, rief Cleo mit gespielter Neugier. Aber ihr Lächeln war nun nicht mehr so starr und angespannt. Wenn Cleo gut drauf war, liebte sie es, andere aufzuziehen. Allerdings war es schon eine Weile her, dass Kyr sie gut gelaunt erlebt hatte. Jetzt war sie überrascht, wie gut es tat, sich entspannen und Cleo die Gesprächsführung überlassen zu können, ohne fürchten zu müssen, wieder wegen irgendetwas angeblafft zu werden. Kyr selbst war bei den Mahlzeiten nicht sehr gesprächig. Während sich die anderen unterhielten, schaufelte sie sich ihren klumpigen Kartoffeleintopf hinein. Nicht das beste Essen – das stand Kadett*innen nicht zu –, aber Kyrs für den Krieg gezüchteter Körper, der heute schon viermal das Doomsday-Szenario durchlaufen hatte, gierte nach Treibstoff.

Erhitzt von ihren Schnäpsen, diskutierten die Sperlinge weiter mögliche Zuordnungen. Die besten waren die vier Kampf-Geschwader: die Ferox, die Scythica, die Augusta und die Victrix. Hier bekam man die schneidigen Uniformen des Terranischen Expeditionskorps und die besten Quartiere. Man durfte als Erstes wählen, wenn es um außerstationäre Lieferungen ging, und die Gefahr, der man hier ausgesetzt war, wurde mit allen möglichen Luxusgütern aufgewogen. Denn ohne die Kampf-Geschwader war die Station nicht überlebensfähig. Die Majo hassten die Tatsache, dass es noch immer Menschen im Universum gab, die sie nicht unter ihre Kontrolle bekamen. Die Kampf-Geschwader wehrten feindliche Angriffe ab, jagten Spione in die Flucht und belehrten die Langstrecken-Händler*innen der Majo eines Besseren, die dreist genug waren, in gaianisches Territorium einzudringen, ohne die Herrschaft der Menschen überhaupt ernst zu nehmen. Nur die Kadett*innen mit den besten Ergebnissen in Drill und Agoge schafften es in diese Geschwader. Und das bedeutete natürlich, dass die Jungs hier in der Überzahl waren.

Nach den vier Kampfeinheiten kamen diejenigen, die die Station am Laufen hielten: Systeme, Sonnentracker, Agricola. Jede von ihnen war auf ihre Art überlebenswichtig. Kyr hatte ihre Schichten immer bereitwillig absolviert, wenn sie Vics Besessenheit von den Sonnentrackern auch nie hatte nachvollziehen können. Im Gegenteil, es kam ihr merkwürdig vor, dass man sich in einem solchen Ausmaß für Solaranlagen interessieren konnte. Aber genau darum würde Vic ja auch eine gute Sonnentrackerin abgeben und Kyr nicht. Die letzten beiden Einheiten waren die Krippe und der Oikos, beide absolut notwendig: Ohne Oikos blieben all die stumpfen Wartungs- und Reparaturarbeiten liegen, genau wie die Organisation der Schichten. Ohne die Frauen in der Krippe gab es keine Zukunft für die Menschheit.

Mindestens zwei der Sperlinge würden der Krippe zugeordnet werden müssen, um die Populationsziele zu erreichen. Kyr hatte sich alles gut überlegt. Lisabel war klar, aber die Wahl der zweiten Person war schwieriger. Vielleicht Zen? Statt Oikos? Vielleicht Arti? Die Menschheit würde für den Moment eine Soldatin verlieren, aber jedes Kind, das sie gebären würde, für die Zukunft gewinnen.

»Wir werden früh genug Bescheid wissen«, sagte Kyr, als sich die Gespräche langsam im Kreis zu drehen begannen. »Der Führungsstab weiß, was er tut.«

»Oh, natürlich, wie dumm von uns. Was ist mit dir, Kyr?«, sagte Cleo. »Direkt in den Führungsstab?«

Kyrs Miene verfinsterte sich. Dem Führungsstab wurde man nicht offiziell zugeordnet. Man musste die Beste der Besten sein. Bis Kyr bereit war, würden noch Jahre vergehen.

»Sei nicht albern. Noch nicht. Scythica oder Victrix.«

Cleos ausdrucksloser Blick war zurück. Was würde nun kommen?

»Noch nicht, genau. Wie bescheiden von dir. Da können wir uns alle ein Beispiel dran nehmen.«

Die Worte sollten lustig sein, aber der Ton war es nicht. »Cleo, was ist los?«, fragte Kyr.

»Was los ist?«, wiederholte Cleo.

Kyr fiel beim besten Willen nichts ein. »Hattest du ein bisschen Pause?«

Stille. Kyr merkte, wie die anderen Sperlinge schweigend Blicke tauschten. Vier Augenpaare, ohne Jeanne. Lisabels besorgter Gesichtsausdruck. Vic, die aussah, als würde sie sich schuldig fühlen, schließlich hatte sie das alles losgetreten. Arti, die unter dem Tisch ihre Hand nahm. Zen ausdruckslos – ihre Reaktionen fielen immer sparsam aus.

Irgendwann während des Tischgesprächs war Kyr etwas entgangen. Aber sie wusste einfach nicht, was.

»Pause«, sagte Cleo schließlich mit unverhohlener Verachtung in der Stimme. »Klar. Ich hab ’ne freiwillige Schicht in der Krippe eingelegt. Hab ’nem Haufen Gören Unterricht gegeben und dann jedem Admiral noch schnell einen geblasen. Das war so erhebend.«

»Cleo«, sagte Lisabel leise.

Cleo stand auf. »Auf uns wartet eine Viertelschicht«, sagte sie. »Außer, wir wollen weiter rumsitzen und auf Jeanne trinken, bis wir alle aus der Station rausgeschmissen werden, weil wir zu viel Spaß haben. Oder hat unsere furchtlose Anführerin eine bessere Idee?«

»Ich bin nicht deine Anführerin, Cleo«, sagte Kyr. »Ich bin deine Hausgenossin.«

»Ach ja, stimmt, mein Fehler«, antwortete Cleo. »Wie konnte ich nur vergessen, dass du eine von uns bist?«

»Jeanne hat es ins Ferox-Geschwader geschafft«, sagte Lisabel leise. Sie hatte Cleo besänftigend eine Hand auf den Unterarm gelegt. »Du kommst auch in die Kampfeinheit. Hab keine Angst.«

Cleo atmete tief ein, seufzte und schüttelte Lisabels Hand ab. »Tja. Der Führungsstab weiß, was er tut. Mir ist das egal.«

»Wirklich?«, fragte Kyr.

»Ja«, sagte Cleo. »Alles außer Angriff. Ich will einfach nur leben.«

»Es gibt keinen Angriff«, sagte Kyr. Angriff, das war Feindpropaganda: Als hätte Gaia nichts Besseres zu tun, als ihre wertvollen Bewohner*innen rauszuschicken und sie Bomben und Tötungskommandos auszusetzen. Die Menschen da draußen, die sich opferten, verdienten ihren Respekt. Sie waren Kinder der Erde, auch wenn sie unter Kollaborateur*innen lebten. Einem Angriffsgeschwader jedoch konnte man nicht zugeordnet werden, weil ein solches nicht existierte.

Cleo lachte ein kurzes, hartes Lachen. »Wo bleibt der Vortrag? Süß und recht, stimmt’s? Sollte ich mich nicht danach sehnen, für eine tote Welt zu sterben?«

Es ist süß und recht, für dein Vaterland zu sterben – Poesie aus der alten Welt, die sie alle in der Krippe auswendig gelernt hatten.

»Es ist okay, Angst zu haben«, sagte Kyr.

»Hast du Angst?«

Kyr antwortete nicht gleich. Nein, hatte sie nicht. Und ihr war auch nicht bewusst gewesen, dass Cleo Angst hatte. »Es gibt verschiedene Möglichkeiten zu dienen«, sagte sie schließlich. »Solange du nur dienst. Das ist alles, was zählt.«

»Du gehörst in den Angriff«, sagte Cleo. »Geh und lass dich in die Luft jagen, um den Majo eine Lektion zu erteilen. Du würdest das, ohne zu zögern, tun.«

»Danke«, sagte Kyr. »Aber es gibt keinen Angriff.«

Sie mussten zu ihrer Viertelschicht im Oikos. Schnell wuschen sie ihr Geschirr ab. Aus den Augenwinkeln beobachtete Kyr, wie Lisabel einen Fleck wegwischte, den die kleine Amsel offenbar übersehen hatte.

Nun, solange die Arbeit erledigt wurde.

Als sie gerade ihre sauberen Teller wegräumten, kam ein Läufer von den Tigern hereingestürmt, dem Haus mit den kleinsten Jungen. Nervös hüpfte er von einem Bein auf das andere und wartete ungeduldig, bis Kyr sich ihm zuwandte, dann sagte er: »Sergeant Harriman fordert die Sperlinge auf, in den Victrix-Hangar zu kommen!«

Sergeant war ein Ehrentitel für den Anführer im Oikos. »Wir kommen sofort«, sagte Kyr. »Wegtreten.«

Als sie auf die riesigen Metalltüren des Victrix-Hangars zujoggten, wartete Harriman bereits auf sie. Er war ein großer, weitgehend kahlköpfiger alter Soldat, dem ein ergrauender Haarkranz verblieben war und ein Schimmer in den Augen, der auf sein einst künstlich gesteigertes Sehvermögen hinwies. »Da seid ihr ja«, rief er und reichte Kyr eine Schlüsselkarte und ein Klemmbrett mit einem leeren Lagerprotokoll. »Lagerraum sechzehn«, sagte er. »Ausräumen, katalogisieren, verpacken. Los geht’s, Mädels.«

Kyr salutierte. »Sergeant.«

Die anderen Sperlinge stießen einander an und flüsterten miteinander. Ausräumen, katalogisieren und verpacken lautete einer der Befehle, die bei Gefangennahme eines feindlichen Raumschiffs erteilt wurden. Eine Victrix-Patrouille hatte offensichtlich den Kampf gegen eindringende Majo gewonnen. Was würde sie erwarten? Ein fettes, dummes Handelsschiff mit irgendwelchen Luxusgütern war das Wahrscheinlichste. Aber vor zwei Jahren hatten die Scythica einen echten Kampfflieger im Schlepptau gehabt, der immer noch irgendwas über die Befehle der Weisheit vor sich hin krächzte. Eine schnittige Killermaschine, wie Kyr sie erst einmal zuvor gesehen hatte, bevor die Systeme-Einheit sie schließlich auseinandernahm.

»… oder Schokolade«, hörte sie Vic Arti zuflüstern. Sie verdrehte die Augen.

Über die Serviceklappe krochen die Sperlinge in den Hangar. Hier hielt eine Victrix-Staffel Wache. Kyr salutierte, die Kämpfer*innen nickten knapp und winkten die Sperlinge durch. Einer von ihnen rauchte eine Zigarette, die er nun aus dem Mund nahm, um sie alle – nein, speziell Lisabel anzulächeln. Lisabel war zu klein, um im Kampf von Nutzen zu sein, aber sie war hübsch. Tabak war Luxus, also waren diese Männer wahrscheinlich in den Kampf verwickelt gewesen und hatten ihn überlebt. Kein Wunder, dass sie so gute Laune hatten.

Der Victrix-Hangar, einer von vieren, war eine lange Höhle, die tief in das Innere des Planetoiden hineinführte. Unter ihnen, am Fuß einer langen, spiralförmig hinabführenden Steinrampe, lag der riesige metallene Rumpf eines nicht mehr funktionsfähigen Raumschiffs. Die Victrix hatte einst Tausende durch die Leere getragen, um fremde Welten zu erobern. Große Teile ihres Schiffskörpers fehlten. Sie waren zweckentfremdet worden, um die Station aufzubauen. Der Rest war verbogen und verbeult durch den Beschuss mit Gravitationswaffen. Die Ausstattung des Schlachtschiffs mit leichten Nuklearwaffen und Isaac-Geschossen bildete nun die Basis der Verteidigungsversorgung draußen vor dem Atmosphäresiegel des Hangars. Letzterer war jetzt fast ganz mit liebevoll polierten Kampfschiffen gefüllt, Kurzstreckenmaschinen für ein bis zwei Personen – zur Zeit vor Kyrs Geburt das Beste, was es gab. Sie alle hatten einst im Bauch des zertrümmerten Schlachtschiffs Platz gefunden.

Am Ende des Hangars befand sich etwas Fremdartiges.

Kyr merkte, wie die Sperlinge zögerlich zu ihr aufschlossen.

Mit dem erbeuteten Majo-Schiff war kein Handel getrieben worden, wenn sie auch einen der wenigen Lagerböcke für große Handelsschiffe dafür hatten einsetzen müssen. Es war so schnittig wie ein Kampfschiff, aber zweimal so groß, sodass die Victrix-Wachleute wie Zwerge daneben aussahen. Kyr verengte ihre Augen zu Schlitzen. Noch nie hatte sie so etwas Verrücktes gesehen: Die gesamte Schiffshülle war in extravaganten hellen Farben gestrichen, ein bunter Strudel aus Rot und Blau und Gold.

Unter dem außerirdischen Schiff war ein Majo mit beiden über dem Kopf erhobenen Händen an einen Pfeiler des Lagerbocks gefesselt. Kyr erkannte die Spezies nicht. In der Agoge hatte sie so etwas noch nie gesehen. Das Wesen hatte einen flossenartigen, feinen weißen Kamm, der nun flach an seinem Schädel anlag, als würde es sich fürchten. Seine zu großen Augen waren von einem sehr blassen Silber. Kyr starrte es an.

Die Victrix-Soldaten versuchten, das Wesen zu bewachen, ohne es ansehen zu müssen. Kyr konnte es ihnen nicht verübeln. »Warum lebt das Ding noch?«, fragte sie.

Das Majo hob seinen Kopf, wobei sich der Kamm ein wenig aufrichtete. In klarem, wenn auch etwas seltsam betonten T-Standard antwortete es: »Weil mein wunderschönes Schiff explodieren wird, sobald ihr mich tötet, und zwar bevor irgendeiner eurer Möchtegernwissenschaftler*innen an diesem kümmerlichen Ort etwas Nützliches davon wird lernen können.«

»Halt’s Maul«, sagte eine der Wachen und schlug dem Ding mit dem Handrücken ins Gesicht.

»Bitte denkt daran, dass ich nicht annähernd so robust bin wie ein Mensch«, keuchte das Majo, nachdem es einige Momente um Luft gerungen hatte. Um sein linkes Auge herum erblühte bereits ein gigantisches Veilchen.

»Halt’s Maul!«

»Knebelt es«, sagte Kyr pragmatisch.

Der Wächter schnaubte missmutig. Vermutlich ärgerte er sich, dass er nicht als Erster auf diese Idee gekommen war. Kyr nickte Lisabel zu, die ihren Gürtel zur Verfügung stellte. Als der Wächter ihn dem Majo in den Mund stopfte, wehrte es sich nicht. Sobald es auf die Weise zum Schweigen gebracht worden war, zwang sich Kyr, ihren Blick von ihm loszureißen. Es fühlte sich an, als würde sie eine scharfe Handgranate ignorieren, aber sie weigerte sich, Angst zu haben.

»Wir sind hier, um das Schiff auszuräumen und zu verpacken«, erklärte sie den Victrix-Wächtern und zeigte ihnen ihr Klemmbrett.

»Mpf«, machte das Alien und wackelte mit den gefesselten Händen. Wie ein Kind in der Krippe, das im Unterricht drangenommen werden wollte. Das Wesen hatte drei lange Finger und einen kurzen Daumen. Als alle fortfuhren, es zu ignorieren – Kyr bemüht unbekümmert, die Wächter missmutig, die übrigen Sperlinge nervös –, wiederholte es sein »Mpf« noch einmal mit mehr Dringlichkeit.

»Was ist, wenn es wichtig ist?«, flüsterte Lisabel.

Kyr verdrehte die Augen, ging hinüber zur bemalten Fahrzeugluke und griff nach der Klinke.

Grünes Licht blitzte auf, brüllende Hitze, fürchterliche Kälte, und plötzlich lag Kyr drei Meter weiter weg auf dem Boden. Einer der Wächter kicherte. Wütend sprang Kyr auf die Füße. Wer, bitte schön, verbaute Dimensionsfallen in Zivilfahrzeugen?

Dem Majo war es unterdessen gelungen, Lisabels Gürtel auszuspucken. »Was ich sagen wollte«, erklärte es milde, »ist, dass der Schlüssel in meiner Tasche steckt.«

Das Innere des Raumschiffs war genauso albern wie sein Äußeres. Nichts hier drin war nützlich, alles war ein einziges absurdes Durcheinander: schickes Glasgeschirr in den Schränken, die Wände überzogen von einer fremdartigen, mit Ornamenten geschmückten Biomasse, ein ganzer Bereich, der sich als überquellender Kleiderschrank herausstellte. Einige der Kleidungsstücke waren aus seltenen Stoffen genäht. Kyr, die eins nach dem anderen über die Schulter hinter sich warf, hielt inne, als sie auf einmal ein seltsam vertrautes Material zwischen den Fingern spürte. Wolle. Ursa hatte einmal einen Wollschal besessen. Sie hatte gesagt, er habe ihrer Mutter gehört. Dieses Kleidungsstück war eine Art weiße Robe, durchsetzt mit silbernen Wollfäden. An seiner Innenseite war ein Schild angebracht. Kyr entzifferte die Worte auf Majodai. Hergestellt auf Chrysothemis aus Echter Terranischer Biomasse! Alle Erlöse gehen an das Projekt Geflüchtetenheime zur Umsiedelung der Menschheit.

Kyr knüllte das Ding zu einem weiß-silbernen Ball zusammen und schleuderte es mit aller Kraft hinaus in den Hangar. Widerlich.

Die gesamte Kleidung wurde unter »Luxusgewebe« ins Lagerprotokoll aufgenommen. Vor den Augen des gefesselten Majo verstauten sie alles in Kisten. Sie hatten das Alien nicht wieder geknebelt, denn es schien so, als wäre es zur Vernunft gekommen. Emotionslos schaute es dabei zu, wie seine Anziehsachen entlang der Nähte aufgerissen wurden. Kyr konnte seinen Gesichtsausdruck nicht genau deuten, aber es wirkte relativ gleichgültig auf sie. Und das machte sie wütend. Sie wollte das Alien verletzt sehen.

Kyr tat, als würde sie stolpern, und trat es dabei in die Seite. Dann zog sie sich wieder am Lagerbock hoch und verschwand erneut im Schiffsbauch. Die Wachen ignorierten den Vorfall. Einer von ihnen grinste, aber in die andere Richtung.

Nach etwa einer halben Stunde unterbrach ein weiterer Läufer der Tiger ihre Arbeit. »Sperlinge!«, stieß er hervor. Er salutierte und hielt Kyr ein Durschlagpapier hin. Die anderen Sperlinge hielten inne. Cleo war gerade dabei gewesen, eine Kiste mit Glasgeschirr auf ihre Hüfte zu stemmen. »Geschwader-Zuordnung!«, rief der Läufer. Kyr nahm den Durchschlag, las den Namen, der daraufstand, und reichte ihn an Lisabel weiter.

Aufmerksam beobachteten alle, wie Lisabel den Durchschlag auseinanderfaltete, obwohl sie bereits wussten, was darinstand. Sogar die Victrix-Wachen sahen neugierig zu. Geschwader-Zuordnungen waren nicht gerade an der Tagesordnung.

Lisabel las und faltete das Papier wieder zusammen. Dann hob sie den Kopf und lächelte. »Krippe.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Zen nach einem kurzen Moment der Stille.

Kyr drehte sich zu einem in der Nähe stehenden Soldaten um. »Soldat, deine Flasche?«

Cleo erfasste Kyrs Gedanken und angelte ein paar Gläser aus ihrer Kiste. Sie hatten schließlich auch auf Jeanne angestoßen. Als Kyr den Schnaps auf die Gläser verteilte, spürte sie, wie jemand sie ansah, und blickte auf. Es war Vic. »Du kannst dich nicht immer an alle Regeln halten«, sagte Kyr. »Haus ist Haus.«

Vic zögerte kurz, dann lächelte sie Kyr unsicher, beinahe überrascht an. »Haus ist Haus.«

Arti war leise zu Vic getreten und schlang nun einen Arm um ihre Taille. Albern, dachte Kyr, aber sie würde nichts sagen. Sie gab den beiden ihre Gläser und sie stießen miteinander an. Zen schnaubte ein wenig, als sie ihr Glas bekam, nippte vorsichtig und verzog das Gesicht. Cleo feixte, das scharfe Lächeln wie die Schneide eines Messers, ihre aufrechte Haltung perfekt wie immer. Wortlos erhob sie ihr Glas in Kyrs Richtung, um ihr zuzuprosten, als wären sie seit ihrem Zusammenstoß vor der Agoge in eine Auseinandersetzung verwickelt gewesen, die Kyr nun irgendwie beigelegt hatte.

Als Letztes wandte sich Kyr Lisabel zu und reichte auch ihr ein Glas, umfing die Hände, die es in Empfang nahmen, mit den ihren. Lisabels Augen waren tiefblau. Das Glas funkelte zwischen ihren Handflächen. Kyr hielt noch ein wenig länger fest.

Dann bemerkte sie, dass das Majo sie beobachtete. Es hatte bestimmt gedacht, sie würden hier auf Station Gaia ein trostloses, elendes Leben fristen. Selbst hatte es sein Raumschiff voller Luxusgüter, sein angenehmes Leben, seine kostbaren Gewänder, hergestellt aus den geplünderten Überresten der Erde und ihrer ganzen biologischen Pracht. Aber was es nicht hatte und niemals haben würde, war das, was Kyr das Teuerste war: ihr Haus und ihr Auftrag.

Das Wesen ruckte sein Kinn in Richtung des kristallklaren, mit silbernen Mustern verzierten Glases und sagte: »Die sind ziemlich wertvoll, wisst ihr?«

Kyr ließ Lisabels Hand los. Sie trat einen Schritt zurück, nahm sich das letzte Glas und hielt es Lisabel entgegen. »Lieber kämpfe ich in drei Schlachten, als auch nur ein Kind zu gebären.«

Das war der Leitspruch der Krippe. Ein weiteres Stück uralter Erdendichtkunst und eine Anerkennung der Tatsache, dass die Aufgaben der Krippe ebenfalls ein Akt der Tapferkeit waren. Einen Moment lang sah Lisabel Kyr schweigend ins Gesicht. Schließlich lächelte sie, kaum mehr als ein Zucken ihrer Mundwinkel. »Danke.«

»Drei Schlachten«, sagte Cleo plötzlich und hob ihr Glas.

»Drei Schlachten«, echote Vic, und dann wiederholten es die anderen Sperlinge. Alle bis auf Jeanne, die auch hätte dort sein sollen. Dein Haus war schließlich dein Haus, das galt auch nach der Zuordnung.

»Vielleicht haben wir ja Glück und kommen dich bald besuchen«, sagte die Wache, die ihre Flasche gespendet hatte. Lisabel lief rot an und wandte sich ab. Kyr grinste und gab dem Soldaten seinen Flachmann wieder. Dann blickte sie hinüber zum Majo.

»Ziemlich wertvoll, sagst du?«

Das Alien blinzelte sie aus großen silbrigen Augen an. »Genau. Und auch von einigem ideellem Wert.«

»Oh, na, in dem Fall«, sagte Kyr und kippte den letzten Schluck Schnaps hinunter. Sie hielt das kleine schimmernde Glas in die Höhe und betrachtete die seltsamen Muster, die die silbernen Verzierungen im Licht auf den Boden warfen. Dann schleuderte sie es in die Höhe, fing es wieder auf und knallte es gegen die bemalte Verkleidung des Vergnügungsraumschiffs. »Cleo!«

Cleo lachte scharf auf und warf ihr Glas hinterher. Danach taten die anderen es ihnen gleich, erst Vic, dann Arti, dann Zen. Ein Klirren nach dem anderen, als die kleinen, glänzenden Gläser zerbarsten und ihre kristallenen und silbernen Scherben in alle Himmelsrichtungen davonflogen. Zen rief etwas, als sie ihr Glas gegen den Schiffskörper warf, was Kyr nicht verstand, und für einen kurzen Moment kam Leben in ihr sonst so unbewegtes Gesicht. Nur Lisabel stand noch da, das Glas in der Hand. »Los! Trau dich!«, sagte Kyr.

Lisabel warf das letzte Glas so hart vor sich auf den Boden, dass die Scherben wie glitzernde Gischt umherflogen.

»Das halten wir von deinen ziemlich kostbaren Gläsern«, sagte Kyr, an das Majo gewandt.

Es erwiderte nichts. Sein blasser Kamm lag wieder flach auf seinem Schädel. Sie hatten ihm Angst eingejagt.

3

FAMILIE

In den darauffolgenden drei Tagen wurden noch zwei weitere von Kyrs Hausgenossinnen zugeordnet: erst Arti zu den Augusta, dann Vic zu ihren geliebten Sonnentrackern. Noch während Artis Zuordnung wurde sie zum Alarmstart gerufen: Majo-Drohnen im Mousa-System, das, galaktisch betrachtet, direkt um die Ecke lag. Kyr spürte, wie ihr die Brust vor unehrenhaftem Neid eng wurde, als sie Arti in Richtung Augusta-Hangar davonsprinten sah.

Vic rief Arti hinterher, aber die drehte sich nicht um.

Kyr stufte Vic an dem Tag zurück auf Level Sieben, nachdem diese in Level Acht gestolpert war und sich zum Affen gemacht hatte. Sie hatte nie verstanden, wie Leute es zulassen konnten, dass irgendeine Sex-Geschichte sie so sehr ablenkte. Es bereitete ihr ein wenig Sorge, dass Vic so offensichtlich Probleme damit hatte. Vic war doch ohnehin schon so flatterhaft und nervös, und es würde für sie alle peinlich werden, wenn sie sich zum Gespött der Leute machte.