Die liebevolle Gefährtin in dir - Natalia de Barbaro - E-Book

Die liebevolle Gefährtin in dir E-Book

Natalia de Barbaro

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Beschreibung

Auch heute noch kämpfen Frauen überall auf der Welt tagtäglich mit den Ansprüchen und Erwartungen anderer. Durch unsere Erziehung, Traditionen und die Gesellschaft wurden uns diese über die Jahre so stark auferlegt, dass sie sich wie eigenständige Stimmen in uns verwurzelt haben. Stimmen, die nicht die unseren sind, die uns aber allzu oft bestimmen und uns daran hindern, wir selbst zu sein. Die Psychologin und Bestsellerautorin Natalia de Barbaro hilft Frauen dabei, selbstbestimmt ihren eigenen Weg zu gehen. In ihrem Buch berichtet sie in bewegenden und sehr persönlichen Geschichten von dem täglichen Kampf mit Zweifeln, vermeintlichen Mängeln und dem Druck, perfekt sein zu müssen. Dabei hilft sie Frauen durch ihre Darstellung der Figuren, in einen liebevollen Dialog mit sich selbst zu gehen und so ihr inneres Wesen, die gütige Gefährtin, und damit sich selbst kennenzulernen.

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Seitenzahl: 311

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NATALIA DE BARBARO

DIE liebevolleGEFÄHRTIN in dir

NATALIA DE BARBARO

DIE liebevolleGEFÄHRTIN in dir

Von falschen Erwartungen, verführerischen Stimmen und der Suche nach innerer Freiheit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2024

© 2024 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Die polnische Originalausgabe erschien 2021 bei Agora SA unter dem Titel Czuła przewodniczka. Kobieca droga do siebie.

Copyright © Agora SA, 2021

Copyright © Natalia de Barbaro, 2021

All rights reserved.

Those Winter Sundays (S. 122): Copyright @ 1966 by Robert Hayden, from Collected Poems of Robert Hayden by Robert Hayden, edited by Frederick Glaysher. Used by permission of Liveright Publishing Corporation.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Rotkel. Die Textwerkstatt

Redaktion: Susanne von Ahn

Umschlaggestaltung: Maria Verdorfer

Umschlagabbildung: Shutterstock/HstrongART, Nadia Grapes

Satz: feschart print- und webdesign, Michaela Röhler, Leopoldshöhe

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7474-0577-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-973-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-974-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Vorwort

Prolog

Die Gefügige

Die Schneekönigin

Die Märtyrerin

Tanz der Kobolde

Drei Schwestern

Die folierte Frau

Das, was hilft

Inneres Kind

Wildes Mädchen

Von der Schneekönigin zur Erwachsenen

Von der Märtyrerin zur Herzlichen

Verbeugung

Quellen

Über die Autorin

VORWORT

»Warum fühlt sich alles nicht richtig an?«, fragte sie mich, und die Tränen flossen, verschmierten die Wimperntusche. »Ich habe einen tollen Mann, Kinder, einen Job, eine Wohnung. Warum habe ich morgens keine Lust aufzustehen?« Und gleich darauf fragte sie besorgt: »Bin ich verschmiert?«

Diese Frau, meine Klientin, kam zu dem Schluss, dass sie in einem Zustand chronischer Unterordnung lebte. Sie hat Jura studiert, weil ihre Eltern es wollten. Sie hat in einem großen Unternehmen gearbeitet, weil man dort gutes Geld verdient. Sie hat die Wohnzimmerwände in einer Farbe gestrichen, die Designer als angesagt empfahlen. »Warum fühlt sich alles nicht richtig an?«, fragte sie anfangs. Und zwei Treffen später: »Wie soll ich glücklich sein, wenn ich selbst irgendwie nie anwesend bin?«

In ihren berühmten Vorträgen von 1928 beschreibt Virginia Woolf das »Zimmer für sich allein«, den Rückzugsraum, der Frauen fehlt, um sich entfalten zu können.1 Bei der Arbeit mit Frauen in den »Zimmer für sich allein«-Workshops und in Einzelsitzungen stelle ich oft fest, dass sich viele von ihnen von sich selbst entfernen. Wie viele strukturieren ihren Tag danach, was (ihrer Meinung nach) andere von ihnen erwarten.

Das ist auch mir passiert. Als ich anfing, darüber nachzudenken, woher das kam, stellte sich heraus, dass es die Angst war. Die Angst flüsterte mir zu, dass ich zurückgewiesen werden könnte, wenn ich das Wort ergreife und meine Meinung sage. Wenn ich aufhöre, von Meeting zu Meeting, von Training zu Training, von Auftrag zu Auftrag zu hetzen, werde ich mein Recht verlieren, auf Mutter Erde zu wandeln. Dass ich mich schämen werde, wenn ich den Heiligabend-Borschtsch in einer Kneipe bestelle, anstatt ihn selbst zu kochen.

Es stellte sich heraus, dass dies alles nicht der Wahrheit entsprach.

Wenn wir etwas angstgetrieben tun, dann entfernen wir uns von uns selbst. Und überlassen die Regie unseres Lebens einem strengen Tribunal, das auf jeden unserer Schritte mit Argusaugen schaut. Was in uns lebendig und warmherzig ist, erstarrt unter ihrem Blick.

Während der Arbeit an mir selbst entdeckte ich, dass in mir noch jemand anderes lebt. Sie, diese innere Figur, die mir, wenn ich sie darum bitte, mit ihrer Weisheit und Reife zur Seite steht. Ich nenne sie die liebevolle Gefährtin. Vielleicht wirst auch du, wenn du die Augen schließt und ein paarmal tief durchatmest, ihr Bild vor deinem inneren Auge sehen. Tue es jetzt, auch wenn du nur in diesem Buch blätterst, während du in einer Buchhandlung stehst. Denke an die liebevolle Gefährtin.

Wie kommt es, dass sie wartet? Warum glaube ich, dass du sie gesehen haben könntest? Für mich ist das ein Rätsel. Aber ich spüre, dass sie auch in dir lebt.

Und ich tue es jetzt gemeinsam mit dir, indem ich meine Augen schließe, um sie zu erblicken. Meine liebevolle Gefährtin zeigt mir ihr Gesicht nicht, aber ich kann von Weitem ihren Mantel sehen und wie sie einen Weg entlanggeht. Ich fühle in meinem Herzen, dass ich ihr folgen muss.

Ich weiß: Wenn ich das tue, wandelt sich meine Angst in Wohlwollen mir selbst gegenüber – etwa so, wie das Eis auf einem Fluss dank der wärmenden Sonne in lebendiges, rauschendes Wasser verwandelt wird. Das ruhige Ein- und Ausatmen dann ersetzt die Atemlosigkeit; in mir wird Platz sein für mein »Ja« und mein »Nein«, für meine eigenen Entscheidungen, für Verspieltheit, für Herzlichkeit gegenüber Menschen, die ich liebe. Und es wird der Glaube vorhanden sein, dass ich selbst von ihnen vorbehaltlos und bedingungslos geliebt werden kann.

Meiner Erfahrung nach ist dieser Schritt – die Verwandlung der Angst in eine Art Selbstliebe – nichts Einmaliges. Es erklingt keine Fanfare, es gibt keine Ziellinie, kein finales Happy End. Dieser Schritt erfordert Übung, Achtsamkeit, die Pflege der Beziehung zu uns selbst – jeden einzelnen Tag. Aber immer wieder bringt er uns – Tag für Tag – uns selbst näher und macht unser Leben mehr zu unserem.

In diesem Buch geht es darum, dass wir, auch wenn wir uns weit von uns selbst entfernt haben, den Weg zurückfinden können. Er führt über Schlaglöcher, Bodenwellen und auch mal in die Irre. Aber dieser Weg liegt vor uns. Und am Ende des Weges warten wir auf uns selbst. Wie jemand, der vor die Tür auf die Veranda hinausgetreten ist und Licht für einen Wanderer eingeschaltet hat.

PROLOG

Ein Traum über verschnürte Frauen

Vor einigen Jahren hatte ich diesen Traum: Tief unter der Erde, in einer Art Salzbergwerk wie in Wieliczka, gibt es einen großen unterirdischen See mit dunkelgrünem Wasser. Ich tauche in dieses dunkle Wasser ein, gekleidet in ein schwarzes, eng geschnürtes Kleid aus dem 19. Jahrhundert, ähnlich dem, das Holly Hunter in dem Film Das Piano trug. Neben mir schwimmen noch andere Frauen, die genauso gekleidet sind. Ich kann ihre Gesichter nicht sehen. Wir schwimmen, oder besser gesagt, wir stecken in diesem Gewässer fest, und ich, die Träumende, weiß, dass dies eine Art Spiel ist. Die Grundregel dieses Spiels lautet: nicht auftauchen, nicht durchatmen. Als ich das träume, habe ich das Gefühl, dass mir gerade die Luft ausgeht, dass mein Körper langsam nach oben gleitet, in Richtung der Oberfläche. Ich habe das Gefühl, dass ich scheitern werde und dass dieses Scheitern unmittelbar bevorsteht. Ich schäme mich. Ich weiß, dass am Rand dieses Beckens ein Mann steht – auch er hat, wie die Frauen, die um mich herumschwimmen, kein Gesicht, aber seine Silhouette gleicht in meiner Erinnerung der eines kühlen Geschäftsmannes, ähnlich denen, die uns aus der Werbung für Investmentfonds oder Luxusuhren ansehen. Später habe ich ihn Beckenaufseher genannt. Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir nicht auftauchen. Ich habe den Eindruck, dass er einen Stock in der Hand hält, mit dem er uns zurück ins Wasser stoßen will. Ich weiß, dass es für ihn ein Leichtes ist – eine Bewegung mit dem Stock oder gar mit der Spitze seines Schuhs.

Ich habe mehreren Frauen von diesem Traum erzählt. Eine von ihnen sagte, dass ich auf dreifache Weise darin gefangen sei: unter der Erde, unter Wasser und zudem in einem Korsett. »Eine verschnürte Frau«, dachte ich damals. Es war ein Traum über verschnürte Frauen. Damals, als ich diesen Traum hatte, verstand ich seine Bedeutung nicht ganz. Aber mit meinem ganzen Wesen spürte ich, dass es meine Aufgabe sein würde, seiner Aufforderung zu folgen: die Arbeit zu tun, zu der er mich gerufen hatte. Ohne diesen Traum hätte ich mich vielleicht nicht auf den Weg gemacht, dieses Buch zu schreiben.

Ich beschloss, die verschnürten Frauen in mir selbst aufzuspüren. Wann fahre ich mit dem dunklen Aufzug unter die Erde? Wann steige ich in meinem Alltag in moosgrünes Wasser und trage ein Kleid, in dem sich selbst an Land und bei vollem Sonnenlicht niemand wohlfühlen könnte? Wer sind sie und woher kommen diese verhedderten, eingeschlossenen Teile von mir? Wer ist mein innerer Beckenaufseher?

Und die wichtigste Frage: Wie komme ich da raus, wie kann ich mein Korsett ablegen und in die Sonne treten? Welche Arbeiten werden dafür erforderlich sein? Von mir?

Von dir?

Meine Antwort auf diese Frage wird viele Seiten lang und nicht vollständig sein. Ich weiß jedoch, dass ich diese Aufgabe zu Ende bringen muss. Und ich spüre, wie die Freude bei dem Gedanken an diese Arbeit meinen ganzen Körper durchdringt.

TEIL I

DIE GEFÜGIGE

In meiner Vorstellung ist sie eine erwachsene Frau. Sie hat glattes, dunkles Haar und trägt eine kurze Perlenkette. Ihr Gesicht ist wie mit einem Tuch umwickelt, nur ihre Augen sind zu sehen: Sie sind geweitet; sie schauen mich direkt an – ich kann Angst und erhöhte Wachsamkeit in ihnen erkennen. Für mich ist sie das typische »Good Girl«. Das brave Mädchen hört nicht auf, mich anzuschauen, und ich kann nicht aufhören, es zu betrachten.

Ich habe einmal einen zweitägigen WenDo-Workshop besucht, der eine Kombination aus Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungsübungen sowie Reflexionen darüber war, was als weiblich gilt, womit wir gefüttert wurden. Eine der Übungen bestand darin, dass wir den Satz »Ein Mädchen sollte ...« vervollständigen mussten. Du weißt, wovon ich spreche. Ich muss es dir nicht erklären, wir alle haben dieselbe Luft geatmet. Ich hatte das Glück, dass meine Eltern hören wollten, was ich zu sagen hatte. In der Schule galt ich als die mit der frechen Klappe, und die Lehrer sagten mir mit unverständlichem Hohn und Spott, ich würde Anwältin werden, weil ich mich für andere einsetzte. Das war genug, um zu verhindern, dass »die Gefügige« zu meiner inneren Hauptfigur wurde. Aber ich kenne sie. Ich kenne dich, braves Mädchen. Ich weiß, dass du aus Angst gemacht bist.

Die Gefügige kommt in mir zum Vorschein, wenn ich die hochgezogene Augenbraue eines Geschäftsführers bei einer Vorstandsschulung sehe. Wenn die Stimme meines Sohnes oder meines Mannes gereizt ist und ich spüre, wie sich die Anspannung in meiner Magengegend bemerkbar macht. Wenn ich zögere, eine Einladung zu einer Gesprächsveranstaltung anzunehmen, obwohl ich weiß, dass andere, die daran teilnehmen werden, nicht zögern werden. Sie ist in mir, wenn ich im Gespräch automatisch Platz für das Unbehagen eines anderen schaffe, es in mich aufnehme und mich zuständig fühle, das Wohlbefinden meines Gesprächspartners wiederherzustellen, und dabei vergesse zu prüfen, wie es mir selbst dabei geht, ob ich wirklich den Raum dafür habe und was der Preis dafür ist, den ich zahlen werde. Sie zeigt sich in mir, wenn meine Schüchternheit, meine Unterwürfigkeit zum Vorschein kommen, wenn ich frage: »Noch etwas Salat?«, um das Thema zu wechseln, weil ich befürchte, dass es zu einem Streit am Esstisch kommen wird. Die Gefügige war in mir, als ich – wie wahrscheinlich jedes Mädchen – meine Version von #metoo erlebte. Heute, als erwachsene Frau, reagiere ich nicht mehr, wenn mich ein Fremder »Mäuschen« nennt. Wenn ich, anstatt »Verpiss dich« zu sagen, mit leiser Stimme sage: »Es tut mir sehr leid, ich hoffe, es ist kein Problem, aber könnten Sie sich vielleicht zwei Millimeter wegbewegen?« Während ich dies schreibe, beginne ich an mir selbst zu zweifeln. Ich möchte aufhören zu schreiben, weil ich nicht weiß, ob das, was ich schreibe, von irgendjemandem gelesen wird.

Die Gefügige hält die Beine zusammen, legt die Hände auf die Bettdecke, prüft, ob ihre Strumpfhose keine Laufmaschen hat, und trägt für alle Fälle ein zweites Paar mit sich. Sie führt Aufgaben aus, ohne zu murren. Ihre Stimme würde wie Hintergrundrauschen klingen ... sei bitte leise, störe andere nicht bei ihren wichtigen Tätigkeiten. Die Gefügige belästigt niemanden mit ihrem Dasein. Sie verschwindet in der Küche, wenn die »Herren« wichtige Dinge besprechen, schleicht sich auf Zehenspitzen in den Konferenzraum, ihre Lippen formen ein lautloses »Entschuldigung«, sie setzt sich weit hinten an die Wand. »Nein, lassen Sie sich nicht stören, lassen Sie sich nicht stören.« – Das ist ihre Antwort, wenn jemand auf ihren Platz am Tisch zeigt.

Wem unterwirft sie sich? Häufig ist dies nicht klar. Im Leben mancher Frauen ist die Figur des »Gebieters« unverkennbar – zum Beispiel, weil sie einen Tyrannen geheiratet haben, der sie beim Anblick eines nicht ordentlich abgestellten Hausschuhs oder eines ungebügelten Hemdkragens mit seinem Blick straft. Unter diesem Blick funktionieren sie wie ein Uhrwerk. Die Tatsache, dass der Gebieter eine klare, konkrete Form angenommen hat, mit einem Vornamen, einem Nachnamen und einer Steueridentifikationsnummer, bringt eine besonders gefährliche Art Ordnung in ihre Köpfe. »Er ist so, man kann nicht anders mit ihm umgehen.« Und dann geht es schon um ihn, nicht um sie, er ist der Stimulus, und sie reagiert auf die einzig mögliche Weise, wie es aus ihrer Sicht scheint. »Der alte Bär schläft tief und fest. Wir haben Angst vor ihm, wir gehen auf Zehenspitzen um ihn herum. Wenn er aufwacht, wird er uns fressen.«

Wenn ich die Gefügige bin, glaube ich an eine hierarchische Welt. Es gibt keine Gleichheit.

Geert Hofstede, ein niederländischer Sozialpsychologe, der sich mit dem Thema National- und Organisationskulturen beschäftigt hat, unternahm den Versuch, Länder und Unternehmen so zu beschreiben, wie man die Persönlichkeit eines Menschen beschreibt – mithilfe verschiedener Dimensionen, die die Intensität der verschiedenen Eigenschaften schildern. Eine Dimension erblickte er in der Funktionsweise der Gemeinschaft, die er als Machtdistanz bezeichnete. Sie beschreibt das Ausmaß, in dem Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft oder Beschäftigte eines Unternehmens einer ungleichen Verteilung von Einfluss / Macht zustimmen. In Ländern mit einer großen Machtdistanz empören sich die Menschen nicht darüber, dass einige mehr und andere weniger dürfen. Wie bei George Orwell2: »Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.«

In einer Beziehung, in der die Partner (die eigentlich keine Partner mehr sind) nach diesem Paradigma leben, ist es klar und unbestreitbar, dass die eine putzt und der andere prüft, ob gut geputzt wurde; die eine fragt, ob sie nächsten Freitag vielleicht für eine Stunde mit ihren Freundinnen ausgehen kann, und der andere einfach mitteilt: »Ich bin weg«, die Tür hinter sich schließt und dann ist nur das »Piep, Piep« der Autoalarmanlage zu hören; die eine kocht, bedient, räumt auf und der andere beurteilt, ob gut gekocht wurde.

Die Gefügige ist der Teil von uns, der nach der Typologie von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse3, der Struktur des unterwürfigen Kindes entspricht. Sie glaubt, dass sie schwächer ist und dass sie die Luft der Unterordnung atmet. Es geschieht automatisch: Die Gefügige stellt die Frage nach der Gleichheit nicht, weil sie ihre Situation nicht von außen betrachten kann. Sie lebt nach einem Paradigma, das davon ausgeht, dass einige oben und andere unten sind – und dass sie immer noch »unten« ist. Für sie ist dies die Norm. Die Frage nach den eigenen Grenzen und deren Überschreitung stellt sich ihr nicht – andere nehmen so viel Raum ein, wie sie beanspruchen, und sie schrumpft so weit, wie es nötig ist, damit die anderen diesen Raum einnehmen können. Das geschieht im Gespräch, in der Straßenbahn und im Bett. Die Gefügige sucht nach Orientierung in der Außenwelt, nach Regeln, die sie befolgen kann, weil sie keinen eigenen inneren Kompass besitzt – und irgendwie muss sie ja durchs Leben navigieren. Sie navigiert also, indem sie sich selbst als GPS benutzt: So macht man das, so macht man das nicht. Die Gesellschaft, die Kultur, die patriarchalischen Rollenmodelle liefern lange, detaillierte Listen, was angemessen ist und was nicht, wie man sich kleiden darf und wie nicht, was die Pflichten einer Hausfrau, Mutter, Ehefrau usw. sind. Jeden Tag wird es Menschen geben, die ihr »helfen«, weil sie ihr Gefühl der Unterordnung für irgendetwas brauchen. Eine Nachbarin kritisiert ihre zerschlissenen Jeans mit einem strafenden Blick – sie selbst traut sich nicht, ihren Körper zu entblößen, also wird sie den entblößten Körper einer anderen Frau hart aburteilen. Die Managerin will sie nicht zu Wort kommen lassen und schneidet ihr das Wort ab: »Ich verstehe, es gibt keine Fragen.« Ein Onkel wird ihr das Grundkonzept des Films erklären, den sie gesehen hat und er nicht – weil Mansplaining4 sein Ego nährt.

So konditioniert, führen erwachsene Frauen mit einer beeindruckenden Liste von Errungenschaften ein »geschrumpftes« Leben; ein Leben, das die Erwartungen anderer Menschen widerspiegelt, oder vielmehr ihre Vorstellung von diesen Erwartungen. Wenn ich meine Freundinnen, meine Kolleginnen, mir bekannte oder fremde Frauen betrachte – und auch Teile meines eigenen Lebens –, dann überkommt mich Wehmut darüber, dass man seine Zeit auf diese Weise vergeuden kann. Dieses verdammte Gebot der Höflichkeit, dieser Zwang, sich den Vorstellungen von Menschen anzupassen, mit denen wir nicht einmal befreundet sein wollen, diese Unterwürfigkeit, die durch unsere Adern zu fließen scheint. Wir mögen noch so viele Vorlesungen an Universitäten halten, auf Kundgebungen sprechen oder Millionen in Unternehmen umsetzen, diese Anforderung ist wie eine Klette, die man nicht loswerden kann. Mache dir keine Illusionen darüber, dass Geschäftsführerinnen, Direktorinnen, weibliche Vorstandsvorsitzende oder Prominente nicht mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben – die Gefügige lebt auch in ihnen, genau wie in dir und in mir. Sie taucht auch in den Köpfen jener Frauen auf, die Achtsamkeitskurse belegen, Führungsakademien absolvieren und in WenDo-Kursen mit ihren Händen Kieferbretter entzweihauen.

Einmal habe ich eine verzweifelte Frau gesehen. Einige Tage zuvor war ihr bereits erwachsenes Kind gestorben. Trotz ihrer Verzweiflung fühlte sich diese Frau weiterhin verpflichtet, für die Familie zu putzen und zu kochen. Ihre Hände zitterten, als sie den Deckel auf den Topf mit der Gurkensuppe setzte. »Ja, ich stelle das warme Essen in den Kühlschrank«, sagte sie mit der zitternden Stimme eines rebellischen kleinen Mädchens. Und ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. »Warmes in den Kühlschrank stellen« war das Ausmaß ihrer Rebellion. Als diese Frau ein kleines Mädchen war, war meine Mutter noch nicht auf der Welt, und in den meisten europäischen Ländern hatten Frauen kein Wahlrecht. Heute erkenne ich die Gefügige in mir wieder, beobachte sie und schreibe über sie, nicht, weil ich besser bin als diese verzweifelte Frau – ich wurde einfach später geboren, in eine Welt hinein, die die Früchte des Kampfes für unsere Rechte besser kennt.

Wie kann es sein, dass sich unsere Gefügigen so in uns breitgemacht haben? Wo ist der Regisseur? Wer genau verlangt etwas von uns? Diese Nachbarin, dieser Manager, dieser Onkel? Die Kirche? Die Schule? Das Management? Es ist nicht klar. Alle zusammen und keiner allein. Aber solange ich mit dem Finger auf die Welt zeige und ihr die Schuld gebe, wird sich nichts ändern. Meiner persönlichen Erfahrung nach ist die wichtigste Lektion, dass alle Forderungen, Erwartungen, Ermahnungen nur dann einen Sinn haben, wenn ich sie zulasse und – um die Sprache der Psychologie zu verwenden – internalisiere oder verinnerliche. Der Druck entsteht meist von außen, aber er wirkt nur in mir, wenn ich ihm die Tür öffne: »Komm rein, du bist willkommen, nein, du musst deine Schuhe nicht ausziehen!« Je länger ich lebe, desto klarer wird mir, dass ich die Verantwortung dafür trage, dass ich diesem Druck nachgegeben habe. Und dass ich außer in extremen Situationen, die selten auftreten, immer eine Wahl habe.

Anders ist es in der Welt der Gefügigen, die aus Angst gemacht ist. Sie wurde dazu dressiert, höflich zu sein. Sei höflich. Sei nett. Gib nach. Das ist allgemein bekannt, ich will dich nicht langweilen: Wir wissen es beide. Die Gefügige in mir verbeugt sich vor der deinen, und jede verbeugt sich noch tiefer, denn keine von beiden will überheblich wirken. Der Gefügigen geht es (wie allen unseren inneren Charakteren) ums Überleben: Sie ist erstarrt wie ein Tier, das Angst davor hat, angegriffen zu werden, und deshalb so tut, als sei es bereits tot. Und es ist so: Wenn die Gefügige Macht über dich hat, bist du weg: Deine Bedürfnisse sind weg, deine Grenzen sind weg, deine Meinung ist weg, deine Gefühle sind weg. Du selbst weißt nicht, was du brauchst, wer du bist, was du denkst und was du fühlst, denn bisher warst du zu sehr damit beschäftigt, regungslos auf der Stelle zu verharren. Du hast dich bemüht, so wenig Raum wie möglich einzunehmen und fast ohne zu atmen zu überleben. Das ist sehr anstrengend.

Im Laufe der Jahre hat die Gefügige ihren Wirkradius erweitert. Eine beliebte Richtung ist die sogenannte Emotionsarbeit (Emotional Labour). Das Konzept wurde 1983 von Arlie Russell Hochschild in ihrem Buch Das gekaufte Herz5 eingeführt. Sie definierte die Emotionsarbeit als »bewusste Regulierung des Ausdrucks der eigenen emotionalen Zustände, um die Emotionen zu zeigen, die für den Job erwünscht sind«. Hochschild begann ihre Untersuchung mit den Flugbegleiterinnen: strahlendes Lächeln, in jeder Situation höflich. Sie stellte sich die Frage nach dem Prozess, der zu diesem Lächeln führt. »Ich bin früher sehr viel geflogen und sah es immer wieder: die hohen Absätze, das enge Kostüm, der Lippenstift – egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Und dann ist da noch dieses Lächeln als Antwort auf die wütende Frage, warum es keinen schwarzen Johannisbeersaft gibt, auf die anzüglichen Bemerkungen angetrunkener Typen, auf die Beschwerden über den unbequemen Sitzplatz. Was geht in ihnen vor? Darüber habe ich schon oft nachgedacht. Ich wusste: Wenn das Flugzeug landet und wir uns in unsere Wohnungen und Büros zurückziehen, stellen wir fest, dass nicht nur die Flugbegleiterinnen mit einem aufgeklebten Lächeln herumlaufen. Hochschild beobachtete, dass jeder Mensch, der vor den emotionalen Karren gespannt wurde – oder sich selbst vor den Karren gespannt hat –, seine Gefühle verbergen kann. »I smile when I’m angry«6, sang mein geliebter Leonard Cohen – und Hand hoch, wer von uns das nicht schon mal getan hat. Ich verberge, was ich fühle – und scheinbar ist die Sache erledigt. Du hast deinen Ärger weggelächelt, der »Kunde« – wer auch immer das war – hat sich schon wieder beruhigt und du bist deinen Weg gegangen. Aber, aber – was macht das mit dir?

Ich erinnere mich an einen Selbstbehauptungskurs, den ich vor Jahren für Wissenschaftlerinnen an einer Universität gab. Wir spielten eine Szene nach, in der ein älterer Dozent anrüchige Witze machte und es die Aufgabe einer Doktorandin war, eine Möglichkeit zu finden, um »Genug!« zu sagen. Die Doktorandin war höflich, kultiviert, ruhig; der Dozent spielte so, wie die Gegnerin es erlaubte – nämlich bis zum Ende. Als es darum ging, die Szene zu besprechen, schrie eine der älteren Teilnehmerinnen fast in die Richtung derjenigen, die die Doktorandin spielte: »Wo ist deine Wut?« Diese Frage hat sich für immer in meinem Herzen festgesetzt und taucht immer wieder auf, wenn ich sie brauche. »Wo ist deine Wut?« Dieselbe Wut, die der »Schönheit schadet«, die man uns zu zeigen oder gar zu fühlen abgewöhnt hat? Unausgesprochene Wut – in einem Gespräch mit einem Dozenten oder einer anderen Person, der wir erlaubt haben, uns zu beherrschen – verschwindet nicht. Es ist eine lebendige Energie, die jetzt in unserem lebendigen Körper zirkuliert. Was wird als Nächstes mit ihr geschehen? Wenn ich diese Frage den Menschen stelle, die ich auf Fortbildungsveranstaltungen treffe, kennen alle die Antwort. Die Liste schwerwiegender Folgen unausgesprochener, verborgener Gefühle ist lang. Frauen neigen dazu, diese Wut gegen sich selbst zu richten. Dies erfüllt mich mit großer Traurigkeit: Viele von uns, eine unüberschaubare Zahl von Frauen, glauben, dass das Beste, was man mit seiner Scheißwut machen kann, ist, sie gegen sich selbst zu richten. Glaubst du, du tust das nicht? Schreibe die Gedanken auf, die dir durch den Kopf gehen. »Gott, was bin ich nur für eine Idiotin. Ich habe vergessen, dem Kunden zurückzuschreiben! Ich bin so bescheuert.« Hand hoch, wer von uns noch nie so gedacht hat. Stelle dir nun deine Freundin oder eine Bekannte, die du magst, vor und richte diese Worte an sie: »Gott, was bist du für eine Idiotin. Du hast vergessen, dem Kunden zurückzuschreiben! Du bist so bescheuert.« Würdest du solche Wörter verwenden? Oh ... dann würde etwas mit dieser Freundschaft, mit dieser Vertrautheit geschehen, nicht wahr? Und was geschieht mit der Freundschaft zu dir selbst?

»Wir verstecken nicht nur die Gefühle, die wir empfinden«, schrieb Hochschild, »wir zeigen auch Gefühle, die wir nicht empfinden.« Es reicht nämlich nicht aus, dass eine solche Flugbegleiterin ihren Ärger nicht zum Ausdruck bringt, sie muss sich auch zwingen, freundlich zu sein, indem sie lächelt und beruhigend mit einer samtenen Stimme spricht. Auf diese Weise bedient sie Kunden nicht nur auf der praktischen Ebene – wenn sie ein Getränk serviert oder eine Decke bringt –, sondern auch auf emotionaler Ebene. Sie führt sie aus einem Zustand der Unzufriedenheit in einen Zustand der relativen Zufriedenheit.

Das Problem bei der Wiederherstellung des Wohlbefindens eines anderen Menschen ist, dass dies unsere Energie verschlingt und dem Gegenüber beibringt, dass jemand anderes seine Gefühle umarmt. Der Mechanismus ist derselbe wie beim Erlernen des Schnürsenkelbindens: Solange du deinem Kind die Schnürsenkel bindest, wird es es nicht lernen. So einfach ist das. Ich weiß das genau, denn ich habe mindestens ein paar Dutzend Stunden meines Lebens damit zugebracht, die Schuhe meines Sohnes zu schnüren. Sag es dir einfach am Morgen, wenn du weißt, dass ihr bereits seit zehn Minuten im Auto sitzen solltet, aber du konntest die Autoschlüssel nicht finden (du hast vergessen, dass du die Handtasche gewechselt hast), und jetzt weigert sich dein süßer, liebreizender Sohn, das Haus ohne seinen geliebten Plüschelefanten zu verlassen, den du aber, verdammt noch mal, ebenfalls nicht finden kannst, ebenso wenig wie deine alte oder deine neue Handtasche. Das ist der Moment, in dem du ihm die blöden Schnürsenkel selbst bindest, damit es einfach schneller geht. In dieser konkreten Situation ziehst du es vor, die Entwicklungsperspektive über Bord zu werfen – aber ganz im Ernst: Wer will schon um acht Uhr morgens Vorträge über Entwicklungspsychologie hören? Also bindest du die verdammten Schnürsenkel selbst – und dann auch am Donnerstag, Freitag und am Montag auch noch. Dann kommt der unvermeidliche Moment, wenn die Kindergärtnerin dich zur Seite nimmt und sagt, dass sie fünfzehn Kinder in der Gruppe hat, und wenn sie fünfzehn Paar Schuhe zubinden müsse, verzögere sich der Spaziergang um fünfzehn Minuten, und dass es vielleicht an der Zeit sei, deinem Sohn beizubringen, seine Schnürsenkel selbst zu binden.

Leider wird uns keine Kindergärtnerin dazu motivieren können, wenn wir anderen – diesmal schon (zumindest theoretisch) Erwachsenen – Tätigkeiten abnehmen, weil sie ihre eigenen Emotionen nicht im Griff haben. Und viele Frauen tun dies automatisch, jeden Tag, ihr ganzes Leben lang. Wenn du in einer bestimmten Situation, an diesem Esstisch, bei diesem Treffen, an diesem Schreibtisch, auf diesem Spaziergang, spürst, dass dein Gesprächspartner oder deine Gesprächspartnerin sich einem Punkt nähert, an dem er oder sie sich nicht im Griff hat, dann stürzt du dich auf ihn oder sie und leistest Hilfe – weil das deine Angewohnheit ist, weil das die Aufgabe ist, die du übernommen hast, weil es für dich in diesem besonderen Moment angebracht zu sein scheint. Denn es wird vor allem dir helfen, deine eigene Anspannung abzubauen, deine Angst, dass der alte Bär erwacht und dich frisst.

Der Begriff der Emotionsarbeit wurde von Gemma Hartley, Kolumnistin des Harpers Bazaar, zunächst in einer Kolumne und dann in ihrem Buch Es reicht neu definiert: Warum Familien- und Beziehungsarbeit nicht nur Sache der Frau ist7. Die Kolumne enthält eine typische Szene aus ihrer Ehe: In der Mitte des Zimmers liegt seit zwei Tagen eine Schachtel mit Geschenkpapier, die ihr Mann aus dem Schrank geholt hat. Nachdem Hartley zwei Tage lang um die Kiste herumgegangen ist, hat sie endlich genug, nimmt einen Stuhl aus der Küche und versucht, die Kiste auf das oberste Regal im Schrank zu schieben (wo sie vorher stand). »Du hättest nur fragen müssen«, sagt Gemmas Ehemann, als er sie mit der Schachtel kämpfen sieht. »Darum geht es ja«, antwortet Gemma unter Tränen, »dass ich nicht fragen muss!« Diese Szene wurde zum Gärteig einer neuen Sichtweise auf die emotionale Arbeit. Hartley definierte sie als »die unbezahlte, unsichtbare Arbeit, die wir leisten, damit sich die Menschen um uns herum wohlfühlen und glücklich sind«. Ein Teil dieses Komforts besteht darin, dass du durch dein Zimmer gehen kannst, ohne über eine Kiste zu stolpern, die seit Tagen auf dem Boden liegt – denn es gibt jemanden, der sie dort liegen sieht und dich entweder daran erinnert, dass sie weggeräumt werden muss, oder es eben selbst tut. Nur eine Schachtel, nichts weiter. Aber wenn die Anzahl der Dinge, die es wahrzunehmen und zu erledigen gilt, ins Unzählbare wächst, dann ist das eine ziemliche Anstrengung.

Wenn du die emotionale Arbeit auf dich nimmst, wirst du dich verpflichtet fühlen, dir den Geburtstag deiner Arbeitskollegin zu merken, andere daran zu erinnern und den Kauf eines Geschenks zu organisieren – denn du weißt ja, was sie gerne hat. Du wirst dir merken, wer seinen Kaffee wie trinkt. Du wirst dir merken, wer wie viele Kinder hat, und fragen, wie es denen geht. Wenn du einen Besprechungsraum betrittst und nicht abgeräumte Tassen auf dem Tisch siehst, bringst du sie weg, weil du nicht möchtest, dass die anderen sich unwohl fühlen. Wenn du, eine halbe Stunde später, in einer Besprechung die Anspannung in der Stimme deines Teamkollegen hörst, machst du einen Witz, um die Stimmung aufzulockern. Zu Hause erklärst du deinem Sohn, warum Papa verärgert ist, und deinem Mann, warum euer Sohn sauer ist. Du fragst, was sie zum Abendessen möchten. Während du online nach Klamotten surfst, hörst du einem langweiligen Vortrag deines Chefs zu, der dich vom Flughafen aus angerufen hat (weil er gerade lange auf seinen Anschlussflug warten muss), um dir seine Meinung zu den Trends im Online-Verkauf mitzuteilen. Du lächelst, obwohl du traurig bist, weil jemand im Vorbeigehen an deinem Schreibtisch zu dir gesagt hat: »Warum so traurig? Lächle doch mal!«

Alle Autorinnen und Autoren, die über die Emotionsarbeit schreiben, heben einen Aspekt besonders hervor: Emotionsarbeit ist etwas, das du unter Anspannung tust (die de facto meistens selbst gemacht ist). Schließlich können die meisten von mir aufgelisteten Tätigkeiten mit Vergnügen und aus vollen Herzen bewältigt werden – und sie können uns nähren, anstatt uns Energie zu entziehen. Vielleicht möchte ich zehn Freunde zum Abendessen einladen, mir merken, was sie gerne essen, für sie kochen, danach aufräumen und sie davor mit Gesprächen unterhalten; später in einen Sessel fallen und denken, dass es großartig war.

Die Motivation scheint mir das zentrale Thema zu sein. Sowohl die Emotionsarbeit als auch die anderen Tätigkeiten, die die Gefügige in Bewegung halten, werden von Angst motiviert, aus dem Denkmuster, das besagt, dass die Aufmerksamkeit der Welt und die Zuneigung, die sie uns schenkt, uns unwiderruflich entzogen werden können, wenn wir aufhören, uns anzustrengen. Meiner Erfahrung nach lässt sich dieses Motiv, wie viele andere wichtige Dinge ebenfalls, an der Körpersprache ablesen: Wenn die Gefügige die Oberhand zu gewinnen beginnt, macht sich Druck in der Bauchgegend bemerkbar, eine Anspannung, die sich irgendwie entladen muss. Auch die Sprache unserer Gedanken kann ein Hinweis sein. Wenn du denkst: »Ich muss, ich kann nicht, ich sollte, es gehört so sich«, dann deuten all diese Wörter darauf hin, dass die Gefügige Macht über dich erlangt hat.

Ein wichtiger Moment in meinem Leben im Zusammenhang mit der Gefügigen, eine Entdeckung, die es mir ermöglichte, die Wahrheit über sie zu erfahren, war die Erkenntnis, dass das, was ich für mein Mitgefühl und meine Sorge um andere Menschen hielt, de facto die Sorge um mich selbst war und dass ich aus Angst handelte. Ein Gespräch mit einem meiner Freunde war ausschlaggebend. Ich erzählte ihm von einem Gespräch mit einem Bekannten und darüber, wie besorgt ich um meinen Gesprächspartner war, wie ich mich mit Kritik zurückhielt, um ihm kein Unbehagen zu bereiten, wie sehr ich mit ihm mitfühlte. Ich habe alle drei Dinge in einem Atemzug gesagt, als ob Empathie, Fürsorge und das Bestreben, jemanden nicht in Verlegenheit zu bringen, dasselbe wären. »Und was denkst du, wie sah die Situation aus seiner Perspektive aus?«, fragte mein Freund. »Nun ...« Ich zögerte, suchte hektisch in meinem Hippocampus wie in einem Kleiderschrank nach der zweiten Socke und stellte mit zunehmender Klarheit fest, dass ich es einfach nicht wusste. Ich hatte keine Ahnung, wie die Situation aus der Sicht meines Gesprächspartners aussah, um den ich mir angeblich so große Sorgen gemacht habe. »Du weißt es nicht, oder?«, schlussfolgerte der Freund, dessen ungeschminkte Art mir schon oft geholfen hat. »Du weißt es einfach nicht«, wiederholte er, während ich noch immer meinen Satz erfolglos beenden wollte. »Nun, mit anderen Worten, du warst nicht einfühlsam«, schlussfolgerte er in seiner brutalen Offenheit. Da habe ich es verstanden, und diese Erkenntnis hat mich nicht mehr losgelassen. Dass ich mich um jemanden sorge, ist nicht Empathie; meine Angst, dass sich jemand unwohl fühlen könnte, hat oft nichts mit der Person selbst zu tun. Sobald ich den pseudoempathischen Glitzer abkratze, wird klar, dass sich dahinter meine Angst verbirgt, die Angst meiner gefügigen Seite. Es ist definitiv keine Empathie.

Ich fürchte mich zu sagen, was ich eigentlich sagen möchte, weil ich Angst vor deiner Reaktion habe. Ich fürchte mich vor deiner Reaktion, weil ich Angst habe, dass du mir deine Akzeptanz entziehen wirst. Ich fürchte mich vor dem Entzug der Akzeptanz, weil ich sie nicht für mich selbst habe. Wenn ich sie in mir hätte, würde ich sie nicht in der Außenwelt suchen.

Das gefügige, brave Mädchen hat nicht das Gefühl, dass es sich auf sich selbst stützen kann. Und es wird draußen etwas suchen, was es dort einfach nicht gibt – so wie man auch keine Wimperntusche in einem Technikmarkt kaufen kann.

Manchmal nimmt diese Suche eine dramatische Form an. Eine Frau, die es zugelassen hat, dass die Gefügige in ihrer Psyche die Hauptrolle spielt, leidet unter einem unstillbaren Hunger. Sie muss hungrig sein, weil sie ihre Bedürfnisse nicht befriedigt; sie befriedigt sie nicht, weil sie sie nicht erkennt. Um es mit den Worten von Clarissa Pinkola Estés aus Die Wolfsfrau8 zu sagen: Eine solche Frau verliert den Kontakt zu ihren Urinstinkten und wird zur leichten Beute für diejenigen, die ihr Nahrung versprechen. In Die Wolfsfrau taucht mit dem Märchen vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern (ein Märchen von Hans Christian Andersen) eine schmerzhaft klare Metapher auf. Das Mädchen friert auf der Straße, weil es kein ruhiges, warmes Zuhause hat. Da es keinen Zugang zu sich selbst hat, beschließt es, ein Streichholz anzuzünden, um sich wenigstens einen Moment Erleichterung zu verschaffen: »Ihre kalten Hände sind wie versteinert, sie hat keine Kraft mehr, eine Schachtel Schwefelhölzer darin zu halten. Was, wenn sie eines zum Aufwärmen anzündet? Nur ein Schwefelholz. Schon beim Gedanken an die Wärme hat sie nicht mehr die Kraft, der Versuchung zu widerstehen. Nur ein Schwefelholz.«

Wofür steht das Schwefelholz? Nach meiner Erfahrung sind es neben den üblichen Stimulanzien wie Wein, Zigaretten oder der Missbrauch von Beruhigungsmitteln oft Affären. Ich spreche nicht von solchen, die der Beginn einer tiefen Bindung sind, oder von aufregenden One-Night-Stands. Ich spreche von solchen, die mit einem gebrochenen Herzen enden und bei denen im Grunde von Anfang an klar war, dass sie so enden würden. Es gibt Zeiten, in denen eine Frau besonders zerbrechlich ist.

Bei den Anonymen Alkoholikern wurde festgestellt, dass ein nüchterner Alkoholiker auf dem Heimweg von der Arbeit wahrscheinlich in eine Bar geht, die er lange Zeit gemieden hat, insbesondere dann, wenn er hungrig, wütend, einsam und müde ist (HALT: hungry, angry, lonely and tired). Die Gefügige ist immer hungrig, sie ist immer müde, und obwohl sie nicht direkten Zugang zu ihrer Wut hat und oberflächlich betrachtet mit ihrem Leben zufrieden zu sein scheint, müssen sich Wellen dieser Wut in ihr aufstauen, weil sie sich ständig der Gefahr aussetzt, Grenzen zu überschreiten, die sie in sich selbst nicht erkennt. Sie ist einsam, weil sie – geschrumpft, reduziert – nicht in der Lage ist, zu nehmen. Wütend, müde und hungrig – ist sie so geschwächt, dass sie auf der Suche nach Wärme ein Streichholz anzündet. Und häufig wird dies eine Affäre sein, die mit einem gebrochenen Herzen endet. Ich habe meine Theorie über Affären einmal auf der Grundlage von Das Mädchen mit den Schwefelhölzern entwickelt. Frauen, mit denen ich sprach, erzählten mir Geschichten, die sich so sehr ähnelten, dass ich begann, wiederkehrende, vorhersehbare Phasen zu erkennen. In der ersten Phase glaubt das erwachsene Mädchen mit den Schwefelhölzern, dass es seine eigene Sanftmut war, die es in die Kälte verbannt hat. Es glaubt aber, dass es nicht so schlimm sei. Diese Phase der Verleugnung ist notwendig, um die Wachsamkeit einzuschränken und um weiterzumachen (ich spreche nicht von einem Angriff einer bestimmten Person; ich spreche von der Natur des Prozesses, der, wie alle anderen Prozesse auch, die Vollendung seiner Dynamik verlangt). So redet sich die hungrige Frau in der ersten Phase der Affäre ein, dass es sich nur um einen »unschuldigen Flirt« handelt – obwohl ihre Freundin, die sich ihre Geschichte bei einem Kaffee anhört, sehen und spüren kann, dass hier etwas beginnt, das weitergehen wird. »Komm schon, es passiert doch nichts, du malst es dir zu bunt aus«, antwortet eine, die am Anfang eines Weges steht, der »tausend Li lang ist«, wie ein chinesisches Sprichwort sagt.9

Wenn du eine Frau bist, der eine solche Geschichte widerfahren ist, dann erinnerst du dich vielleicht an ihren Anfang. »The saddest part of a broken heart / Isn’t the ending so much as the start«10, sang Leslie Feist11