Die Lügenkönigin - Saskia Louis - E-Book + Hörbuch

Die Lügenkönigin E-Book und Hörbuch

Saskia Louis

3,0

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Beschreibung

Liebe, Verrat und eine Lüge, die die Welt erschüttert - der fulminante Abschluss der Geschichte um Fawn und Caeden Das Leben der Lügendiebin Fawn liegt in Scherben: Die Lügen, die sie mit ihrer Roten Magie entlarven wollte, haben nicht die reichen Machthaber Mentanos, sondern sie zu Fall gebracht. Und das Schlimmste daran: Caeden hat sie verraten. Caeden, dem sie mit ihrer Gabe geholfen hat und zu dem sie sich mehr und mehr hingezogen fühlte ... Doch das ist schon bald ihr kleinstes Problem: Denn sie enthüllt eine Lüge, die nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch ganz Mentano ins Wanken bringen wird! Der fulminante Abschluss der Geschichte um Fawn und Caeden

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Seitenzahl: 539

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Zeit:11 Std. 53 min

Sprecher:Katja Sallay
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Nicht empfehlenswert

Ich hoffe, dass dieser Band auch bald als eBook hier erscheint. Im völligen Gegensatz zur Sprecherin von Band 1, gefällt mir die Sprecherin hier überhaupt nicht. Sie klingt nur genervt, fast schon aggressiv. Hab das Hörbuch abgebrochen.
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Beliebtheit




Über das Buch

Das Leben der Lügendiebin Fawn liegt in Scherben: Die Lügen, die sie mit ihrer Roten Magie entlarven wollte, haben nicht die reichen Machthaber Mentanos, sondern sie zu Fall gebracht. Und das Schlimmste daran: Caeden hat sie verraten. Caeden, dem sie mit ihrer Gabe geholfen hat und zu dem sie sich mehr und mehr hingezogen fühlte …

Doch das ist schon bald ihr kleinstes Problem: Denn sie enthüllt eine Lüge, die nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch ganz Mentano ins Wanken bringen wird!

Der fulminante Abschluss der Geschichte um Fawn und Caeden!

INHALT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

EPILOG

DIE WELT DER LÜGENKÖNIGIN

DANKSAGUNG

KAPITEL 1

Es gibt diese Momente im Leben.

Diese flüchtigen Augenblicke zwischen Träumen und Wachwerden, in denen man unsicher ist, ob man noch schläft oder schon zurück in die Realität gefunden hat. In denen man nichts und alles empfindet. Nichts und alles sieht. In denen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen und man die Zukunft aus den Augen verliert.

Innerhalb der nächsten Sonnenschritte hatte ich unendlich viele dieser Momente. Sie flossen dahin wie zäher Honig. Wandelten sich scheinbar jeden zweiten Herzschlag.

Da waren tiefe Stimmen. Da war kalte, feuchte Luft. Da war das lächelnde Gesicht meiner Mutter.

Du bist eine Lügnerin.

Schmerz. Trents zitternde Stimme, die mir versicherte, dass es besser war, wenn die Roten Magier mich mit in die Minen nahmen.

Da war Ruhe. Da waren dunkle Schemen, die sich vom Himmel abhoben. Warme Hände, die mich betasteten. Ein glitzernder Gang aus tausend Sternen. Finchs bedauerndes Gesicht.

Es tut mir leid, Finch. Du bist immer noch mein bester Freund. Ich hätte auf dich hören sollen. Caeden war nie auf meiner Seite. Die Bildfetzen kamen und gingen. Waren vielleicht echt, vielleicht auch nur Einbildung.

War ich wirklich bei den Falcrons eingezogen? Hatte ich mich als Adelige ausgegeben, als Caedens Verlobte?

Im Namen von König Sweft nehmen wir dich hiermit fest. Du hast dich der Spionage, des Volksverrats und der Amtsanmaßung schuldig gemacht.

Wie lächerlich. Wie absolut lächerlich. Nicht einmal meine Mutter hatte so viele hübsche Titel an den Kopf geworfen bekommen – und sie war dafür umgebracht worden, dass sie den König hintergangen hatte.

Eiskalte Luft strich über mein Gesicht. Blies die Bilder, die Worte fort. Meine Glieder fühlten sich taub an. Ich konnte nicht sagen, ob ich schlief oder ohnmächtig war. Oder aus einem Traum in die Realität und dann zurück in die Ohnmacht sank.

Nichts war deutlich. Alles war verwischt …

Red Doves eiskalte Stimme drang in meinen Kopf.

Du bist so beschäftigt damit, die richtigen Antworten zu finden, dass du ganz vergisst, die richtigen Fragen zu stellen.

Aber was waren die richtigen Fragen, wenn nicht die, warum sie meine Mutter umgebracht hatte? Warum sie Caedens Vater getötet hatte?

Was genau tat Red Dove, um selbst die mächtigsten Roten Magier in Angst und Schrecken zu versetzen? Was passierte im roten Ring, dass das Königshaus und die Familie Legg geheim halten wollten?

Was für eine Nachricht verbarg sich in der Flasche in meiner Tasche?

Meine Lider wurden schwer. Alles war schwer.

Fawn! Was tust du? Lauf schneller!

Pfeile prasselten auf mich nieder, verwandelten sich in Gänseblümchen. Kitzelten meine Zehen.

Ich wollte aufwachen. Ich wollte nie wieder aufwachen. Ich wusste nicht, was ich wollte.

Holz zerbarst unter mir, zerstach meine Haut, grub sich in mein Fleisch. Pferde wieherten laut. Die Kutsche lag in Trümmern um mich herum. Und die Schwärze griff erneut nach mir … oder ließ sie mich los?

»Was habt ihr mit ihr gemacht? Sie sieht aus, als wäre ein brennendes Boot auf sie gefallen!« Da war Wut in der dunklen Stimme, die plötzlich klar und deutlich an meine Ohren drang. Unbändige Wut. Aber sanfte Berührungen. Weiche Finger auf meiner Wange.

»Kein Boot. Nur eine Kutsche. Und für das Feuer war sie selbst verantwortlich!«, knurrte jemand anderes.

»Das ist mir vollkommen egal! Ihr solltet sie schützen, nicht verletzen! Ich habe mich darauf verlassen, dass ihr sie schützt.«

»Pläne funktionieren nicht immer so, wie man sie sich vorstellt. Das musst du doch am besten wissen!«

Ich sank von wohliger Schwärze in kaltes Weiß, wurde von Red Doves süßlichem Lächeln verfolgt … und dann war da Stille. Selige Stille, die mich umschlang und festhielt. Und für einen Moment wünschte ich mir, für immer in ihrer Umarmung zu bleiben.

Doch ich bekam meistens nicht das, was ich wollte.

Als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, wusste ich, dass ich wach war. Denn nur die Realität schenkte den großzügig bestialischen Schmerz, der mich überkam.

Der Erste, der sich bei mir meldete, war mein wummernder Kopf. Er fühlte sich an, als hätten hundert Glasscherben versucht, sich einen Weg in meinen Schädel zu bahnen – und ich war mir noch nicht sicher, ob sie erfolgreich gewesen waren oder nicht. Das Zweite war ein erbarmungsloses Brennen und Stechen in meiner linken Seite. Die, mit der ich auf den Boden, in die Trümmer der Kutsche gekracht war. Es zog sich von meinem Fuß bis zu meiner Schulter und ließ mich laut aufstöhnen. Bei Sweft, das tat weh!

Ich blinzelte mühselig. Verengte die Augen, um sie vor dem schummrigen und dennoch viel zu hellen Licht zu schützen, das von einer Fackel an einer dunklen Wand herrührte. Schließlich tastete ich behutsam meinen Körper einmal von unten nach oben ab.

Ich wollte mich versichern, dass noch alles dran war. Es fühlte sich nämlich nicht so an. Doch ich fand meine schmerzenden Beine, meinen knarzenden Brustkorb sowie die wunde linke Seite, die irgendwer mit schweren Mullbinden versorgt hatte. Stirnrunzelnd hob ich den Oberkörper an und betastet meinen Kopf. Auch darum hatte jemand einen Verband geschlungen. Ich wanderte mit dem Blick meinen Körper hinab, blieb kurz an meinen aufgeschürften Fingerknöcheln hängen und sah dann auf meine Beine.

Ich trug eine dunkle, aber saubere Hose, die nicht mir gehörte. Außerdem hatte jemand mein Hemd hochgezogen, um mich zu verarzten, und auf meinem Bauch konnte ich weitere Kratzspuren erkennen.

Vorsichtig zog ich den Stoff über den Verband. Mann, ich sah aus, als hätte man mich mit einem Hammer zerschmettert und notdürftig wieder zusammengeklebt. Wie passend, denn genauso fühlte ich mich.

Mit zitternden Händen blickte ich mich um. Ich saß auf einer hölzernen, mit Stroh und Stoff ausgekleideten Liege, die direkt an einer kühlen fensterlosen Steinwand stand. Wo in König Swefts Namen war ich?

Zögerlich berührte ich meinen Kopf, um zu bestimmen, ob ich wohl einfach aufstehen konnte …

»Wir haben die Holzsplitter alle rausgezogen«, drang eine raue Stimme an meine Ohren. »Du bist wie neu.«

Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Bei der ruckartigen Bewegung knackte mein Nacken, doch das war jetzt zweitrangig.

Wichtig war einzig und allein das Gesicht des Mannes, der neben der Liege auf einem Stuhl saß.

Es war ein Gesicht, das niemand gerne sehen würde, wenn er das erste Mal aufwachte, nachdem er von seinem eigenen Bruder sowie seinem Scheinverlobten verraten, von zig Holzsplittern aufgespießt und schließlich niedergeschlagen worden war.

Da waren eingesunkene dunkle Augen in einem faltigen Gesicht. Eine Narbe, die seinen Mundwinkel auf ewig nach unten ziehen würde. Zottelige schwarze Haare. Ein Unfall von einer Grimasse.

»Guten Abend, Fawn«, sagte Nuthatch grimmig.

Mit geöffnetem Mund starrte ich ihn an. Von allen Leuten, die ich erwartet hatte zu sehen … war er nicht einmal auf der Liste gewesen.

»Nuthatch«, hauchte ich schockiert. Ein Dunkeldieb hatte mich niedergeschlagen? Warum? Das ergab keinen Sinn!

Mein Gegenüber verzog den rechten Mundwinkel zu einer halbwegs zufriedenen Miene. »Wunderbar. Du weißt noch, wer ich bin. Das ist gut. Wir hatten ehrlich gesagt Angst, dir eine Gehirnerschütterung verpasst zu haben.« Er hob die Achseln. »Wir konnten unmöglich wissen, auf welcher Seite der Kutsche du sitzt. Wir haben uns für die falsche entschieden. Ende der Geschichte. Weißt du, was heute für ein Tag ist?«

»Der Tag, an dem ich dir wehtun werde, wenn du mir nicht sofort sagst, wo ich bin und was passiert ist«, wisperte ich scharf.

Nuthatch nickte und stand auf. »Das reicht mir. Dir geht es fantastisch.«

Ich widersprach ihm nicht. Ich hatte mir bereits seit fünf Friedensjahren angewöhnt, vor Crows rechter Hand keine Schwäche zu zeigen, und würde jetzt nicht damit anfangen. Also setzte ich mich trotz noch immer pochenden Schädels auf, lehnte mich gegen die kühle Wand und biss die Zähne aufeinander. »Wo bin ich? Was ist passiert?«

»Wenn ich wollte, dass du weißt, wo du bist, hätte ich dich nicht ohnmächtig hierhergeschleppt, Fawn«, erwiderte Nuthatch und sah düster zu mir hinab. »Ich kann dir lediglich sagen, dass wir uns nicht im königlichen Verlies befinden – wo du sicherlich gelandet wärst, wenn wir nicht eingegriffen hätten.«

»Wir? Wer ist wir? Die Dunkeldiebe? Ist Crow da?«

Ich wollte mit ihm sprechen! Im Gegensatz zu Nuthatch mochte der Anführer der Dunkeldiebe mich. Er würde mir sagen, was los war. Was passiert war, während ich geschlafen hatte oder ohnmächtig gewesen war. Wo ich mich befand. Wie weiter vorzugehen war.

Waren die Roten Magier auf der Suche nach mir? Würden sie womöglich jeden Moment das Zimmer stürmen? Oder hatten die Kapuzengestalten, die die Kutsche attackiert hatten, sie … sie umgebracht? Sodass noch niemand wusste, dass eine einfache Diebin mithilfe von roter Magie Feuer kontrolliert hatte und dann abgehauen war?

Die Fragen überschlugen sich in meinem Kopf und erwartungsvoll sah ich Nuthatch an.

»Kannst du laufen?«, wollte er schroff wissen. »Wir sind spät dran.«

Prima. Anstatt auf meine Frage zu antworten, beschwor er eine neue herauf. »Spät dran wofür?«

»Das wirst du dann sehen.«

Ohne ein weiteres Wort wandte er mir den Rücken zu, stieß eine niedrige Tür auf und bückte sich dort hindurch.

Ich schluckte und rutschte langsam die Liege hinab auf die Füße. Meine Beine waren wackelig, doch sie trugen mich. Ich hatte noch meine eigenen Schuhe an, und als ich mich im Raum umsah, bemerkte ich meinen Mantel, der über dem Stuhl hing, auf dem Nuthatch soeben noch gesessen hatte. Das Herz sprang mir in den Hals und etwas zu hastig bückte ich mich danach, um die Taschen abzutasten.

Die schnelle Bewegung veranlasste meinen Kopf dazu, einen feierlichen Trommelwirbel gegen meine Schläfen erklingen zu lassen, doch ich konzentrierte mich allein auf die beruhigenden Beulen im Mantel. Das Buch und die kleine Flasche waren noch da.

Erleichtert richtete ich mich wieder auf und legte den dünnen Stoff um. Diese Gegenstände wollte ich unter keinen Umständen verlieren!

»Fawn«, drang Nuthatchs ungeduldige Stimme hinter der Tür hervor und ich seufzte schwer. Er war wirklich nicht meine Lieblingsperson. Er war die Art Mensch, die ich weder als Freund noch als Feind bezeichnen konnte – aber das auch nur, weil ich ihn partout nicht als Feind haben wollte.

Langsam durchquerte ich das kahle Zimmer, folgte Nuthatch durch die Tür … und trat mitten in einen dunklen Gang gespickt von Sternenlicht.

Ich blinzelte und brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass ich nicht wirklich im Himmel stand. Das glitzernde Schimmern, das wie leuchtende Sterne aufblitzte, kam von Hunderten von Diamanten, die das Licht mehrerer Fackeln brachen, die in regelmäßigem Abstand an den schwarzen Felswänden angebracht waren. Die Edelsteine ragten spitz und klar aus der rauen Decke, den dreckigen Wänden und sogar dem steinernen Boden hervor. Verblüfft öffnete ich den Mund. Es sah wunderschön aus.

Einzig der Gedanke daran, dass ich nun wusste, wo wir uns befanden, und dass sich etliche Tonnen Stein und Geröll über meinem Kopf befanden, nahm der Schönheit etwas an Reiz.

Unwohl zog ich die Schultern hoch. »Wir sind in den Minen«, wisperte ich und meine Stimme hallte gespenstisch laut und hohl von den Höhlengängen wider.

Aber wo genau? Das Erzgebirge war riesig. Hier unten könnte man zwei Friedensjahre lang herumirren und trotzdem noch nicht alle Ecken kennen.

»Beeindruckend kluge Feststellung«, bemerkte Nuthatch tonlos.

Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht. Wie … wie habt ihr mich ungesehen hierhergeschafft? Am helllichten Tag?«

»Genauso, wie du dich unbemerkt bewegst, Fawn. Über die Dächer des Landes. Und wenn ich das bemerken darf: Du bist schwer.«

»Ihr hättet auch einfach darauf verzichten können, mich niederzuschlagen!«, bemerkte ich wütend und schlang die Arme um meinen Oberkörper. »Dann wäre ich gelaufen.«

»Wir konnten nicht riskieren, dass du herausfindest, wo der Eingang zu unserem Versteck ist.«

»Warum?«

»Weil ich dir nicht vertraue«, sagte er schlicht und setzte sich in Bewegung.

Ich presste die Lippen aufeinander, folgte ihm aber. Seine Worte machten mich wütend. Aber nicht, weil er mich absichtlich im Dunkeln hielt und meine Integrität anzweifelte. Nein. Ich war zornig, weil offenbar jedem außer mir klar war, dass man wirklich niemandem vertrauen durfte.

Jeder hatte es mir gesagt. Meine Mutter, Finch, Crow, Red Dove, Caeden selbst – alle hatten sie mich gewarnt. Und ich Dummkopf hatte trotzdem geglaubt, dass Caeden mich mögen würde. Dass er mich schützen würde, wenn es darauf ankäme.

Doch ich hatte meine Lektion gelernt, nicht wahr?

Mit einem bitteren Geschmack im Mund starrte ich auf meine aufgeschürften Hände hinab. Auf den Rubinring, den Caeden mir zu unserer falschen Verlobung geschenkt hatte. Wie hatte ich so blind sein können? Vertrauen war etwas für Idioten, die gerne kopflos im Palastgarten herumrennen oder sich an einem Strick aufgeknüpft vor den Toren des Königshofs entspannen wollten.

»Nun, ich werde den Eingang sehen, sobald ich hier wieder rauskomme«, meinte ich stur und sah abwesend nach links und rechts in weitere, schmale Gänge, die von diesem hier abzweigten.

Nuthatch schwieg beharrlich und beschleunigte seinen Schritt. Stirnrunzelnd betrachtete ich seinen breiten angespannten Rücken … und ein ungutes Gefühl überkam mich. Mein Mund wurde trocken und meine Handflächen klamm. »Nuthatch, ich komme hier doch wieder raus, oder?«

»Wir werden sehen«, sagte er vage, seine Stimme so rau wie Rinde.

»Das reicht mir nicht!«, sagte ich scharf und neuer Zorn brodelte in mir hoch. Ich war es so leid, mich hilflos und dumm zu fühlen! »Ich will wissen, was hier los ist und was ihr mit mir vorhabt … Was soll das Ganze überhaupt? Weiß Crow, dass ich hier bin?«

Nuthatch blieb stehen und seufzte schwer. Als er sich langsam zu mir umwandte, sah er aus wie die Mutter von drei schreienden Kindern auf der Suche nach Geduld. »Weißt du, warum ich dich nicht mag, Fawn?«, fragte er leise.

»Weil meine Haare so viel seidiger sind als deine?«, bot ich freundlich an.

»Nein. Weil du ein vorlautes Gör bist, das davon überzeugt ist, alles besser zu wissen. Du sprichst, bevor du nachdenkst. Du bist ungeduldig und undankbar – und wenn ich die Wahl hätte, wärst du gar nicht hier.«

»Ich habe mich dafür bedankt, dass ihr mir geholfen habt, Nuthatch«, zischte ich. »Das war, kurz bevor ihr mich so höflich niedergeschlagen habt. Und wenn du mich nicht hierhaben willst, warum sich dann die Mühe machen, mich zu retten? Oder hast du gehofft, mich bei dem Versuch doch aus Versehen umzubringen?«

»Wir hatten eine Abstimmung«, bemerkte er kühl und verengte die Augen. »Manche von uns waren der Meinung, dass du nützlich sein könntest. Ich war anderer Auffassung, aber ich habe mich der Mehrheit gebeugt und werde das Beste daraus machen. Also, falls daran Zweifel bestanden haben sollte: Ich habe dir nicht geholfen, weil du mir wichtig bist, Fawn. Ich habe dich gerettet, weil du und deine hübsche rote Magie uns einen Vorteil verschaffen könnten.«

Perplex trat ich einen Schritt zurück. »Wovon redest du? Vorteil? Wofür?«

Nuthatch ignorierte die Fragen. Stattdessen beugte er sich zu mir vor und ließ seinen Blick nachdenklich von meinem Gesicht zu meinen Händen und wieder zurück schweifen.

»Weißt du, ich habe gedacht, er erzählt Blödsinn, aber nach dem, was ich heute Morgen in der Gasse im gelben Ring beobachtet habe …« Er schüttelte den Kopf und schürzte verächtlich die Lippen. »Du bist tatsächlich etwas ärgerlich Besonderes, oder? Wie wunderbar es doch ist, wenn die verantwortungslosesten Blagen mit den stärksten Kräften ausgestattet werden.«

»Was?« Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. »Von wem redest du? Wer hat dir was erzählt?«

Ruckartig wandte Nuthatch sich wieder ab. »Hoffen wir einfach, dass es kein riesiger Fehler war, unsere Tarnung für dich zu riskieren.«

»Eure Tarnung?« Ich hastete ihm nach und stolperte dabei über einige große Diamanten. »Es reicht jetzt, Nuthatch!«, rief ich laut. »Du redest in Zungen und ich habe genug davon. Wo ist Crow? Ich will mit ihm reden.«

Er würde mir alles erklären können. Crow hatte schon immer alle Antworten besessen. Und vielleicht würde er mir auch eine warme Umarmung geben. Ich könnte nämlich wirklich eine gebrauchen!

Nuthatch schnaubte laut. »Crow ist nicht hier, Fawn. Ist dir das immer noch nicht klar? Das hier ist nicht das Quartier der Dunkeldiebe! Wir haben nicht auf seine Anweisungen hin gehandelt. Er hätte dich wahrscheinlich als zu großes Risiko eingeschätzt und in den Minen verrotten lassen. Aber wir können uns von Risiken nicht abschrecken lassen!«

»Wer ist wir?«, fragte ich bissig und hielt ihn am Arm zurück … auch wenn ich meinte, die Antwort bereits zu kennen. Ich war heute Morgen zwar auf den Kopf gefallen, aber noch immer klug genug.

Widerwillig hielt Nuthatch erneut an. Ihm schien klar geworden zu sein, dass er mich entweder gewaltsam durch die Höhlen zerren oder mir eine Antwort geben musste.

»Ihr nennt uns Wissensjäger«, sagte er schlicht. »Aber wir finden die Bezeichnung etwas ironisch … da wir es doch sind, die von den Roten Magiern gejagt werden. Nicht andersherum.«

Ich ließ abrupt seinen Arm los. Ich hatte es geahnt … aber es direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen, war etwas vollkommen anderes. Es war ernüchternd und beängstigend. Denn die Wissensjäger waren der größte Feind des Königshauses – und die Feinde des Königshauses büßten ihre Gedanken und Worte mit dem Tod.

In den letzten Friedensjahren hatte ich oft über die Wissensjäger nachgedacht. Sie einerseits für ihren Mut bewundert … aber andererseits auch für ihren Leichtsinn bemitleidet. Und das kam von mir! Dem Mädchen, das bereits in Dutzende Häuser eingebrochen und dreifach so viele Lügen gestohlen hatte. Dem Mädchen, das Finch immer amüsiert als freundschaftliche Risikoinvestition bezeichnete.

Ich rang die Hände ineinander und atmete tief durch. Was würde mein Vater wohl sagen, wenn er wüsste, dass ich mich gerade im Hauptquartier der Wissensjäger befand? Dass sie unter Erzmassen begraben, Bücher und Wissen sammelten …

Ein zynisches Lächeln zerrte an meinen Mundwinkeln. Er würde sagen, dass ich mein Todesurteil unterschrieb, wenn ich mich mit Leuten einließ, die mit dem Bündnis unter einer Decke steckten und die Wand stürzen wollten.

Ärgerlicherweise musste ich ihm ein wenig recht geben – und wenn ich dazwischen wählen könnte, vom Bündnis versklavt und dann getötet zu werden oder den Rest meines Lebens Kohle und Diamanten in den Minen abzuarbeiten, würde ich wohl Letzteres nehmen.

Ich schluckte schwer und sah auf die Diamantsplitter zu meinen Füßen. Das hier war der Ort, den meine Mutter hatte finden sollen. Den sie als Spionin des Königs hatte aufspüren sollen, um die Wissensjäger ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen. Doch sie hatte aufgehört, sie zu suchen. Sie hatte die Seite gewechselt. Weil … Ja, das war die Frage. Eine von unendlich vielen.

Tief atmete ich durch, konzentrierte mich wieder auf den jetzigen Moment, das jetzige Problem und murmelte: »Aber … du …« Blinzelnd versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. »Du bist ein Dunkeldieb. Du bist Crows rechte Hand. Du …«

»Du musst aufhören, die Menschen, die du kennst, in Kategorien einzuordnen, Fawn«, unterbrach Nuthatch mich schroff. »Ich kann Dunkeldieb, Wissensjäger und, wenn ich wollte, auch noch Ballerina sein. Das eine schließt das andere nicht aus. Im Gegenteil. Es ist äußerst nützlich zu wissen, was die Diebe planen!«

Kann man nicht Diebin und Rote Magierin sein?

Red Doves kalte glockenhelle Stimme hallte in meinen Gedanken wider und eine Gänsehaut zog sich meinen Rücken hinunter.

Das eine schloss das andere nicht aus. Natürlich hatte Nuthatch recht. Doch wenn jeder nicht nur eine Rolle spielte … wenn jeder alles sein konnte … wie sollte man da je den Überblick bewahren?

»Na schön«, erwiderte ich und rieb mir fahrig über die Stirn. »Ich befinde mich bei den Wissensjägern. Okay. Das ist scheiße, aber in Ordnung. Allerdings … allerdings werde ich mich euch nicht anschließen.« Hastig schüttelte ich den Kopf – und bereute es sogleich, denn die Schläfentrommel legte ein neues Solo hin. Ich kniff die Augen gegen den Schmerz zusammen. »Wissensjäger enden auf die ein oder andere Weise ohne Kopf. Und ich mag meinen Kopf.« Er passte so gut auf meinen Hals.

»Sie haben seit drei Friedensjahren keinen Wissensjäger mehr gefasst, Fawn«, sagte Nuthatch leise.

»Was?« Verdutzt hob ich die Augenbrauen. »Aber im Wochenblatt steht alle paar Monate, dass sie …«

»Natürlich steht im Wochenblatt, dass das Königshaus die Wissensjäger erfolgreich bekämpft. Wir sind ein dankenswertes Feindbild. Unseretwegen sind die Bewohner Mentanos noch ein wenig glücklicher darüber, von den Roten und Weißen Magiern so erfolgreich geschützt zu werden. Unseretwegen erledigen sie ihre Arbeit gewissenhaft, um den Magiern so die Zeit zu verschaffen, für Recht und Ordnung zu sorgen. Aber lies es an meinen Lippen ab.« Mit dem Zeigefinger deutete er auf seinen grimmig verzogenen Mund und wie automatisch leerte ich meine Sinne. Konzentrierte mich nur noch auf seine Worte.

»Sie lügen. Das Königshaus, die Roten Magier. All diese Leute, die vor dem Schlosshof baumeln, gehören nicht zu uns. Sie waren einfache Diebe oder andere Unruhestifter. Deswegen wird das Königshaus rastlos. Deswegen greift es zu härteren Maßnahmen. Deswegen brauchen wir jede Hilfe, die wir bekommen können.«

Unruhig strich ich mir die Haare hinter die Ohren. Es war die Wahrheit gewesen. Die weiße Wahrheit, die noch immer wie Puderzucker in der Luft hing. Aber es war egal. Sie überzeugte mich nicht. Denn was in Swefts Namen konnte ich überhaupt noch glauben?

Ich konnte unterscheiden, wenn jemand log oder die Wahrheit sagte … Und in den letzten Wochen hatte es mir überhaupt nichts gebracht! In den letzten Wochen war ich verraten, betrogen, angeschwärzt und verletzt worden und meine Fähigkeit hatte mir einen Dreck geholfen!

»Das ist ja fabelhaft für euch«, sagte ich mit bebenden Lippen. »Aber ich werde nicht die Hilfe sein, von der du sprichst. Ich will nichts mit alledem zu tun haben. Ich will … Ich will …« Ich schluckte. »Ich will nach Hause.«

Ich wollte zu meiner Schwester Cora ins Bett krabbeln, mir über die Haare streichen lassen und erzählt bekommen, dass alles gut werden würde. Dass die letzten Sonnen- und Mondschritte nur ein schlimmer Albtraum gewesen waren und ich lediglich aufwachen musste, damit alles wieder beim Alten war.

Nuthatch sah mich emotionslos an. Da war kein Mitleid in seiner Miene. Kein Verständnis. Und als er sprach, schenkte er mir eine weitere skrupellose Wahrheit, die ich in meinem Herzen bereits gekannt, aber mühselig ignoriert hatte …

»Ich fürchte, dass wird nicht möglich sein«, bemerkte er kühl. »Dein Zuhause ist fürs Erste hier – dir bleibt keine andere Wahl. In den Augen der Roten Magier bist du bereits Teil von uns. Du hast mit uns gekämpft. Du hast sie gemeinsam mit uns überwältigt. Ihnen wird klar sein, dass wir keine normalen Diebe sind. Ebenso wie ihnen jetzt klar ist, dass da draußen ein Mädchen aus dem grauen Ring herumläuft, das viel größere magische Kräfte besitzt, als es irgendjemand aus den äußeren Bezirken tun sollte.«

Meine Augen brannten, meine Muskeln zitterten, doch ich würde keine Tränen vor Nuthatch vergießen. Ich würde nicht das schwache kleine Mädchen sein, für das er mich hielt. »Ihr könnt mich hier nicht einsperren«, flüsterte ich.

»Das wollen wir gar nicht«, sagte er lapidar. »Wir wollen, dass du verstehst, weshalb wir kämpfen … und deine Magie für uns einsetzt.«

Ich lachte trocken auf. »Natürlich, nichts leichter als das. Einen Schal strick ich dir auch gleich dazu.«

»Das ist praktisch«, sagte er trocken. »Denn hier unten wird es des Öfteren ziemlich kalt.«

Wieder wandte er sich um, und als er sich diesmal mit langen Schritten in Bewegung setzte, wusste ich, dass er nicht noch einmal anhalten würde, um mir Weiteres zu erklären. Ich hatte seine Geduld ausgereizt.

Schweigend liefen wir nebeneinanderher. In meinem Bauch rumorten Unsicherheit und Zweifel. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Was ich fühlen sollte. Einerseits war ich erleichtert, dass Nuthatch die Magier, die mich gefangen genommen hatten, offenbar nicht getötet hatte. Niemand sollte meinetwegen sterben müssen. Andererseits ließen seine Worte meine Finger und Füße kribbeln. Zuvor hatte noch die Möglichkeit bestanden, dass ich für meine Taten lediglich in die Minen wandern würde. Jetzt jedoch war das keine Option mehr. Jetzt war ich eine Rebellin. Eine Lügendiebin, die gewaltsam eine Handvoll Magier überwältigt hatte und zusammen mit ein paar Wissensjägern geflohen war.

Es gab kein Zurück mehr. Das war die Wahrheit. Die eiskalte, unausweichliche Wahrheit. Mein Magen zog sich ängstlich zusammen und Übelkeit kroch meinen Hals hinauf. Doch bevor ich mir allzu viele Gedanken über mein schreckliches Schicksal machen konnte, stoppte Nuthatch abrupt.

Wir waren an einer einfachen Holztür angelangt, die von zwei Fackeln gesäumt wurde. Ich kam nicht dazu nachzufragen, was sich dahinter verbarg, denn Nuthatch drückte sie bereits auf.

Ich rechnete mit mehr schwarzem Stein, feuchter Luft und weiteren Diamanten in den Wänden – und wurde nicht enttäuscht. In dem quadratischen Raum befanden sich außerdem noch drei lange, in einem U angeordnete Tische, an denen jeweils drei Stühle standen.

Vier Plätze waren bereits besetzt … und zwar mit der abstrusesten Zusammenstellung von Menschen, die ich je gesehen hatte. Es waren zwei Frauen und zwei Männer, die, ihrer Kleidung nach zu urteilen, aus verschiedenen Ringen, verschiedenen Familien und verschiedenen Zeitaltern stammten.

Als die Tür laut hinter uns ins Schloss fiel, sahen alle auf. Ihre neugierige Blicke huschten über meine Erscheinung und augenblicklich zog ich die Schultern höher. Als könne ich mich so vor der ungewollten Aufmerksamkeit schützen.

»Das ist die kleine Lügendiebin?«, wollte ein großer breiter Mann mit beeindruckendem Schnäuzer und überraschend sanfter Stimme am Kopf der Tische wissen. Er trug die schlichte dunkle Arbeiterkleidung, die mir aus dem grauen Ring vertraut war – robustes Leinenhemd, Hose mit vielen Taschen – und sein breites Kreuz sowie sein beachtlicher Bizepsumfang zeugten davon, dass er seine Zeit nicht damit verbrachte, Geld zu zählen oder die Federn aus seiner Bettdecke zu zupfen. Viel eher sah er aus, als würde er beruflich Bäume ausreißen und Kinder jonglieren.

»Sie sieht sehr jung aus«, bemerkte der alte Mann, der neben ihm saß, missmutig. Er hatte schulterlange, stahlgraue Haare und ein Gesicht wie eine Schlechtwetterfront. Seine tiefen Falten zogen sich wie Risse durch seine Haut.

»Jeder sieht im Vergleich zu dir jung aus, Greg«, bemerkte eine blonde Frau mit heller Haut zu seiner Rechten. Sie hatte die Statur einer soliden Eiche und trug ein fließendes hellblaues Gewand, das mit einem schmalen Gürtel an der Taille zusammengehalten wurde. Es war die typische Kleidung einer Heilerin.

Wie um meine Gedanken zu bestätigen, sagte Nuthatch in diesem Moment: »Fawn, das ist Syla. Sie ist Heilerin und in den Reihen der Wissensjäger für die Kommunikation und Planung innerhalb des blauen Rings zuständig. Außerdem ist sie es, die deine Wunden versorgt hat.«

Die Blondine mit den fast schwarzen Augen nickte mir knapp zu. »Du solltest es die nächsten Tage langsam angehen lassen. Du hast dir ziemlich hart den Kopf gestoßen. Abgesehen davon habe ich die halbe Kutsche aus deiner Haut gezogen!«

Ich schluckte und meine Hände zuckten automatisch zu meiner noch immer schmerzenden linken Seite. »Danke«, murmelte ich.

»Keine Ursache«, sagte sie in einem freundlichen Tonfall, der mich wissen ließ, dass sie es auch so meinte. Wahrscheinlich hätte sie sogar liebend gern zwei Kutschen aus meiner Haut gezogen.

»Neben Syla sitzt der alte Greg«, fuhr Nuthatch fort, als hätte er nie aufgehört zu sprechen. »Er ist unsere Schnittstelle zum gelben Ring. War mal ein passabler Fidelspieler.«

»Passabel?«, echauffierte der Alte sich sofort und schürzte die Lippen. »Ich habe auf königlichen Banketten gespielt!«

»Vor zweihundert Friedensjahren vielleicht«, murmelte Syla in Richtung ihrer Füße.

Greg warf ihr unter seinen buschigen Augenbrauen einen bösen Blick zu. »Könnten wir noch einmal auf die Erscheinung der jungen Lügendiebin zu sprechen kommen, bevor wir meinen künstlerischen Wert weiter herunterspielen? Ich meine … sie ist winzig!« Greg warf mir einen missbilligenden Blick zu, der mir klar zu verstehen gab, dass ich allein die Schuld an meiner mickrigen Statur trug. »Kaum größer als meine Fidel. Sie soll besondere magische Kräfte besitzen?«

»Halt dich zurück, Greg«, sagte der Berg von Mann neben ihm brummend. »Selbst wenn sie keine magischen Kräfte hat – Ohren zumindest besitzt sie.«

»Und als ob du so beeindruckend aussiehst!«, sprach Syla. »Ich könnte dich umpusten, wenn ich wollte.«

»Nur weil meine Knochen leichter sind als die anderer!«, zeterte er und schob den Unterkiefer vor, sodass er für einen kurzen Moment aussah, als wäre er drei und nicht eher dreihundert Friedensjahre alt.

»… neben dem alten Greg sitzt Wren«, fuhr Nuthatch fort. »Er ist Minenarbeiter, hat für uns dieses schöne Quartier gefunden und beaufsichtigt die Arbeiten der Wissensjäger im grauen Ring.«

Ich nickte abwesend, während tausend neue Fragen meine Gedanken stürmten. Angefangen damit, von was für Arbeiten Nuthatch da sprach, bis zu der Unklarheit, wie riesig Gregs Fidel bitte war, wenn sie es mit mir aufnehmen konnte! Und wie viele Wissensjäger gab es wohl, wenn jeder Ring seinen eigenen Vorsitzenden hatte?

Doch all diese Ungewissheiten blieben mir im Halse stecken. Denn mein Blick war an der zweiten Frau im Bunde hängen geblieben, die am äußersten linken Platz des Tisches direkt vor uns saß. Eine Frau, die vor allem durch ihren roten Umhang auffiel und mir das Gefühl gab, dass mein Mund mit trockenen Sägespänen gefüllt wäre.

Sie war die zierlichste Person im Raum. Sie hatte dunkle Haut, einen grazilen Hals, der unter ihren hochgesteckten schwarzen Haaren gut zur Geltung kam, und ein hübsches, spitzes Gesicht. Ich war mir sicher, dass sie, wenn sie aufstünde, kaum größer wäre als ich – und doch jagte sie mir von allen Anwesenden die meiste Angst ein.

Was tat eine Rote Magierin im engsten Kreis der Wissensjäger? Wie konnten sie ihr vertrauen? Was dachte sich Nuthatch dabei, mich vor zwei Roten zu retten und dann direkt in den Schoß einer weiteren zu werfen?

»Setz dich, Fawn«, sagte Nuthatch, schubste mich unsanft nach vorn und deutete auf den Stuhl neben Wren. Zwei Plätze von der Roten Magierin entfernt. Er selbst sank auf den Sitz zwischen der Magierin und mir nieder.

Er hatte sie nicht vorgestellt, fiel mir auf. Alle anderen hatte er beim Namen genannt, sie jedoch … Ich schluckte, ließ mich nervös auf den knorrigen Stuhl fallen und faltete die Hände auf dem Tisch.

Das hier waren also die Wissensjäger. Eine Bande von unterschiedlichen Menschen aus verschiedenen Ringen, die dasselbe Ziel verfolgten. Aber welches? Was genau wollten die Wissensjäger eigentlich? Wollten sie wirklich dem Bündnis dabei helfen, die Wand zu stürzen, das Königshaus in Brand zu setzen und Mentano dem Erdboden gleichzumachen? Das war es zumindest, was ich über sie gelernt hatte. Was mir meine Lehrer und das Wochenblatt immer wieder eingebläut hatten.

Meine Handflächen wurden feucht und ich starrte auf meine schmutzigen Fingerspitzen. Wenn es so war, konnte ich das unmöglich unterstützen. Mentano hatte seine Macken, aber es war immer noch meine Heimat. Mein Zuhause. Und das würde ich mir weder von Red Dove noch vom Bündnis kaputt machen lassen. Beide töteten unschuldige Menschen.

Ein zynisches Lächeln zog an meinen Mundwinkeln. Was sagte man dazu? Ich hatte wohl endlich etwas gefunden, für das ich bereit war, zu kämpfen.

»Wollen wir anfangen?«, fragte Nuthatch grimmig und sah in die Runde.

Syla blickte mit gerunzelter Stirn zu den freien Plätzen. »Wir sind noch nicht vollständig.«

Nuthatch presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Immer wieder das Gleiche. Weiß er von dieser Besprechung?«, fragte er scharf an Greg gewandt.

»Jaja, ich hab es ihm gesagt«, bemerkte der Alte gereizt und winkte ab. »Sie kommen sicherlich ba…« Er brach mitten im Satz ab, denn die Tür schwang auf.

Lang gezogene Schatten fielen über die Tische und wie auch alle anderen wandte ich mich um.

Zwei dunkle Gestalten standen im Türrahmen und wurden erst sichtbar, als sie einen Schritt nach vorn machten. Es waren ein groß gewachsenes dunkelhaariges Mädchen und ein breitschultriger Mann mit durchdringenden grauen Augen.

Jyn … und Caeden.

KAPITEL 2

Mein Herz stand still.

Mein Kopf war wie leer gefegt und meine Lunge versagte ihren Dienst. Als hätte ich vergessen, wie Atmen funktionierte, blieb die Luft einfach schal in meinem Rachen hängen und hinterließ einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. Das konnte nicht sein!

Ich grub die Fingernägel in das Holz des Tisches und hinderte meine Hände so daran zu zittern. Das konnte nicht … Was tat er hier?! Er war nicht … Er konnte nicht … Ich verstand gar nichts!

Das alles hier war falsch. Er gehörte nicht an diesen Ort. Nicht in diesen Raum zusammen mit all diesen … all diesen normalen Leuten! Er gehörte in seinen kalten Palast. Auf sein arrogantes Podest. In sein Gespinst aus unleserlichen Halbwahrheiten. Er gehörte weit weg von mir. An irgendeinen Ort, an dem er mich nicht mehr verletzen konnte! An dem ich ihn nicht ansehen, nicht an ihn denken, nicht dieselbe Luft wie er atmen musste.

Sein Blick flackerte zu mir, suchend, nicht zielsicher, und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, während mein Herz in der Brust stolperte.

Seine Miene sah nicht freundlich aus, aber auch nicht kalt. Nur … unergründlich. Als würde Lord Kaltherz mich heute zum ersten Mal sehen. Als wäre er nicht überrascht, aber dennoch unzufrieden damit, mich hier anzutreffen.

Sein Blick verweilte einige Augenblicke lang auf meinem Gesicht, huschte zu dem Verband um meinen Kopf und wanderte dann zu meiner linken Seite hinab. So als wüsste Caeden, dass sich weitere Mullbinden unter meinem Mantel verbargen. Schließlich sah er mir wieder in die Augen. Unsere Blicke trafen sich, hielten einander fest … und heiße Lava der Wut kochte in mir hoch.

Meine Augen fingen an zu brennen, meine Haut begann zu kribbeln. Die Luft um mich herum wurde kälter, mein Herzschlag schneller, mein Kopf stand kurz davor zu platzen.

Caeden hatte mich belogen. Er hatte mich benutzt. Er hatte mich verraten. Und jetzt stand er hier – der Kerl, der mich dafür verurteilt hatte, eine Diebin zu sein – und wandte den Blick ab, um den Wissensjägern zuzunicken, so als wären sie seine besten Freunde?

Nein. Das Wort drang meinen Hals hinauf, zu groß und zu sperrig, um meinen Mund zu verlassen. Doch es setzte sich in meinem Herzen, in meinem Kopf, an meinem Gaumen fest.

Nein! Nein, verdammt, nein! Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.

Er hatte nicht das Recht, dort so dreist entspannt zu stehen, während er die letzten Wochen über so getan hatte, als wäre ich es, die sich falsch verhielt. Als wäre ich der Abschaum von Mentano. Als wäre ich das Problem. Das war nicht richtig! Das war nicht gerecht! Das war … Das war …

»Schön, dass du uns auch beehrst, Caeden«, sagte Nuthatch gespielt freundlich und lehnte sich knarzend auf dem Stuhl zurück.

Caeden, der Syla mit einem knappen Lächeln bedacht hatte, hob eine Augenbraue und wandte sich Nuthatch zu. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass es auch schön wäre, dich zu sehen, Nutty, aber wir alle hier wissen, dass das eine Lüge wäre«, erwiderte er gelassen.

Jyn seufzte und stieß den Ellenbogen in seine Seite. »Caeden, sei nett«, meinte sie streng, dann lächelte sie mir zu, berührte mich sanft an der Schulter und ging um die Tische herum.

»Ich fürchte, ich weiß nicht, wie. Dieser Ort inspiriert mich einfach nicht dazu, die beste Version meiner selbst zu sein.«

Jyn verdrehte die Augen und zog den Stuhl gegenüber von Nuthatch nach hinten. »Entschuldige, Nuthatch. Er hat schlechte Laune. Wir hatten einige Rote Magier zu Besuch, die wissen wollten, woher wir Fawn kennen, wieso wir sie bei uns haben wohnen lassen und wieso uns allen nicht aufgefallen ist, dass sie mit den Wissensjägern verkehrt. Es war recht ungemütlich und wir kamen nicht weg.«

Nuthatch verengte die Augen. »Schöpfen sie Verdacht? Wissen sie, dass ihr Fawn angeheuert habt?«

Caedens Kiefer knackte hörbar. »Natürlich wissen sie es. Fawn war ja schließlich so freundlich, es lauthals vor ihnen rauszuposaunen!«

Der Vorwurf, der in seiner Stimme mitschwang, feuerte meine Wut nur weiter an und ließ meine Eingeweide brennen. Wie konnte er es wagen, mir die Schuld zu geben?

»Das ist nicht gut«, bemerkte Nuthatch angespannt und warf mir einen düsteren Blick zu. »Wenn ihr auffliegt …«

»Wir werden nicht auffliegen, denn wir sind nicht dumm«, sagte Caeden kalt und folgte seiner Schwester durch den Raum, um sich ebenfalls auf einen Stuhl sinken zu lassen. Dem mir direkt gegenüber. »Sie haben unsere Mutter befragt. Sie weiß nichts von euch, also konnte sie auch nicht lügen. Ihre nachweisbare Ehrlichkeit wird uns den Hals retten. Jyn hat überzeugend schrecklich geweint und sinnlose Wahrheiten erzählt, ich habe unleserliche Halbwahrheiten von mir gegeben – so wie alle verdammten Roten Magier es bereits von mir kennen … Sie glauben jetzt, dass wir eine einfache Diebin angeheuert haben, in der Hoffnung herauszufinden, wer in das Wachhaus einbricht. Dieses ganze Debakel hilft jedoch nicht dabei, den König davon zu überzeugen, dass wir noch immer vertrauenswürdig sind und es eine brillante Idee ist, uns die Wächter weiter beaufsichtigen zu lassen.«

»Nein«, erklang eine sanfte Stimme von meiner Linken. »Aber ich befürchte, das Vertrauen kann auch nicht wiederhergestellt werden.«

Alle wandten sich gleichzeitig zu der Roten Magierin um, die gesprochen hatte. Ihr Gesicht war freundlich, aber ernst. Sie saß kerzengerade in ihrem Stuhl, die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet. Die Blicke der anderen waren skeptisch, manche sogar ein wenig feindselig und mir wurde klar, dass die Rote Magierin nicht nur für mich ein neues Gesicht darstellte.

Doch sie ignorierte die misstrauischen Mienen und fuhr unbeirrt fort: »Seit euer Vater unbefugt im roten Ring herumgeschnüffelt hat, zweifelt der König an der Loyalität der Falcrons. Ich gehe davon aus, dass er innerhalb der nächsten Monate einen Machtwechsel erzwingen wird.«

Syla stöhnte und legte den Kopf in den Nacken, Wren brummte etwas Unverständliches und Greg legte sich eine Hand über die Augen. Doch Caeden zuckte nicht einmal mit der Wimper. Als wäre das keine Neuigkeit für ihn. Als hätte sie ihm lediglich mitgeteilt, dass seine Haare schwarz waren.

Jyn jedoch öffnete verblüfft den Mund. »Woher wissen sie, dass unser Vater im roten Ring war?«, wollte sie wissen. »Das ist nicht bekannt … Das ist …«

»Lord Hixton prahlt zu gerne, Jyn«, erklärte die Magierin bedauernd. »Er war es, der euren Vater in den Ring ließ … Er war es, der es nach seinem Tod überall herumerzählte. Also, Caeden: Ich bin mir sicher, dass du schon darüber nachgedacht hast, was du zu tun gedenkst, sobald der König weitere Gründe findet, euch zu misstrauen und in Verruf zu bringen. Dir ist bewusst, dass er euch dazu zwingen wird, euren Posten aufzugeben? Was sind deine Pläne? Dann kann ich dir bei ihrer Umsetzung helfen.«

Caeden antwortete nicht. Er starrte sie nur berechnend an, bevor er sich ruckartig an Nuthatch wandte. »Wer zum verdammten Henker ist sie?«

»Sie ist neu und auf unserer Seite«, erklärte Nuthatch schlicht.

Caeden verzog verächtlich den Mund. »Wie naiv bist du? Du kannst nicht einfach Rote Magierinnen rekrutieren, ohne das vorher mit uns zu besprechen!«

»Wir können ihr vertrauen«, sagte Nuthatch mit steinernem Gesicht.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Caeden scharf.

»Weil ich mit ihr verheiratet bin.«

Überrascht riss ich die Augen auf und für einen kurzen Moment vergaß ich sogar den roten Ball der Wut in meinem Bauch.

Was? Nuthatch, der Dunkeldieb und Wissensjäger, war mit … mit einer Roten Magierin verheiratet? Das schien unmöglich!

»Aber … sie ist so hübsch«, bemerkte Jyn taktvoll irritiert.

Doch damit sprach sie anscheinend nur aus, was alle anderen dachten, denn reihum senkten die Anwesenden beschämt die Blicke.

»Danke für deine erleuchtende Sicht der Dinge, Jyn«, knurrte Nuthatch, der im Vergleich zu seiner Ehefrau tatsächlich noch hässlicher schien. »Aber ja, sie hat mich freiwillig geheiratet.«

»Ich bin Mae«, sagte die zierliche Frau vergnügt und legte beschwichtigend eine Hand auf Nuthatchs Arm. »Und ich bedanke mich für das freundliche Hallo.«

Wren grinste breit, Greg hob die Achseln … und Caeden presste die Hände auf den Tisch und stand auf.

»Mir ist egal, ob sie deine Frau, deine Mutter oder die Königin der Minen ist. Was tut sie hier?«, wollte er wütend wissen.

»Wir brauchen sie«, erwiderte Nuthatch grimmig. »Fawn hat keine Ahnung von ihren Fähigkeiten. Sie ist heillos überfordert. Sie weiß nicht, wie sie sie kontrollieren kann, wozu sie in der Lage ist, wo ihre Grenzen liegen … Und so weit ich weiß, beherrschst du keine rote Magie, Caeden. Du kannst ihr dabei ebenso wenig helfen wie ich. Mae jedoch schon.«

Caedens Kiefer war mittlerweile so hart, dass er drohte zu zerspringen. »Du willst Fawn ausbilden?«, fragte er scharf und die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf, als er meinen Namen sagte. »Bist du des Wahnsinns? Sie stiftet jetzt schon überall Chaos, wo sie geht und steht! Wie wird das wohl laufen, wenn sie auch noch weiß, was sie da tut?«

Ich biss mir so fest auf die Unterlippe, dass ich auf einmal Blut schmeckte. Ich war es, die Chaos stiftete? Die Wut, die zeitweilig abgeflaut war, kochte wieder hoch.

»Könnten wir versuchen, nicht abzuschweifen?«, meldete sich die Heilerin Syla zu Wort. »Fawn ist jetzt gerade nicht wichtig. Wichtig ist, dass Caeden versucht, solange wie möglich die Zügel der Wächter in der Hand zu behalten. Denn ohne ihn und seine Position verlieren wir einen gewaltigen Vorteil. Der König kann die Falcrons nicht einfach plötzlich absetzen. Er muss es langsam tun, damit die Sicherheit des Landes nicht gefährdet und die Aufrechterhaltung der Kuppel gewährleistet wird. Er muss legitime Gründe vorbringen, damit die Bewohner der äußeren Ringe keinen Verdacht schöpfen und nicht bemerken, dass sonderbare Dinge in den Reihen der Weißen vor sich gehen.«

»Die äußeren Ringe werden Verdacht schöpfen, sobald morgen das Wochenblatt erscheint«, sagte Mae ruhig. »Die Leggs können nicht wie geplant unter Verschluss halten, dass sich eine Spionin in ihre Reihen geschlichen hat. Sie werden Fawn erwähnen müssen, denn sie wollen sie unbedingt finden und …«, sie räusperte sich und warf mir einen flüchtigen Blick zu, »… nun, befragen.«

»Ja, ich weiß«, knurrte Caeden. »Ich musste deshalb eine Stellungnahme für das Wochenblatt abgeben.«

»Was für eine Stellungnahme?«, wollte Nuthatch sofort wissen.

Mein Blick flog zwischen den beiden hin und her, während Wren sagte: »Moment, wenn die äußeren Ringe misstrauisch werden, sollten wir das nicht nutzen, um neue Mitglieder zu rekrutieren?«

»Schwachkopf, natürlich nicht!«, sagte der alte Greg und kratzte sich am Kinn. »Die Roten werden Fawn als Ausrede dafür nutzen, verdächtige Leute aus dem grauen Ring zu befragen! Wenn wir uns jetzt dem Falschen offenbaren, ist die kleine Lügendiebin hier unser geringstes Problem.«

Problem. Ich war das Problem? Wovon sprachen sie? Ich hatte mir das hier nicht ausgesucht. Ich wollte nicht in den Minen sein und ebenso wenig wollte ich, dass es da draußen eine Menge Leute gab, die mich suchten und vermutlich umbringen wollten!

»Können wir uns auf die wichtigen Punkte zuerst konzentrieren?«, fragte Syla mit Nachdruck.

Die wichtigen Punkte? Die mein Schicksal nicht mit einschlossen? Was ich hier tat, was mit mir passieren würde, was die Wissensjäger überhaupt wollten … das war nicht wichtig? Meine Lippen zitterten und ich presste sie aufeinander.

Nein, natürlich nicht. Ich brauchte ja keine Antworten. Ich sollte dankbar dafür sein, dass sie mich beinahe umgebracht, dann ausgeknockt und schließlich an diesen trostlosen, kalten Ort geschleppt hatten!

Warum sollten sie mir erklären, weshalb sie mir eine Lehrerin gesucht hatten? Wieso erklären, warum Caeden mit den anderen sprach, als wäre er ihr verdammter Anführer?

Ich war ja nur die kleine Lügendiebin, die ihnen so viele Scherereien gemacht hatte! Ich war unwichtig, bis sie mich brauchten!

»Nein!«, rief ich laut.

Es reichte. Ich hatte genug gehört!

»Nein?« Wren hob die Augenbrauen und verwirrt wandten sich auch die anderen zu mir um. »Was, nein?«

»Nein, wir können nicht zuerst über eure wichtigen Dinge reden. Ich meine … was soll das hier?«, platzte ich heraus und sprang auf. Mein Stuhl kippte nach hinten und krachte lautstark zu Boden. »Ihr redet über mich, als ob ich nicht da wäre! Als ob ich keine Fragen, keine Meinung, keinen Kopf hätte! Würdet ihr die verdammte Güte besitzen, mir zu erklären, was hier überhaupt vor sich geht, bevor ich durchdrehe!« Schwer atmend ballte ich die Fäuste, darum bemüht, Caeden nicht anzusehen. Sein Gesicht würde das Fass zum Überlaufen bringen. »Was genau tut ihr hier überhaupt? Was wollt ihr von mir? Warum habt ihr mich gerettet?« Die Fragen sprudelten unaufhaltsam über meine Lippen und mit jedem Wort, das den Raum erfüllte, wurde ich wütender. »Ich möchte Antworten haben. Sofort!«

Eine abrupte Stille senkte sich über die Tische und betreten sahen Syla, Wren und Greg zwischen Caeden und Nuthatch hin und her. Als hätten die beiden ihnen verboten zu sprechen.

»Niemand von euch hat ihr erklärt, warum sie überhaupt hier ist?«, fragte Jyn schließlich ungläubig und sah vorwurfsvoll zu Nuthatch.

»Ich wäre noch dazu gekommen«, antwortete er gereizt.

»Wann?«, fuhr ich ihn an und meine Brust hob und senkte sich schwer. »Nachdem ihr mich zu einer Soldatin ausgebildet habt, was offenbar euer Plan ist?«

Er schüttelte den Kopf. »Niemand möchte dich zu einer Soldatin machen.«

Caeden schnaubte und meine Hand fuhr abrupt zu dem Dolch unter meinem Mantel. Noch ein Ton aus seinem Mund und ich würde ein sehr schlechter Mensch werden. Ich würde das erste Mädchen sein, das an seinem Hals hing, um ihn aufzuschlitzen, nicht um ihn zu küssen.

»Was tut er überhaupt hier?«, rief ich und deutete mit dem Arm zu dem Grund für meine brennenden Augen. »Ich meine … ihr kennt euch?« Zornig, aber auch verunsichert blickte ich zu Nuthatch. »Wie kann das sein?«

Ich musste Nuthatch zugutehalten, dass er meinen bösen Blick der Finsternis stur erwiderte. Denn wenn ich nur halb so wütend aussah wie meine Schwester Cora, als sie herausgefunden hatte, dass ich ihr Lieblingskleid zu einer Hängematte umfunktioniert hatte, war er ein sehr tapferer Mann.

»Es ist egal, wie wir uns kennengelernt haben«, sagte Nuthatch leise. »Denn jetzt kennen wir uns und Jyn und …« Er holte tief Luft und verzog grimmig das Gesicht. »Jyn und Caeden sind seit Monaten wertvolle Mitglieder der Wissensjäger.«

»Seit Monaten wertvolle Mitglieder der … der …« Ich stockte, schluckte und sah zu Jyn, die entschuldigend zu mir aufsah und kurz zu ihrem Bruder hinüberblickte. Doch ich brachte es nicht über mich, Caeden anzuvisieren. Seine marmorne Miene hätte mir den Rest gegeben. Stattdessen sah ich wieder zu Nuthatch, während ein dumpfes bitteres Gefühl von meiner Brust Besitz ergriff.

»Aber … du wusstest, dass ich bei den Falcrons Lügen stehle. Ich habe dir die Lüge von Lady Falcron verkauft und du …« Kopfschüttelnd streckte ich die Schultern durch, während mir langsam dämmerte, was mir hätte klar sein müssen, sobald Caeden zur Tür hereinspaziert war. »Du warst es«, flüsterte ich und starrte Nuthatch mit geöffnetem Mund an. »Du hast mich verraten. Deinetwegen wusste Caeden, dass ich einbrechen würde!« Meine Stimme zitterte nun und ich versuchte, mich zu beruhigen. Doch es schien unmöglich! Wie hatte ich so blind sein können? Natürlich war Nuthatch es gewesen, der Caeden meinen Namen genannt und ihn vor mir gewarnt hatte. Eine andere Erklärung gab es nicht. Er hatte die Lüge an Crow weitergegeben und wahrscheinlich selbst vorgeschlagen, dass er mich noch am nächsten Abend erneut zum Falcron-Anwesen schickte. »Ihr habt die ganze Zeit unter einer Decke gesteckt?«, wisperte ich tonlos und mittlerweile ballte ich meine Hände so fest zu Fäusten, dass ich mir mit den eigenen Nägeln ins Fleisch schnitt. Ich fühlte mich so unglaublich dumm. »Ihr habt das alles geplant? Dass Caeden mich erwischt? Dass ich von seiner Familie als Spionin angeheuert wurde? Hast du etwa auch an meinen Bruder weitergegeben, dass wir in den roten Ring eingebrochen sind, damit er mich verrät? Damit er die Roten Magier auf mich hetzt, ihr mich retten und somit dazu zwingen könnt, Teil von euch zu werden? Du hast gemeint, du willst mich gar nicht hierhaben, aber das stimmt nicht, oder?« Mit jedem meiner Worte wurde meine Stimme lauter. »Du bist der Verräter! Du bist derjenige, den Crow so verzweifelt sucht!«

Heiße Säure stieg meinen Hals hinauf und verätzte meine Zunge – und dennoch schaffte ich es, meine Sinne zu leeren. Den beißenden Geschmack der etlichen Lügen zu verdrängen. Den Geruch der drückenden feuchten Wände zu vergessen. Das taube Gefühl des Verrats in meiner Brust zu ignorieren. Denn ich musste wissen, ob Nuthatch mich anlog. Brauchte die Wahrheit mehr als meinen nächsten Atemzug.

»Nein, Fawn. Das verstehst du falsch«, sagte Nuthatch ruhig und die weiße Wahrheit auf seinen Lippen ließ mich wissen, dass er zumindest glaubte, was er da sagte.

»Also hast du Caeden nicht gesagt, dass ich in jener Nacht wieder bei ihnen einbrechen würde?«, fuhr ich ihn zornig an.

Nuthatch seufzte schwer und hob beide Hände. »Doch. Doch, das habe ich. Aber ich bin nicht der Verräter, nach dem Crow sucht. Und ich wollte ganz bestimmt nicht, dass die Falcrons dich als ihre persönliche Spionin anheuern und dich dein eigener Bruder verrät. Ich habe kein Wort mit ihm gewechselt und ich habe keine Ahnung, woher er von eurem Einbruch wusste.«

»Du hast die Dunkeldiebe hintergangen, Nuthatch!«, rief ich wütend und umklammerte die Tischkante, um mich davon abzuhalten, handgreiflich zu werden. Zu viele Leute, die stärker waren als ich, befanden sich in diesem Raum. »Du hast Crows Vertrauen ausgenutzt und mich ins offene Messer laufen lassen!«

»Nein!«, sagte er kalt und sah mich grimmig an. »Du hast dich ins offene Messer gestürzt, Fawn! Du hast das Buch gestohlen.«

»Na und?«, wollte ich hitzig wissen. »Was hat dich das interessiert?« Ich hielt meine Hand mit reiner Willenskraft davon ab, zu besagtem Buch, das sich zurzeit in meiner Tasche befand, zu fahren.

»Es gehört uns. Wir haben es unter großer Anstrengung und Gefahr beschafft – und ich musste Caeden die Möglichkeit geben, es von dir zurückzuverlangen. Das war alles, was ich bezwecken wollte«, sagte er angriffslustig, sein Gesicht nur noch eine erzürnte Fratze. »Also habe ich mit ihm abgemacht, dass er dich erwischt, dich dazu erpresst, ihm das Buch zurückzugeben – und dich dann laufen lässt. Du hättest versagt. Du wärst nicht bei den Dunkeldieben aufgenommen worden. Aber dir hätte keine Gefahr gedroht, da niemand außer Caeden dein Gesicht gekannt hätte. Du wärst in Sicherheit gewesen. Wir hätten das Buch zurückbekommen, Crow hätte seinen Willen bekommen, ich hätte mich nicht mit dir herumschlagen müssen. Alle wären glücklich gewesen. Doch Lady Falcron musste ja früher von dem Bankett zurückkommen. Sie musste euch beide ja finden und dir dieses absurde Angebot machen! Und Caeden hat versagt, dich davon zu überzeugen, dass es Selbstmord wäre mitzumachen.« Er verengte die Augen und ließ den Blick zum gegenüberliegenden Tisch wandern. »Er hat sich offensichtlich zu sehr darauf gefreut, Prinz und Bettlerin zu spielen.«

»Ich habe ihr mehr als deutlich gemacht, dass sie keine Ahnung hat, auf was sie sich da einlässt«, drang ein Knurren von der anderen Seite des Raumes und jetzt konnte ich nicht mehr anders – ich sah zu Caeden.

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Zorn und Verachtung vielleicht. Die Gesichtszüge, die ich so gut von ihm gekannt hatte, bevor … bevor ich geglaubt hatte, dass wir vielleicht Freunde waren. Bevor ich gedacht hatte, dass er … dass wir …

Ich blinzelte und schluckte. Es war egal, was ich wann geglaubt hatte. Was jetzt interessierte, war, dass es keine Wut war, die seine scharfen Gesichtszüge zierte. Es war Frustration.

Als würde ich an seinen Nerven ziehen und sie zu einem hübschen Zopf flechten. Als wäre ich der Ursprung allen Ärgers, der sein Leben bestimmte.

Sein Blick lag eisern auf meinem Gesicht und die nächsten Worte sagte Caeden so leise und eindringlich, dass es schien, als hätte er vergessen, dass noch weitere Leute im Raum waren. Denn sie waren nur für mich bestimmt.

»Ich habe dir gesagt, dass du enttarnt und getötet werden wirst!« Seine grauen Augen waren mittlerweile fast schwarz. »Ich habe dich gehen lassen. Ich habe dir die Möglichkeit gegeben, unversehrt das Haus zu verlassen, so wie ich es Nuthatch verdammt noch mal versprochen hatte! Es war deine Entscheidung zurückzukehren. Deine Entscheidung, für meine Mutter zu spionieren. Das hier.« Er deutete wirsch mit der Hand im Raum umher. »Das hier ist nicht meine Schuld. Das liegt nicht in meiner Verantwortung.«

Ich presste die Lippen zusammen und erwiderte stur seinen Blick. Ich war zu stolz, um zuerst wegzusehen. Zu wütend und verletzt, um ihm auch nur einen Fingerbreit entgegenzukommen. Denn er hatte unrecht! Er hätte die Wahl gehabt. Er hätte mich retten können. Er besaß genug Macht und Einfluss, um ein paar Rote Magier davon zu überzeugen, mich gehen zu lassen.

Ich wollte ihn anschreien – doch keines der Worte, die ich loswerden wollte, war für die Ohren dieser fremden Leute bestimmt. Also schwieg ich. Biss mir auf die Zunge und starrte in das Gesicht, das ich gelernt hatte zu mögen.

Ich Dummkopf.

»Okay«, durchschnitt Nuthatch die angespannte Stille. »Wir alle haben Fehler gemacht. Daran sollten wir uns nicht aufhängen.«

Oh, dafür war es zu spät. Ich hing bereits und nur ein paar lächerlich dünne Fäden hielten mich davon ab zu fallen.

»Richtig«, unterstützte Syla ihn und hob die Hände. »Wir dürfen untereinander nicht so streiten. Wir haben bereits zu viele Feinde, als dass wir uns welche in den eigenen Reihen leisten könnten.«

Nun, dann war dieses Unterfangen wohl zum Scheitern verurteilt. Denn Caeden war wieder die charmante marmorne Wand von früher … und ich war die Spitzhacke, die ihn zu Fall bringen wollte.

»Also, Fawn.« Die Heilerin wandte sich an mich und ich blinzelte. Widerstrebend riss ich den Kopf herum, um sie anzusehen. »Du hast weitere Fragen erwähnt?« Sie hob die Augenbrauen. »Welche sind das? Setz dich doch und stelle sie. Dann können wir alle Unklarheiten aus dem Weg schaffen und weitermachen.«

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich noch immer stand. Doch jetzt bückte ich mich mühsam nach dem Stuhl, stellte ihn wieder hin und ließ mich darauf fallen. Ich musste mich beruhigen. Wenn ich hier alles kurz und klein schlug, würden sie mich auch nicht für vertrauenswürdiger halten. »Was ist euer Plan?«, fragte ich scharf. »Welches Ziel verfolgt ihr überhaupt?«

Das Wochenblatt hatte nur spärliche Informationen über die Wissensjäger preisgegeben. Doch eine war mir besonders ausgeprägt im Gedächtnis geblieben: Sie waren Freunde des Bündnisses. Sie wollten die Rote Wand zerstören.

Ich für meinen Teil hielt es für keine brillante Idee, die Wand einzureißen und dem Bündnis freie Hand darin zu lassen, die Bewohner Mentanos zu meucheln. Aber hey, das war nur meine bescheidene persönliche Meinung!

»Liegt das nicht auf der Hand?«, brummte Wren und hob die Augenbrauen. »Wir sind Wissensjäger. Wir sammeln Wissen.«

Ich schnaubte. »Ja, vielen Dank. Das erklärt natürlich alles. Schuhmacher machen Schuhe, Holzfäller fällen Holz, Feldwebel webeln Felder. Kinderleicht. Dann weiß ich ja alles, was ich brauche.«

»Ich kann Sarkasmus nicht ausstehen, Kleine!«, meinte Greg verärgert.

»Und ich mag keine Erbsen«, gab ich zurück. »Schön, dass wir uns jetzt ein wenig besser kennen!«

Nuthatch gab ein tiefes Seufzen von sich, das vermuten ließ, dass er mich für sehr anstrengend hielt. Dabei hatte er noch gar keine Ahnung, was es bedeutete, wenn ich anstrengend wurde. Ich hatte nicht einmal damit angefangen, mir wirklich Mühe zu geben!

»Fawn«, sagte er mit durchdringender tiefer Stimme. »Hast du einmal darüber nachgedacht, warum das Königshaus Bücher verbietet?«

Ich blinzelte verwirrt und wandte mich dem Dunkeldieb zu. »Ja. Natürlich. Weil noch eine Menge Bücher im Umlauf sind, die das gefährliche Gedankengut des Bündnisses verbreiten könnten. Oder so ähnlich.«

Wren neben mir schnaubte und Syla lachte laut auf.

»Ja, das würde das Königshaus dich gern glauben machen«, sagte Nuthatch verächtlich. »Aber es stimmt nicht. In all den Friedensjahren, in denen wir bereits auf der Suche nach Wissen sind, haben wir noch kein einziges Buch gefunden, in dem die Pläne des Bündnisses überhaupt erwähnt werden.«

»Aber …« Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Warum sollte das Königshaus die Bücher denn sonst verbieten?«

»Weil es Bücher gibt, die jedem Bürger von Mentano Wissen schenken, das sie nutzen könnten, um das bestehende System zu stürzen. Wissen, das sie nutzen können, um die Lügen Mentanos aufzudecken und die Autorität des Königshauses zu untergraben. Wenn sie sich selbst einfach eine Meinung mithilfe von Büchern bilden können, wie sollen die Swefts dann das Gedankengut ihres Volks kontrollieren?«

Ich blinzelte und versuchte zu verstehen, was Nuthatch gerade gesagt hatte.

»Das ist alles?«, fragte ich perplex. »Es geht wirklich nur um … Wissen? Bücher, die euch erklären, worüber das Königshaus lügt?«

»Du unterschätzt Wissen, Fawn«, meinte Jyn ernst. »Wenn ein Volk nur eine einzige indoktrinierte Wahrheit kennt, die ihr keinen Anlass bietet, ihre Anführer zu hinterfragen … warum sollte es sich dann wehren? Warum sollte es etwas ändern wollen, wenn es glaubt, nichts ändern zu können? Doch wenn man ihm eine zweite Wahrheit bietet … eine Wahrheit, die das Königshaus in sehr schlechtes, lügnerisches Licht wirft, ihnen erklärt, dass ihre Lebenssituation besser werden kann, wenn nur genug es wollen … könnten wir ganze Massen bewegen, sich uns anzuschließen und für ihre Freiheit zu kämpfen. Die meisten wissen nur, was das Königshaus ihnen erzählt. Was das Wochenblatt berichtet. Wir jedoch wissen mehr. Es ist unsere Aufgabe, sie davon zu unterrichten. Ihnen ihre Möglichkeiten zu zeigen. Denn sonst tut es niemand.«

»Ihr wisst mehr? Was denn?«, hakte ich nach.

»Zum Beispiel, dass Mentano einst Teil des Bündnisses war«, sagte Nuthatch.

Mit aufgerissenen Augen sah ich ihn an. »Was? Nein!« Ich schüttelte meinen schmerzenden Kopf. Mit jedem weiteren Herzschlag schien er mit mehr Unsicherheiten, mehr Halbwahrheiten, mehr Fragen gefüllt zu werden. Er war mittlerweile so schwer, dass ich mich darüber wunderte, dass mein Hals ihn überhaupt noch halten konnte. Zu viel passierte auf einmal!

Ich atmete schwer, versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen und mich nur auf diesen Moment zu konzentrieren. »Nein«, wiederholte ich. »Das Bündnis ist unser Feind. Jeden Tag gehen ihre Angriffe auf uns nieder. Mentano kann nicht … warum sollten wir … nein!«

»Doch«, beharrte Nuthatch und ich konnte von seinen Lippen ablesen, dass er wieder glaubte, die Wahrheit zu sagen.

»Woher willst du das wissen?«, fragte ich hitzig.

»Weil ich es gelesen habe«, murmelte er leise und blickte in meine Augen. »In einem Buch, das ich für deine Mutter gestohlen habe.«

KAPITEL 3

Mein Herz zog sich zusammen.

So wie immer in den letzten Wochen, wenn jemand meine Mutter erwähnte. Ich wusste nicht mehr, was ich fühlte, wenn ich an sie dachte. Es waren zu viele Emotionen, die sich wie bunter Nebel miteinander vermischten, als dass ich sie auseinanderhalten könnte.

Da war Wut auf sie, weil sie mich so lange belogen hatte. Weil sie mich vor den Dunkeldieben gewarnt, aber selbst mit ihnen verkehrt hatte. Weil sie mir verboten hatte, mehr mit meiner Magie anzufangen, als Lügen zu lesen, aber selbst die mächtigste Rote Magierin ihrer Zeit gewesen war. Weil sie mir erzählt hatte, dass ich die Gesetze des Königshauses befolgen musste, sie es aber selbst etliche Friedensjahre lang als Spionin hintergangen hatte.

Doch gleichzeitig empfand ich auch Sehnsucht und eine merkwürdige Art der Hoffnung, wenn ich an sie dachte. Weil sie nichtsdestotrotz mein größtes Vorbild gewesen war. Mein Vater hatte mich die Hälfte meines Lebens angesehen, als wäre ich ein Dorn, der in seinem Daumen steckte. Doch meine Mutter hatte mich geliebt – und ich hatte den Glauben daran, dass alles, was sie getan und verbrochen hatte, aus gutem Grund geschehen war, noch nicht verloren.

Ich wusste, dass Nuthatch sie gekannt hatte. Er hatte es vor mir erwähnt. Doch mir war nicht klar gewesen, dass er einer der Diebe gewesen war, die für sie gearbeitet hatten, so wie Crow es mir gestern Abend erst verraten hatte.

»Du hast sie gelesen?«, wisperte ich und rang meine Hände. »Die Bücher, die du für sie besorgt hast?«