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Herzschmerz pur: Eine Liebe, die es niemals geben kann Als die 17-jährige Billie in Amber Lake ankommt, ist sie wenig begeistert. Wieder musste sie ihrem Astrophysiker-Vater folgen, der von Projekt zu Projekt zieht. Doch schon an ihrem ersten Schultag passiert etwas Merkwürdiges: Sie rammt jemanden mit ihrem Auto … oder etwas? Denn außer einem hellen Lichtblitz und einer Delle kann sie nichts sehen. In der Schule trifft sie auf eine eingeschworene Clique, deren Mitglieder unterschiedlicher nicht sein könnten. Und einer von ihnen – der viel zu gut aussehende Ashton Hunter – hat eine frische Wunde am Knie ... Der Auftakt einer packenden mystisch-fantastischen Romantasy-Dilogie: Was passiert, wenn wir wirklich die Sterne vom Himmel holen?
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Herzschmerz pur: Eine Liebe, die es niemals geben kann
Als die 17-jährige Billie in Amber Lake ankommt, ist sie wenig begeistert. Wieder musste sie ihrem Astrophysiker-Vater folgen, der von Projekt zu Projekt zieht. Doch schon an ihrem ersten Schultag passiert etwas Merkwürdiges: Sie rammt jemanden mit ihrem Auto … oder etwas? Denn außer einem hellen Lichtblitz und einer Delle kann sie nichts sehen. In der Schule trifft sie auf eine eingeschworene Clique, deren Mitglieder unterschiedlicher nicht sein könnten. Und einer von ihnen – der viel zu gut aussehende Ashton Hunter – hat eine frische Wunde am Knie …
Der Auftakt einer packenden mystisch-fantastischen Romantasy-Dilogie: Was passiert, wenn wir wirklich die Sterne vom Himmel holen?
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Ich hatte ein zwiegespaltenes Verhältnis zu meinem Wecker. Uns verband eine innige Hassliebe, von der sicherlich so einige Klatschmagazine berichten würden, wenn ich berühmt und mein Wecker … nun, kein Wecker wäre. Mir war schon klar, dass man keine allzu tiefe Bindung zu einem toten Gegenstand aufbauen sollte. Aber wenn so manche Jungs vor einem Spiel ihrem Football gut zureden konnten, damit er sie nicht hängen ließ, dann konnte ich auch eine persönlichere Beziehung zu meinem Wecker haben als andere Normalsterbliche.
Ja, womöglich war ich die einzige Teenagerin auf der nördlichen Hemisphäre, die noch einen klassischen Wecker benutzte und sich nicht wie jeder andere von seinem Handy und einer viel zu fröhlichen Melodie am Morgen tyrannisieren ließ. Aber mein Wecker war etwas Besonderes. Nicht Mit ihm kann man durch die Zeit reisen-besonders. Aber sentimental-besonders. Denn er hatte meiner Mutter gehört und war das Einzige, was ich von ihr besaß. Er war schwarz und mit Hunderten Sternen und Planeten bedruckt, die an vielen Stellen bereits abgekratzt und verblasst waren, da er um einiges älter war als ich, bestimmt schon dreißig Jahre alt. Doch er klingelte noch immer jeden Tag verlässlich zweimal. Einmal, wenn ich wirklich aufstehen sollte. Und einmal, wenn ich wirklich ins Bett gehen sollte.
Es war albern, das wusste ich, aber für mich fühlte es sich jedes Mal so an, als würde mir meine Mutter in Form des Weckers Guten Morgen und Gute Nacht sagen – bevor ich sie entweder müde grunzend von meinem Nachttisch warf oder hellwach ihren Kopf tätschelte. Denn ich war wirklich nicht gut darin aufzustehen. Und noch schlechter darin, schlafen zu gehen.
»Du bist ja immer noch wach!« Mein Vater steckte den Kopf durch die Tür, die ich unvorsichtigerweise nur angelehnt hatte. »Es ist halb eins, Billie!«
»Ich weiß, Dad. Ich habe bereits im Kindergarten gelernt, die Uhr zu lesen«, sagte ich freundlich und stützte mich auf die Ellenbogen, damit ich ihn über das Ende meines Bettes hinweg besser sehen konnte. Es war neu, gerade heute frisch zusammengeschraubt, und knarzte bei jeder meiner Bewegungen. Als müsse das Holz sich erst noch an seine neue Umgebung gewöhnen. Da hatten wir etwas gemeinsam. »Und was machst du noch hier? Musst du nicht auf der Arbeit sein?«
Mein Vater war Astrophysiker und arbeitete meistens nachts – was mir mehr Raum gab, länger aufzubleiben als ich sollte, und ihm weniger Raum, Dinge auf dem Herd anbrennen zu lassen, da er meistens das Mittagessen verschlief. Es war also eine Win-win-Situation.
»Ich bin praktisch auf dem Weg dorthin«, murmelte er und betrachtete mich stirnrunzelnd, bevor sein Blick durch mein nur von einer Nachttischlampe erhelltes Zimmer huschte.
»Es ist eine neue Stelle. Macht bestimmt keinen guten Eindruck, wenn du zu spät kommst«, sagte ich scheinheilig.
»So wie es keinen guten Eindruck macht, wenn du morgen an deinem ersten Schultag mitten im Unterricht einschläfst«, erinnerte er mich. »Das mögen sie in keinem der fünfzig Bundesstaaten.«
Er musste es ja wissen. Er hatte vermutlich schon in jedem einzelnen gewohnt. Bei mir waren es immerhin schon sieben gewesen.
»Ich bin nicht müde. Das muss der Jetlag sein.«
Er schnaubte, doch seine Mundwinkel zuckten. »Netter Versuch. In Houston ist es schon halb drei. Dort solltest du also erst recht schlafen.«
Mist. Ich hatte vergessen, dass es in Kalifornien immer früher war als in Texas. Seufzend ließ ich mich zurück in die Kissen fallen und warf die Arme über mein Gesicht.
»Ich bin nervös, okay?«, nuschelte ich. »Alles ist fremd, niemand kennt mich – schon wieder. In diesem Kaff gibt es mehr Bäume als Menschen. Und ich fühle mich in diesem Haus noch nicht wirklich wohl. Es ist nicht sonderlich hübsch hier und es riecht nach Mottenkugeln. Da helfen die Ausdünstungen der frischen Farbe auch nicht. Das alles ist keine optimale Atmosphäre für eine zerbrechliche, unsichere, hormongesteuerte Teenagerin wie mich.« Ich fuchtelte mit den Händen theatralisch in Richtung Decke, bevor ich sie wieder geräuschvoll auf mein Gesicht klatschen ließ.
Ich hörte meinen Vater leise lachen und im nächsten Moment spürte ich, wie die Matratze an meinem Fußende absackte und er aufmunternd mein Bein drückte. »Na, wenigstens gibst du dir Mühe und hast dein Zimmer schon richtig gemütlich eingerichtet«, bemerkte er mit einem sarkastischen Unterton.
Ich linste zwischen meinen Fingern hindurch, um gerade noch mitzubekommen, wie Dads Blick vielsagend von meiner noch schirmlosen Nachttischlampe zu dem braunen Kistenstapel an der bilderlosen Wand schwenkte. Mein noch eingerollter Teppich lag unter dem Fenster, das zu unserem verwilderten Vorgarten hinausführte, daneben stand mein für morgen gepackter Rucksack. »Billie, hast du überhaupt eine einzige Kiste ausgepackt?«
»Ja.« Die mit meinem Wecker und meinen Büchern. Ich hatte meine Prioritäten.
»Du hattest den ganzen Tag Zeit, auszupacken und dein Zimmer einzurichten …«, erinnerte er mich sanft.
»Ja, aber ich war zu beschäftigt damit, mich selbst zu bemitleiden. Das ist ein Fulltime-Job.« Ich ließ die Hände sinken und richtete mich auf, sodass ich mich gegen das Kopfteil des Bettes lehnen konnte. »Ich meine … Dad, ich möchte ja nicht überkritisch klingen, aber wie lange, denkst du, bleiben wir diesmal wohl? Lohnt es sich wirklich auszupacken?«
Seufzend fuhr mein Vater sich mit der Hand übers Gesicht, wobei er die wenigen Falten glättete, die sich um seine Augen auffächerten.
Dad war noch recht jung dafür, dass er eine siebzehnjährige Tochter hatte. Er hatte vor einem Monat seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert, sah aber trotzdem noch immer aus wie ein sehr, sehr jung gebliebener Jude Law. Nur mit etwas weiter auseinanderstehenden Augen und ohne die angegrauten Haare. Dad scherzte immer, dass seine Haut noch so faltenfrei war, weil sie zu wenig Sonnenlicht abbekam.
»Billie, ich weiß, dass das alles äußerst suboptimal ist«, sagte er leise und drückte meinen Fuß durch die Decke hindurch. »Gerade, weil es doch dein letztes Schuljahr ist und du gerade angefangen hattest, dich in Houston wohlzufühlen. Und ich weiß, dass dir Großstädte eigentlich besser gefallen als Kleinstädte, aber … mein Job ist mein Job. Sie schicken mich dorthin, wo sie mich hinschicken. Das kann ich nicht ändern, auch wenn ich es mir wirklich wünschen würde. Aber das Projekt geht mindestens ein Jahr, ich kann dir also versprechen, dass wir für dein gesamtes Senior Year hierbleiben.« Er seufzte schwer. »Und es tut mir ehrlich leid, dass du schon wieder neu anfangen musst.«
Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte steif. Ich verstand es ja. Das war ja das Schlimme daran! Mir war klar, dass Dad nichts dafürkonnte, dass wir schon wieder umgezogen waren. Ich wusste, dass er sein Bestes gab, aber auch, dass er das Geld brauchte, um mir eine Collegeausbildung finanzieren zu können. Er war alleinerziehend, arbeitete Vollzeit, musste ja selbst immer neu anfangen … Das alles machte es so verdammt schwer, vernünftig wütend auf ihn zu sein! Er suchte sich schließlich nicht aus, wohin er versetzt wurde. Aber ausgerechnet hierhin? In ein 11 000-Seelen-Städtchen mit dem furchtbar niedlichen Namen Amber Lake, das auf halber Strecke zwischen dem Yosemite und Kings Canyon Park lag und somit womöglich den schlechtesten Internetempfang in ganz Kalifornien besaß?
Die nächste größere Stadt war Fresno, zum Teufel! Fresno war so langweilig, dass sie ein Eschenblatt auf ihre Stadtflagge hatten drucken müssen. Weil es schlichtweg nichts Interessanteres über diese Stadt zu wissen gab, als dass Fresno das spanische Wort für Esche war!
Und Dad hatte recht. Großstädte waren mir lieber. Dort war es so viel leichter, in der Masse unterzugehen. Sich unsichtbar zu machen und ein paar andere Außenseiter zu finden, die es nicht komisch fanden, dass man innerhalb von sieben Jahren fünfmal die Schule gewechselt hatte und der Vater jeden Tag bis mittags schlief, weil er die Nacht hindurch den Sternenhimmel beobachtet hatte. In Großstädten gab es meistens jedes Jahr gleich mehrere neue Schüler und Schülerinnen, sodass es leichter war, Anschluss zu finden und nicht von allen angestarrt zu werden, als wäre man ein Pferd mit drei Köpfen.
Doch in diesem Kaff … Jeder würde wissen, dass ich neu war. Jeder würde über mich urteilen. Jeder würde die nächsten Tage über mich reden, weil mein Dad und ich schlichtweg das Spannendste waren, was dieser Stadt seit Langem passiert war. Was wirklich nicht für Amber Lake sprach, denn ich war in etwa so aufregend wie Fresno.
Mein Magen flatterte und nervös zog ich an einem Faden meiner Bettwäsche herum, während das Licht der Nachttischlampe flackerte. Mit dem Strom verhielt es sich hier offenbar genauso wie mit dem Internet.
»Dad, es ist schon okay«, murmelte ich und stupste mit dem Fuß gegen seine Hüfte. »Ich verstehe es. Wirklich. Und das ganze Senior Year … ist doch toll.« Ich atmete tief durch und hob einen Mundwinkel. »Ich werde das Beste draus machen«, versprach ich und knibbelte an meinem Daumennagel, da ich den Faden aus der Decke gezogen hatte. »Und die Kisten auspacken. Morgen. Heute bin ich noch ein wenig nervös und fühle mich unwohl, okay? Weil ich keine Ahnung habe, was für Hinterwäldler hier wohnen und ob sie mich mögen oder schrecklich finden werden.«
»Ach, ich bin mir sicher, dass sie sehr freundlich sind – solange du sie nicht Hinterwäldler nennst«, meinte er, stand auf und gab mir einen Kuss auf den Scheitel. »Wenn es dir hilft: Ich find dich ziemlich fesch.«
Ich verdrehte die Augen, musste jedoch lächeln. »Das musst du sagen, du hast mich gezeugt! Und niemand benutzt mehr das Wort fesch.«
»Ich benutze es.«
»Ja, weil du den Bezug zur Realität verloren hast und dein bester Freund im wahrsten Sinne des Wortes der Mond ist«, meinte ich trocken. »Es könnte dir wirklich nicht schaden, diesen Neuanfang dafür zu nutzen, auch mal tagsüber durch die Straßen zu wandern. Selbst ein paar Freunde, oder – Gott bewahre! – Freundinnen zu finden.«
Mein Vater lächelte breit, kratzte sich jedoch unsicher den Nacken. »Wo denkst du hin? Du bist meine beste Freundin. Und apropos Mond: Hast du mal aus dem Fenster geschaut?«
Ich nickte. »Der Sternenhimmel ist lächerlich schön hier, oder?«
»Ja. Definitiv eine Verbesserung zu Houston. Andromeda anstelle von Wolkenkratzern am Himmel zu sehen hat auch etwas für sich.«
Wieder nickte ich und rieb mir über meinen noch immer rumorenden Magen, während mein Blick zur erneut flackernden Lampe glitt. »Wenn wir einen Stromausfall haben, ist es hier zappenduster«, sagte ich leise.
Es gab keine Laternen vor der Tür. Keine Straßenbeleuchtung. Das einzige Licht spendeten die Sterne und der Mond. Mir machte die Dunkelheit nichts aus. Eigentlich mochte ich sie sogar ganz gern. Sie gab einem so viel Raum zum Nachdenken und Durchatmen. Aber es war dennoch merkwürdig, plötzlich ganz nah an einem Waldstück zu wohnen, in dem man nachts nicht die eigene Hand vor den Augen erkennen konnte.
»Na, dann hoffen wir, dass es nicht so weit kommt«, meinte Dad und schaltete im nächsten Moment meine Nachttischlampe aus. »Und jetzt schlaf!«
Seufzend zog ich die Decke bis zu meinem Kinn. »Ist ja schon gut – und hey, Dad: Kann ich morgen das Auto nehmen?«
»Ja, ich sollte pünktlich wieder hier sein. Aber fahr vorsichtig. Du kennst die Straßen hier nicht.«
Ich verdrehte die Augen. »Denkst du ernsthaft, dass es gefährlicher ist, in diesem autoleeren Dorf zu fahren, als auf dem siebenspurigen Highway in Houston?«
»Wo du recht hast …«, meinte er nachdenklich, bevor ein schmaler Streifen Licht noch einmal mein Bett erleuchtete, als er die Tür zum Flur öffnete. »Schlaf schön, Billie. Und mach dir keine Sorgen. Morgen wird bestimmt schön. Die Frau an der Supermarktkasse heute Abend war zumindest sehr nett.«
»Ja. Nur schade, dass sie nicht mit mir zur Schule gehen wird«, wisperte ich, bevor er die Tür schloss.
Auf der Amber Lake High gab es keine Schuluniformpflicht. Jeder durfte sich kleiden, wie er wollte und seiner Persönlichkeit Ausdruck verleihen. Es war furchtbar.
Ich hatte das letzte halbe Jahr über jeden Tag genau gewusst, was ich anziehen musste. Doch an diesem Morgen stand ich vor meinem Schrank, der zurzeit aus drei Pappkartons bestand, und Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, während mein Blick über meine Kleidungsauswahl glitt.
Was trugen die Leute hier denn so? Vielleicht wuselten sie tagtäglich in voller Jack-Wolfskin-Montur durch die Wälder und Straßen, immer auf das nächste Outdoor-Abenteuer vorbereitet. Oder vielleicht waren ein Bärenfell um die Schultern und eine Waschbärenmütze auf dem Kopf ja angesagt? Oder lebten hier reiche Schnösel, die nur mit Designerhandtaschen und Gucci-Brotdosen in die Schule gingen?
Stöhnend legte ich den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen, bevor ich schließlich nach meiner Lieblingshose aus rotem Cord und einem langärmeligen weißen Shirt griff. Das erschien mir am unproblematischsten. Meine langen dunklen Haare fasste ich zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammen, damit ich nicht versucht war, sie mir ständig nervös aus dem Gesicht zu streichen.
Man sollte meinen, dass ich nach acht verschiedenen ersten Schultagen in den letzten elf Jahren nicht mehr nervös war. Aber es war jedes Mal die reinste Qual für mich. Nicht zu wissen, was mich erwartete. Wer mich erwartete. Es war hart, immer die Neue zu sein.
Ich blickte auf den Wecker und rannte fluchend mit geschultertem Rucksack in den Flur. Es war bereits Viertel nach sieben und ich brauchte allein zwanzig Minuten zur Schule, die um acht begann, und musste mich vorher noch bei der Schulleitung melden.
Auf der Treppe traf ich Dad, der mich gähnend anlächelte.
»Perfektes Timing. Viel Erfolg heute. Kaffee steht auf dem Tisch, Autoschlüssel liegt in der Schüssel an der Haustür, Geld fürs Essen auch. Und du musst wirklich nicht nervös sein: Sei einfach du selbst, dann wird es bestimmt klasse.«
Ich zog eine Grimasse. Von welchem Selbst sprach er? Dem nervösen, das alles im Umkreis von drei Metern umwarf, wenn zu viele Blicke auf ihm lagen? Oder dem etwas zu kühlen, distanzierten, zu dem ich wurde, wenn Leute mir unangenehme Fragen stellten?
Oh Gott, Billie, das ist lächerlich. Schluss jetzt. Ich musste wirklich aufhören, so zu denken. Ich war nicht schüchtern. Wenn man so oft wie ich dazu gezwungen wurde, neue Menschen kennenzulernen, konnte man sich Zurückhaltung schlichtweg nicht leisten. Ich hatte Übung darin, die Neue zu sein. Ich würde freundlich und souverän sein und mir keine einzige Peinlichkeit erlauben.
»Danke«, flüsterte ich also nur. »Wie war die Arbeit?«
»Erzähl ich später, zu müde«, sagte er mit einem weiteren Gähnen, drückte er meine Schulter und verschwand in seinem Zimmer. Sicherlich, um auf der Stelle ins Bett zu fallen.
Ich hastete in die Küche, in der sich ebenfalls die Kisten stapelten. Einzig und allein die Kaffeemaschine und der Toaster waren bereits ausgepackt. Mein Vater wusste auch, Prioritäten zu setzen. Ich warf einen Rosinen-und-Zimt-Bagel in den Toaster, stürzte den Kaffee hinunter und saß keine fünf Minuten später im Auto, das Frühstück auf meinem Schoß, den Rucksack auf dem Beifahrersitz.
Das Haus, das Dad gemietet hatte, lag am Stadtrand, fast direkt am Amber Lake, dem See, dem die Stadt ihren Namen verdankte. Wenn man durch die eng beieinanderstehenden Bäume des kleinen Waldstücks sah, durch das ich nun fuhr, konnte man in der Ferne die Wasseroberfläche glitzern sehen. Die Sonne stand noch tief am Himmel und eine weiche Schicht weißen Nebels hing träge über dem von Wurzeln durchzogenen Boden. Einzelne Lichtstrahlen verfingen sich darin und brachten ihn wie tausend Diamanten zum Funkeln. Ich biss vom Bagel ab und beugte mich tiefer übers Lenkrad, um das Spektakel genauer bewundern zu können, während Dads alter SUV über den unbefestigten Weg holperte und das Navi mir verriet, dass ich in dreihundert Metern links abbiegen musste.
Es war so … still hier. Friedlich. Kein Baustellenlärm, kein Gehupe, keine gestressten Menschen, die den Gehweg entlanghetzten. Dad hatte recht. Es war nicht mit Houston zu vergleichen und echt atemberaubend schön hier. Vielleicht war eine Kleinstadt doch gar nicht so schlecht. Vielleicht würde der Tag wundervoll werden und ich beste Freunde fürs Leben finden.
Ich hatte meine Schuhe mit einer Doppelschleife versehen, damit ich nicht über die Schnürsenkel stolpern konnte. Ich hatte zwei Schichten Mascara aufgetragen, um mir etwas mehr Selbstbewusstsein zu geben. Ich hatte Kaffee und einen halben Bagel intus, also genug Koffein und Zucker zu mir genommen, um halbwegs intelligente Sätze von mir zu geben. Es gab gar nicht so viel, das schiefgehen und sicherlich nichts, was mich aus der Fassung bringen konnte. Ich war –
Ein helles, funkelndes Licht blitzte auf und blendete mich. Erschrocken kniff ich die Augen zusammen und ließ den Bagel fallen. Die Achsen quietschten und die Reifen schlitterten geräuschvoll über den Schotter, als ich die Bremse durchtrat … und im nächsten Moment ein ohrenbetäubender metallischer Knall mein Trommelfell zu zerfetzen drohte. Der Wagen kam ruckartig zum Stillstand und der Gurt schnitt mir schmerzhaft in die Schulter, als mein Oberkörper nach vorn geworfen wurde.
Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren und ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Hände wehtaten. Mein Atem kam in zittrigen Schüben über meine Lippen und ich blinzelte mehrfach, um wieder besser sehen zu können. Doch noch immer tanzten gleißend helle und bunte Lichter vor meinen Augen, als hätte ich zu lang in die Sonne geguckt.
»Shit«, hauchte ich, presste die Handballen auf meine Augen und versuchte meinen Atem zu regulieren.
Was war das für ein Knall gewesen? Hatte ich etwas getroffen? Oh Gott, hatte ich jemanden getroffen?
Kalte Angst glitt zäh durch meine Adern und betäubte meinen Körper. Aber das konnte nicht sein, oder? Ich hatte überhaupt nichts gesehen! Kein Reh, keinen Menschen, nur Licht, das aus dem Nichts gekommen zu sein schien.
Ich riss mich zusammen, ließ zittrig die Hände sinken und bekam endlich einen vernünftigen Blick auf die Straße vor mir.
Sie war vollkommen leer. Ich sah nach links und rechts, rechnete damit, ein verletztes Tier oder irgendetwas am Wegrand zu entdecken … doch da waren nur Bäume und Laub. Nichts weiter. Möglicherweise war der Knall gar nicht von meinem Auto aus gekommen? Vielleicht war ein Baum umgefallen oder so was? Vielleicht hatte irgendetwas das Sonnenlicht merkwürdig reflektiert und mich geblendet und eine Sekunde später war … ein Baum entwurzelt worden? Okay, das hörte sich selbst in meinen Ohren merkwürdig an und ich hatte eine beeindruckend lebendige Fantasie …
Konzentriert atmete ich durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, bevor ich den Wagen ausschaltete und den Gurt löste. Ich öffnete die Tür des SUVs, stieg aus und rieb mir abwesend über die schmerzende Schulter.
Woher zur Hölle war das Licht gekommen? Es dämmerte noch immer. Die Luft war kühl und die Sicht eher diesig. Vorsichtig blickte ich in das Waldstück, suchte nach irgendeinem Lebenszeichen, bevor ich um den Wagen herumging … und erstarrte. Mit offenem Mund sah ich auf die Motorhaube des Autos – in der eine deutliche Delle prangte. Mindestens so breit wie ein Basketball.
Dem Rest des Wagens ging es gut. Kein Riss auf der Windschutzscheibe, keine gebrochene Stoßstange. Aber diese Delle … Die war heute Morgen sicherlich noch nicht da gewesen!
»Scheiße«, hauchte ich erneut und sah hektisch zu allen Seiten. Ich hatte doch etwas angefahren! Aber was? Und wo zur Hölle war es?
Mit wackeligen Knien lief ich den Rand der Straße ab. Ich ging sogar ein Stück in den Wald hinein. Doch ich fand nichts außer ein paar abgebrochenen Ästen und aufgewühltem Laub. Was in einem Wald wahrlich nichts Seltsames war. Die Hand an der Stirn schüttelte ich den Kopf und kehrte zum Auto zurück, um die Delle näher zu betrachten. War sie doch schon da gewesen? Hatte Dad nur vergessen zu erwähnen, dass er … nun, offenbar einen Basketball gerammt hatte?
Nervös biss ich mir auf die Unterlippe und atmete tief durch. Alles war gut. Selbst wenn ich etwas angefahren hatte, offenbar war es noch quietschfidel genug gewesen, um schnell wegzulaufen.
Was das Licht betraf … keine Ahnung. Ich würde wohl einfach besser aufpassen müssen in Zukunft. Offenbar reflektierten die taufeuchten Blätter der Bäume hier ziemlich heftig.
Zufrieden mit meiner Einschätzung der Situation, lief ich erneut zur Fahrerseite … als mir auffiel, dass der Scheibenwischer verbogen war. Ich griff danach, rückte ihn wieder gerade … und blieb mit den Fingern an einem schwarzen Stofffetzen hängen, der sich an dem Gummi verfangen hatte. Es war dicker, weicher Stoff, ein wenig abgerieben, aber eindeutig Stoff. Das Tier, das über mein Auto geschlittert und seinen Basketballhintern in die Motorhaube geschlagen hatte, rannte also mit Pullover oder Mantel durch den Wald?
»Oh, Gott, ich dreh durch«, murmelte ich und steckte den Stofffetzen in meine Hosentasche. Der Stoff konnte von überall herkommen und ich sollte mich wirklich auf Wichtigeres konzentrieren. Zum Beispiel darauf, nicht an meinem ersten Tag an der neuen Schule zu spät zu kommen …
Ich kam zu spät. Als ich schließlich aus dem Büro der Rektorin trat, meinen Stundenplan in der einen, einen Schlüssel zu meinem neuen Spind in der anderen Hand, hatte die Schulglocke zur ersten Stunde bereits geläutet. Der vor mir liegende Gang war absolut leer, bis auf …
»Hey.« Ein Mädchen mit langen, dunklen Haaren und auffälligen, großen goldenen Ohrringen sprang auf, sobald sie mich erblickte. »Bist du Billie Knox?«
»Ähm, ja«, sagte ich etwas überfordert.
»Wundervoll.« Sie lächelte mich breit an. »Ich bin Kala Kumari und habe heute die ehrenwerte Aufgabe, dein Händchen zu halten.« Sie streckte die Hand aus.
Überrascht starrte ich sie an. Sie erwartete doch nicht wirklich …?
»Jetzt gerade will ich sie allerdings nur schütteln«, meinte sie lachend, ergriff meine Hand und tat ebendies. »Oh, du hast aber echt weiche Hände.« Anerkennend nickte sie mir zu. »Ich würde dich trotzdem gern erst etwas besser kennenlernen, bevor wir über die nächsten Schritte in unserer Beziehung reden. Das mit dem Händchenhalten war dann doch eher eine Redewendung. Ach Gott, ich vergesse immer, dass Menschen, die mich noch nicht kennen, meinen Humor nicht einschätzen können.« Entschuldigend zog sie eine Grimasse.
»Das ist okay«, sagte ich hastig und rieb meine Finger übereinander. Kala hatte überraschend warme Hände. »Ich werde es dir nicht übel nehmen – wenn du den Rest des Tages immer über meine dummen Witze lachst, die ich mit Sicherheit vor Nervosität machen werde.«
Sie grinste breit. »Deal. Ist scheiße, die Neue zu sein, oder?«
»Jap.«
»Ach, wir sind alle sehr cool hier«, versprach sie aufmunternd. »Wir sind auch nur knapp fünfzig Leute im Jahrgang, also recht übersichtlich. Wie du sicherlich schon gemerkt hast, ist Amber Lake wahrlich keine Metropole. Am Ende des Tages wirst du mehr Leute kennen, als dir lieb ist. Glaub mir.«
»Okay«, sagte ich vage, denn ich wusste nicht, ob das gut oder schrecklich war.
»Sehr schön. Unsere Stundenpläne sind recht ähnlich, meinte die Rek, deswegen bin ich dein Empfangskommando – und wir sollten uns beeilen. Wir haben zusammen Sport in den ersten beiden Stunden und Mr Lang verspätet sich gern mal, aber nicht mehr als zehn Minuten. Also folg mir einfach.«
Sie lief den Gang entlang in Richtung Ausgang und ich versuchte, mit ihren federnden Schritten mitzuhalten.
»Sport? In den ersten Stunden?«, sagte ich perplex und zog meinen Stundenplan zurate. Tatsächlich. »Oh Gott«, murmelte ich und stöhnte.
»Ja, ich weiß«, bestätigte Kala mitfühlend. »Als ob Montage nicht schon schlimm genug wären.«
Ich stimmte ihr voll und ganz zu. Sportunterricht überhaupt war ja schon schrecklich. Aber Sportunterricht am ersten Tag in der neuen Schule … Das war einfach nur grausam.
»Ach, am ersten Tag nach den Ferien hat ohnehin niemand sein Zeug mit und wir spielen nur eine freundliche Partie Volleyball oder reden darüber, was uns das nächste Jahr bevorsteht«, meinte Kala und winkte ab, bevor sie mir voran aus dem Eingang trat und links ein paar Treppen hinunterlief, die offensichtlich zur Turnhalle führten. Zumindest erkannte ich einen Zementblock, vor dem sich einige Schüler und Schülerinnen gesammelt hatten.
»Das hört sich nach geplanter Folter an«, bemerkte ich.
Kala grinste breit. »Geh erst einmal in die Umkleiden. Wenn du danach nicht erstickt bist, kommt dir alles andere wie das Paradies vor.«
»Na, Gott sei Dank gibt es etwas, worauf ich mich freuen kann«, meinte ich trocken.
Sie lachte. »Ja, oder? Hey, woher kommst du eigentlich?«
Ich öffnete den Mund … und schloss ihn wieder. Denn das war eine schwierigere Frage, als es sein sollte. Es gab einfach keinen wirklichen Ort, dem ich den Titel Zuhause gegeben hätte. Ich war in L. A. geboren, hatte jedoch die längste Zeit in Santa Fe gelebt – auch wenn vier Jahre nicht wirklich lang waren, vor allem, wenn man bedachte, dass ich zu Anfang drei gewesen war. Besonders gefallen hatte es mir in Boston. Die beste Freundin hatte ich in Miami gehabt. Aber wenn ich jetzt keinen drei Stunden langen Monolog halten wollte, müsste ich eine kürzere Antwort finden.
»Houston?«, sagte ich deswegen schließlich.
»Du hörst dich nicht sicher an«, bemerkte Kala amüsiert.
Seufzend hob ich die Schultern. »Na ja, ich bin eine Menge rumgekommen. Aber als Letztes habe ich in Houston gewohnt.«
»Du bist eine Menge rumgekommen?« Sie hob die Augenbrauen.
»Das hört sich verdammt interessant an. Ich war bisher nicht weiter als Fresno. Und oh, wow. Houston und jetzt Amber Lake. Das muss eine ganz schöne Umgewöhnung sein.«
»Kann man wohl sagen.«
»Gefällt es dir denn bis jetzt?«
Ich zuckte die Schultern. »Wir sind erst gestern angekommen. Ich habe also ehrlich keine Ahnung. Aber ich habe das Gefühl, dass die Stadt mich nicht sonderlich mag.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Kala verwundert.
»Weil mein Morgen furchtbar war und ich bereits auf dem Weg hierher den ersten Unfall gebaut habe«, gab ich zu. Ich konnte nicht anders, es brannte mir seit fast einer Stunde auf der Seele.
»Oh, nein! Was für ein Unfall?« Bestürzt legte sie die Hand auf die Brust.
»Ich habe … vielleicht etwas angefahren?«
»Vielleicht?«
Seufzend schüttelte ich den Kopf. »Ehrlich gesagt, war es etwas merkwürdig. Ein sehr helles Licht hat mich geblendet, es hat ordentlich gescheppert und ich hab eine Delle in der Motorhaube – aber kein Tier lag auf meiner Windschutzscheibe oder auf der Straße.«
Kala blieb abrupt stehen und blinzelte mich stirnrunzelnd an. »Licht? Helles Licht? Und dein Auto ist demoliert, aber du hast sonst nichts gesehen?«
»Ja, ich …« Verwundert hielt ich inne. Kala sah nämlich auf einmal etwas blass um die Nase aus. »Ist dir das auch schon mal passiert?«, fragte ich neugierig.
»Was? Oh, nein«, sagte sie hastig und strich sich die Haare hinter die Ohren. »Es hört sich nur etwas absurd an.«
Ach so. Ja. Das. »Ich weiß«, murmelte ich und zog eine Grimasse. »Vielleicht habe ich mir das Licht auch nur eingebildet. Oder das war eine Spiegelung vom See … Keine Ahnung.« Ich wollte nicht direkt in den ersten zehn Minuten als die Verrückte aus Houston abgestempelt werden. »War einfach nur ein ziemlicher Schreck.«
»Kann ich verstehen. Vielleicht war es ja ein Vogel? Der dann weggeflogen ist?«
Das müsste schon ein sehr großer, schwerer und verdammt schneller, nicht zu vergessen heller Vogel gewesen sein. Ein Phönix vielleicht. Meine Mundwinkel zuckten.
»Kann sein«, sagte ich trotzdem. Ich hätte es überhaupt nicht erzählen sollen. Was hatte ich mir dabei gedacht? Natürlich glaubte sie jetzt, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hatte.
»Oh Mann.« Kala stieß mir sacht ihren Ellbogen in die Seite. »Und das an deinem ersten Tag, der sicherlich schon stressig genug ist … willst du was von meinem Bagel haben? Vielleicht heitert dich das ja auf.« Sie zog eine Brottüte aus ihrer Tasche und hielt sie mir hin.
Da mein Bagel noch immer im Fußraum des SUVs lag, nahm ich dankend an. Und Essen zu teilen hatte so etwas … Vertrautes an sich. Als wären Kala und ich schon Freundinnen. Etwas, was ich wirklich gebrauchen könnte.
Normalerweise gab ich mir Mühe, keine allzu engen Beziehungen an neuen Schulen zu knüpfen. Es tat sonst zu sehr weh, wenn ich mich wieder verabschieden musste. Aber Dad hatte versprochen, dass wir das ganze Jahr bleiben würden, und ich würde ihn beim Wort nehmen. Jemanden zu kennen, mit dem man seinen Bagel teilen wollte, konnte da doch nicht schaden, oder?
»Der schmeckt fantastisch«, murmelte ich mit vollem Mund.
»Wirklich? Die mag sonst niemand!« Sie strahlte mich begeistert an. »Mein Dad macht sie selbst. Er tut Curry und Kurkuma rein. Er pimpt die amerikanische Küche gern mit Gewürzen aus der Heimat auf.«
»Du kannst ihm sagen, dass er ein Genie ist«, sagte ich ehrlich und aß den letzten Happs, als wir den unteren Absatz erreichten.
Sofort richteten sich einige neugierige Blicke auf mich und ich wünschte mir, dass ich nicht die Backen voll hätte und einem Hamster ähnelte. Aber egal. Das hier war meine dritte Schule in zwei Jahren. Ich kannte die Routinen. Die prüfenden Blicke, die peinlich berührten Lehrer. Die dummen Sprüche, die sicherlich im Laufe des Tages noch kommen würden …
»Also, Billie – das sind Diana und Sam. Die freundlichsten, witzigsten Mädchen, die du hier finden wirst.« Kala deutete auf ein etwas rundlicheres, hübsches Mädchen mit dunkelbrauner Haut, schwarzen Rastalocken und eine sehr große Rothaarige mit hellem Teint und einer Menge Sommersprossen, die zusammen etwas abseits der Grüppchen standen, die auf den Sportlehrer warteten.
»Leute, das ist Billie. Sie kommt vielleicht aus Houston, ist eine Menge rumgekommen, hat somit bestimmt eine Menge wilder Geschichten und mag die Bagels meines Dads. Wir lieben sie also.«
Ich musste lachen und meine Wangen fingen an zu glühen. In diesem Moment war ich so unendlich dankbar für Kala und ihre offene Art, dass ich sie gern gefragt hätte, ob sie nicht doch für eine Weile wirklich Händchen halten wollte. Nur damit ich sie warm drücken konnte.
»Ich muss euch enttäuschen. So wild sind meine Geschichten nicht«, sagte ich entschuldigend.
»Alles ist wilder als Amber Lake«, stellte Diana freundlich fest. »Und nett, dich kennenzulernen, Billie.«
»Ebenso«, schloss sich Sam an und hob die Hand. »Und was heißt, du bist viel rumgekommen? Wo hast du denn alles schon gewohnt?«
Meine Wangen wurden noch heißer und ich winkte ab. »Ach, hier und dort.«
Erwartungsvoll hoben sie die Augenbrauen. Mist. Ich würde wohl etwas genauer werden müssen. Also zählte ich auf: »Chicago. Boston. Santa Fe. Miami …«
Die Mädels machten große Augen. »Bist du im Zeugenschutzprogramm?«, wollte Sam verwirrt wissen.
Ich lachte nervös auf. »Nein, nein. Mein Dad wird nur andauernd versetzt, wegen seines Jobs.«
»Oh Mann, Nico wird entzückt sein«, meinte sie kopfschüttelnd. »Wunder dich nicht, wenn er dich über Miami ausfragt. Er träumt davon, auf eine Uni zu gehen, an der alle Mädels in Bikinis auftauchen.«
»Nico?«, hakte ich nach.
»Mein Bruder«, sagte sie hastig.
»Der Typ da drüben, der ihr so unfassbar ähnlich sieht«, meinte Diana und deutete über meine Schulter. »Er ist ihr Zwilling … und wird hier gleich ohnehin rübersehen, weil die beiden eine merkwürdige freaky Verbindung haben.«
Neugierig wandte ich mich um. Gut zehn Meter entfernt von uns stand tatsächlich ein rothaariger Typ mit heller Haut, neben ihm zwei weitere Kerle. Einer mit einnehmendem Lächeln und kurzem Afro, vom anderen konnte ich nur die breitschultrige Rückseite sehen. Doch als hätte Nico uns gehört, wandte er tatsächlich keine Sekunde später den Kopf und sah zu uns herüber.
»Jap, hab es doch gesagt«, meinte Diana zufrieden.
Ich lachte, stellte jedoch mit Entsetzen fest, dass die anderen Kerle offenbar interessiert Nicos Blick folgten. Das war definitiv zu viel Aufmerksamkeit für mich. Ich wollte mich gerade wieder umdrehen … als mein Blick an einem zerfetzten Mantelsaum hängen blieb.
Schlagartig wurde mein Mund trocken. Dem Mantel des Typen, der mit dem Rücken zu mir gestanden hatte, fehlte ein Stück schwerer, schwarzer Stoff. Und diese Maserung, die Struktur der Fasern … sie kam mir vage bekannt vor.
Automatisch fuhr ich mit der Hand in meine Tasche und umschloss den Stofffetzen, den ich von meiner Windschutzscheibe gepflückt hatte. Mein Herz sprang mir in die Luftröhre und ich riss den Blick vom Saum los, ließ ihn über den Bund einer Bluejeans, über ein schwarzes T-Shirt wandern … bis ein Blick aus eisblauen Augen meinen traf.
Abrupt zog sich mein Magen zusammen. Der Kerl, zu dem die Augen gehörten, war … speziell. Nein, das war nicht das richtige Wort. Er war … besonders? Nicht unbedingt schön, denn dafür war sein Gesicht nicht symmetrisch genug, aber … vereinnahmend?
Ich konnte den Finger nicht darauflegen, was das Besondere war. Seine Lippen waren etwas zu schmal, sein Kinn eine Spur zu spitz. Sandfarbene Haare, die etwas zu unordentlich und windzerzaust waren, fielen ihm in die Stirn, sodass seine gehobenen Augenbrauen darunter verschwanden … oh Mann. Ich hätte sein Gesicht ewig angucken und seine Unzulänglichkeiten aufzählen können, die auf lächerliche Art und Weise nur zu seiner Attraktivität beitrugen.
Er war ziemlich schmal, hatte aber breite Schultern, war gut einen Kopf größer als ich … und trotz seiner ganzen Erscheinung, war das Interessanteste an ihm noch immer der zerrissene Saum seines Mantels!
Wäre es seltsam, wenn ich den Stofffetzen aus meiner Tasche zog und ihn daranhielt? Oder den Mantel zumindest betastete, um zu sehen, wie der Stoff sich zwischen meinen Fingern anfühlte?
»Mach dir nicht die Mühe«, wisperte Kala in mein Ohr.
Ich zuckte zusammen und riss hastig den Kopf herum. Weg von dem Typen … den du nicht umgefahren hast, Billie! Denn dann läge er jetzt im Krankenhaus.
Ich blinzelte mir die lächerlichen Gedanken aus dem Kopf und sah zu Kala. »Was hast du gesagt?«
»Dass du dir nicht die Mühe machen sollst«, wiederholte sie leise. »Ash anzustarren. Er datet nicht.«
»Was?« Ich blinzelte verwirrt. »Ash?«
»Ashton Hunter«, ergänzte Sam. »Die Mädels aus der Stufe finden ihn alle hübsch und geheimnisvoll und wissen, dass er echt ein megacooler Typ ist. Aber wir kennen ihn seit Ewigkeiten.« Sie wedelte mit dem Finger zwischen sich und ihren Freundinnen hin und her. »Er trifft sich mit niemandem auf diese Art und Weise. Also mach dir keine Hoffnungen.«
Irritiert öffnete ich den Mund. Das tat ich nicht. Ich war nicht an ihm interessiert – nur an seinem Mantel! Oje. Der Titel Die Verrückte aus Houston rückte weiter in greifbare Nähe.
»Oh, nein, nein«, sagte ich hastig. »Ich habe ihn nicht angestarrt, weil … ich will nicht … wirklich nicht.« Ich konnte sehen, wie ich die Mädels mit jedem meiner Worte vom Gegenteil überzeugte. Ich seufzte schwer. »Ich hab mich nur gefragt, was er mit seinem Mantel gemacht hat«, verteidigte ich mich trotzdem. »Er ist zerfetzt und …« Ich blinzelte. »Moment: Er datet nicht? Was ist das denn für eine Aussage?« Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen. »Ich meine, er datet gar nicht?«
»Nope«, bestätigte Sam.
»Und das weißt du, weil … du es bei ihm versucht hast?«, fragte ich perplex.
»Uäh, nein!« Sie verzog das Gesicht. »Das wäre, als würde ich meinen Bruder daten! Ich sagte doch schon: Wir kennen uns schon ewig. Nein. Aber etliche andere haben es schon versucht und seine Antwort ist jedes Mal: Danke, aber wir sollten lieber Freunde bleiben.« Sie blies sich den Pony aus der Stirn. »Mann, Ash hat eine Unmenge an Freunden und Freundinnen …«
Ich konnte nur schwer ein Schnauben zurückhalten. Das war doch Blödsinn. Welcher siebzehnjährige Typ mit solchen Wangenknochen und Augen datete nicht? Das ergab keinen Sinn.
»Wenn ihr befreundet seid, hat er euch dann verraten, warum er nicht datet? Ist er asexuell, aromantisch, einfach nur sehr wählerisch?«, hakte ich nach.
Kala zuckte die Achseln. »Er hat seine Gründe. Wirst ihn selbst darauf ansprechen müssen, wenn du es wissen willst.« Sie hob einen Mundwinkel. »Und dafür, dass du nicht an ihm interessiert bist, stellst du ganz schön viele Fragen.«
Na ja, nur weil ich nicht romantisch an ihm interessiert war, hieß das ja noch lange nicht, dass ich diese Aussage nicht sehr provokant fand. »Ich bin einfach nur … ein aufgeweckter Mensch, der auf Rätsel steht«, stellte ich klar.
Diana kicherte. »Ach, mach dir nichts draus, Billie. Du bist nicht die Erste, die ihn ansieht und seufzt, und du wirst auch nicht die Letzte sein.«
Ich bekam nicht die Chance, ihr zu widersprechen, denn in diesem Augenblick ging die Tür zur Turnhalle auf und alle Umstehenden stürmten auf einmal darauf zu. Als würde dahinter Popcorn verteilt werden. Aber was wusste ich schon, vielleicht war diese Schule sehr progressiv, was ihren Popcorn-Vertrieb anging. Ich ließ mich also von der Masse mittreiben … und prompt den Spindschlüssel fallen, den ich noch immer in der Hand gehalten hatte.
Ach, Mist. Zähneknirschend stemmte ich mich gegen die mich umströmenden Teenager und bedeutete Kala mit der Hand, schon mal vorzugehen. Ich wartete, bis die meisten in der Turnhalle verschwunden waren, dann bückte ich mich, um den Schlüssel aufzuheben … als ein Paar Schuhe in mein Sichtfeld trat.
Ich klaubte den Schlüssel von der Erde und ließ den Blick an zwei langen, in Jeans verpackten Beinen hinaufwandern. Da war ein Riss am rechten Knie, fiel mir auf. Weiße Stofffasern setzten sich von Blau ab … und daran klebte getrocknetes Blut.
Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich schloss meine Hand zur Faust, sodass der Schlüssel mir unangenehm ins Fleisch schnitt. Ich wusste, zu wem die Beine gehörten. Wusste es, bevor ich den kaputten Saum des schwarzen Mantels sah … bevor ich in die eisblauen Augen schaute, die interessiert zu mir hinabblickten.
»Du bist neu hier, was?«, fragte Ash mit dunkler Stimme und neigte kaum merklich den Kopf.
Ich seufzte. »Ist das so offensichtlich?«
»Ja«, erwiderte er schlicht. »Amber Lake ist verdammt klein – und wahrscheinlich hat es dir noch keiner gesagt, aber wir geben uns hier zur Begrüßung einfach die Hand.« Er lächelte verschmitzt, wobei er seinen einen Mundwinkel höher zog als den anderen. »Ich weiß ja, dass ich an guten Haartagen ganz hübsch bin, aber das ist kein Grund, direkt vor mir niederzuknien.« Im nächsten Moment streckte er die Hand aus, griff nach meinem Oberarm und half mir auf die Füße.
Ich schnaubte, musste jedoch lächeln. »Ich hab nach deinen Manieren gesucht – denn ganz offenbar hast du sie hier irgendwo verloren.«
»Mhm«, machte er nachdenklich und ließ mich los. »Große Worte von dem Mädchen, das mich ganze drei Minuten lang schamlos angestarrt hat.«
Oh, Shit. Meine Wangen fingen Feuer. »Ich hab nicht …« Seufzend brach ich ab. Ich war eine furchtbare Lügnerin. »Okay, ich hab vielleicht ein bisschen gestarrt.« Abwehrend hob ich die Hände. »Aber nur, weil ich mich gefragt habe, was mit deinem Knie passiert ist.« Ich deutete zu dem Riss an seiner Jeans.
»Ist ein Modestatement«, erwiderte er trocken.
»Das getrocknete Blut auch?«, wollte ich interessiert wissen.
Er verengte die Augen. »Bist du eine Kniefetischistin? Oder warum guckst du so genau hin?«
»Mann, ein wenig sensibel, was deine Knie angeht, oder?«, stellte ich fest und grinste ihn an. »Keine Sorge. Unter der Hose sieht man kaum, wie knubbelig sie sind.«
Zu meiner Überraschung lachte Ash. Laut. Sein Lachen war ebenso dunkel wie seine Sprechstimme und ein wenig heiser … und es lief mir heiß und kalt den Rücken hinab. »Also doch eine Kniefetischistin. Wenn ich plötzlich irgendwo Bilder von meinen hübschen Knubbelknien finde, weiß ich, bei wem ich mich deswegen beschweren gehe.«
»Ich fühle mich geehrt«, sagte ich freundlich. »Und du hast mir immer noch nicht verraten, was du am Knie gemacht hast.«
»Hab mich mit einem Gartenzaun duelliert – und verloren. Und solltest du wirklich zu spät zu deiner allerersten Unterrichtsstunde kommen? Weißt du überhaupt, wo die Umkleiden sind?«
Verwundert sah ich mich um … und bemerkte, dass wir die Letzten waren, die draußen standen. »Oh, Mist«, murmelte ich und öffnete hastig die Tür zu den Turnhallen.
»Hey«, rief er mir hinterher. »Miss Manieren-sind-mir-voll-wichtig. Wie heißt du überhaupt?«
Ich warf einen hastigen Blick über die Schulter. »Oh, Billie. Und du?«
Er schnaubte und warf mir einen ironischen Blick zu, bevor er sich an mir vorbeidrängte. »Als ob du das nicht bereits wüsstest.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst … Ashton Hunter, Traum aller Mädchen von Amber Lake!«, meinte ich unschuldig.
»Ich und mein Knie stellen fest, dass du eine ganz schön große Klappe hast«, meinte er im Plauderton. »Und ich würde es mit Umkleide vier probieren.«
Erleichtert atmete ich aus. »Danke«, wisperte ich. »Dir und deinem Knie.«
Dann lief ich an ihm vorbei zur Umkleide Nummer vier.
Schulumkleiden waren in keinem der fünfzig Staaten eine angenehme Angelegenheit. Nein, ich vermutete, sogar auf der ganzen Welt. Der Schweiß von Jahrzehnten schien sich in Umkleide vier der Amber Lake High festgesetzt zu haben und verbündete sich mit den herumwabernden Deowolken zu einer feuchten, stickigen Luft, in der tropische Farne fantastisch gedeihen würden. Abgesehen davon war es immer schön, seine neuen Mitschülerinnen halbnackt und den Rest der Stufe dann rotgesichtig und mit fetten Schweißflecken unter den Achseln kennenzulernen. Jap, genauso hatte ich mir den ersten Schultag immer gewünscht.
Es war mein Glück, dass wir uns heute nicht umziehen mussten, da sowieso niemand Sportsachen dabeihatte. Also luden wir alle nur Jacken und Rucksäcke ab, bevor wir im Gänsemarsch aus der Umkleide und eine Treppe hinaufliefen, die in eine überschaubare Turnhalle mit hölzernem Boden führte, die von Houstoner-Exemplaren nur belächelt und großspurig als putzig bezeichnet worden wäre. Doch der Kurs umfasste nur um die zwanzig Schüler und Schülerinnen, mindestens zehn weniger als jeder, den ich in Houston besucht hatte, es war also nicht weiter schlimm.
Die Jungs waren schon da. Hatten ihre Sweatshirts ausgezogen und standen in kleinen Grüppchen beisammen. Mein Blick fiel direkt auf Ash zu meiner Rechten. Nicht, weil ich ihn gesucht hätte, sondern schlichtweg, weil er einer der Größten hier war … und eben ins Auge fiel! Meine Sehstärke war sehr gut, ich konnte nichts dafür. Auch wenn er zurzeit den Kopf gesenkt hielt. Tatsächlich sah er äußerst unzufrieden aus. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und die Lippen aufeinandergepresst, während der Kerl mit dem kurzen Afro, der auch schon draußen neben ihm gestanden hatte, hitzig und mit einer Menge Händegefuchtel auf ihn einredete. Neben den beiden stand der rothaarige Nico, der zu ein paar Mädchen hinübersah, die kichernd auf ihre Handys starrten und sich gegenseitig immer wieder den Bildschirm ins Gesicht hielten. Und dann waren da noch zwei bullige Typen, der eine hellblond, der andere mit dunklen Haaren. Irgendwo hatten sie Yoga-Bälle aufgetrieben, die sie schützend vor die Brust hielten – bevor sie aufeinander zurannten und bellend anfingen zu lachen, als sie gegeneinanderkrachten, von dem elastischen Ball zurückkatapultiert wurden und klatschend zu Boden fielen. Beide hatten ein recht breites Gesicht, sodass es ein wenig so wirkte, als würden sie sonst nur ohne schützenden Ball mit den Gesichtern voraus gegeneinanderrennen.
Meine Mundwinkel zuckten. Ja, wir befanden uns zweitausend Meilen von Houston entfernt, aber Highschool-Jungs waren Highschool-Jungs!
»Oh Mann, irgendwann tun Rhett und Derek sich noch weh«, murmelte Sam, deren Blick ebenfalls auf die beiden Kerle gerichtet war, die gerade eine neue Ballsportart erfanden.
»Ach was«, meinte Kala und winkte ab. »Ihre Schädel sind zu dick dafür. Aber sie werden ein paar wichtige Gehirnzellen einbüßen, so oft, wie sie auf den Kopf fallen.«
Diana lachte leise, bevor die drei wie selbstverständlich zu der Gruppe – ihrer Clique? – liefen. Ich war etwas unschlüssig, was ich tun sollte. Folgen oder stehen bleiben? Ich wollte nicht aufdringlich sein. Doch bevor ich eine Entscheidung fällen konnte, drehte Kala sich bereits zu mir um und winkte mich hinterher. »Komm, wir stellen dir die anderen vor!«
Mein Magen zog sich nervös zusammen, doch ich nickte und beschleunigte meinen Schritt. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass mich wie erwartet eine Menge Mitschüler und Mitschülerinnen anstarrten und hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Überraschenderweise sahen aber mindestens genauso viele zu dem Jungs-Grüppchen, auf das wir jetzt zusteuerten. Als würden sie glitzern. Oder Shirts tragen, auf denen Zehn Sekunden Starren, ein kostenloser Donut stand.
Doch ihre T-Shirts waren recht unspektakulär. Das Einzige, das mir auffiel, war … dass sie besonders eng anlagen. Ah ja, jetzt verstand ich es. Ich hatte den Fehler gemacht, mich zuerst auf ihre Gesichter zu konzentrieren. Doch jetzt, da ich das Gesamtbild betrachtete, fiel mir auf, dass sie alle zwar absolut unterschiedlich aussahen, aber eine Gemeinsamkeit hatten: Sie waren absurd muskulös. Ich wusste nicht viel über Muskeln – abgesehen davon, dass ich nicht viele besaß – doch erkennen konnte ich sie trotzdem.
Beinahe hätte ich angefangen zu lachen. Denn es war lächerlich. Anscheinend hatte man in diesem kleinen Kaff nichts Besseres zu tun, als ins Fitnessstudio zu rennen … oder sich für Kunst zu interessieren. Denn einige dieser Muskeln mussten einfach aufgemalt sein. Je länger ich Derek und Rhetts Oberarme betrachtete, desto mehr kam ich mir neben ihnen vor, als wäre mein Körper ein Museum für Zahnstocher. Dabei war ich nicht mal unsportlich! Nico war eher kompakt gebaut, nicht so groß wie der Rest, aber ohne Frage eine sehr gute Hilfe bei jedem Umzug, während Ash und der Typ mit dem Afro schmal und sehnig, dafür um einiges größer waren. Doch die rüden und abrupten Handbewegungen, die sie gerade austauschten, wirkten sehr kraftvoll. Und ihre Worte auch.
»… krieg dich ein, Max!«, zischte Ash genervt, die Augen verengt. »Sie ist seit Jahren immer leer und es ist noch nie was passiert! Woher hätte ich wissen sollen, dass …« Sein Blick fiel auf mich und er brach ab.
Sein Gegenüber wandte ruckartig den Kopf, erkannte mich und lächelte sofort breit. »Hey, New Girl«, sagte er freundlich und trat auf uns zu. »Ich bin Max Roys. Aber nenn mich Max.«
»Hey«, erwiderte ich langsam, während mein Blick zu Ashs mittlerweile ausdruckslosem Gesicht und wieder zurück wanderte. »Ich bin offenbar New Girl. Aber nenn mich New.« Worüber hatten sie geredet?
Max Mundwinkel zuckten. »Sehr erfreut, New.«
»Nein, so fangen wir gar nicht erst an«, meinte Kala seufzend. »Das ist Billie, Max. Der blonde Hornochse ist Derek …« Sie deutete auf den rechten Yoga-Ball-Eroberer. »Der dunkelhaarige Rhett. Ash hab ich dir ja schon indirekt vorgestellt und Nico ebenso. Sagt Hallo, Jungs.«
»Hallo, Jungs«, meinte Rhett sofort und grinste.
Ich musste widerwillig lachen. »Hallo«, erwiderte ich dann.
»Kommst du wirklich aus Miami?«, wollte Nico wissen und kam näher. Er sah Sam so ähnlich, dass ich mich aktiv davon abhalten musste, nicht mit offenem Mund zu ihm, zu seiner Schwester und zurück zu starren.
»Nein. Also …« Moment. Ich blinzelte perplex. Hatte er uns vorhin hören können? Wir hatten nicht allzu nah beieinandergestanden. Nun, anscheinend schon. Ich räusperte mich. »Ja, ich hab schon einmal da gewohnt. Aber als Letztes war ich in Houston.«
»Ah, du bist also wegen all der Sonne so rot im Gesicht?«, fragte Ash.
Ich verdrehte die Augen. Sehr freundlich von ihm, mich darauf hinzuweisen.
»Ich mag Houston nicht. Es ist zu heiß da«, meinte Derek und schüttelte unzufrieden den Kopf.
»Nur für diejenigen, die nicht gern ihre knubbeligen Knie zeigen«, erwiderte ich unschuldig.
Der Geist eines spöttischen Lächelns huschte über Ashs Gesicht. Vielleicht bildete ich es mir aber auch nur ein, denn in diesem Moment wurde ich von dem Geräusch einer zufallenden Tür abgelenkt.
Ein Mann mit einer Menge Haaren am Kinn und sehr wenigen auf dem Kopf trat ein. Das musste unserer Lehrer Mr Lang sein und innerhalb der nächsten zehn Minuten wurden mir sehr schnell zwei Dinge klar. Erstens: Mr Lang mochte Ballsportarten. Fast der gesamte Lehrplan des Schuljahrs bestand aus Dingen, die mit Ball endeten. Und zweitens: Er stand seiner Trillerpfeife definitiv zu nah. Und das kam von mir, Miss Ich-habe-eine-spezielle-Verbindung-zu-meinem-Wecker. Doch Mr Lang benutzte sie innerhalb der ersten paar Minuten gleich viermal. Zweimal um Derek und Rhett zur Aufmerksamkeit zu mahnen, die ziemlich sicher ihren Bizeps verglichen, in dem sie einen Tennisball danebenhielten. (Meiner Meinung nach war der Ball der Gewinner – denn er war nicht auf diese dämliche Idee gekommen.) Einmal, um ein paar kichernden Mädchen ihre Handys zu entwenden. Und schließlich, zu meinem Entsetzen, um anzukündigen, dass die Klasse einen neuen Schüler hätte.
Oh Gott. Ich befürchtete, damit meinte er mich. Mein Vorname verwirrte manche älteren Menschen. Auch wenn es besser geworden war, seit es Billie Eilish gab.
»Also, meine Lieben«, fuhr er ernst fort. »Seid nett zu Billie Knox und fragt ihn doch heute ein paar persönliche Dinge, damit er sich willkommen fühlt. Es ist nicht einfach, der Neue zu sein. Junger Mann, warum zeigst du dich nicht und stellst dich kurz vor?«
Blut schoss in meinen Kopf. Das Einzige, was ich noch unangenehmer fand, als mit dem falschen Geschlecht vorgestellt zu werden, war, eine Menge persönliche Dinge erzählen und mich vor meinem Kurs vorstellen zu müssen!
»Mr Lang, es ist eine Sie und niemanden interessiert es, wer sie ist oder woher sie kommt«, sagte eine leise, gedehnte Stimme und überrascht wandte ich mich um.
Ein Junge mit dunklen langen Haaren hatte gesprochen. Der war mir vorhin gar nicht aufgefallen. Dabei saß er keinen Meter von mir entfernt auf dem Boden. Und sein spitzes Gesicht sowie seine platte Nase waren eigentlich recht auffällig. Ich wollte mich stumm bei ihm bedanken, doch er beachtete mich gar nicht. Stattdessen sah er gelangweilt auf seine Fingernägel.
Mr Lang lief basketballrot an, bevor er betreten »Schön, schön, danke für deine Einsichten, Ben – Volleyball?« sagte.
Letzteres traf auf einige Zustimmung und Max und Kala wurden dazu auserkoren, die Teams zu wählen. Max stand nicht einmal an der Linie, auf der sie sich aufstellen sollten, als er bereits »Ash« rief.
Derek, Nico und Rhett stöhnten unisono auf … und sie waren nicht die Einzigen. Der gesamte Kurs sah gequält aus der Wäsche.
»Oh, das ist unfair«, murrte ein asiatisch aussehendes Mädchen zu meiner Rechten. »Jeder, der Ash bekommt, hat doch ohnehin schon fast gewonnen – und zusammen mit Max kann die andere Mannschaft doch gleich aufgeben.«
Kala jedoch ließ sich nicht beirren, sie wählte Derek, Max rief Diana auf und so teilten sie erst einmal ihre Clique untereinander auf, bevor Kala überraschend meinen Namen nannte.
»Ich soll doch heute auf dich aufpassen und alles«, murmelte sie grinsend.
Ich musste lachen. »Danke, bis jetzt machst du einen sehr guten Job.«
»Jaja, Kala ist eine Heilige«, meinte Derek harsch, bevor er mich mit verengten Augen fixierte und ernst fragte: »Wie stehst du Bällen gegenüber?«
»Die aus Märchenfilmen, bei denen alle dazu gezwungen werden, zu tanzen, finde ich sehr anstrengend«, meinte ich unschuldig. »Aber auf die runden haue ich gerne drauf.«
Kala, die fröhlich weitergewählt hatte, kicherte. »Das hört sich gut an – und führ dich nicht so auf, Derek. Wir wollen Spaß haben, nicht gewinnen.«
»Wir können nicht gewinnen«, wisperte er genervt. »Weil sie Ash, Max und Diana haben.«
»Sind sie die Heilige Dreifaltigkeit des Volleyballs und im Verein oder warum stellen sich alle so an?«, wollte ich verwirrt wissen, während Ben, der Typ mit den längeren Haaren, der noch immer auf dem Boden saß, als Letztes von Max gewählt wurde. Doch es schien ihn nicht sonderlich zu stören. Seine Nägel waren immer noch interessanter als alles andere, was um ihn herum passierte … auch wenn ich es ihm nicht abkaufte. Ich hatte das Wie sehen meine Nägel aus-Spiel innerhalb der letzten Jahre schließlich perfektioniert. Ich war an meinen ersten Schultagen bereits ignoriert, unfassbar freundlich aufgenommen, aber auch in einen Mülleimer geschubst worden. Ich wusste, wie man sich benahm, wenn man mit niemandem klarkam.
Derek, der nicht bemerkt zu haben schien, dass meine Aufmerksamkeit kurzzeitig woanders lag, kratzte sich den breiten Nacken und zuckte die Schulter. »Die drei sind nicht im Verein, aber …« Er stieß einen Schwall Luft aus. »Ist egal, du wirst schon sehen.«
Und das tat ich.
Innerhalb der nächsten halben Stunde wurde mir klar, warum Ash nicht datete. Er hatte keine Wahl. Denn sicherlich wollte niemand mit ihm ausgehen – weil er nun einmal ein arroganter Kotzbrocken war. Zumindest, wenn es um Volleyball ging. Und gerade ging es um Volleyball.
Es war nicht schlimm, dass er gut war. Es war nur schlimm, dass er es wusste. Nein, dass alle es wussten und ihm die ganze Zeit begeistert zujubelten, während er leichtfüßig übers Feld tänzelte und die Bälle verteilte, als wären sie Karamellbonbons und er eine alte Dame.
Dabei war ich sehr viel beeindruckter von Diana. Sie sah mit ihren runden Wangen und schüchternem Lächeln so unschuldig und lieb aus. Doch sie hatte einen unfassbar starken Schlag, der nur von Max getoppt wurde.
Man konnte guten Gewissens behaupten, dass unser Team abgeschlachtet wurde. Und ich war leider nicht ganz unschuldig an der Sache.
Ich war keine Riesensportskanone. Ich trainierte lieber meine Augen als meine Muskeln, indem ich bis spät in die Nacht las oder Netflix bingte. Aber ich war auch nicht mies. An neuen Orten war es leichter, Freunde zu finden, wenn man irgendwelchen Clubs beitrat oder sich ein Hobby suchte, weshalb ich in Houston Teil einer Basketballmannschaft gewesen war. Das kleinere Übel zu Cheerleading oder Debattierclub. Außerdem besaß ich Ausdauer, weil ich so oft spazieren und wandern ging. Mit meiner Kamera im Anschlag neue Orte erkundete. Doch tatsächlich waren weder meine mickrigen Muskeln noch die Ausdauer das Problem. Nein, es war meine Sehkraft, die mich im Stich ließ.
»Auf der Linie!«, rief Mr Lang und gab der gegnerischen Mannschaft einen Punkt, während ich noch immer mit großen Augen auf den Fleck neben mir starrte, an dem ich den von Ash gespielten Ball einfach hatte fallen lassen. Es hatte so ausgesehen, als würde er ins Aus gehen!
Wir rotierten auf dem Feld und ich beseufzte meine eigene Unfähigkeit, bevor Diana aufschlug. Kala nahm den Ball an, spielte zu Nico, Nico zu Derek, der ihn auf die andere Seite donnerte. Doch Max bekam ihn natürlich. Er baggerte ihn zu der Asiatin namens Pru, die zu Ash pritschte. Er sprang hoch, täuschte einen seichten Schlag an, hieb jedoch in letzter Sekunde mit aller Kraft darauf. Wieder in meine Richtung. Ich gab mir nicht einmal die Mühe hinzuhechten. Denn der Ball würde auf jeden Fall im Aus landen. Er hatte viel zu fest geschlagen und … der Ball landete genau auf der Linie.
»Punkt für Max’ Team«, kommentierte Mr Lang und nickte anerkennend.
Ungläubig starrte ich zum Ball und schüttelte den Kopf. Wer konnte solch ein Glück haben?
»Hör mal, New Girl«, meinte Derek genervt und sah mich düster an. »Nimm Ashs Bälle einfach an, okay? Sie sind immer drin. Verlass dich einfach darauf.«
Ich schnaubte. »Nein!«
»Doch«, beharrte er.
»Oh bitte«, meinte ich missmutig. »Der Kerl ist so arrogant, er wird sich früher oder später überschätzen. Niemand ist unfehlbar.«
»Doch, bin ich«, bemerkte eine dunkle Stimme. Ash, der direkt am Netz stand. Die Miene gespielt ernst, die Hand unschuldig auf die Brust gelegt. »Meine Zielsicherheit wird nur von meiner maßlosen Eleganz übertroffen.«
Ich verdrehte die Augen und verschränkte die Arme vor dem Körper. »Leute, die offenbar in ihre Gartenzäune rennen, sollten nicht so weit den Mund aufreißen, wenn es um ihre Eleganz und Zielsicherheit geht«, bemerkte ich trocken und gestikulierte zu seinem Knie.
»Sei kein Arsch, Ash«, meinte Diana seufzend. »Und du machst das schon, Billie.« Aufmunternd nickte sie mir zu – obwohl ich im gegnerischen Team war. Ash schnaubte amüsiert. Und ein wenig mitleidig, wenn ich das bemerken durfte.
Mein Mittelfinger juckte, doch ich riss mich zusammen. Gott, der Kerl regte mich auf! Mit zusammengepressten Lippen schnappte ich mir den Ball und wandte Ash den Rücken zu, bevor ich mich zum Aufschlag hinter die Linie stellte.
Ich brachte den Ball übers Netz, doch er eierte lustlos durch die Luft und war viel zu hoch … Ash sprang vom Boden, schlug ihn hart und schnell übers Netz und er besaß die Dreistigkeit noch nicht einmal in die Richtung zu sehen, in die er spielte. Nein. Stattdessen sah er unschuldig lächelnd zu mir.
Ich ballte die Hände zu Fäusten und schabte die Zähne übereinander, während das Blut in meinen Ohren rauschte. Oh, dieser blöde, eingebildete …
»New Girl! Dein Ball«, bellte Derek.
Ich riss den Blick von Ash los, sah zu dem sich drehenden Volleyball, der auf die Linie neben mir zusegelte … doch bewegte mich nicht. Der konnte unmöglich drin sein!
»New Girl! Nimm ihn einfach an!«, brüllte jetzt auch Nico.
Doch ich dachte nicht einmal daran. Stur blieb ich an Ort und Stelle stehen, erdolchte Ash mit meinen Blicken, während der Ball sich um sich selbst drehte, dem Boden näher kam und … im Aus landete.
»Seht ihr! Sag ich doch«, meinte ich zufrieden und blickte triumphierend zu Ash – der mit geweiteten Augen und offenem Mund auf den Ball starrte.
Ich schnaubte. Oh, bitte. Er sah aus, als hätte ich den Ball mithilfe eines Flammenwerfers von der Linie geblasen. Als hätte er noch nie im Leben einen Fehler gemacht. Ein wenig dramatisch, wenn man mich fragte.
Doch anscheinend war ich allein mit der Meinung, denn er war nicht der Einzige mit schockierter Miene. Neben ihm stand Max, der die Hand über den Mund gelegt hatte, als wäre er Zeuge eines tödlichen Unfalls geworden, und Dereks Augen quollen so weit aus ihren Höhlen, dass sie gleich zu Boden springen und hinter dem Volleyball herrollen würden. Anscheinend waren alle es hier gewöhnt, dass Ash immer brillierte.
»Guck nicht so, Mr Unfehlbar«, murmelte ich, lief auf dem Feld vor und hob einen Mundwinkel. »Dir bleiben doch immer noch deine Eleganz … und deine hübschen Knubbelknie.«
Nach dem Sportunterricht ging es weiter zu Geschichte, dann Spanisch, beides mit Kala und Diana, die selbst in der Mittagspause, während wir in der Cafeteria in der Schlange standen, noch immer darüber redeten, dass das heute Morgen die epischste Sportstunde seit einem Jahrzehnt gewesen war.
»Ich weiß, ich war in Ashs Team«, meinte Diana und schob sich ihre langen Rastalocken über die Schulter, damit sie nicht in das Essen auf ihrem Tablett fielen. »Aber es hat Spaß gemacht zu sehen, wie er versagt. Und sei es nur einmal.«
»Ich würde einen Ball im Aus jetzt nicht als Versagen bezeichnen«, meinte ich amüsiert und betrachtete kritisch das Gemüse auf meinem Teller, das neben einem Blob Kartoffelpüree und ein paar angekohlten Würstchen lag. Ja, das Schulcafeteriaessen war bis jetzt in allen sieben Staaten, in denen ich gewohnt hatte, eklig gewesen.
»Oh, doch. Für Ash ist es das«, sagte Kala ernst.
»Ja«, stimmte Diana zu. »Aber sein Ego hat es einfach manchmal verdient, einen kleinen Klaps zu bekommen. Es war also wundervoll … und wie kann es sein, dass du jetzt schon Tinte auf deinem Shirt hast, Kala?«
»Was? Oh.« Kala sah an sich hinunter und kratzte sich den Kopf. Ihr weißes T-Shirt sah aus, als habe jemand sie mit einem Füllhalter erstochen. »Ups. Wann ist das denn passiert? Na ja, es ist irgendwie Kunst, oder?«
Diana prustete. »Nur, weil du gut malen kannst, ist nicht alles, was deine Hände verrichten, Kunst. Billie, ich gebe dir einen Tipp«, fügte sie dann hinzu und beugte sich im Gehen zu mir vor. »Immer, wenn Kala etwas mit Tomatensoße isst – nimm einen Platz ganz weit von ihr entfernt. Sonst musst du dich danach umziehen.«
Kala verdrehte die Augen, grinste jedoch. »So schlimm bin ich nicht. Aber ja, heute bist du sicher.« Sie sah auf ihren Teller, auf dem dieselbe Kartoffelgrütze wabbelte wie bei mir.
»Auch vor einer Lebensmittelvergiftung?«, fragte ich zweifelnd.
Diana kicherte. »Solange du die Konsistenz ignorierst, ist es eigentlich ganz lecker.«
Ich musste ihr wohl vertrauen – weil ich die Konsistenz sicherlich nicht ignorieren konnte.
Wie automatisch steuerten wir auf einen runden Tisch in der Cafeteria zu, an dem bereits Derek, Rhett, die Zwillinge sowie Max und Ash saßen. Jap, sie waren eine feste Clique. Ich war nur noch nicht ganz dahintergekommen, welche.