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Noch nie waren Zwerge knorziger, Elfen arroganter und Orks verschlagener. Die große Völkerkriege-Trilogie geht mit ›Die Macht der Elfen‹ in die zweite Runde. Bernd Frenz schreibt deutschsprachige Fantasy vom Allerfeinsten, in der Tradition von J.R.R. Tolkien, Markus Heitz und Bernhard Hennen. Nach der Schlacht um Felsheim herrscht gespenstische Ruhe zwischen Elfen und Zwergen, bis eine Armada verbannter Orks an der Küste Garons landet. Die Invasoren bedienen sich einer verbotenen Magie, die das Land in seinen Grundfesten erschüttert. Um sich gegen den neuen Gegner zu wappnen, greifen die Elfenpriester auf verborgene Mächte zurück, ohne zu ahnen, dass sie damit den Orks in die Hände spielen. Erneut gerät der Halbelf Binek zwischen alle Fronten und muss mit seiner Gefährtin Imtje so manches Abenteuer bestehen. Zum Glück gibt es auch noch ein paar andere Helden wider Willen, die im Angesicht der Gefahr über sich hinauswachsen. Aber wo Eigennutz und Rachsucht herrschen, ist es nicht immer leicht, Freunde von Feinden und Schurken von Helden zu unterscheiden ... Mit ›Die Macht der Elfen‹ steigert Bernd Frenz den Einsatz: Elfen, Zwerge, Trolle und Orks kämpfen um ihre Heimat und um ihre Existenz. Der dritte Band, ›Die Rache der Orks‹, wird die Fantasy-Saga um die Völkerkriege abschließen. Für Leser von Markus Heitz, Bernhard Hennen, T.S. Orgel und Michael Peinkofer.
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Seitenzahl: 553
Bernd Frenz
Die Macht der Elfen
Die Völkerkriege 2
FISCHER E-Books
»Sie passieren jetzt die Senke.« Amonees Augen waren geschlossen, als sie die Ankunft der gegnerischen Unterhändler ankündigte, wie immer wenn sie sich des fremden Blickes bediente.
Nur so vermochte sie das Erdhörnchen zu kontrollieren, das jede Bewegung vor seinem Bau aufmerksam verfolgte. Radra marschierte, ihr Ziel fest im Auge, mit raumgreifenden Schritten an dem Haselnussstrauch vorbei, unter dem sich das Tier verbarg. Syrm dagegen, der mühelos mit seiner Hohepriesterin Schritt hielt, sah zur Seite. Für einen kurzen Augenblick, ein Fingerschnippen nur, bohrte sich sein Blick in den des Erdhörnchens. Obwohl er nicht die geringste Miene verzog, war sofort klar, was Syrm damit sagen wollte: Ich weiß, dass du uns beobachtest, Amonee – und ich beobachte euch.
»Und ich weiß, welche Tiere du dafür kontrollierst, du eitler Geck!« Sie bemerkte erst, dass sie die letzten Worte leise vor sich hin gemurmelt hatte, als Beldor neben ihr unruhig wurde.
»Was ist los?«, fragte er. »Sind sie etwa nicht alleine?«
Die Anspannung, unter der er stand, war groß. Sonst hätte er sich diesen Anflug von Nervosität niemals erlaubt.
»Keine Sorge, die beiden halten sich an die getroffenen Abmachungen«, antwortete sie, noch ehe sie von dem Erdhörnchen abließ, um nacheinander auf den Geist eines am Himmel kreisenden Falken und zwei in weiter Ferne umherstreifender Wölfe zuzugreifen. Was sie dabei zu sehen bekam, bestätigte ihre Worte. Die flache, weithin einsehbare Heidelandschaft, war elfenleer. Amonee entließ die Tiere aus ihrer Kontrolle, bevor sie die Augen öffnete.
Anstatt sich für ihren lautstarken Ausrutscher zu entschuldigen, sah sie zunächst an sich herab und legte anschließend ihre linke Hand auf den prall vorspringenden Bauch. »Mein Sohn hat mir einen Tritt versetzt«, sagte sie dabei.
Kleine Flunkereien dieser Art waren ihr in den letzten fünf Jahren in Fleisch und Blut übergegangen. Wie sehr sie es vermissen würde, sich auf diese Weise herausreden zu können. Und wie sehr sie sich darauf freute, ihr Kind in Händen halten zu dürfen, sobald sie es in einer Zeit zur Welt gebracht hatte, die friedlicher sein würde, als die, in der sie gerade lebten. Da fiel es leicht, auf lieb gewordene Fähigkeiten zu verzichten.
Amonee wurde zum ersten Mal Mutter, entsprechend war sie bereit, alles für das Wohlergehen ihres zukünftigen Kindes zu tun. Ganz im Gegensatz zu ihrem Gatten, dem die Einhaltung der Tradition über alles andere ging, selbst wenn deshalb das Volk der Elfen auszubluten drohte. Amonee hielt es eher mit Beldor, dem ein Ende mit Schrecken lieber war als ein Schrecken ohne Ende.
Der Hexenjäger spürte die Gedanken, die sie bewegten. »Wir tun das Richtige«, versicherte er in gedämpftem Tonfall, gerade laut genug, dass sie es verstehen konnte.
»Und wenn nicht, wäre es ohnehin zu spät, etwas zu ändern«, stellte Amonee klar, damit er wusste, dass er sich voll und ganz auf sie verlassen konnte.
Danach verfielen sie in tiefes Schweigen, weil zwischen den im Boden eingesunkenen Findlingen, die den ausgewählten Treffpunkt säumten, Radras und Syrms Köpfe auftauchten. Eher energischen als gemessenen Schrittes kamen die beiden näher. Die Königin der abtrünnigen Hohepriester und ihr junger Begleiter, der nur an dieser Verhandlung teilnehmen durfte, weil er die Gabe hatte, sich die Sinne von Tieren untertan zu machen. In diesem Punkt war er das perfekte Gegenstück zu Amonee.
Radra sah weiterhin so aus, wie sie die schwangere Elfin in Erinnerung hatte. Eine Spur zu hager, selbst für eine Angehörige ihres Volkes, mit einer ans Herrische grenzenden Durchsetzungsfähigkeit, die sich in ihren stahlblauen Augen widerspiegelte. Die feinen Linien, die Radras Gesicht durchzogen, hatten sich in den Jahren des Bürgerkrieges weiter vertieft, besonders dort, wo sie in den Hals übergingen. Beim Anblick von Amonees gewölbtem Bauch glätteten sich ihre strengen Züge ein wenig. Kein Wunder. Es gab wohl nichts, was die weichen Seiten einer Frau besser zutage förderte, als ungeborene oder kleine Kinder. Außerdem flößte Amonees Zustand der Alten Vertrauen ein. Ganz instinktiv, ohne dass sie sich dessen bewusstwurde.
Ein feines Lächeln kerbte Radras Mundwinkel ein, als sie ihren Eibenstab zwischen ihren und Beldors Füßen in den Grasboden rammte. Der runde Kristall, der in der Verdickung des Holzes steckte, war ausgesprochen beeindruckend. Wegen seiner länglichen Einschlüsse, die an zerfasernde Pupillen erinnerten, nannte ihn alle Welt das Krallenauge. Legenden besagten, dass dieser Kraftfokus aus der Pupille eines Weltenwandlers bestünde, doch daran mochte Amonee nicht glauben. Weltenwandler, das waren bloß Ammenmärchen, wie sie sich die Menschen erzählten.
»Bist du endlich bereit zu kapitulieren?«, fragte Radra in die Stille hinein.
»Ich bin bereit, alles zu tun, um unseren Konflikt zu beenden«, korrigierte Beldor.
Sein Opal, eine ebenso mächtige Kraftquelle wie das Krallenauge, schillerte bereits in den unterschiedlichsten Farben. Radra gestattete sich den Anflug eines Lächelns. »Nun, wir wissen wohl beide, wie unser Gespräch enden wird, sofern du dich an die getroffenen Abmachungen hältst.«
»Nur zwei mal zwei Elfen«, wiederholte Beldor ihre Vereinbarung. »Alle Magie soll für die Zeit unserer Zusammenkunft verboten sein. Und wenn du es wünschst, versichere ich dir auch noch, dass wir zwei euch nicht mit bloßen Händen töten werden.«
Radra ging nicht auf diese kleine Spitze ein. Sie streckte nur die Hand aus, die ihren Stab umklammerte, und sagte: »So sei es!«
Beldor tat es ihr gleich, in der Geste wie in der Formel. Als Opal und Kristall aneinanderstießen, ertönte kein Klacken, stattdessen begann es zu summen. Einen Herzschlag später vermischten sich beide Auren zu einer grünen Sphäre, die so rasch anwuchs, dass sie die vier Elfen plötzlich wie eine Kuppel überspannte. Innerhalb des Lichtdoms wurde jeder Zauber wirkungslos, bis Hexe und Hohepriester ihre magische Übereinkunft gemeinsam widerriefen. Selbst der Opal und das Krallenauge unterlagen dem Schutzbann, den sie selbst erzeugten. Damit war sichergestellt, das weder Radra noch Beldor die Blöße des anderen ausnutzen konnten.
Körperlicher Gewalt stand dagegen weiterhin nichts im Wege. In der Chronik der Elfen gab es so manches dunkle Kapitel, das von Parlamentären handelte, die sich unter der Obhut des Bannschirms an den Kragen gegangen waren oder Verstärkung hatten aufmarschieren lassen. Dank Amonees und Syrms Begabung schien Letzteres vollkommen ausgeschlossen, und dass sich eine Hochschwangere in einen Zweikampf auf Leben und Tod stürzen würde, kam selbstverständlich ebenso wenig in Frage.
Arme Radra, die nicht sehen konnte, wie die Findlinge in ihrem Rücken durchscheinend wurden. Beldors Tarnzauber, der die Orks umgab, die bereits seit Mitternacht am Boden kauerten, löste sich allmählich unter dem Schutzbann auf.
Amonee unterdrückte das schlechte Gewissen, das in ihr aufzusteigen drohte. Natürlich war es eine Spitzfindigkeit gewesen, sich auf zwei mal zwei Elfen zu berufen, wenn nur wenige Schritte entfernt eine Handvoll Orks im Hinterhalt lauerten. Und natürlich hatte Amonees Zustand das Misstrauen der Hexe eingeschläfert. Aber es ging nicht anders. Radra war einfach zu unnachgiebig in ihren Forderungen, die nicht weniger als die totale Unterwerfung ihrer Gegner verlangten.
Das sinnlose Morden, das immer wieder nur zu neuen Toten führen würde, musste endlich ein Ende haben. Schon ihrem ungeborenen Sohn zuliebe.
Amonee bemühte sich, ihren Blick auf Syrm ruhen zu lassen, trotzdem verfolgte sie aus den Augenwinkeln, wie sich die inzwischen sichtbaren Orks langsam erhoben. Zunächst wirkten ihre Bewegungen ein wenig ungelenk, doch schon nach wenigen Schritten kehrte die tödliche Geschmeidigkeit zurück, die diesen geborenen Kämpfern von Natur aus innewohnte.
Als Radras feine Ohren hörten, was sich hinter ihr zusammenbraute, war es bereits zu spät. Eine durch die Luft zischende Kettensichel traf Syrm im Nacken. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung, während der scharfe Stahl das Genick durchtrennte. Ohne einen Laut von sich zu geben, kippte er zur Seite.
Amonee fühlte heiße Blutspritzer auf ihrer rechten Wange.
»Miststück!«, schimpfte Radra, die an ihrem Eibenstab zerrte, obwohl sie genau wusste, dass sich Opal und Krallenauge erst wieder voneinander lösten, wenn beide Hohepriester es wollten oder einer von ihnen verstarb. »Elende Heuchlerin!«
Es dauerte ein wenig, bis Amonee begriff, dass die Beschimpfungen ausschließlich ihr und nicht dem nutzlos gewordenen Kraftfokus galten.
»Verdammt sollst du sein und ebenso dein nichtsnutziger …«
Aus irgendeinem Grund setzte Amonees Beteiligung am Hinterhalt der Hexe schlimmer zu als Beldors Verrat. Ihr ausgestreckter Finger deutete bereits auf den Mutterleib, aber noch ehe sie eine unheilvolle Verwünschung ausstoßen konnte, verlor Radra ihren Kopf.
Bortas, der Mächte, der den tödlichen Hieb ausgeführt hatte, ließ anschließend die blutverschmierte Waffe fallen und langte nach dem Stab der Macht. Ihn der toten Hexe zu entreißen und über seinem Knie zu zerbrechen war eins für den Orkkönig. Der grüne Schimmer, der alles umhüllt hatte, löste sich beinahe augenblicklich auf. Als das Sonnenlicht die Szene erreichte, presste Bortas bereits das lose Krallenauge fest gegen seinen Leib.
Vier seiner stärksten Krieger umringten ihn im Halbkreis, um ihn vor einem möglichen Angriff zu schützen. Dass sie dabei auf Radras Leichnam herumtrampelten, störte sie nicht.
»Das Krallenauge gehört jetzt mir«, grunzte der Ork.
»Solange ihr es nicht gegen uns Elfen einsetzt, bleibt es euch erhalten«, antwortete Beldor. »Ich stehe zu meinem Wort.«
Bortas rümpfte die Nase. Einige seiner Getreuen machten es ihm nach.
»Du hältst dein Wort?«, fragte Bortas. »So, wie du es gegenüber der Alten aus deinem Volk gehalten hast?«
»Ganz genau«, versetzte Beldor kühl. »Ich habe sie nicht belogen. Ich habe nur vergessen, eure Anwesenheit zu erwähnen. Und bis zu diesem Tage wäre wohl niemand darauf gekommen, dass ich mit euch Orks paktieren könnte.«
»So sei es!« Der Orkkönig mahlte mit seinem Unterkiefer. »Damit ist alles gesagt. Wir gehen jetzt, unser Teil der Abmachung ist erfüllt.«
Amonee kämpfte gegen bohrende Leibschmerzen an, während sich die Grünhäuter zurückzogen. Eine quälend lange Zeit fürchtete sie, dass ihre Wehen einsetzten, doch dann erfasste sie nur ein Anflug von Übelkeit, der allmählich nachließ. Amonee hatte zwar gewusst, dass Syrm und Radra sterben sollten, doch wirklich mit ansehen zu müssen, wie sie getötet wurden, war etwas anderes gewesen.
»Es musste sein.« Beldor legte seine Hand auf ihren Rücken, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Eine unter Elfen sehr seltene Geste. »Nur Radras Tod kann das Morden beenden.«
Amonee nickte.
»Denk an deinen ungeborenen Sohn«, forderte Beldor, »das wird dir helfen, über das Geschehene hinwegzukommen. Hast du schon einen Namen für ihn?«
»Ja.« Amonee lächelte, von neuer Zuversicht durchströmt. »Sein Name soll Ascan sein.«
Menschen werden nicht alt, sie sterben einfach!
Aus den Hochwald-Chroniken,Saiyl, der Weise
Lähmende Stille lastete über der Kultstätte im Steinernen Wald. Nicht einmal das Summen von Schmeißfliegen war zu hören, dabei lagen die toten Trolle, die den blutbesudelten Felsboden bedeckten, seit Tagen in der prallen Sonne. Trotz der Zeit, die seit dem Massaker an den Schamanen verstrichen war, suchte eines Fremden Auge vergeblich nach Spuren der Verwesung.
Ob von Pfeilen, Klingen und Streitkolben niedergestreckte Gestalten oder zerfetzte Körperteile, die das gefräßige Maul des Felszehrers übersehen hatte, alles wirkte, als wäre die Untat erst vor kurzem geschehen. Die magisch aufgeladenen Felsnadeln, die ringsum gen Himmel ragten, und die vielen Rituale, die dieser felsige Grund schon gesehen hatte, hielten das Geschmeiß fern, das sich für gewöhnlich an den Leichnamen gütlich tat.
Um selbst im Tode äußerlich unversehrt zu bleiben, war der Steinerne Wald der beste Ort zum Sterben. Wer hier nicht gefunden und zu Grabe getragen wurde, mumifizierte im Laufe der Zeit, denn nur die Sonne entfaltete hier ihre gewohnte Kraft. Den grauen Giganten, die überall verstreut lagen, war nicht anzusehen, das sie langsam austrockneten, doch das vergossene Blut hatte bereits allen Glanz verloren und war selbst dort, wo es tiefe Lachen bildete, vollständig ausgehärtet.
Die Sonne senkte sich bereits zum fünften Male über das Schlachtfeld, als das bedächtige Schlurfen von großen Füßen erklang. Unförmige Schemen tauchten zwischen den von Wind und Magie geschliffenen Felsnadeln auf, und je näher sie den Abbruchkanten kamen, die in den Felsabschnitt mit den Toten herabführten, desto deutlicher verfestigten sich die Umrisse zu Trollen, die den Steinernen Wald durchquerten, um nach den vermissten Schamanen zu suchen.
Vor allem die Ältesten und Mächtigsten der Priesterschaft, also jene, die das letzte Verbindungsglied in die ruhmreiche Vergangenheit ihres Volkes bildeten, hatten am Eingang zur unterirdischen Felskammer ihr Ende gefunden. Was nun vom Fuße der Tafelweiden nahte, waren ihre degenerierten Nachfahren. Novizen, die sich zwar redliche Mühe gaben, die überlieferten Rituale zu imitieren, denen es jedoch am nötigen Geist mangelte, um wirklich zu verstehen, was vor sich ging.
Am Ritualplatz angekommen, fanden Obra und die anderen ihre dunkelsten Vorahnungen bestätigt. Ungewöhnlich helle Laute entfuhren ihren Trollkehlen, als ihnen das ganze Ausmaß des Schreckens bewusstwurde. Laute des Entsetzens, die sich zu einem schrillen Chor vereinten, bis sie auf eine von Obra ausgeführte Geste hin schlagartig verstummten. Zum Jammern und Wehklagen war noch Zeit genug, zunächst mussten sie das ganze Ausmaß der Katastrophe ergründen und feststellen, ob nicht doch noch etwas zu retten war.
Obra, der Klügste unter diesen simplen Gemütern, übernahm das Kommando. Zunächst befahl er Horb und Azzizha, zur Ruhekammer vorzustoßen, um nachzusehen, wie viele Felszehrer ausgebrochen waren. Dass zumindest eine der gefährlichen Larven ihre magischen Fesseln abgeworfen hatte, erkannte er schon an den sauber abgetrennten Gliedmaßen, die überall den Boden bedeckten. Leider war dieser Anblick nicht einmal das Schlimmste. Weitaus mehr Sorge bereiteten ihm die vielen Toten, die keine Fressspuren aufwiesen, sondern massiver Waffengewalt zum Opfer gefallen waren. Demnach hatten die Priester nicht einfach nur die Kontrolle über den Felszehrer verloren, den sie mit einem neuen Schlafzauber belegen wollten, sondern waren während der Zeremonie von Unholden überfallen worden, die sich selbst auf starke Magie verstanden. Andernfalls wären die Angreifer selbst in Stücke gerissen worden.
Furchtsam näherten sich Horb und Azzizha dem kreisrunden Schlupfloch, das am Ende des natürlichen Felseinschnitts klaffte, und spähten vorsichtig hinein, bevor sie mit ungelenk wirkenden Bewegungen darin verschwanden. Die bloße Möglichkeit, dass ihnen in der Tiefe erwachte Felszehrer auflauern mochten, flößte ihnen große Angst ein. Nicht umsonst galt dieses Gebiet als tabu und durfte von Geringen wie ihnen nicht betreten werden. Aber der Tod der Eingeweihten änderte alles.
Schon allein aus diesem Grunde zweifelten sie Obras Befehlsgewalt nicht an, obwohl ihnen anzumerken war, dass sie am liebsten davongelaufen wären. Die Last der Verantwortung lag nun auf den Geringen, und ein jeder von ihnen war froh, dass es unter ihnen einen gab, der den Mut zum Vortreten aufbrachte. Lieber in den Tod geschickt werden, als selbst eine verhängnisvolle Entscheidung zu treffen! Ganz so klar umrissen mochte der Gedanke vielleicht nicht sein, doch so oder ähnlich sah das unterschwellige Gefühl aus, das ihre Handlungen beeinflusste.
Als Mondraks persönlicher Diener verstand Obra ohnehin noch am meisten von der alten Trollmagie, jedenfalls mehr als die übrigen Geringen. Für ihn war ohnehin klar, dass sie alle des Todes waren, falls sich der entfesselte Felszehrer wirklich in der Gegend herumtrieb. Die einen lediglich etwas früher als die anderen. Nur auf Obras Drängen hin hatten sich die meisten von ihnen auf den Weg gemacht, um an diesem heiligen Grund nach dem Rechten zu sehen, und wer seine Autorität anzweifelte, war ihm erst gar nicht gefolgt.
Auch Obra spürte eine lähmende Angst in den Knochen, doch er setzte sich in Bewegung, ganz einfach weil er es musste. »Helft mir, die Toten zu bergen«, verlangte er dabei über die Schulter hinweg, »damit wir sie an einem würdigeren Platz bestatten können.«
Viele der ringsum versammelten Trolle sahen beklommen zu der sauber aus dem Felsboden gefressenen Öffnung hinüber, die in das Gangsystem vor der Ruhekammer führte. Sollten sie Schreie aus der Tiefe hören, würde es um sie geschehen sein. Der vernichtenden Kraft der gefräßigen Larven hatte keiner von ihnen auch nur das Geringste entgegenzusetzen. Wenn es der Wille der Berggötter war, würden sie sterben. So lautete das harte Gesetz der Steinernen, die zum Anbeginn aller Zeiten den Mächten des Feuers trotzen mussten, um den Trollen eine lebenswerte Welt zu erschaffen.
Mochten die Lasten, die ihnen die Steinernen aufbürdeten, manchmal auch ungerecht und schwer erscheinen, so hielten sie doch immer wieder ihre schützenden Händen über das große Bergvolk, deshalb machten sich schließlich alle Trolle daran, Obras Beispiel zu folgen. Mit bedächtigen Bewegungen, die ihre massigen Körper tapsiger wirken ließen, als sie in Wirklichkeit waren, stiegen sie die Felshänge herab und begannen damit, blutige Körperteile aufzusammeln und zu einem Haufen aufzuschichten. Die Leiber der von Hand Erschlagenen reihten sie dagegen nebeneinander auf.
Während die anderen ihre leblosen Brüder über den rauen Felsboden schleiften, irrte Obra suchend umher. Der forschende Blick seiner traurigen Augen galt dem schlohweißen Haar, das Mondraks Haupt umflorte. Der treue Diener wollte einfach nicht glauben, dass der mächtigste ihrer Schamanen zu denen gehörte, die in dem Magen des entfesselten Felszehrers gelandet waren. Das hätten die Berggötter niemals zugelassen, davon war Obra überzeugt. Als er seinen Herrn und Meister endlich auf dem Ritualplatz entdeckte, fühlte er sich in seinem Glauben bestätigt. Erleichtert lief er auf die reglos daliegende Gestalt zu, die äußerlich unversehrt am Boden lag. Kein Zahn und keine Klinge hatten den hageren Alten versehrt, nur eine trollfaustgroße Stelle an seinem nackten Brustkorb war seltsam dunkel verfärbt, als wäre er dort mit einer rußenden Fackel in Berührung gekommen.
»Meister!« Unter leisem Seufzen sackte Obra neben dem Toten auf die Knie. »Warum nur? Warum hast du uns verlassen?«
In einer hilflosen Geste streckte er seine Hände aus und tastete mit ihnen über Mondraks Körper, als wollte er ihn mit Gewalt zurück ins Leben zerren. Dabei waren seine magischen Fähigkeiten so gering, dass er nicht einmal imstande gewesen wäre, eine kleine Maus wiederzubeleben, geschweige denn einen toten Schamanen.
Die starken Finger des Dieners kneteten die noch intakten Arme seines Herrn, die im Schatten der magisch aufgeladenen Felsnadeln überraschend geschmeidig geblieben waren. Auch der nackte Oberkörper fühlte sich an, als wäre der Oberste Schamane lediglich bewusstlos. Aber das war nur Einbildung. Obra spürte weder einen Herzschlag noch das winzigste Anzeichen einer Atmung, obwohl er seine flachen Hände auf die Herzgegend legte und auch den Bereich über den beiden Lungenflügeln abtastete. Gerade bei einem Troll, der so mager wie Mondrak war, wäre es nicht zu übersehen gewesen, wenn …
Obra!
Erschrocken riss der Diener seine Hände zurück. Er wusste nicht, wie das möglich sein konnte, doch die Stimme, die seinen Namen aussprach, hatte ganz nach Mondrak geklungen. Die raue Stimme des Alten war unverwechselbar.
Unsicher sah er in die Runde, um zu prüfen, ob sich keiner der anderen Trolle einen bösen Streich mit ihm erlaubte, doch alle anderen waren mit der Bergung der Toten beschäftigt. Ohnehin war keiner von ihnen fähig, an eine solche Geschmacklosigkeit auch nur zu denken. Nicht hier, auf heiligem Grund, in unmittelbarer Nähe zur Ruhekammer.
Außerdem bestand für ihn kein Zweifel daran, dass er die Stimme nicht etwa mit den Ohren gehört hatte, sondern dass sie direkt in seinem Kopf erklungen war. Fast so, als ob …
Ungläubig starrte er auf den Leichnam hinab, vor dem er kniete. Konnte es sein, dass doch noch so etwas wie Leben in ihm steckte?
Vorsichtig, als liefe er Gefahr, sich an dem Brustkorb des Obersten Schamanen zu verbrennen, senkte er seine Hände in die Tiefe. Statt glühender Hitze spürte er zum Glück nur rissige Haut unter seinen empfindsamen Fingerkuppen. Er schalt sich selbst einen Narren.
Natürlich! Diese Stimme in seinem Kopf war nur Einbildung gewesen, hervorgerufen von seinem innigen Wunsch, Mondrak möge sie weiterhin mit der alten Weisheit führen, die nach seinem Tode für alle Zeiten verloren war. Der Gedanke an den großen Verlust, den das ganze Volk der Trolle erlitten hatte, erfüllte Obra mit abgrundtiefer Trauer.
Mühsam kämpfte er gegen ein Schluchzen an, das in ihm aufsteigen wollte. Zum Glück traten gerade zwei Kameraden näher, um ihm mehrere Pfeile und eine Klingenspitze zu zeigen, die sie in den Körpern der Erschlagenen gefunden hatten.
»Elfenpfeile«, sagte der erste von ihnen und schüttelte dabei verständnislos den Kopf.
»Und die Spitze einer abgebrochenen Kettensichel«, fügte der andere hinzu, bevor er fortfuhr: »Elfen und Orks, die Seite an Seite kämpfen – wie passt das zusammen? Haben sich die beiden Völker miteinander verbündet, um dem unseren den Garaus zu machen?«
»Nein«, antwortete Obra mit einer Gewissheit, die ihn selbst überraschte. »Es war nur ein einzelner Elf, der an der Seite der Orks gekämpft hat. Einer jener Entwurzelten, die sich für jeden verdingen, der genügend Sold bezahlt.«
Die beiden vor ihm stehenden Trolle wichen erschrocken zurück und starrten ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Obra konnte ihnen das nicht übelnehmen. Ihm lief es ja selbst eiskalt den Rücken hinunter, angesichts der Stimme, mit der er gesprochen hatte.
Der Stimme von Mondrak.
Alles in Obra schrie danach, die Hände vom Körper des Toten zu reißen und sie sich unter die Achseln zu pressen, doch sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht. Jeder einzelne Muskel war wie gelähmt. Erst da ging ihm auf, dass er jede Kontrolle über seinen eigenen Körper verloren hatte, weil ihn ein fremder Geist als Sprachrohr benutzte.
»Mondrak!« Der Troll, der die Wahrheit genauso schnell wie Obra begriffen hatte, ließ vor Schreck die Elfenpfeile fallen. Dadurch wurden auch die letzten der umstehenden Giganten auf ihr Gespräch aufmerksam.
Jene, die näher zu ihnen standen oder knieten, starrten bereits ungläubig herüber, denn sie hatten die Stimme des Greises ebenfalls erkannt. Aus einem fernen Winkel seines Verstandes verfolgte Obra gebannt, wie er erneut das Wort ergriff.
»Um den Elf und die Orks müssen wir uns die wenigsten Sorgen machen«, hob er an, diesmal so laut, dass ihn alle verstehen konnten. »Am gefährlichsten ist der Nekromant, dem sie dienen. Ich konnte kurz in sein Herz sehen, als er mich niederstreckte. Es ist durch und durch verdorben, erfüllt von unstillbarer Gier, die alles Lebende verschlingen will.«
Von allen Seiten kamen die Geringen angelaufen, wie einzelne Speichen, die auf eine Radnabe zustrebten. Nicht alle mochten recht glauben, was gerade vor sich ging.
»Was fällt dir ein, elender Frevler?«, grunzte einer aus der Menge. »Denkst du wirklich, du kannst dich zum Obersten Schamanen aufschwingen, indem du deine Stimme verstellst? Nie und nimmer glaube ich, dass aus dir der reglose Mondrak spricht. Hinfort mit dir, du Strolch, bevor ich dich zur Strafe in der Mitte durchbreche.«
Obra hätte der Aufforderung am liebsten sofort Folge geleistet, denn jener, der da zu ihm sprach, war kein anderer als Gambu, der stärkste, aber auch ungeschlachteste der Geringen, den sie in ihren Reihen duldeten. Seine Drohung, einem anderen Troll das Kreuz zu brechen, war also ernst zu nehmen, doch Obra konnte sich noch so sehr bemühen, es gelang ihm einfach nicht, sich zu rühren, geschweige denn, ein Wort der Mäßigung zu stammeln.
Das war auch nicht notwendig. Wer außer Mondrak wäre wohl besser in der Lage gewesen, diesen Grobian in seine Schranken zu weisen?
»Schweig still, du Klotz!«, forderte die Stimme in Obras Kehle mit solchem Nachdruck, dass Gambu mitten im Schritt innehielt. »Der Nekromant hat einen der Felszehrer in seine Gewalt gebracht. Gelingt es ihm, die Larve für seine Pläne einzuspannen, ist nicht nur Bandor dem Untergang geweiht, sondern auch alle angrenzenden Reiche, womöglich sogar die ganze uns bekannte Welt. Schafft mich deshalb schnellstmöglich in die Große Himmelskammer, damit das, was von uns geblieben ist, noch für uns kämpfen kann. Mag unser Volk auch dem Niedergang geweiht sein, noch liegt der Tag, an dem der letzte Troll für immer die Augen schließt, in weiter Ferne.«
Die meisten zeigten sich von diesen Worten ergriffen, nur Gambu trommelte sich wild auf die Brust, zum Zeichen, dass er all seinen Mut zusammennahm, um seinen Drohungen wirklich Taten folgen zu lassen.
»Die übrigen Felszehrer wurden in der Ruhekammer eingeschlossen«, fuhr Mondrak ungerührt fort. »Von ihnen geht im Moment keine Gefahr aus, doch der Nekromant wird auf sie zugreifen, sobald er die Zeit dafür gekommen hält. Fragt Horb und Azzizha, wenn ihr mir nicht glaubt.«
Sofort richteten sich alle Augen auf den Tunneleingang, der jedoch verwaist blieb. Erst nach zahllosen Herzschlägen zeichneten sich im Inneren undeutliche Bewegungen ab. Diffuse Schemen, aus denen allmählich die zurückkehrenden Späher wurden, die verdutzt stehen blieben, als sie die aufmerksamen Gesichter ihrer Brüder bemerkten.
»Was habt ihr entdeckt?«, rief Gambu, der es vor lauter Neugierde kaum aushielt.
»Nichts weiter!«, lautete die Antwort. »Die Gänge sind wie ausgestorben. Wir sind nur auf eine unsichtbare Barriere gestoßen, die den Zugang zur Ruhekammer versperrt. Soweit wir sehen konnten, befinden sich die Larven dahinter weiterhin im Tiefschlaf.«
Gambu gefiel nicht, was er da hörte, trotzdem ließ er die angriffslustig erhobenen Fäuste sinken.
»Das magische Siegel des Nekromanten, von dem ich gesprochen habe«, erklärte Mondrak dazu. »Nun weiß hoffentlich auch der Letzte von euch, mit wem wir es zu tun haben. Und nun trödelt nicht länger, denn die Zeit drängt. Obra soll einige von euch auswählen, mit denen er mich in die Große Himmelskammer schaffen kann. Alle anderen schaffen die Gefallenen nach Hause, um sie am Fuße der Tafelweiden würdig zu bestatten.«
»Ausgerechnet die Himmelskammer des Sperrforts.« Ein tiefes Seufzen begleitete Gambus Worte. Der Koloss ahnte bereits, dass er zu denen gehören würde, die für den Transport des leblosen Schamanen auserkoren waren. »Das wird ein langer und sehr beschwerlicher Weg werden.«
Falls er jedoch gehofft hatte, Mondrak würde ihm dafür Trost spenden, sah er sich getäuscht. Denn Obra, der schon die ganze Zeit über versucht hatte, die Verbindung zu seinem Meister zu lösen, flog jäh nach hinten. Endlich war er wieder Herr über seinen eigenen Körper. Keuchend sprang er in die Höhe, um den Abstand zu vergrößern. Niemand nahm es ihm übel.
»Mondrak hat durch dich zu uns gesprochen«, versuchte ihm einer der anderen unnötigerweise zu erklären.
»Ich weiß«, antwortete Obra, sah dabei aber genauso verwirrt aus wie zuvor. »Mein Geist war die ganze Zeit über wach, wenn auch gefangen wie in Ketten.«
Langsam wieder zur Ruhe kommend, sah er auf den Obersten Schamanen herab, der weiterhin wie tot vor ihm lag.
»Wie ist das alles bloß möglich?«, fragte Gambu, der sein Misstrauen inzwischen begraben hatte.
Obra kannte die Antwort, denn er hatte während der geistigen Verbindung noch weitere Erinnerungen in Mondrak aufblitzen sehen. »Der Energiestoß des Nekromanten hat nur die sterbliche Hülle unseres Meisters bezwungen«, erklärte er. »Das wahre Ausmaß seiner Kräfte blieb ihm hingegen verborgen. Das müssen wir uns zunutze machen, oder die Welt, wie wir sie kennen, wird untergehen.«
Dass er noch mehr gesehen hatte, behielt er wohlweislich für sich. Denn alleine die Erwähnung des Krallenauges hätte blankes Entsetzen bei den anderen auslösen können.
Kopfüber fiel Binek in die Tiefe. Mit hinter dem Rücken festgebundenen Armen stürzte er senkrecht den Schacht hinab, vorbei an gebogenen Steigeisen, die links und rechts aus dem Fels ragten. Die unter ihm verlaufende Wasserader erwartete ihn mit kaltem Glitzern.
Von einem massiven Gesteinsbett umgeben, rauschte und strudelte der Wildlauf gefährlich schnell dahin. Er würde jämmerlich in ihm ertrinken, so viel stand fest. Gegen eine so starke Strömung vermochte sich selbst ein geübter Schwimmer nur schwer zu behaupten, und Binek, der schon Mühe hatte, sich in einem stillen Tümpel über Wasser zu halten, behinderten dazu feste Stricke, die ihm tief in die Handgelenke schnitten.
Vermutlich wäre es das Beste für ihn gewesen, sich seinem Schicksal zu ergeben. Einfach mit dem Gesicht voran auf die Oberfläche zu schlagen und sich beim Aufprall den Hals zu brechen. Das hätte den bevorstehenden Todeskampf zweifellos verkürzt, doch seine Überlebensinstinkte liefen diesem Gedanken zuwider.
Gleich einem Insekt, das den stachelbewehrten Unterleib krümmt, drehte er sich um die eigene Achse, bis er waagerecht fiel. Trotz der langjährigen Übung als Fassadenkletterer war es nur dem Elfenbein in seinem Körper zu verdanken, dass er dieses Manöver zustande brachte. Sich danach ruckartig auszustrecken und mit Schultern und Füßen gegen die runden Schachtwände zu stemmen war für ihn eins.
Seine Schuhsohlen radierten über den steil abfallenden Fels, ebenso die Schulterpartien des Lederharnisches. Der mausgraue Umhang, den er darüber trug, zerriss laut vernehmlich in Fetzen. Gleichzeitig erlitt er Abschürfungen am Hinterkopf, obwohl er sein Kinn fest auf die Brust presste, um sich vor scharfkantigen Vorsprüngen zu schützen.
Glühend heiße Stiche fuhren ihm durch den ganzen Körper, doch die Angst vor dem Ertrinken war stärker als der Schmerz. Keuchend stemmte sich Binek gegen den freien Fall, bis Fleisch und Wille über die an ihm zerrende Schwerkraft triumphierten.
Schweiß bedeckte sein vor Anstrengung verzerrtes Gesicht, während er in der unbequemen Haltung verharrte. Hastig zwinkerte er mit den Augenlidern, um den durch Steinstaub getrübten Blick zu klären. Einen kurzen Aufschub hatte der Halbelf herausgeschunden, mehr nicht. Obwohl ihm das schmerzlich bewusst war, setzte er alles daran, seine Überlebenschancen zu erhöhen.
Vergeblich drehte Binek die Hände gegeneinander, um mit seinen Fingern an die Fesseln zu gelangen. Doch der Mann, der ihn umzubringen versuchte, war ein erfahrener Waldläufer, der sich auf den Umgang mit Knoten verstand. Legte einer wie Velb Stricke an, dann konnte sich kein Gefangener von alleine befreien.
Eingesperrt in ein Verlies hätte Binek das Seil wohl an einer scharfen Kante durchscheuern können, doch ohne festen Halt in dem kreisrunden Schacht steckend, der Gohliks Erdhöhle mit einem unterirdischen Fluss verband, war das ein aussichtsloses Unterfangen. Bereits bei dem Versuch, nach den strammen Knoten zu tasten, geriet er mit den Schultern ins Rutschen. Sofort verharrte er völlig regungslos, um seine Lage nicht weiter zu verschlimmern. Was sollte er stattdessen tun, in der kurzen Zeit, die ihm bis zum Erlahmen seiner Kräfte verblieb?
Gelbstichiger Lichtschein sickerte durch den Einstieg herab. Selbst zehn Königsellen unterhalb der runden Öffnung war es hell genug, dass er die in den Fels getriebenen Steigeisen sah, die matt schimmernd aus der Dunkelheit hervortraten. Fieberhaft überlegte Binek, ob er es wagen sollte, seinen linken Fuß unter einen der Bögen zu klemmen. Brachte ihn das weiter? Und falls ja, war es wirklich das Risiko wert, dabei abzustürzen? Ein Schatten, der das über ihm einfallende Licht verdunkelte, entband ihn von einer Entscheidung.
»Warum machst du es uns beiden so furchtbar schwer?«, fragte Velb, der wohl vergeblich auf den klatschenden Einschlag eines ins Wasser stürzenden Körpers gewartet hatte. »Stirb endlich, damit die Quälerei ein Ende hat.«
»Hilf mir!«, bettelte Binek angesichts seiner verzweifelten Lage. »Noch ist Zeit für dich, auf den rechten Pfad zurückzukehren. Ich will auch vergessen, was du mir antun wolltest, wenn du nur …«
»Du dummer Junge!«, unterbrach ihn der Waldläufer mitleidig. »Weißt du eigentlich, wie du dich gerade anhörst? Selbst wenn du deinen eigenen Worten jetzt Glauben schenkst, wird sich deine Meinung ändern, sobald du dich in Sicherheit wähnst. Nein, hör mir zu. Wer so weit gegangen ist wie ich, für den gibt es kein Zurück mehr.«
Das waren harte, unbarmherzige Worte, die aber auch einen wahren Kern enthielten. Tief in seinem Inneren ahnte Binek sehr wohl, dass er in diesem Moment alles erzählt hätte, was Velb hören wollte, nur um wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Sogar, dass er sich mit dem ehemaligen Weggefährten auf die Seite der Orks schlagen würde – obwohl das für ihn genauso wenig in Frage kam, wie einen Mord im Auftrag der Dunklen Gilden zu begehen.
Velbs Gesicht verschwand. Anstatt den schweren Felsdeckel über den Einstieg zu schieben, rumorte der Waldläufer in Gohliks Höhle herum. Unterdrücktes Keuchen erklang, das Binek weitaus mehr Angst einflößte als eine einfache Drohung.
»Vertrau mir!«, rief Binek in die Höhe. »Du hast mich vor Drokk und Marzz gerettet, dafür bin ich dir etwas schuldig.«
Gleichzeitig streckte er seine Arme in die Tiefe und presste sie so fest wie möglich gegen die Schachtwölbung. Leider gelang es ihm nicht, genügend Druck auszuüben, um die Stricke durchzuscheuern. Außerdem fehlte es ihm an der nötigen Zeit. Velb kehrte bereits an den Rand des Einstiegs zurück, diesmal aufrecht stehend, einen Amboss fest an den Oberkörper gedrückt.
Für schwere Schmiedearbeiten war der Metallblock zu klein. Gohlik musste darauf Kochgeschirr gefertigt haben, vielleicht auch feine Ketten für die Anhänger, die er auf seine alten Tage geschnitzt hatte. Auf jeden Fall war der ellenlange Amboss schwer genug, um einem Mann sämtliche Knochen im Leib zu zerschmettern, wenn er aus größerer Höhe auf ihn herabfiel.
Binek spürte, wie ihm heißer Schweiß über den Nacken rann. Er wollte noch etwas rufen, doch jedes Wort kam schon zu spät.
In Velbs Augen blitzte es entschlossen auf. Der Amboss entglitt seinen Händen mehr, als dass er ihn gezielt warf, trotzdem raste das Gewicht geradewegs auf Binek zu. Plötzlich wusste das Halbblut, was noch schlimmer war, als gefesselt zu ertrinken: gefesselt und mit zertrümmerten Knochen zu ertrinken!
Instinktiv drehte er sich zur Seite, um dem massiven Geschoss zu entgehen. Dabei krümmte er seinen Leib so stark, dass er die Bahn freigab, allerdings verlor er dadurch auch den Halt an Schultern und Füßen. Binek spürte, wie der Amboss seinen ärmellosen Harnisch streifte, kurz bevor er vollends abrutschte und hintendrein stürzte.
Obwohl es der Halbelf war, der sich bewegte, sah es so aus, als flöge der Fels an ihm vorüber. Sein verzweifelter Versuch, neuen Halt zu finden, schlug fehl, da der Schacht immer breiter und breiter wurde, bis er übergangslos in einer Felsgrotte aufging.
Binek sah noch, wie der Amboss vor ihm ins Wasser stürzte, bevor er selbst folgte. Eine Wasserfontäne spritzte auf, wo er in den reißenden Fluten versank.
Ein in den Berg geschlagener Sims säumte das Ufer, an dem ein kleiner Kahn vertäut war, das war das Letzte, was Binek aus den Augenwinkeln erblickte, bevor die kalten Fluten über ihm zusammenschlugen. Der Aufprall war schmerzhaft. Ohne den Harnisch hätte er wohl das Bewusstsein verloren. Trotzdem glühte sein Rücken, als hätte er sich mit nacktem Oberkörper in ein Brennnesselfeld geworfen. Die reißende Strömung zerrte ihn mit sich.
Verzweifelt kämpfte das Halbblut gegen die wild auf ihn eindringenden Kräfte an. Der kleine Holzkahn! Falls er den erreichte, gab es noch eine Chance auf Rettung!
Das kalte Wasser stach Binek empfindlich in die Augen. Blindlings strampelte er mit den gefesselten Beinen, von der vagen Hoffnung beseelt, näher ans Ufer zu gelangen, während die Strömung ihn mit sich riss. Die instinktiv gewählte Richtung erwies sich als die richtige. Er kam besser voran als erwartet. Prompt stieß er mit seinem Hinterkopf gegen die Unterseite des Bootes.
Bineks Muskeln erschlafften. Zwischen seinen Lippen strömte kostbare Atemluft hervor. Einen Herzschlag später schrammte er unter dem Heck entlang, und ehe er recht wusste, wie ihm geschah, war der rettende Kahn wieder außerhalb seiner Reichweite.
Aus! Vorbei! Die letzte Möglichkeit, einen Halt zu finden, war endgültig dahin! Damit konnte er jede Hoffnung auf Rettung begraben.
Trotzdem bäumte sich Binek im Wasser auf. Er setzte alles daran, erneut nach Atem zu schöpfen. Gierig sog er frische Luft in seine Lungen, schluckte aber auch viel Wasser, als ihn die Strömung erneut in die Tiefe zog.
Der Halbelf versuchte, einen aufsteigenden Hustenreiz zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht. Von Krämpfen geschüttelt, verlor er erneut kostbare Atemluft. Stoßweise stiegen die Blasen von seinen Lippen auf, während er selbst immer tiefer sank – bis sich irgendetwas in seinen Haaren verkrallte und ihn mit aller Gewalt in die Höhe zerrte.
Prustend stieg Binek aus den schäumenden Fluten und landete mit dem Brustkorb voran auf der Steinkante, die entlang des trockenen Gewölbes verlief. Von der untersten Eisensprosse an, am vertäuten Ruderboot vorbei, führte sie tiefer in die Dunkelheit.
»Dich darf man aber auch keinen Tag alleine lassen«, tadelte eine leise Stimme, während er eine überraschend zarte, aber dennoch kräftige Hand spürte, die ihn noch weiter ins Trockene wuchtete.
Zunächst sah Binek kaum mehr als eine abgestellte Laterne, die seine Umgebung mit flackerndem Kerzenschein ausleuchtete. Während er mit den Lidern zwinkerte, um einen klaren Blick zu bekommen, spürte er scharfen Stahl zwischen den Unterarmen. Zwei schnell ausgeführte Schnitte befreiten ihn von seinen Handfesseln. Kurz darauf konnte er auch die Füße frei bewegen.
Mühsam kauerte er sich auf allen vieren zusammen und spuckte das restliche Wasser aus, das in seine Atemwege gedrungen war. Dabei fiel sein Blick auf zwei nackte Frauenbeine, die vor ihm in die Höhe wuchsen. Die Messerklinge, die ihn befreit hatte, glitt gerade in eine an der rechten Wade getragene Lederscheide zurück.
»Ihr Kerle seid doch alle gleich«, bekam er zu hören. »Gerade erst dem Tod entronnen, gafft ihr schon wieder unter den nächsten Weiberrock.«
»Imtje?«, stieß er hervor.
Schon einen Lidschlag später kniete die junge Zwergenfrau vor ihm und umfasste sein kaltes Gesicht mit beiden Händen. »Oh, du Lieber!«, flüsterte sie ergriffen, ehe sie seine Wangen mit flüchtigen Küssen bedeckte. »Schlägt dein Herz für mich so sehr, dass du mich bereits am Anblick meiner wohlgeformten Knöchel erkennst?«
Unversehens überschattete ein strenger Zug ihren Blick. »Allerdings ist das auch dein Glück, dass du es nur weißt!«, fuhr sie fort. »Hättest du mich gerade Avea, Neene oder wie eine dieser anderen storchenbeinigen Elfenweiber genannt, hätte ich dir glatt beide Augen ausgekratzt!«
Noch während sie sprach, kehrte der schelmische Ausdruck zurück, den sie so gern zur Schau trug. Ihre Eifersucht und die damit verbundenen Drohungen waren nur gespielt, so weit durchschaute er sie bereits. Zumindest hoffte Binek das inständig.
»Wie …?«, brach es aus ihm heraus, und zwar so laut, dass sich das Wort über das Rauschen des Wildlaufs hinweg als Echo von den Wänden fortpflanzte. Er hatte seine Stimme noch nicht richtig unter Kontrolle, trotzdem setzte er erneut an, um zu fragen: »Wie kommst du hierher?«
Schon während er sprach, presste ihm Imtje einen Zeigefinger auf die Lippen.
»Still, sonst hört Velb uns am Ende noch!«, forderte sie leise. »Und mir scheint, es wäre wohl besser, wenn er dich vorläufig für tot hielte. Komm, wir suchen uns einen Platz, an dem wir ungestört miteinander reden können.«
Ehe er zu widersprechen vermochte, nahm sie die Lampe mit den rußgeschwärzten Gläsern auf und zog seinen linken Arm über ihre Schultern. Als er sich mit Imtjes Hilfe aufrichtete, war Binek zunächst ein wenig wacklig auf den Beinen. Doch schon wenige Schritte später konnte er wieder alleine gehen.
Der Weg war eigentlich zu schmal für zwei nebeneinanderlaufende Personen, trotzdem nahm ihn Imtje bei der Hand und führte ihn bis zu einer Ecke, hinter der die Einmündung eines wesentlich ruhigeren Wasserarms verborgen war. Als sie dem sich dort fortsetzenden Sims folgten, ebbte das Getöse des rauschenden Wildlaufs allmählich ab.
Binek begann, in seiner durchnässten Kleidung zu frieren, klagte aber mit keinem Wort. Die Zwergenfrau aus Felsheim hatte recht. Sie mussten Abstand gewinnen, bevor sie miteinander berieten, was als Nächstes zu tun war.
Der begehbare Vorsprung endete an einer natürlichen Grotte, in der ein kleiner Kahn vor Anker lag. Die dunkle Felsaushöhlung schützte das Gefährt vor zufälligen Blicken. Erst als sie unmittelbar davorstanden, zeichneten sich schemenhafte Umrisse im Laternenschein ab.
Vor ihnen lag eines der flach geschnittenen Boote mit niedrigem Tiefgang, wie sie die Zwerge gerne benutzten, um das Wasserlabyrinth zu befahren, das ganz Graugard unterirdisch durchzog. Bei seinem Besuch in Felsheim waren Binek zahlreiche Wasserknechte begegnet, die sich, je nach Tiefe und Strömungsgeschwindigkeit, mit Hilfe von Stakhölzern oder Rudern vorwärtsbewegt hatten. Außer Imtje war niemand zu sehen. Offensichtlich hatte sie den weiten Weg von der Nekropole bis zu Gohliks Erdhöhle alleine bewältigt.
Die Selbstverständlichkeit, mit der sie einige Felle von Bord holte, ließ nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass es sich um ihren Kahn handelte. Während das Heck durch ein ausgeworfenes Bleigewicht an Ort und Stelle gehalten wurde, war der Bug mit Hilfe einer kurzen Leine an einer aufragenden Felsspitze vertäut.
»Ohne dich wäre ich jämmerlich ertrunken.« Erst jetzt, da er nicht mehr in unmittelbarer Gefahr schwebte, dämmerte Binek allmählich, wie knapp er dem Tode entronnen war. »Gut, dass du zur rechten Zeit am richtigen Ort warst.«
Einen Moment lang stand Imtje wortlos vor ihm, dann umschlag sie seine Taille fest mit beiden Armen. Obwohl sie ihm nur bis zum Brustbein reichte, fühlte er sich plötzlich ganz klein neben ihr.
»Bloß gut, dass ich dich beim ersten Versuch zu fassen bekommen habe«, hauchte sie. »Ich hätte es mir nie verziehen, wenn du vor meinen Augen …« Mitten im Satz brach sie ab, um nicht näher ausführen zu müssen, was für ein schreckliches Schicksal sie sich gerade ausmalte.
»Was hat dich überhaupt hierherverschlagen?«, fragte Binek, um sie auf andere Gedanken zu bringen.
Imtje ließ von ihm ab, damit sie sich besser in die Augen sehen konnten.
»Obwohl wieder Frieden war, hast du Felsheim so eilig verlassen – da habe ich mir Sorgen gemacht«, erklärte sie. »Ich war halt neugierig, ob du …« Verlegen sah sie auf ihre Schnürstiefel, die unter dem Rocksaum hervorlugten, während sie nach den richtigen Worten rang. »Na ja, das kennst du doch bestimmt, dass dir die Weiber nachsteigen, um sich zu vergewissern, ob du nicht lieber das Lager mit einer anderen teilst.«
Binek errötete, als er begriff, was sie damit andeuten wollte.
»Nein, das kenne ich nicht«, versicherte er. »Überhaupt nicht. Ich war den Menschen von Imor stets unheimlich, auch ihren Frauen. Ich hätte schon mit klingender Münze zahlen müssen, damit sich eine von ihnen mit mir abgibt.«
»Ach was, so ein Unsinn!« Erneut schloss ihn die Zwergin in ihre Arme und presste ihr Gesicht gegen die nassen Fetzen seines Umhanges. »Du bist doch so ein ansehnlicher Kerl!«
Binek wusste nicht recht, wie ihm geschah, mit so viel Zuneigung überschüttet zu werden. Vergleichbares war ihm in Imors dunklen Gassen niemals widerfahren. Erst jetzt, da ihn Imtje so unverhofft beschenkte, wurde ihm klar, wie stark er solche Empfindungen ein Leben lang entbehrt hatte.
»Du zitterst ja wie Espenlaub«, stellte sie erschrocken fest. »Oh, ich dumme Pute! Dabei habe ich extra eine warme Decke aus dem Boot geholt. Rasch, zieh deine nassen Sachen aus. Unter Tage ist es zu kalt, um sie am Körper trocknen zu lassen. Eine Lungenentzündung wäre das Letzte, was uns noch fehlt.«
Beflissen faltete Imtje die aus zahlreichen Farbschattierungen bestehende Kaninchenfelldecke auseinander und hielt sie ihm entgegen. Vergeblich. Binek rührte keinen Finger, sondern sah sie nur erstaunt an.
»Oje, du scheues Reh!«, neckte sie ihn. »Sieh her, ich mache auch beide Augen zu.«
Tatsächlich kniff sie ihre Lider so fest zusammen, dass sich ihr Gesicht von der Stirn bis zu den Wangen in Falten legte. Allerdings mogelte sie ein wenig. Schon nach wenigen Herzschlägen öffnete sie die rechten Wimpern so weit, dass sie heimlich durch einen schmalen Spalt hindurchspähen konnte.
Binek, der gerade an seinem Lederharnisch nestelte, erwischte sie beim Kiebitzen.
»Ich verfüge über die Nachtsicht eines Elfen, schon vergessen?« Zur Bekräftigung seiner Worte streckte er einen Zeigefinger in die Luft, mit dem er eine kreisende Bewegung vollführte. »Also gib dich keinen falschen Hoffnungen hin – und dreh dich gefälligst um.«
Unter leisem Murren kam sie der Aufforderung nach. »Mir scheint, du warst zu lange unter Menschen«, spottete sie über die Schulter hinweg. »Zum Glück bist du so jung, dass sich das noch auswachsen kann.«
Er achtete nicht auf die wiegenden Bewegungen ihrer Hüften, während er sich seiner Kleidung entledigte. Es war allerhöchste Zeit, dass er den klammen Stoff vom Leibe bekam. Binek bibberte bereits erbärmlich. Kaum dass er Hemd und Hose zum Trocknen ausgebreitet hatte, warf ihm Imtje die Decke über und begann, ihn mit kräftigen Bewegungen abzurubbeln. Sie ging dabei nicht gerade zimperlich vor, denn es war wichtig, für eine gute Durchblutung seiner Haut zu sorgen. Auf ihre Anweisung hin ließ sich Binek auf einen Stein nieder, damit sie auch seine Schultern erreichte.
Trotz aller scherzenden Worte nahm die Zwergin ihre Aufgabe sehr ernst. Als echte Küchenmagd verstand sie sich auf die praktischen Dinge des Lebens. Sicher hätte sie genauso gut einen Schlangenbiss behandeln oder einen heilenden Kräutertrunk zubereiten können. »So wird es wohl gehen«, sagte sie, nachdem seine Haare strohig vom Kopf abstanden. »Ich würde dir gerne noch ein wärmendes Feuer entfachen, aber das dürfen wir nicht wagen. Der Rauch könnte in Gohliks Höhle zu riechen sein.«
»Dir ist seine Behausung wohl bestens bekannt?«, fragte Binek.
»Er ist schließlich mein Oheim, schon vergessen?« Imtje ließ sich neben ihm auf dem Stein nieder. »Nachdem der Gevatter Felsheim verlassen hatte, habe ich ihn einige Male besucht. Bis er immer wunderlicher wurde und keinen Verwandten mehr empfangen wollte. Schade, dass du Gohlik nicht kennengelernt hast, als er noch bei vollem Verstand war. Ich habe schöne Zeiten mit ihm erlebt.«
Die Erinnerungen versetzten Imtje in eine melancholische Stimmung. Plötzlich starrte sie in die vor ihnen liegende Dunkelheit, als könne sie dort ein Abbild der gerade beschriebenen Vergangenheit erblicken.
»Wie geht es dem alten Zausel?«, wollte Binek wissen.
»Das stärkende Mittel der Elfenheilerin zeigt Wirkung«, gestand Imtje wiederwillig ein. »Er ist endgültig aus der Bewusstlosigkeit erwacht, schläft aber noch sehr viel. In einem seiner lichten Momente hat er mich beschworen, seine Höhle aufzusuchen. Zu deinem Glück, wie ich neidlos anerkennen muss. Er war sich ganz sicher, dass du fortgegangen bist, um mit Velb zu sprechen.«
»Vielleicht ahnte Gohlik insgeheim, dass es der Waldläufer war, der ihn während der Schlacht niedergestreckt hat«, überlegte Binek laut.
»Ist das wahr?« Die Zwergin sah ihn erschrocken an. »Hat dir das Velb gestanden?«
»Nein, das nicht – aber die Vermutung liegt zumindest nahe. Velb wusste dank der Freundschaft zu deinem Oheim, wie sich der Zufluss der Heiligen Quelle umleiten ließ. Und Gohlik stand kurz davor, allen sein Wissen um die Unsinnigkeit der Schlacht preiszugeben. Ich weiß nicht, ob du etwas von dem gehört hast, was Velb mit dem Fischer aus Norva besprochen hat?«
»Alles habe ich gehört, was diese Orkknechte mit ihren Schlangenzungen gezischelt haben!«, brauste Imtje erzürnt auf. »Über die unterirdischen Kanäle geht es wesentlich schneller voran, als mit deinem Bergpony, das Graugards Höhen über gewundene Pfade bezwingen musste. Obwohl ich noch lange an Gohliks Krankenlager gesessen habe, war ich vor dir am Ziel. So habe ich viel Zeit damit verbracht, lauschend unter dem Schachtdeckel auszuharren. Ich weiß selbst nicht, warum ich so misstrauisch war. Vielleicht war es wirklich die Eifersucht, die an mir nagte, denn obwohl mich mein Oheim gedrängt hat, hier nach dem Rechten zu sehen, hat er keinen direkten Verdacht gegen Velb geäußert. Erst als der Waldläufer Besuch von diesem Fischer erhalten hat und ich ihr Gespräch durch den offenen Schacht belauschen konnte, ging mir auf, wie gut ich daran getan habe, mich verborgen zu halten. Als ich dann plötzlich deine Stimme gehört habe, o weh, da wollte mir schier das Herz zerspringen! Zum Glück habe ich die Strömung des Wildlaufs gut eingeschätzt und an der richtigen Stelle auf dich gewartet, sonst wäre es um dich geschehen gewesen. Leider gab es keine andere Möglichkeit, dir zu helfen. Im offenen Kampf gegen Velb hätte ich niemals bestanden.«
»Du hast alles richtig gemacht«, versicherte Binek eilig. »Velb ist ausgesprochen gefährlich, das musste ich am eigenen Leib erfahren. Natürlich hat er mich auch überrascht, bei unserem nächsten Treffen werde ich besser vorbereitet sein. Leider macht es ihm nicht das Geringste aus, für seine Sache zu töten, das verschafft ihm einen Vorteil.«
Ein leises Klappern begleitete die Worte, ausgelöst durch seine Zähne, die rhythmisch aufeinanderschlugen.
»Dir ist immer noch kalt«, stellte Imtje erschrocken fest. »Wir müssen dich besser wärmen, bevor es zu spät dafür ist.«
Entschlossen sprang sie auf. Anstatt ein Feuer zu entfachen, begann sie jedoch, die Verschnürung ihres Mieders zu lösen. Ehe Binek begriff, was vor sich ging, faltete sie ihr Kleid schon sorgsam zusammen und verstaute es im Flachboot. Hemd und Unterrock folgten auf die gleiche Weise.
»Was soll das?«, fragte er überrascht. »Was hast du vor?«
»Eine alte Tradition meines Volkes«, erklärte Imtje. »Wenn es in unseren Höhlen zu kalt wird, rücken wir Zwerge dicht unter unseren Decken zusammen, um uns gegenseitig zu wärmen.«
»Im Ernst?« Binek blickte verschämt zur Seite, da sie nur noch die Messerscheide aus weichem Hirschleder am Leibe trug. Und auch die landete auf dem sich immer höher auftürmenden Kleiderstapel. »Bist du sicher, dass du diese … Tradition nicht nur erfindest?«
»Heißt das etwa, dass du mich eine Lügnerin schimpfst?« Empört stemmte sie ihre Hände in die nackten Hüften.
»Nein, natürlich nicht.« Er wagte kaum noch, sie anzusehen.
»Dann ist ja gut«, schnurrte Imtje sanft, bevor sie zu ihm unter die Decke schlüpfte und sich eng an ihn schmiegte. »Uhhh, du bist ja wirklich eiskalt.«
Der Halbelf wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte, vor allem, als sie auch noch seinen Brustkorb zu streicheln begann. In einem behielt Imtje jedoch recht. Ihre Körperwärme übertrug sich augenblicklich auf seine ausgekühlten Glieder. Als sie ihm auch noch den Hals und die Wangen küsste, wurde ihm sogar regelrecht heiß.
Unwillkürlich lachte Binek auf. Das war ein Fehler.
»Was soll das?«, fragte sie. »Machst du dich lustig über mich?«
»Nein, überhaupt nicht.« Rasch zog er die Decke enger, um sie fester an sich zu pressen. »Du bist nur ganz anders, als sich die Einwohner von Imor eine typische Zwergenfrau vorstellen.«
Imtjes Stirn legte sich in Falten. Erstmals entdeckte er einen Anflug von Unsicherheit in ihrem Gesicht. »Wenn du mich abstoßend findest, brauchst du es nur zu sagen«, forderte sie deutlich verletzt.
»So ein Unsinn.« Er versuchte, sie zu küssen, scheiterte aber an ihren Lippen, die sie trotzig aufeinanderpresste. »Bei den Menschen gibt es große wie kleine Frauen, nur die Weiber der Vurakier scheinen allesamt bis in den Himmel zu wachsen. Du siehst also nicht anders aus als viele Mägde, Händlerinnen oder Töchter aus gutem Hause.«
Rasch legte er Imtje einen Finger auf die Lippen, bevor sie laut aufbegehren konnte.
»Dieser Vergleich ist überhaupt nicht böse gemeint«, versicherte er, »auch wenn das für dich im ersten Moment so klingen mag. Der Grund, warum ich lachen musste, ist folgender: Die Zwerge, die Imor besuchen, um dort Handel oder anderes zu treiben, sind für gewöhnlich knarzige Kerle mit langen Bärten. Mögen sie dabei auch manchmal von ihren Weibern begleitet werden, so bekommen die Menschen doch nur selten bis niemals eine Zwergin zu Gesicht. Deshalb ist man in Imor und anderswo fest davon überzeugt, dass es entweder überhaupt keine Zwergenfrauen gibt oder, falls doch, dass sie nicht von ihren Männern zu unterscheiden sind.«
Imtje starrte ihn ungläubig an. »Bist du sicher, dass du nicht gerade etwas erfindest?«, fragte sie in strengem Ton.
»Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage«, versicherte Binek. »Vielleicht verstehst du jetzt, wie heilfroh ich bin, dass die Zwergin, die mich mit ihrem nackten Leib wärmt, keinen langen Bart trägt, der ihr bis zum Bauchnabel reicht.«
»Menschen!«, stieß Imtje verächtlich hervor. »Was für ein fürchterlich dummes Volk sie doch sind.« Ihr eben noch angespannter Körper war plötzlich wieder so weich und anschmiegsam wie zuvor.
»Sie sind nicht alle schlecht«, versuchte Binek ihren Zorn zu dämpfen. »Vergiss nicht, dass durch meine Adern zur Hälfte auch menschliches Blut fließt.«
Statt darauf einzugehen, strich sie mit ihren Fingerkuppen über seine Schultern. »Erzähl mir von diesen höheren Töchtern, die mir so ähnlich sind«, forderte sie dabei. »Sicherlich waren sie alle in Liebe zu dir entflammt, und du bist jede Nacht bei ihnen durchs Kammerfenster gestiegen.«
Er schwieg zu dieser Mutmaßung. Obwohl ihn Imtje nur aufzog, wollte er keine Eroberungen erfinden, die niemals stattgefunden hatten. Lieber strich er mit seinem Handrücken über ihre linke Wange. Sie erschauderte unter der sanften Liebkosung, so dass er sich traute, erneut zu einem Kuss anzusetzen.
Kurz bevor seine Lippen die ihren berührten, zuckte sie jedoch zusammen und fuhr wie von einem glühenden Eisen getroffen in die Höhe.
Nackt, wie sie war, eilte Imtje mit langen Sätzen zu der Laterne, die sie in einer Felsnische abgestellt hatte. Rasch öffnete sie die verglaste Tür, die die darin flackernde Flamme vor Zugluft bewahrte, und blies diese aus. Die zuckende Lichtinsel, die sie umgab, fiel auf einen Schlag in sich zusammen. Dunkelheit umfing die beiden wie eine zweite Haut.
Trotz seiner guten Nachtsicht hörte Binek lediglich, wie Imtje zurückkehrte.
Statt wieder zu ihm unter die Decke zu schlüpfen, schlich sie vorüber. Erst als sie die Ecke erreichte, von der aus die Einmündung in den Wildlauf zu sehen war, trat ihre schlanke Silhouette erneut aus der Finsternis hervor. Binek folgte ihr leise und umhüllte sie mit seiner weichen Decke, bevor sie gemeinsam in die Dunkelheit spähten. Als er einen Lichtschimmer entdeckte, der den Wildlauf immer stärker erhellte, wusste er, was Imtje alarmiert hatte. Die Zwergin hatte ein gutes Gehör, das musste er neidlos anerkennen. Vielleicht wusste sie aber auch nur besser, worauf sie in den Tiefen des Bergmassivs zu achten hatte.
Sicherlich war Velb beim Ablegen des Bootes irgendwo angeschlagen, oder die Halteringe hatten beim Lösen der Vertäuung geklirrt.
Das Licht wurde noch heller. Wie erwartet, ging es von einer Laterne aus, die sich im Bug des Kahns befand. An einer rostigen Eisenaufhängung befestigt, schaukelte sie vor und zurück, als sie langsam in Sicht kam. Der Mann, der den Kahn steuerte, war tatsächlich Velb. Wegen der starken Strömung brauchte der Waldläufer weder zu rudern noch zu staken. Er saß einfach an der Pinne und versuchte, sein schaukelndes Gefährt in der Mitte des Flusses zu halten. Für den Fall, dass er irgendwo aneckte, lag ein kräftiger Stecken bereit – das Stakholz.
Wie ein flüchtiges Trugbild tauchte Velb auf und verschwand gleich wieder aus dem begrenzten Sichtfeld. Doch schon sein kurzer Anblick versetzte Binek einen Stich ins Herz.
»Wir müssen ihm nach«, flüsterte er. »Er darf nicht ungestraft davonkommen.«
»Lass ihn ziehen«, verlangte Imtje. »Soll er doch zu seinen Orkfreunden gehen und dort elendig ums Leben kommen. Bestimmt ist ihm klargeworden, dass es in und um Graugard für ihn nicht mehr sicher ist. Bist du ihm auf die Schliche gekommen, mag das auch anderen gelingen. Er hat zu viele Spuren hinterlassen, um auf ewig unentdeckt zu bleiben, außerdem fürchtet er nichts so sehr wie Eyrons Peitsche.«
Binek wusste, dass es die brutale Strafe der Elfen gewesen war, die Velb in die Fänge des Geheimbundes getrieben hatte, doch wog ein erlittenes Unrecht ein selbst verübtes auf? Ganz sicherlich nicht.
»Halten wir ihn nicht auf, richtet er weiteres Unheil an«, gab er zu bedenken. »Das gilt es zu verhindern.«
»Velb wird in Imor den Tod finden«, beharrte Imtje auf ihrer Meinung. »So wie alle anderen, die sich auf einen Pakt mit den Orks einlassen. Es lag schon immer in der Natur der Menschen, nach schnellem Erfolg zu streben, ohne die Folgen ihres Handelns zu bedenken. Aus diesem Grunde haben die Götter ihnen nur ein kurzes Leben beschert, das sie dazu verdammt, sich wie die Karnickel zu vermehren, um nicht auszusterben. Der Weg der Orkknechte führt direkt ins Verderben, darauf kannst du dich verlassen. Außerdem musst du mich nach Felsheim begleiten. Das bist du mir schuldig, dafür, dass ich dir das Leben gerettet habe.«
War Velbs Schicksal tatsächlich vorgezeichnet? Oder behauptete Imtje das nur, um ihn zurückzuhalten? Binek wusste es nicht. Eines war hingegen sicher. In Imor konnte er sich immer noch nicht blicken lassen. Allein die Aussicht darauf, dass ihn die Verfolgung des Waldläufers in die alte Heimat verschlagen könnte, dämpfte seinen Eifer. Außerdem schien Imtje etwas Wichtiges auf dem Herzen zu haben.
»Die Felsheimer müssen umgehend erfahren, dass die Trolle keine Schuld an der aufgestauten Heiligen Quelle trifft. Orm und die Odemar-Sippe lechzen nach Rache für die erlittene Schmach und all die Gefallenen bei dem Kampf um Felsheim. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, das Schlimmste zu verhindern. Nachdem der Krieg mit den Elfen gerade noch abgewendet werden konnte, wäre es schrecklich, wenn es stattdessen zu einem tödlichen Zwist mit den Trollen käme. Sie mögen tumb sein, die groben Gesellen, und nicht mehr von großer Zahl, doch ihre Schamanen gebieten über furchtbare Mächte, wie die Schlacht von Scherbental bewiesen hat. Du musst unbedingt nach Felsheim kommen, um mir dabei zu helfen, Orm von der Wahrheit zu überzeugen. Verblendet, wie er ist, wird er dem Wort einer einfachen Küchenmagd vielleicht nicht glauben.«
Dem Halbblut lief es bei ihrer Ansprache kalt über den Rücken. Erneut wurde ihm bewusst, wie wenig er von der Welt jenseits der hohen Stadtmauern wusste, hinter denen er aufgewachsen war. Gerne wollte er mehr über Graugard, den Hochwald und all die anderen unbekannten Länder erfahren, die ihm so fremd und geheimnisvoll erschienen. Außerdem wollte er einen Platz finden, an dem es sich für ihn zu leben lohnte, wie konnte er also zulassen, dass diese Gebiete der Zerstörung anheimfielen, ehe er sie richtig kennenlernen durfte?
»Du hast recht«, gestand er ein. »Das Wohl deines Volkes ist wichtiger als mein Rachedurst. Lass uns besser keine Zeit verlieren.«
Imtje erbebte bei seinen Worten, hielt ihn jedoch mit sanftem Griff zurück, als er sich von ihr zu lösen versuchte. »Nicht so eilig«, verlangte sie, ihre weichen Rundungen fester gegen seinen nackten Leib pressend. »Vor dem Aufbruch müssen wir alle Kälte aus deinen Gliedern vertreiben, denn von Krankheit geplagt nützt du niemandem.« Diesmal war sie es, die nach seinen Lippen suchte. Und sie auch fand, obwohl sie sich dazu auf die Zehenspitzen stellen musste.
Ihre Ankunft war standesgemäß. Untermalt von grollendem Donner, der durch die Wolken rollte, zerschnitten die Schiffe mit den schwarzen Segeln die hohen Wellen, die sich zwischen ihnen und der Küste auftürmten. Trotz der Blitze, die immer wieder am Himmel aufzuckten, fiel kein einziger Regentropfen, und das war gut so. Regen hätte die am Strand versammelte Menge vertrieben und den feinkörnigen Boden in eine Schlammwüste verwandelt. Beides wäre nicht in Grimms Interesse gewesen.
Die Menschen, die seit dem frühen Morgen alleine oder in kleineren Gruppen an der einsamen Bucht eingetroffen waren, um der Ankunft des Feldherrn beizuwohnen, sollten ergriffen seine Machtdemonstration bewundern und nicht frierend und durchnässt im Matsch herumstehen. Schließlich wurden sie noch gebraucht. Sei es als Kundschafter und Werber für neue Hilfstruppen oder um Grimms Wort im ganzen Reich zu verkünden. Denn eines hatte der junge Orkfürst in der Verbannung gelernt: Wer ein Land oder gleich mehrere erobern wollte, der durfte sich nicht allein auf Kraft und Kampfkunst verlassen, sondern brauchte auch mächtige Verbündete.
Angst und Schrecken, die dem Heer vorauseilten, waren zwei besonders verlässliche Bundesgenossen. Abtrünnige, die einen Vorteil in der Unterwerfung des eigenen Volkes sahen, ein dritter. Es entsprach den Sitten und Gebräuchen der Orks, einen Gegner vollständig zu zermalmen oder zumindest bis ans Ende der bekannten Welt zu vertreiben; genau aus diesem Grunde hatte keines ihrer Königreiche lange bestanden. Länder zu erobern war leichter, als die einmal errungene Macht zu halten, diese Erfahrung hatte schon König Gremm machen müssen, als er in die Verbannung geschickt worden war. Zu herrschen war nutzlos, solange es keine buckelnden Untertanen gab, denen sich der Zehnte abknöpfen ließ. Nur so konnte eine zu allem entschlossene Streitmacht ein weitläufiges Territorium bis in den letzten Winkel hinein kontrollieren.
Wie das zu bewerkstelligen war, hatten die Verbannten jenseits der Großen Meeresöde gelernt. Zuerst als Garderegiment, das der herrschenden Oberschicht der Nurmiden bei der Unterdrückung der Wiluren geholfen hatte, anschließend als neue Machthaber, die sich der alten Herren in einer Reihe von blutigen Kämpfen entledigt hatten. Verräterische Ränke hatten den Orks geholfen, die übernommene Macht zu festigen.
Grimm, der das ganze Geschehen von Kindesbeinen an verfolgt hatte, war deshalb auch zukünftig bereit, mit den alten Traditionen zu brechen. Die am Strand versammelten Abordnungen, die es aus allen Teilen Garons und darüber hinaus hierherverschlagen hatte, waren der beste Beweis dafür. Ein jeder Geheimbündler trug einen Anhänger um den Hals, der den Kreislauf des Fressens und des Gefressenwerdens symbolisierte. Uneingeweihte, denen es am richtigen Schmuck mangelte, waren nicht zugegen. Es hätte auch kein Fremder gewagt, sich unter die hier Versammelten zu mischen.
Selbst die neugierigen Fischer, die auf dem Rückweg von ihren Fanggründen herangesegelt waren, um zu schauen, was in dieser namenlosen Bucht – weitab vom nächsten bewohnten Dorf – vor sich ging, hatten beim Anblick der Orks, die Mandu und Ascan flankierten, rasch das Weite gesucht. Mit dem sicheren Gespür derer, die selbst am untersten Ende der Hackordnung standen, hatten sie sofort erkannt, dass hier etwas Unheimliches geschah, von dem man sich besser fernhielt.
Die an der Ostküste Garons wartenden Menschen waren anders. Aus dem bloßen Umstand, dass sie einem geheimen Bund angehörten, der mit den mächtigen Orks paktierte, zogen sie ein Gefühl der Überlegenheit.
So waren die Kurzlebigen eben. Andere zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen, lag den Menschen einfach im Blut. Es gab wohl kein anderes Volk, das sich untereinander so schlecht behandelte wie das ihre. Selbst Maßlosigkeit und Gier, die beiden größten aller Sünden, waren bei ihnen stärker ausgeprägt als bei den Zwergen. Außerdem fehlte es den Menschen an Mitleid, Traditionen und Gesetzen, insbesondere für die Schwachen, denen nicht einmal das Schwarze unter den Fingernägeln blieb. Das machte ihre Ärmsten der Armen zu idealen Vasallen, die sich selbst den Orks andienten, solange diese nur versprachen, die alte Ordnung hinwegzufegen.
Aber war Ascan wirklich so viel besser? Der Elf wusste es nicht. Er wusste nur, dass er an der Spitze eines gewaltigen Heeres im Hochwald einmarschieren wollte, um all jene leiden zu sehen, die einstmals seinen Stolz verletzt hatten. Vielleicht würde das die schwärende Wunde heilen, an der er schon so lange litt. Er hoffte es zumindest.