Die Macht der Engel - Diana Petersen - E-Book

Die Macht der Engel E-Book

Diana Petersen

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Beschreibung

„Unsere Seele kennt eine Vergangenheit, die wir vergessen haben. Eine zweite Chance gibt uns die Möglichkeit zu zeigen, dass wir uns auf dem rechten Weg befinden. Die Schatten deiner Vergangenheit drohen dich einzuholen. Finde sie, bevor sie dich finden!“ So lautet der einzige Hinweis, den Erzengel Raphael dem noch jungen Engel Isai mit auf seinen Weg gibt, als er ihn auf die Erde schickt. Isai versteht nicht und hat auch von der Macht der Engel bisher nie etwas gehört. Doch auf seiner Reise findet er Antworten auf seine Fragen und enthüllt ein dunkles Geheimnis, das seine eigene Vergangenheit betrifft.

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Für meine Schwester Hanna

Inhaltsverzeichnis

Im Marmorpalast

Ivy

Gestrandet

Himmel und Herz

Bedrucktes Papier

Gepetto

Die unendliche Geschichte

Venedig

Die Schatten des Vatikan

Albergo Sole

Nacht

Über die Unsterblichkeit Teil I

Auf dem Markusplatz

Erklärung und Antwort

Antonia

Über die Unsterblichkeit Teil II

Im Bus durch Italien

Abgebrannt

Der Rote

Sagen und Märchen

Der Unsterbliche und sein Schatten

Nachricht von oben

Tapfere Naima

Samuel Goodale

In den Armen eines Engels

Erklärungen

Die Macht der Engel

Über die Unsterblichkeit Teil III

Enrica

Im Vatikan

Über die Unsterblichkeit Teil IV

Die Rezeptur zur Konservierung zerrissener Seelen

Michael Araboth

Enzo

Der Kampf

Isais Entscheidung

Endlich

Im Marmorpalast

Es war eine Nacht im Juli. Im Marmorpalast war es still. Nur wenn man ganz leise war und angestrengt lauschte, hörte man doch etwas - Das leise Platschen nackter Füße auf Marmor. Isai musste sich beeilen. Er verstand nicht, was geschehen war. War überhaupt etwas passiert? Es musste sich etwas zugetragen haben, etwas Furchtbares. Warum sonst sollte Raphael ihn, Isai, vor den Rat der Engel zitieren? Was hatte Isai getan? - Er wusste es nicht.

Er rannte durch die langen Gänge des Palastes, bis seine Lungen brannten. Er hatte Angst. Er hätte nicht sagen können wovor, doch sie war da. Ein unbekanntes Gefühl. Sie schnürte ihm die Kehle zu, benetzte seine Handflächen mit kaltem Schweiß. Isai wurde schneller. Seine Füße taten weh, doch er achtete nicht darauf. Er rannte an den marmornen Säulen vorbei, die bis zur Decke reichten. Sie waren so hoch, dass man schon hätte fliegen müssen, um sie berühren zu können. Zwischen den Säulen standen Engelsskulpturen aus Marmor.

"Sie zeigen die größten Engel der Vergangenheit", hatte man Isai einmal erzählt. "All diejenigen, die Großes getan haben."

„Großes?“, hatte Isai damals ehrfurchtsvoll geflüstert.

„Ja, Großes. Gutes wie Schlechtes“, hatte die Antwort gelautet. Das hatte Isai ins Grübeln gebracht. Auch die Engel, die Schlechtes getan hatten, waren verewigt worden? Großes hatten sie getan, Schreckliches, aber Großes. Warum man auch diese Engel verehrte, indem man sie in Stein haute, konnte Isai sich nicht erklären.

Du verstehst so vieles nicht.

Das spärliche Licht der hohen Kerzen, die zu beiden Seiten im Korridor standen, warf unheimliche Schatten auf die Gesichter der Statuen. Die Kerzen waren teilweise schon sehr weit heruntergebrannt, aber dennoch, oder vielleicht auch gerade deshalb, wirkten die Engelsstatuen bedrohlich groß. In dieser Nacht wurde Isai zum ersten Mal bewusst, wie groß sie wirklich waren, und ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Eine besonders muskulöse Statue mit hochmütigem Gesicht, schien ihn direkt anzusehen. Isai war sie nie aufgefallen. Er wusste auch nicht wen sie darstellte, und es war ihm in diesem Moment auch egal. Er beschleunigte seine Schritte. Die Flammen der Kerzen flackerten auf, als er vorbeilief, und heißes Wachs tropfte auf den kühlen Marmorboden.

Dann regte sich etwas im Schatten vor ihm. Erschrocken blieb Isai stehen.

Hast du Angst, Isai?

Sein Herz klopfte hart gegen seine Brust. Eine Gestalt trat aus der Dunkelheit heraus ins Licht der Kerzen, und Isai erkannte Jesus.

„Warum erschreckst du mich so?“, Isai schnappte empört nach Luft. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, als versuchte es seinen Brustkorb zu sprengen. „Was machst du hier?“, fuhr er seinen besten Freund an, „und wieso versteckst du dich?“

„Ich will nicht, dass man uns zusammen sieht!“, antwortete Jesus mit einem gehässigen Grinsen auf den Lippen. Er packte Isais Arm und zog ihn grob in den schützenden Schatten zweier Statuen.

„Weißt du Bescheid?“, raunte er in die Dunkelheit, ohne Isais Arm loszulassen, „Ich meine... weißt du was jetzt passiert? Warum...?

Weißt du über die Geschichte Bescheid?“

Ja – weißt du Bescheid über die Geschichte, Isai?

Beinahe hätte Isai über das Gestammel seines Freundes gelächelt. Das war so gar nicht Jesus´ Art.

„Welche Geschichte? Wovon redest du?“, entgegnete Isai wütend und versuchte seinen Arm loszureißen, aber Jesus´ Hand zog sich wie ein Schraubstock nur noch fester.

„Du weißt es also nicht“, stellte Jesus fest, „ich stehe immer hinter dir, versprochen. Aber da musst du jetzt wohl alleine durch, Kumpel.“

„Was soll das, Jesus? Wenn du mir helfen willst, dann sag mir wovon du da redest“, begann Isai, doch sein Gegenüber hörte nicht zu, blickte nur nervös den langen Korridor hinunter.

Warum so verunsichert?

Isai meinte in Jesus´ Augen ein erregtes Blitzen zu entdecken, als dieser sich ihm wieder zuwandte. „Sie werden dich runterschicken, für die Zweite Chance.“

Isai konnte in der Dunkelheit nur die Umrisse seines Freundes ausmachen, doch meinte er zu wissen, dass dieser alles für einen aufregenden Scherz hielt. Außerdem drückte Jesus seinen Arm jetzt so fest, dass es weh tat.

„Jesus, bitte, wovon redest du?“, sagte Isai mit zittriger Stimme, bevor Jesus weitersprechen konnte. Isai war sich nicht sicher, ob Jesus sich nicht gerade einen Scherz mit ihm erlaubte. Er kannte ihn doch so gut, wieso war er sich jetzt nicht sicher? Kaum einmal hatte Jesus etwas wirklich ernst genommen. Warum ging er so leichtfertig durch das Leben? Vielleicht, so dachte Isai, gab es etwas in Jesus Vergangenheit von dem er seinem Freund nichts erzählt hatte. Etwas, dass ihn geprägt hatte, sogar abgestumpft gegen den Ernst der Welt.

„Das kann ich dir nicht sagen“, die Enttäuschung in Jesus´ Stimme war deutlich herauszuhören. Sie war echt. Endlich ließ er Isais Arm los. „Du wirst es schon noch verstehen...“, er wandte sich ab und ließ Isai allein in der Dunkelheit stehen.

Wie meint er das? Was wirst du verstehen, Isai?

Er rieb sich seinen schmerzenden Arm und lauschte dem leisen Platschen von Jesus´ Füßen, das sich allmählich immer weiter entfernte und schließlich verstummte.

Wovon hatte Jesus da nur gesprochen? Was für eine Geschichte hatte er gemeint?

Es war nicht mehr weit zu dem Saal, in dem Raphael bereits auf Isai wartete.

Isai atmete einmal tief ein und ging dann mit schnellen Schritten die letzten Meter bis zu der großen Tür, hinter der Raphael saß und ungeduldig wartend die Türklinke anstarrte. Isai konnte seinen Blick spüren. Raphael konnte ihn sehen, auch wenn er auf der anderen Seite der vertäfelten Tür saß. Isai hob gerade seinen Arm um anzuklopfen, als Raphael von drinnen mit kalter Stimme rief, er solle eintreten. Isai drückte gegen die schwere Tür und diese schwang nach innen auf und gewährte ihm Eintritt. Zögernd tat er einen Schritt in den großen Saal. Tische und Stühle standen an Wänden, die über und über mit Karten bedeckt waren. Karten, Zeichnungen. Es waren Landkarten, von Hand gezeichnet, die alle einen anderen Ort der Erde zeigten. Der Fußboden war – natürlich - aus Marmor und an einem langen Holztisch am anderen Ende des Saals, saßen im Schein hunderter von Kerzen, wie sie auch in den Korridoren standen, Raphael und eine Schar weiterer Engel, die unter Raphaels Führung den Vorstand des Marmorpalastes und der ganzen Stadt der Engel bildeten. Der Vorstand entschied, wie die Dinge zu laufen hatten, und achtete streng, aber gerecht darauf, dass alles seine Ordnung hatte. Es waren allesamt Männer. Keine gewöhnlichen wie du sie kennst, es waren geflügelte und weisere Männer als die, die auf der Erde leben. Sie waren Engel, trugen lange Gewänder und einen Bart. Dieser war grau oder weiß, bei einigen jüngeren noch braun oder schwarz. Raphael, der wohl älteste und weiseste Engel unserer und vieler vergangener Zeiten, war der einzige der keinen Bart trug. Sein Gesicht war runzelig, wie das eines alten Mannes, auch wenn er älter war, als viele der Ältesten auf Erden. Sein Antlitz schien gezeichnet von all den Erlebnissen, die die Jahrhunderte mit sich gebracht hatten, und die an ihm genagt hatten, wie nur die Zeit es vermag. Eine lange Narbe zierte seine rechte Wange. Isai und Jesus hatten sich oft gefragt, wie Raphael sich eine solche Verletzung zugezogen haben konnte. Sie kannten keinen anderen Geflügelten, den eine Narbe verunstaltete. Isai fand, dass Raphaels Gesicht etwas Faszinierendes hatte. Das helle Mal machte ihn noch geheimnisvoller, als er es ohnehin schon war.

Nein – Narben passen nicht zu Engeln. Sie sind menschlich!

Es gab Einzelne, die wussten woher Raphaels Narbe stammte, aber keiner von ihnen verlor je ein Wort darüber.

Ein Gefühl riss Isai aus seinen Gedanken. Er konnte fühlen, wie Raphael ihn musterte, von oben herab.

„Nicht so schüchtern, Isai, tritt näher“, forderte Raphael ihn mit einer herrischen Handbewegung auf. Seine Stimme war kalt und klar wie Eiskristall. Auch wenn von seinen Augen etwas erstaunlich Warmes ausging, fröstelte Isai beim Klang dieser Stimme. Er wusste nicht, ob er Raphael besonders leiden konnte.

Wahrscheinlich nicht. Niemand mag seine Feinde.

Isai trat bis vor den großen Tisch und schaute die schweigenden Engel hilfesuchend an. Er hoffte, dass sie in seinen Augen die Unschuld entdecken würden, die in ihm steckte. Hoffte, dass sie verstanden, dass er nicht wusste, was geschehen war und nichts getan hatte, was man ihm nun vorwerfen konnte. Doch vielleicht zweifelte er selbst schon daran, dass er unschuldig war.

„Es gibt noch keine Erklärungen, Isai“, sagte Raphael mit einer Stimme, die sich anhörte, als trete man in dichten Schnee. Ein eisiges Knirschen schien darin enthalten. Das, und ein kalter Wind, der sie überall dahin trug, wo sie gehört werden sollte, dachte Isai.

„Ehrlich gesagt, waren wir uns nicht ganz einig darüber, ob es für dich wirklich der richtige Zeitpunkt ist“, fuhr Raphael mit bedauerndem Blick auf Isai fort, „einige von uns befürchten, dass du dem nicht gewachsen bist.“

Der richtige Zeitpunkt wofür?

Isai wollte etwas erwidern, wusste jedoch nicht, was die richtigen Worte waren. Was konnte er sagen? Er hatte doch nicht die leiseste Ahnung wovon alle plötzlich redeten. Er hatte das ungute Gefühl etwas nicht mitbekommen zu haben, wovon er eigentlich Bescheid wissen müsste. Schließlich beließ er es bei einem kaum vernehmbaren Kopfnicken. Betreten schaute er zu Boden, von wo aus eine ungemütliche Kälte in seine nackten Füße kroch.

Alle wissen es, nur du nicht, Isai.

Durch das einzige Fenster im Raum, hinter dem Rücken des Vorstandes, vielen die ersten Sonnenstrahlen in den Saal, und warfen bunte Muster auf die Engel herab. Bunt, wie das gläserne Mosaik, dass eine Szene der Bibel zeigte, und vielmehr ein Kunstwerk, als ein Fenster sein wollte.

„In Ordnung“, sagte Raphael. Er suchte Isais Blick. Isai spürte es, doch er starrte nur auf seine frierenden Füße. Er wollte ihn nicht ansehen. Wollte die Autorität in seinen Augen nicht sehen, das Wissen in seinem alten Gesicht.

Ein Raunen ging durch die Schar der Engel, als Raphael aufstand und an den hohen Wänden entlang schritt. Er hatte sehr große Flügel. Viel größer als die von Isai. Die von Raphael reichten bis zum Boden. Er hatte etwas majestätisches, wie er da so durch den Saal schritt, in seinem weißen Gewand - weiß wie die Wolken am Himmel - das ebenfalls bis auf den Boden reichte. Raphael musterte die Karten an der Wand. Isai hätte nicht einmal sagen können, welche Farbe die Wände unter all den Karten hatten, so über und über waren sie von Darstellungen fremder Landschaften bedeckt.

Isai spürte, dass Raphael ihn weiterhin musterte, obwohl sein Blick die Wand abtastete, als würde er nach etwas suchen. Wie sehr Isai diesen Blick hasste. Man spürte ihn so offensichtlich, und doch war er so gut versteckt, dass kein Auge ihn sah. Nur Engel können diese Blicke spüren, Menschen nicht.

„Du wirst nach unten gehen“, sagte Raphael schließlich. Isai hielt es nicht für nötig zu antworten. Was hätte er auch sagen sollen? Raphael würde ihm nichts erklären. Nicht einmal Jesus hatte es getan.

Niemand wird dir etwas erklären!

Bei diesem Gedanken bohrte sich ihm eine kleine Nadel ins Herz. Jesus - Er war nicht Jesus, er hieß nur so. Er war weder ein Heiler noch ein besonders kluger Mann. Wenn Isai so genau darüber nachdachte, war Jesus immer ein ziemlicher Störenfried gewesen. Er hatte nie etwas Böses im Sinn, aber er brachte sich dauernd in Schwierigkeiten.

Trotz alledem war er immerhin Isais bester Freund.

Verräter haben keine Freunde.

Isai versuchte seine Füße zu wärmen, indem er den einen auf die kalten Zehen des anderen stellte. Er nahm die Berührung kaum war.

Raphael schien schließlich gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte, denn er riss eine Karte von der Wand, unter der himmelblauer Putz zum Vorschein kam, und trat mit zügigen Schritten auf Isai zu. Erschrocken blickte er zu Raphael auf, als dieser vor ihm stehen blieb und ihm die leere Hand entgegenstreckte. Er bedeutete ihm, die seine hineinzulegen. Nach einem kurzen Zögern und einem verständnislosen Blick auf Raphael, tat Isai unsicher, was man von ihm verlangte.

Da erhob sich ein weiteres Vorstandsmitglied vom Tisch. „Herr“, sprach er mit unsicherer Stimme, „ich denke nicht, dass es richtig ist Isai wegzuschicken.“

Raphael lies Isais Hand los und wandte sich um. Alle Blicke waren auf den sprechenden Engel gerichtet. Niemand sonst hätte es gewagt, in der Gegenwart des Erzengels unaufgefordert zu sprechen. Der Mutige - oder vielleicht auch Törichte - war nicht sehr alt, nicht sehr jung, jedoch war sein Rücken gebeugt und sein Blick starr, wie der eines alten Mannes. Nervös rang er seine Hände. Dennoch konnte Raphaels missbilligende Miene ihn nicht davon abhalten weiterzusprechen. „Der Junge wird es nicht schaffen! Denkt doch nur an damals... Ich habe ihn und seinen Freund schon lange im Auge. Isai hat sich im Grunde nicht geändert!“ Er brach ab, als Raphael vielsagend eine Augenbraue hob.

„Sprich weiter“, forderte dieser ihn auf und verschränkte geduldig die Arme vor der Brust. Diese Geste hatte nichts herablassendes oder überlegenes, eher tat sie Raphaels Belustigung kund.

„Nun ja, ich glaube nicht, dass Isai im Stande ist, allem zu einem guten Ende zu verhelfen. Er hat versagt, ich denke...“

„Inwiefern habe ich versagt?“, entrüstete sich Isai, der nun nicht mehr innehalten konnte. „Was soll ich denn getan haben?“

Der Engel im Vorstand stützte sich mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte vor ihm. „Es ist zu Ernst, als dass du es wieder richten könntest!“ - Er war noch nicht fertig, machte nur eine kurze Pause um Luft zu holen, doch Raphael schnitt ihm mit einem Kopfnicken das bereits auf der Zunge liegende Wort ab.

„Verzeiht wenn ich Euch unterbreche, Kosam.“

„Oh nein, Herr, ich wollte nicht zu forsch erscheinen.

Entschuldigt“, entgegnete Kosam und sackte kaum merklich in sich zusammen.

„Jeder“, fuhr der Erzengel mit einem schweifenden Blick, der jeden einzelnen im Saal streifte, fort „jeder hat eine zweite Chance verdient. Ich denke, daran muss ich euch nicht erinnern.“

So wie er diese Worte sagte, klangen sie, als würde er mehr sagen wollen. Er tat es jedoch nicht.

Hast du es verstanden, Isai? Er hat von dir gesprochen!

Der Erzengel blickte erneut zu Isai. Raphaels warme Augen schienen ihn zu durchleuchten, zu hypnotisieren. Er konnte einfach nicht wegsehen, so sehr er es auch versuchte. Der Schein der Sonne schien in ihnen eingefangen zu sein, so warm waren sie.

Als der alte Engel Isai in die Augen sah, füllte sich sein Herz plötzlich mit einer wohltuenden Wärme. Raphael schien nicht ihn anzusehen, sondern ihm direkt ins Herz zu blicken.

Es ist wie das Mosaik, man muss es

durchleuchten, um klare Linien zu erkennen.

Konnte Raphael sie sehen? Wie konnte jemand, mit einem solchen Blick überhaupt irgendetwas Böses in ihm oder irgendeinem anderen sehen?

Raphaels Augen und seine Stimme wollten nicht so recht zu einander passen, sie ließen ihn unnatürlich, ja direkt unheimlich wirken. Seit einigen Minuten jedoch, befand Isai die ganze Welt als unheimlich. Sich selbst eingeschlossen. Er war sich nicht mehr sicher, wer er genau war, was er wusste und was nicht, was er je getan hatte... Ihm war zum Heulen zu Mute.

Raphael griff ein zweites Mal nach Isais Hand. Dieser hörte, wie der Erzengel die Karte in seiner linken Hand zusammenknüllte, während er mit der Rechten fester zupackte.

„Ich weiß, dass du es schaffen wirst“, sagte er aufrichtig und blinzelte.

Was meint er, Isai? Wovon reden sie alle?

Das Band, das Isai an Raphaels warmen Blick gefesselt hatte riss, und es gelang ihm endlich wegzusehen. Er starrte auf seine Hand, die von Raphael fast zerdrückt wurde, wie sein Arm einige Minuten zuvor von Jesus. Angst schlich sich in Isais Brust, vertrieb all die Wärme, die eben noch in ihr geruht hatte, und nistete sich dort ein wie ein wildes Tier. Er war gespannt auf das, was passieren würde und hatte gleichzeitig schreckliche Angst davor.

„Wir sehen uns wieder, wenn alles vorbei ist“, sagte Raphael und klang dabei beinahe besorgt. Er drückte Isai mit einer schnellen Bewegung die zerknüllte Karte in die Hand.

Ein stechender Schmerz schnitt in dessen Kopf und ein Brennen, so heiß wie Feuer, breitete sich zwischen seinen Schulterblättern aus. Er versuchte gegen die Ohnmacht anzukämpfen, die sich wie dunkler Nebel immer weiter in seinem Kopf ausbreitete. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an seine Schmerzen. Er krümmte sich, fiel auf die Knie, versuchte das zerknüllte Stück Papier fallen zu lassen, das ihm wie tausend Messer in die Handfläche schnitt. Doch er konnte nicht. Er war nicht länger Herr über seinen Körper und fiel schließlich in den dicken schwarzen Nebel der Ohnmacht, der sich wie eine Decke über ihn legte...

Ivy

Die Sonne ging allmählich unter, als Ivy sich durch die Menschenmasse zwängte, die jetzt erst richtig unternehmungslustig wurde. Sie schwamm gegen den Strom, wollte einfach nur raus aus dem Getümmel. Es wurde langsam kühl, der Abend ließ den Schweiß auf Ivys Haut trocknen. Sie hatte gesungen. Sie sang auf den Straßen der Toskana, um sich etwas Geld zu verdienen. Sie war immer noch ein wenig außer Atem.

Diesen Nachmittag hatte sie ohne Pause durchgesungen, aber viel hatte sie nicht eingenommen.

Als sie sich endlich aus der Menge zwängen konnte, war die Sonne bis auf einen winzigen, roten Rest verschwunden. Ivy sprang von der Straße in den weichen Sand, der den Strand von Marina di Massa zudeckte, und beobachtete das blutrote Meer, in das die Sonne hinein tauchte und langsam erlosch. Ivy ging näher ans Wasser, wobei sie bei jedem Schritt mit dem kühlen Sand zwischen ihren Zehen spielte. Sie liebte den Strand.

Mit müden Füßen trat sie ins kalte Nass, das aufgewühlt vom Wind an dem Teppich aus dunklem Sand leckte. Wann war der Wind so rau geworden?

Ivy wartete. Sie wartete lange. Der Wind griff ihr ins Haar und wurde mit jeder Sekunde rauer und kälter.

Schließlich ließ Ivy sich in den Sand fallen und streckte Arme und Beine von sich. Sie schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie dann wieder und blickte in den Himmel über sich. Hier und da versperrten dicke Wolken die Sicht in die Unendlichkeit. Sie verbrannten sich an der untergehenden Sonne und glühten wie ausgehendes Feuer. Die ersten Sterne hatten sich schon frech in das enzianblaue Gesicht der Nacht gesetzt und blitzten auf Ivy herab. Sie stellte sich gerne vor, dass Sterne lebten und nachts am Himmel fangen spielten oder auf sie und all die anderen Menschen aufpassten. Sie wusste, dass es albern war, aber der Gedanke gefiel ihr dennoch. Der Gedanke daran, dass es etwas gab, das sie nicht verstand und dennoch wichtig war. Etwas Größeres, als das Gesicht der Gegenwart.

Von der Sonne war nichts mehr zu sehen, als Monster endlich kam. Lautlos rannte er auf sie zu und sprang ihr auf den Bauch. Ivy setzte sich auf, und Monster kletterte auf ihre Schulter. Dann hielt sie die Hand auf und er warf ihr drei schimmernde Münzen hinein.

„Sehr schön“, lobte sie den kleinen Affen mit dem weißen Schnurrbart, „gut gemacht!“ Sie streichelte ihm mit dem Zeigefinger die pelzige Brust. Monster grinste zufrieden.

Er grinste. War er glücklich? Er musste es sein, seit er bei ihr war. Ivy hatte ihn von einem Tierhändler aus Deutschland. Monster hatte so traurig ausgesehen. Klein war er noch gewesen. Kleiner als jetzt, obwohl er seitdem kaum fünf Zentimeter gewachsen war. Damals, in Deutschland, hatte er in einem kleinen Käfig gesessen und gequietscht und gefiept, dass es Ivy das Herz zerrissen hatte und sie ihn schließlich einfach mitnehmen musste. Monster liebte sie dafür und wich ihr seitdem kaum von der Seite.

Es wäre bereits stockdunkel gewesen, wenn das Lärmen, das von der Straße her zu ihr drang, nicht auch die vielen Lichter mit sich getragen hätte.

Ivy stand auf und Monster verkroch sich in ihrem Nacken unter das weiche,

braune Haar an dem der Wind zerrte. Einige Minuten ging sie den Strand entlang auf der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz - das Rauschen der Wellen in den Ohren und den salzigen Geschmack der Gischt auf den Lippen. Sie fand ihn unter einem Steg, der wie eine Straße über den weichen Sand hinaus aufs Wasser führte und so plötzlich endete, als wollte er, dass jeder, der ihn betrat, dort hineinfiel und ertrank.

Sie breitete die Decken aus, die sie in ihrem Rucksack immer bei sich trug, wie alles was sie besaß und legte sich schlafen. Monster schnarchte bereits. Sie fragte sich immer wieder, wie der kleine Affe, der für sie stahl, wenn ihre Singerei nicht genug einbrachte, solche Geräusche von sich geben konnte.

Er ist halt ein kleines Monster, dachte sie sich und lächelte.

Das Stimmengewirr, das der Wind von der Straße her zu ihr trug, machte sie müde, und, als das Schwarz der Dunkelheit sie in ihre Decke hüllte, schlief sie ein.

Ivy schreckte aus dem Schlaf, als von der Straße her ein empörtes Hupen zu ihr drang. Die Sonne stand noch tief am Himmel, aber die Italiener stritten sich bereits. Das war typisch. Sie konnte die lauten Stimmen zweier Männer hören, die sich gegenseitig anschrieen. Monster war schon wach. Aufgeregt hüpfte er im Sand herum, nahm so viele feine Körner in seine Hände, wie er nur konnte, warf sie in die Luft und rollte sich hindurch. Ivy sah ihm dabei zu und lächelte. Albernes Tier, dachte sie. Als er bemerkte, dass sie wach war, rannte er auf sie zu, sprang ihr auf die Schulter, drückte sein Gesicht an ihre Wange und rannte wieder davon. Ivys Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Sie wusste nicht genau warum er dies manchmal tat, jedoch glaubte sie zu wissen, wo er diese Geste aufgeschnappt hatte. Monster hatte sie sich bei einem Kind abgeguckt, das seinem Vater einen Kuss auf die Wange gegeben hatte, weil dieser ihm ein Pflaster auf das, von einem Sturz aufgeschürfte Knie geklebt hatte.

Ivys Vater hatte so etwas nie getan. Sie konnte sich nicht daran erinnern, überhaupt viel von ihren Eltern umsorgt worden zu sein.

Ihre Eltern waren erfolgreiche Turniertänzer. In London hatten sie gewohnt, doch dank ihres weltweiten Erfolges waren sie nur selten zu Hause gewesen. Kaum hatte Ivy Laufen gelernt, hatte sie auch schon ihre erste Tanzstunde bekommen, obwohl sie sich nie viel aus Standardtänzen gemacht hatte. Sie konnte sich mehr für Gesang begeistern, für das Musizieren. Wie gerne hätte sie ein Instrument spielen gelernt. Sieben Jahre alt war sie gewesen, als sie die Musik neu für sich entdeckt hatte, und seitdem hatte sie jede Tanzstunde gehasst, in der sie Tango oder Wiener Walzer hatte lernen müssen.

Als Ivy zehn wurde und ihre Eltern gemerkt hatten, dass ihre Tochter, ihrer Meinung nach, nicht genügend Fortschritte machte, hatten sie Hanna, dem Kindermädchen, aufgetragen Ivy einen Privatlehrer zu suchen, die ihr Stunden neben den täglichen Tanzstunden und dem regulären Schulunterricht geben sollte. Sie hatten Angst gehabt, dass ihre Tochter es einmal zu nichts bringen würde. Wenn sie schon kläglich unbegabt auf dem Parkett war, so sollte sie wenigstens eine Karriere als Staatsanwältin, Chirurgin oder gar Physikerin anstreben. Sie hätten es nicht ertragen, wenn ihre Tochter einmal ein normales Leben würde führen müssen und ganz normal in einem normalen Haus, mit einer normalen Familie und einem stinknormalen Beruf leben würde. Ihr übertriebener Ehrgeiz war schließlich Grund dafür, dass Ivy sich immer weiter von ihren Eltern entfernte. Denn, ob ihre Tochter glücklich war, war dem Ehepaar Goodale immer nebensächlich gewesen.

Schließlich war die alte Hanna, die jahrelang Ivys einzige Bezugsperson gewesen war, gestorben und ihre Eltern waren gezwungen gewesen ihre Tochter von nun an mit auf ihre Reisen um die Welt zu nehmen. Das viele Reisen und die fernen Länder hatten Ivy gefallen, doch nicht, dass ihre Eltern jede freie Sekunde damit verbracht hatten, sich selbst zu bedauern, weil ihre eigene Tochter sich mehr für modernen Gesang zu interessieren schien als für Foxtrott.

Und schließlich, sie waren in einem Hotel in der deutschen Stadt Hamburg untergekommen, hatte Ivy ihre Chance ergriffen. Als ihre Eltern um einen Preis tanzen gewesen waren und sie allein im Hotel gelassen hatten, war sie davongelaufen. Sechzehn Jahre alt war sie damals gewesen. Sie hatte zwei Jahre in Hamburg gelebt. Dort hatte sie singen gelernt, sich Geld durch kleine Jobs in den verschiedensten Theaterproduktionen, erst hinter und später sogar auf der Bühne verdient. Dort hatte sie auch Monster kennen gelernt und war schließlich, als sie genug Geld zusammen gehabt hatte, nach Italien gefahren. Es war das Land, das ihr immer am besten gefallen hatte. Seitdem lebte sie hier auf der Straße und verdiente sich ihr Brot durch Singen und Gitarre spielen.

Ivy gefiel ihr Leben. Ihre Eltern hatte sie nie vermisst, und diese vermissten sie wohl auch nicht. Ivy vermutete, dass ihnen eine verschwundene Tochter wohl lieber war als eine, die nicht wegen ihres herausragenden Tanzstils berühmt und erfolgreich war. Deshalb hatten sie wohl auch nie nach ihr suchen lassen.

Monster riss sie aus ihren Gedanken, indem er ihr an den Haaren zog.

„Was ist?“, fragte Ivy. Monster keckerte nur zur Antwort und sprang durch den Sand in Richtung Wasser davon. Ivy stand seufzend auf, streckte ihre müden Glieder und trotte hinter dem bärtigen Affen her. Sie war keine zwei Meter weit gekommen, da sprang er ihr auch schon wieder entgegen, schrie sie auffordernd an und sprang abermals davon.

Die Sonne stieg langsam in das Blau des Himmels und verschlang mit ihrem Licht die letzten Sterne, die noch dort oben standen. Ihre Strahlen sogen die Dunkelheit auf wie Salz die Tinte und schienen warm und stolz auf Italien. Der Wind blies Ivy sanft ins Gesicht und bewegte ihren leichten Rock. Für den Bruchteil einer Sekunde schaffte sie es, die aufgeregten Schreie des Affen zu ignorieren und sah zu, wie das Meer glitzerte und funkelte, als hätte die morgendliche Sonne es reingewaschen von all dem Schmutz, der in ihm herumtrieb.

Doch Monster schrie erneut nach ihr, und als sie endlich in die Richtung sah, aus der sein Schrei kam, verstand sie seine Aufregung.

Am Strand lag jemand. Ein Mann, ein noch junger Mann. Halb im Trockenen, halb im Wasser. Das kalte Nass schlabberte um seine Beine und zog an seiner weißen Hose, als wollte es ihn wieder zurückziehen und einfach verschlingen. Er schien bewusstlos.

Außer der Hose trug er nichts.

Unsicher machte Ivy ein paar Schritte auf ihn zu. Monster versuchte etwas aus der Hand des Gestrandeten zu ziehen, ohne Erfolg allerdings, und schließlich sprang er auf seinen Bauch, um ihn näher zu betrachten. Ivy sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Forschend, als hätte er noch nie etwas berührt, was der Haut des Fremden gleich kam, tippelte Monster auf dessen nackte Brust und setzte sich. Er grinste Ivy an, hob seine Hand und winkte sie ungeduldig näher heran. Dann legte Monster sein Ohr auf die fremde Brust und machte ein Gesicht, als denke er angestrengt nach. Ivy musste lachen. Der kleine Affe hatte einfach schon zu lange unter Menschen gelebt. Als Ivy sich neben Monsters Patienten kniete, schlug dieser die Augen auf.

Gestrandet

Das Letzte, an das Isai sich erinnerte, war, dass er direkt über dem Ozean aus den Wolken fiel. Er wollte seine Flügel ausbreiten und fliegen, aber da wo sie hätten aus seinem Rücken gewachsen sein sollen, waren nur zwei große, heiß glühende Narben. Also stürzte er unaufhaltsam weiter nach unten. Die Luft drückte ihm gegen die Lungen, so dass es ihm schwer fiel zu atmen. Mit einem Aufprall, der ihm die Haut vom Körper zu reißen schien, durchbrach er die Wasseroberfläche und tauchte in düstere Tiefen. Ihm blieb nun völlig die Luft weg. Verzweifelt schnappte er nach ihr, aber er schluckte nur eine beträchtliche Menge Salzwasser. Er versuchte, wild mit Armen und Beinen strampelnd, an die Oberfläche zu gelangen. Es misslang ihm. Er hatte nie schwimmen gelernt. Nun drückten die Wassermassen gegen seine Brust und füllten seine Lungen. Es war so schrecklich kalt, dass er glaubte, das Wasser würde ihm durch die Adern strömen und sein Blut langsam zu Eis erstarren lassen.

Jeder bekommt seine gerechte Strafe, Isai. Dies ist die deine.

Hilflos paddelte er mit den Armen, ohne jedoch die Hand öffnen zu können, in der er die Karte hielt, die Raphael ihm gegeben hatte.

Immer noch taub von der Ohnmacht verließen ihn seine Kräfte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sie sich erneut in ihm breit machte. Die Ohnmacht mischte sich mit der nackten Panik, die ihm die Kehle zugeschnürt hätte, hätte es die unendliche Macht des Ozeans nicht längst getan. Und wieder wurde alles schwarz...

Erst nach einigen Stunden schlich sich sein Bewusstsein leise zurück in seinen Körper. Es kribbelte auf seiner Haut. Warm und vertraut.

Es ist das Höllenfeuer, Isai. Du kennst es. Es ist lange her und doch hast du nicht vergessen wie es sich anfühlt.

Nein, kein Feuer. Die Strahlen der Sonne waren es, die ihn wärmten. Isai spürte etwas auf seiner Brust. Als er die Augen aufschlug, blickte er in das Gesicht eines Mädchens. Aus ihren smaragdgrünen Augen heraus sah sie ihn besorgt an. Etwas kleines, pelziges hüpfte aufgeschreckt von seiner Brust auf ihre Schulter und versteckte sich in dem glänzenden Haar. Sie hatte langes, braunes Haar, das ihr über die schmalen Schultern fiel und irgendwo auf halber Länge den Rücken runter endete. Isai richtete sich auf und stützte sich auf seine Ellenbogen. Die Bewegung kostete ihn erstaunlich viel Kraft. Er atmete tief ein. Die laue Morgenluft füllte seine Lungen und belebte seinen Kopf. Sein Kopf – ein stechender Schmerz. Isai kniff schmerzerfüllt die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, rutschte das Mädchen ein Stück weit von ihm weg. Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, die immer noch in seinem Schädel nistete.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte die klare Stimme des Mädchens. Sorge stand in ihrem Blick. Ohne zu antworten richtete Isai sich weiter auf und schaute sich verwirrt um.

„Ich denke schon“, entgegnete er schließlich unsicher.

Ist es das? Ist alles in Ordnung?

„Wo bin ich?“

„In Marina di Massa."

Marina di Massa – Italien. Wie passend.

Ohne etwas darauf zu erwidern, sprang Isai auf und zog das Stück Papier aus seiner Hand. Als er so abrupt aufstand, drang ein erschrockenes Quietschen aus dem Haar des Mädchens. Das pelzige kleine Ding schien ein ziemlicher Angsthase zu sein, Isai konnte sich einen spöttischen Blick nicht verkneifen. Dann wandte er sich dem Schreibstück zu.

Mit leisem Knistern faltete er die Karte auseinander. Die Wunden, die sie ihm in die Handfläche geschnitten hatte, beachtete er nicht.

Verletzungen, Schmerzen. Bist du sie noch nicht gewöhnt?

Die Karte schien nicht nass geworden zu sein, oder sie war bereits wieder getrocknet. Auf dem dicken Papier war mit schwarzer Tinte eine Art Stiefel gezeichnet. Er hielt eine Karte von Italien in der Hand. Er war also nicht zufällig hier. Stimmte das?

Kaum etwas geschieht rein zufällig.

Ein roter Fleck kennzeichnete die Stelle, wo er ins Wasser gefallen war. Er erinnerte sich an das, was Jesus ihm einst erzählt hatte. Es war schon eine sehr lange Zeit her. Dennoch glaubte er im sachten Rauschen des Windes die Stimme seines Freundes hören zu können. „Wenn ein Engel auf die Erde geschickt wird“, hörte er ihn sagen, „dann fliegt er, unsichtbar für alle Menschenaugen, und bewältigt die Aufgabe, die ihm zugetragen wurde.“

Isai hatte gelacht. „Sehr geheimnisvoll, Jesus. Hör auf in Rätseln zu sprechen. Was bedeutet das?“

„Manchmal haucht er einem Menschen das Leben wieder ein, wenn er zu früh gestorben ist, oder er bewahrt ihn davor, überhaupt von den Lebenden zu gehen. Aber es gibt noch eine weitere Möglichkeit, einen Engel auf die Erde zu schicken.“

„Welche? “, hatte Isai gefragt, während Jesus innegehalten hatte.

Er tat dies oft, um seinen Erzählungen die nötige Spannung zu verleihen. Erst einige übertrieben dramatische Sekunden später, hatte er weitergesprochen: „Es werden einem die Flügel genommen. Man wird dazu verdammt, als Mensch zu leben, bis man getan hat, was die großen Engel verlangen. Die Aufgabe wird mit Blut geschrieben, und selbst, wenn man alles richtig macht, ist es nicht sicher, dass man je wieder hierher zurückkehren darf, geschweige denn, seine Flügel wieder bekommt.“

Isai hatte ihm das nicht so recht abnehmen wollen, eher für eine Art Schauermärchen gehalten. Und trotzdem fürchtete er sich vor dieser Geschichte. Nicht, dass etwas Schlimmes daran war, als Mensch zu leben, aber als ein solcher zu sterben war... unheimlich.

Ist es das? Weißt du es genau?

Menschen starben deutlich früher als Engel, und man erzählte sich, dass der Tod eines Menschen um einiges qualvoller war, als der, den ein Engel starb. Ein Mensch hatte Ängste, von denen kein Geflügelter, vermutlich nicht einmal Raphael, eine Vorstellung hatte.

Wirklich niemand?

Es hieß, dass wenn jemand als Mensch auf die Erde kam, der Engel in ihm starb. Mit der Zeit, war der Körper reingewaschen vom himmlischen Blut, und das Blut eines Menschen rann durch seine Adern. Wenn es soweit war, war die Hoffnung, die eigenen Flügel wieder zu bekommen und im Marmorpalast leben zu dürfen, aussichtslos.