Die Mädchen von der Englandfähre - Lone Theils - E-Book
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Die Mädchen von der Englandfähre E-Book

Lone Theils

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Beschreibung

Der Bestseller aus Dänemark mit einer grandiosen Ermittlerin: Journalistin Nora Sand. Im Sommer 1985 verschwinden die dänischen Teenager Lulu und Lisbeth auf der Überfahrt nach England spurlos. Eine Suchaktion über Landesgrenzen hinweg verläuft im Nichts. Jahrzehnte später fällt Nora Sand, die in London für eine dänische Zeitung arbeitet, ein Foto der beiden in die Hände: Es zeigt die Mädchen in der Zeit nach ihrem Verschwinden. Nora lässt die Geschichte nicht los. Ihre Recherchen beginnen in Dänemark, wo die Mädchen in einem Heim aufwuchsen. Und führen zu dem englischen Frauenmörder Bill Hix. Der verbüßt im berüchtigten Gefängnis Wolfhall eine lebenslange Haftstrafe. Nora ahnt nicht, welche Konsequenzen ihre Nachforschungen haben. Die Suche nach der Wahrheit ist gefährlich ...

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Lone Theils

Die Mädchen von der Englandfähre

Ein Fall für Journalistin Nora Sand

Kriminalroman

Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein

Über dieses Buch

Der Bestseller aus Dänemark mit einer grandiosen Ermittlerin:

Journalistin Nora Sand.

 

Im Sommer 1985 verschwinden die dänischen Teenager Lulu und Lisbeth auf der Überfahrt nach England spurlos. Eine Suchaktion über Landesgrenzen hinweg verläuft im Nichts. Jahrzehnte später fällt Nora Sand, die in London für eine dänische Zeitung arbeitet, ein Foto der beiden in die Hände: Es zeigt die Mädchen in der Zeit nach ihrem Verschwinden. Nora lässt die Geschichte nicht los. Ihre Recherchen beginnen in Dänemark, wo die Mädchen in einem Heim aufwuchsen. Und führen zu dem englischen Frauenmörder Bill Hix. Der verbüßt im berüchtigten Gefängnis Wolfhall eine lebenslange Haftstrafe.

Nora ahnt nicht, welche Konsequenzen ihre Nachforschungen haben. Die Suche nach der Wahrheit ist gefährlich ...

Vita

Lone Theils war jahrelang London-Korrespondentin für die angesehene dänische Tageszeitung Politiken sowie fürs Radio und Fernsehen tätig. Ihr Debütroman und Auftakt der Reihe um Nora Sand erscheint in 14 Ländern. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit zwischen Dänemark und England teilt die Autorin mit ihrer Protagonistin auch die Leidenschaft fürs Kickboxen. Die Idee zu diesem Krimi beruht auf einer wahren Begebenheit.

1. Kapitel

Der Mann mit der Halbglatze sah aus wie ein ganz normaler afrikanischer Lehrer. Er trug hellgraue Cordhosen und ein gebügeltes Hemd. Ruhig und systematisch schenkte er Tee in die geblümten Porzellantassen. Nora nahm einen schwachen Geruch von Mandelöl und Waschpulver wahr, als er sich über den kleinen, an den Kanten angeschlagenen Kacheltisch lehnte und ein wenig Milch in ihren Tee goss. In seinen eigenen Tee ließ er zwei Zuckerwürfel fallen und rührte einmal um. Dann begann er zu erzählen. Von Verstümmelungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen.

Die Geschichten über die ungeheuerlichen Übergriffe, an denen er beteiligt gewesen war, begannen sich in Noras Kopf zu überlagern. Schulkinder, die bei der Massenvergewaltigung der Lehrerin zusehen mussten, ehe man auch sie mit Macheten abschlachtete. Ganze Dörfer, die ausradiert wurden, bis die Mörder zu müde waren, um noch länger die Arme zu heben. Dann sperrten sie die Überlebenden bis zum nächsten Tag bei den Leichen ein, ehe das Gemetzel weiterging. Der Redestrom des Mannes, der aus Rücksicht auf seine eigene Sicherheit nur als Mr. Benn bezeichnet werden wollte, riss nicht ab.

Nora umklammerte ihre Teetasse. Sie hatte große Lust, dem beherrschten Mann ihren brühend heißen Tee ins Gesicht zu schütten, um irgendeine Reaktion, einen winzigen Funken Menschlichkeit in seiner ausdruckslosen Miene zu sehen. Gefühle. Reue.

Aber sie riss sich zusammen. So arbeitet Nora Sand nicht. Die Korrespondentin des Wochenblatts Globalt hört aufmerksam zu, sammelt Informationen und schreibt. Sie ist professionell.

«Ich habe nur noch eine Frage», sagte sie schließlich ganz neutral.

Er sah sie mit einem Blick an, aus dem längst alles Menschliche gewichen war.

«Ja?»

«Warum? Warum haben Sie das getan?»

Er zuckte mit den Schultern. «Warum nicht? Sie hatten es nicht besser verdient. Sie waren Kakerlaken, und wir haben die Küche geputzt.»

Nora zitterte leicht. Sie fummelte am Aufnahmeknopf ihres Diktiergeräts herum, schaltete es aus und stand ein wenig zu hastig auf.

Auch Pete, der in der Ecke gesessen hatte, erhob sich, wechselte das Objektiv seiner Kamera und begann mit der Arbeit.

Aufnahmen des Mannes, der sich Mr. Benn nannte, im Schatten. Unscharfe Bilder von seinem Gesicht. Nahaufnahmen seiner dunklen Hände. Mr. Benns Hände waren sauber und gepflegt, aber Nora bildete sich ein, sie hätte getrocknetes Blut unter seinen Nägeln gesehen.

Es waren Bilder von einem Mann, der auf freiem Fuß war, weil er über jene ausgesagt hatte, die weiter oben in der Befehlskette gestanden hatten als er. Mr. Benn hatte mühelos das englische Asylverfahrenssystem durchlaufen und konnte einem friedlichen Leben in einem südenglischen Küstenort entgegensehen, wo höchstens der alljährliche Karneval Aufsehen erregte. Nora wurde schlecht.

Als Pete herauskam, kramte Nora die Autoschlüssel hervor und warf sie ihm zu. Er fing sie aus der Luft.

«Du fährst. Ich bin erledigt», sagte sie und ließ sich auf den Beifahrersitz seines ramponierten Ford Mondeo fallen.

Pete zog die Augenbrauen hoch. «Hart?»

Er verlor nie viele Worte. Dafür sprach er sie mit Nachdruck und einem unverkennbaren australischen Akzent aus.

Nora hätte mehrere Antworten parat gehabt, aber sie blieben ihr im Halse stecken.

«Es gibt Grenzen für das, was …»

Schweigend packte Pete seine Kameratasche in den Kofferraum, setzte sich hinters Steuer und startete den Motor. Doch statt auf die Autobahn nach London zu fahren, bog er auf die Küstenstraße ab.

Nora sagte nichts dazu. Sie arbeiteten zusammen, seit sie vor fünf Jahren als Anfängerin nach London gekommen war. Nach einer Vielzahl gemeinsamer Aufträge und Reisen von Osteuropa bis Afrika verstanden sie sich wortlos.

Es dämmerte, als sie die kleine Fischersiedlung Brine erreichten und hinter dem Pub parkten.

Nora fröstelte und schlug den Jackenkragen bis zu den Ohren hoch. Sie gingen zum Strand, wo die graue Meeresoberfläche und der perlmuttfarbene Himmel am Horizont ineinanderflossen. Der Wind war beißend, und nach einer halben Stunde konnte Nora spüren, wie sich das Gift in ihr langsam wieder abbaute. Oder besser gesagt, wie es eingekapselt und in eine zu bewältigende Größe verwandelt worden war, sodass sie es nun an einem dunklen Ort in ihrem Inneren aufbewahren konnte, auf einem Regalbrett neben anderen Geschichten vom gleichen Kaliber.

«Komm, wir laufen zurück zum Ort. In dieser Gegend gibt es guten Fisch, ich war mal mit Caroline hier», sagte Pete.

Wie immer schlich sich ein wenig Traurigkeit in seinen Tonfall, wenn er von der Liebe seines Lebens sprach, die schon lange nach Melbourne zurückgekehrt und mit einem Chirurgen verheiratet war.

Gemächlich schlenderten sie die schmalen Gassen hinauf, die zu dieser Zeit, unter der Woche und außerhalb der Saison, recht verlassen wirkten.

«He, warte mal kurz.»

Nora war vor einem Laden stehen geblieben, der sich von den pastellfarbenen Töpferwerkstätten und Delikatessläden mit geräuchertem Fisch abhob. Die Farbe blätterte von der Fassade, und die Fenster waren schmutzig, aber hinter der Scheibe konnte Nora ihn trotzdem erahnen: einen zerschlissenen, dunkelbraunen Lederkoffer, der perfekt in ihre Sammlung passen würde.

Sie drückte die Klinke hinunter, und zu ihrer Überraschung ging die Tür auf.

Ein Geruch von Moder und Staub schlug ihr entgegen, als sie den Raum betrat, der so vollgestopft war, dass die Wände schier einzustürzen drohten. An der einen Wand stapelten sich in Leder gebundene Bücher, daneben standen Regale mit Kristallgläsern und Geschirr.

Die wenigen freien Plätze an der Wand waren mit Gemälden unterschiedlicher Qualität behängt. Nora stellte fest, dass Schiffsmotive hier hoch im Kurs standen.

Aus einem Hinterzimmer drangen ein lachender Glenn Miller und die letzten Takte von «In the Mood». Hinter der Theke stand ein Mann mit einem gigantischen roten Vollbart und summte mit, während er einen Kerzenständer aus Messing polierte.

«Willkommen», sagte er lächelnd.

Nora lächelte ebenfalls und drehte eine schnelle Runde durch den Laden. Sie überlegte kurz, eine versilberte Butterdose in Form einer Muschel zu kaufen, kehrte dann aber zu dem Koffer zurück, den sie im Fenster entdeckt hatte.

«Darf ich mir den einmal näher ansehen?», fragte sie und deutete darauf.

Der Mann zwängte sich hinter der Theke hervor. Er war korpulent, bewegte sich jedoch erstaunlich flink im Zickzack zwischen all den ausrangierten Möbeln und Funden aus Haushaltsauflösungen. Er verschob eine Blechdose und einen Stapel LPs und zog den Koffer zwischen den anderen Ausstellungsstücken im Schaufenster hervor.

«Der ist gerade letzte Woche hereingekommen. Sehr gut in Schuss», sagte er.

Nora streckte die Hand aus und befühlte das Gepäckstück. Echtes Leder. Dunkelbraun und zerkratzt. Der perfekte abgewetzte Charme.

«Was hatten Sie sich vorgestellt?», fragte sie beiläufig.

«Hm. Tja», antwortete der Mann und kniff nachdenklich die Augen zusammen. «Wie wäre es mit fünfzig Pfund?»

Nora verzog das Gesicht. «Ich hatte eher so an zwanzig gedacht.»

«Das ist echtes Leder», erwiderte er.

Nora drückte auf das Schloss. Es sprang nicht auf. Sie runzelte die Stirn. «Klemmt das etwa?»

Der Mann zuckte mit den Schultern. «Ach, das ist sicher nichts, was sich nicht mit einer Haarnadel und ein bisschen Fingerspitzengefühl beheben ließe.»

«Ja, aber da könnte doch alles Mögliche drinnen sein. Oder vielleicht ist er innen verschimmelt.»

Der Mann nahm ihr den Koffer aus der Hand und schüttelte ihn. Ein leises, gedämpftes Geräusch war zu hören.

«Hm. Das sind höchstens Papiere. Hören Sie, wenn Sie für vierzig Pfund zuschlagen, bekommen Sie den Inhalt gratis. Unbesehen. Wer weiß? Vielleicht liegt ein Lottoschein mit sechs Richtigen darin? Das ist doch eine Chance!»

Drei Minuten später verließ Nora den Laden um dreißig Pfund ärmer und mit dem Koffer in der Hand.

«Du bist unverbesserlich», sagte Pete und verdrehte die Augen.

«Jaja. Aber du musst doch zugeben – er passt perfekt unter den Sofatisch. Neben die Schiffskiste.»

Pete schüttelte den Kopf und ging weiter den Hügel hinauf. Sie aßen frischgebratene Schollen mit Erbspüree und hausgemachte Pommes frites. Als sie wieder im Auto saßen und Pete eine Eagles-CD einlegte und im Navigationsgerät «nach Hause» einstellte, hatte Nora so viel Energie zurückgewonnen, dass sie im Kopf schon den Artikel über den Lehrer aus Ruanda entwarf.

Doch als Pete sie vor ihrer Wohnung in Belsize Park absetzte, war sie plötzlich todmüde und konnte sich gerade so zur Tür schleppen, die Zähne putzen und ins Bett taumeln.

2. Kapitel

Der Glockenschlag von Big Ben schallte durch die Wohnung. Das war der spezielle Klingelton, den sie auf dem Handy ihrem Chef Oscar Krebs zugeteilt hatte. Unter den Kollegen wurde er nur «Krebs» genannt, weil er imstande war, den Schwachpunkt einer jeden Geschichte zu finden und sie mit seinen Scheren zu bearbeiten, bis sie entweder in sich zusammenfiel oder der Journalist seine Recherche vertiefen musste. Mit diesem Vergleich konnte auch Krebs selbst gut leben. Einige Stimmen aus der Redaktion höhnten jedoch, der Name passe auch gut zu seiner Gesichtsfarbe im gestressten Zustand.

Nora respektierte seine Manie, alle Fakten zwei- bis dreimal zu überprüfen, ehe ein Artikel auf den Seiten von Globalt erschien. Was sie dagegen grenzenlos irritierte, war sein untrügliches Talent, den Begriff Greenwich Mean Time misszuverstehen. Er vergaß nicht nur, dass es in London eine Stunde früher war, sondern behauptete auch noch unverdrossen, sie wäre ihm eine Stunde voraus. Nachdem sie mehrere Versuche unternommen hatte, es ihm zu erklären, hatte Nora verstanden, dass es Dinge auf der Welt gab, die man Chefs nicht beibringen konnte.

«Du bist ja schon seit ein paar Stunden auf den Beinen», sagte Krebs mit morgendlichem Elan.

Nora schielte zum Wecker auf ihrem Nachttisch. Es war 6.30 Uhr britischer Zeit. Sie schwang die Beine über die Bettkante.

«Hmpf.»

«Wunderbar. Wann kannst du Ruanda abgeben? Wir rechnen auf Seite 7 mit dir, und die Deadline ist heute Nachmittag.»

Nora murmelte vage etwas über zwei Uhr «dänischer Zeit», legte auf und schlurfte in das zweite Zimmer der Wohnung, wo sie erstaunlicherweise eine Art Wohnzimmer, ein Büro, eine Bibliothek und eine Kochecke untergebracht hatte. Im Halbschlaf drehte sie ihre übliche Morgenrunde, um den Computer, BBC News 24 im Fernsehen und den Wasserkocher einzuschalten und dann weiter in das winzige Badezimmer zu tapsen.

Doch kurz davor endete die Routine, denn plötzlich lag sie der Länge nach im Flur, weil sie über den Koffer gestolpert war, den sie am Vorabend direkt hinter der Tür stehen gelassen hatte. Das Schloss war aufgesprungen, und aus dem offenen Schlund des Koffers waren Polaroidfotos herausgerutscht. Nora setzte sich auf den Boden und öffnete den Koffer ganz.

Sie nahm den Stapel Bilder in die Hand und blätterte sie durch. Auf allen waren junge Mädchen zu sehen, Teenager. Mädchen, die allein an einer Mauer oder Wand standen, fast immer in der gleichen Pose. Alle blickten direkt in die Kamera.

Einige flirteten offenkundig mit dem Fotografen und lächelten. Andere wirkten angesichts der Situation eher verschüchtert und beklommen. Den Frisuren und der Kleidung nach zu urteilen, mussten die Fotos zwischen den achtziger Jahren, in denen Haargel und Schulterpolster angesagt waren, und den neunziger Jahren aufgenommen worden sein, denn auf einem T-Shirt war das Achtung, Baby-Logo von U2 zu sehen.

Die Sammlung hatte wohl einem Amateurfotografen gehört. Denn es waren keine professionellen Aufnahmen, sondern eher ein witziger Einblick in einige klägliche Versuche, die schwierige Kunst des Fotografierens zu erlernen. Sicher handelte es sich um einen Mann, der von jungen Frauen fasziniert war, offensichtlich aber keine Ahnung von der Wahl des Motivs oder der Belichtung hatte und auch nicht einen Hauch von Talent. Nora zuckte die Achseln und wollte den Koffer gerade wieder schließen, als ihr Blick bei einem Bild hängenblieb, das sich von den anderen unterschied.

Auf diesem Foto waren zwei Mädchen zu sehen. Eine lächelnde Blondine, die ein wenig mollig, aber sehr hübsch war, und neben ihr ein dunkelhaariges zierliches Mädchen, das verstohlen zum Fotografen herüberschielte. Es war Sommer, und die beiden standen in Shorts vor einem weißen Hintergrund. Nora vermutete, dass das verwaschene Feed-the-World-T-Shirt schon ein oder zwei Jahre alt gewesen sein musste, und das Live-Aid-Konzert hatte 1984 stattgefunden.

Aber es war nicht das T-Shirt, das ihren Blick gefesselt hatte, sondern das Schild hinter den beiden Mädchen, auf dem neben einem roten Pfeil auf Dänisch auf das Vogndæk 2 einer Fähre hingewiesen wurde.

Sie stapelte die Bilder auf ihrem Schreibtisch und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen und eine Katzenwäsche zu machen. Dann bereitete sie sich eine Tasse tiefschwarzen Nescafé zu, frischte die Farbe mit etwas Milch auf, setzte sich an den Computer und stellte das Diktiergerät an.

Mr. Benns gefühlskalte Stimme erfüllte den Raum, und in den darauffolgenden Stunden gab es in Noras Leben nur noch ihn und seine Gräueltaten. Ihre Finger tanzten über die Tastatur.

Als Nora den Artikel abgegeben hatte und auf eine Rückmeldung wartete, versuchte sie zerstreut, ein wenig Ordnung in die Papierstapel auf ihrem Schreibtisch zu bringen. Dann warf sie einen Blick in den Kühlschrank und überlegte, ob sie einen längeren Ausflug zu Whole Foods in Kensington unternehmen sollte, um sich etwas zu essen zu kaufen. Sie liebte es, stundenlang durch die drei Etagen mit ausgewählten Speisen zu schlendern, und kam immer mit einem leeren Portemonnaie und Tüten, gefüllt mit italienischem Ziegenkäse, Dinkelkeksen, ökologischen Johannisbeeren oder einem Cheesecake von der Bäckertheke, zurück. Aber heute war sie nicht in der richtigen Stimmung.

Irgendetwas an dem Bild von der Fähre beschäftigte sie. Es war ein Gefühl, als würde sie alte Soldatenfotos von jungen grinsenden Männern betrachten, die sich für unsterblich gehalten hatten, aber heute nur noch als in Stein gehauene Buchstaben auf einem moosüberwachsenen Granitmonument in der Bretagne existieren.

Sie versuchte, die Ahnung einer Tragödie abzuschütteln. Die Mädchen auf dem Bild waren sicher glücklich verheiratet oder wieder geschieden und hatten die Fährüberfahrt ganz vergessen, die sie vor mehreren Jahrzehnten einmal gemacht hatten.

Doch dann nahm Nora das Foto von den beiden Mädchen erneut in die Hand. Die eine hell, die andere dunkel. Der Blick der Blonden war unnachgiebig, als hätte sie denjenigen, der hinter der Kamera stand, herausfordern wollen: Was zum Teufel willst du von mir? Die Dunkelhaarige wirkte unsicher, sie hatte den Kopf schiefgelegt, und ihr Blick war verstohlen, als würde sie es nicht wagen, den Betrachter direkt anzusehen. Nora drehte das Foto um. Die Rückseite war nicht beschriftet.

Das heisere Klingeln der Sprechanlage riss sie aus ihren Gedanken. Sie stand auf und ging zur Tür.

«Ja?», sagte sie.

«Guten Tag, hier spricht die Polizei. Uns wurde eine Ruhestörung gemeldet», tönte eine Stimme in breitem Nordjütländisch aus der Sprechanlage.

Mist, sie hatte völlig vergessen, dass sie mit Andreas zum Mittagessen verabredet war.

Im Gymnasium waren sie Freunde gewesen, aber auf einer der letzten Schulpartys hatte Andreas zu viel getrunken und ihr seine Liebe gestanden. Und als Nora sie nicht erwidern konnte und darum gebeten hatte, dass sie trotzdem Freunde blieben, war Andreas ihr die letzten Wochen bis zum Abitur aus dem Weg gegangen. Kurz darauf war Nora nach England gereist, um sich eine einjährige Auszeit zu nehmen, und Andreas war auf der Polizeischule aufgenommen worden. Seither hatte er sich schon einige Dienstgrade hochgearbeitet und war bei der Kripo gelandet. Nora hatte seinen Weg aus der Ferne verfolgt. Aber mit den Jahren hatte Andreas seinen Stolz offenbar doch überwunden. Er hatte Nora auf Facebook entdeckt und ihr eine Nachricht geschickt, weil er für einige Wochen in London war, um bei Scotland Yard einen Spezialkurs über Terrorzellen zu besuchen.

Nora warf einen Blick in ihren Kalender, der unter einer mehrere Tage alten Ausgabe des Guardian, einem WHO-Report und einem ausgerissenen Economist-Artikel über Migration lag, nach dem sie schon vergeblich gesucht hatte.

Im Kalender stand ganz richtig: Mittagessen, Andreas, 13.30.

«Was ist denn nun?», fragte er durch die Sprechanlage.

Sie ließ ihn herein. «Komm rauf. Ich bin gleich so weit.»

Die breiten Schultern und das strohblonde Haar über den braunen Augen, das war Andreas, so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Und trotzdem konnte sie sehen, dass die Zeit Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen hatte. Er war erwachsen geworden.

Wortlos breitete er seine Arme aus, und sie warf sich hinein.

«Immer noch hübsch wie eine Meerjungfrau», sagte er mit schiefem Grinsen.

Nora verdrehte die Augen. «Und du hast immerhin keinen polizeitypischen Oberlippenbart. Das hätte ich nicht verkraftet.»

Sie bat ihn mit einer Handbewegung in ihre Wohnung, die mit einem fast zwei Meter großen und muskulösen Polizisten darin noch winziger wirkte als sonst.

«Ich habe seit heute Morgen gearbeitet. Lass mich kurz duschen, bevor wir irgendwo hingehen. Möchtest du in der Zwischenzeit einen Kaffee trinken?»

«Was soll das denn heißen? Willst du etwa nicht in deinem Kung-Fu-Morgenmantel mit mir essen gehen? Wirst du auf deine alten Tage spießig?», fragte Andreas lachend und sah sich um.

Nora tat beleidigt und zeigte auf den Wasserkocher.

«Wasser. Kaffee. Milch im Kühlschrank. Ich gehe.»

Während sie das heiße Wasser über ihren Körper rinnen ließ, überlegte sie, wo sie mit Andreas hingehen könnte. Um die Ecke lag das ökologische Honey-Bee-Café, vielleicht konnten sie aber auch in die kleine Tapas-Bar an der U-Bahn-Station gehen. Sie verwarf die Idee wieder. Zu exotisch für den bodenständigen Nordjüten, der er im Grunde seiner Seele immer noch war. Sie entschied sich für das kleine türkische Restaurant hinter dem Supermarkt.

Hastig föhnte sie sich die Haare und schlüpfte in ein fast frisches T-Shirt, eine schwarze Jeans und Sandalen. Nach einem Kajalstrich um die blaugrünen Augen und etwas Lipgloss war sie bereit, in Würde essen zu gehen.

Als sie ins Zimmer kam, hatte Andreas sich hingesetzt, eine Tasse Kaffee in der einen Hand und das Foto von den beiden Mädchen in der anderen.

«Ist das eine Sache, über die du schreibst?»

Nora schüttelte den Kopf.

«Ich habe gestern einen alten Koffer gekauft, und das Bild war Teil eines ganzen Stapels, der hinter dem Futter hervorgerutscht ist», erklärte sie und deutete auf den Koffer, der noch immer im Flur auf dem Boden lag. «Ich weiß nicht genau, was es ist. Aber irgendetwas an dem Foto interessiert mich. Und es macht mich wahnsinnig, dass ich es nicht einordnen kann. Ich habe das Gefühl, als müsste ich wissen, worum es hier geht.»

Andreas kniff die Augen zusammen. «Es sieht so aus, als würde das eine Mädchen ein Armband tragen. Hast du mal eine Lupe?»

Nora wühlte in ein paar Schubladen und fand ein Vergrößerungsglas, das sich in einem Haufen aus Sicherheitsnadeln, Farbkreide und alten Ladegeräten versteckt hatte, den sie dringend aussortieren müsste.

Sie riss Andreas das Foto aus den Händen. Und tatsächlich konnte man am Arm des einen Mädchens ein Armband aus Buchstabenperlen erkennen. Es war unscharf, aber Nora meinte, ein L lesen zu können … Und vielleicht ein E oder I?

Lene? Line? Lisette? Lea? Keiner der Namen brachte sie auf die Spur, warum sie das Foto nicht losließ. Kam ihr die Fähre bekannt vor, auf der das Bild aufgenommen worden war?

Andreas unterbrach ihre Grübeleien. «Ich weiß ja nicht, wie es mit dir aussieht, aber ich habe heute nicht einmal gefrühstückt. Was ist denn jetzt? Bekomme ich was zu essen?»

Kurz darauf saßen sie bei Abdul, und Andreas überraschte Nora, indem er routiniert bestellte. Köfte und Cacık und Pide, und dann sagte er auch noch Teşekkür zu Abdul, der daraufhin sein schönstes Lächeln zeigte.

Nora zog anerkennend die Augenbrauen hoch.

«Was ist?», fragte Andreas trocken. «Glaubst du etwa, von Aaalborg gehen keine Fernflüge ab?»

«Entschuldigung. Ich habe dich nur mehr als einen Liebhaber von Kartoffeln mit Soße in Erinnerung. Ich weiß noch, wie sehr ich dich dazu überreden musste, zum ersten Mal Lasagne zu probieren», entgegnete sie stirnrunzelnd.

«Menschen ändern sich», erwiderte er und zuckte mit den Schultern.

Abdul brachte eine Kanne mit Eiswasser, und Noras Gedanken wanderten wieder zu dem Bild von den beiden Mädchen.

«Irgendetwas an diesem Foto lässt mir keine Ruhe. Ich habe das Gefühl, als müsste ich diese Mädchen kennen», sagte sie.

Andreas nickte. «Mir geht es genauso.»

«Also gut. Wir haben zwei Mädchen. Der Name des einen fängt mit L an. Oder vielleicht hatte sie einen Freund, dessen Name mit L anfing. Auf einer Fähre? Lise auf einer Fähre? Line? Lis …?»

Und plötzlich, als Abdul gerade einen roten Plastikkorb mit warmem türkischem Brot auf den Tisch stellte, fiel der Groschen.

«Lisbeth!», rief sie und schlug sich vor die Stirn. «Mensch, Andreas, das ist Lisbeth! L für Lisbeth. Erinnerst du dich nicht an diese Sache? Die Mädchen von der Englandfähre?»

Es war einer jener Fälle, die manchmal in Dokumentationen auftauchten. Nora erinnerte sich an ihre Dänemarkreise im vergangenen Frühjahr. Als sie bei Trine im Ferienhaus zum Osterfrühstück gewesen war, hatte sie nebenbei die letzten fünf Minuten einer Fernsehsendung mitbekommen, in der noch einmal das Mysterium aufgerollt wurde, dass Lisbeth und das andere Mädchen, an dessen Namen Nora sich nicht erinnern konnte, bis heute spurlos verschwunden waren.

Andreas nickte, während er ein Stück von dem Brot abbrach und es in den Mund steckte.

«Doch, ich erinnere mich dunkel.»

Nora grub tief in ihrem Gedächtnis nach den Vorfällen von damals.

«Es ging irgendwie darum, dass sie von einer Fähre verschwanden und nie wieder auftauchten.»

Andreas zuckte mit den Schultern. «Das ist so lange her. Vermutlich liegen sie irgendwo auf dem Meeresgrund. Ich glaube, mein Onkel Svend hat einen Kollegen, der damals mit dem Fall betraut war.»

Die verschiedenen Gerichte kamen, und sie taten sich schweigend auf. Nachdem sie eine Weile gegessen hatten, konnte Nora sich nicht länger zurückhalten.

«Kannst du deinen Onkel nicht anrufen? Ich muss das jetzt einfach wissen.»

Andreas lehnte sich zurück und betrachtete sie mit halbgeschlossenen Augen.

«Und du meinst nicht, das könnte warten, bis wir mit dem Essen fertig sind?»

«Komm schon. Ich bestelle uns solange einen Kaffee», schlug sie vor.

Seufzend zog Andreas sein Handy hervor.

Nora nahm Blickkontakt zu Abdul auf und orderte den Kaffee, während Andreas bei seinem Onkel anrief.

Der Kaffee kam in einer Kupferkanne mit kleinen Gläsern und zwei türkischen Konfekten auf einer Tortenserviette mit Spitze. Nora schenkte sich und Andreas ein, während der mit seinem Onkel redete. Sie nippte an dem starken Kaffee und ließ ein Stück Würfelzucker hineinfallen.

Andreas beendete das Gespräch. «Na dann, vielen Dank. Grüß Annika schön von mir.»

Er ließ sich Zeit mit seinem Bericht, trank erst von dem Kaffee, verzog dann das Gesicht und griff ebenfalls zum Zucker.

Nora sah ihn auffordernd an. «Jetzt komm schon. Spuck es endlich aus.»

«Ja, das stimmt wirklich. Mein Onkel arbeitet mit Karl Stark zusammen, der als junger Polizeikommissar in Esbjerg tätig war, als die Mädchen verschwunden sind. Und der Fall hat ihn nie losgelassen.»

«Okay, und was ist damals genau passiert?»

«Mein Onkel hat sich in groben Zügen daran erinnert, dass es um zwei Mädchen ging, die in einer Einrichtung für straffällig gewordene Jugendliche außerhalb von Ringkøbing gewohnt haben. Sie waren in einer Gruppe von acht Jugendlichen mit drei erwachsenen Betreuern zu einem Kurztrip nach London aufgebrochen. Auf der Fähre sind Lisbeth und Lulu dann spurlos verschwunden. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Oder vom Wasser, wenn man so will. Und sie sind nie wiederaufgetaucht. Lisbeths schwarzen Rucksack hat man auf dem Sonnendeck gefunden, aber das ist auch die einzige Spur.»

«Stimmt. Die andere hieß Lulu», sagte Nora nachdenklich.

«Letztes Jahr wurde noch einmal in der Sendung Ungeklärte Fälle im DR darüber berichtet, wahrscheinlich hattest du davon die letzten Minuten gesehen», erklärte Andreas.

Nora überlegte einen Augenblick.

«Mm. Wohnt dein Onkel immer noch in Esbjerg?»

«Nein, inzwischen hat er Annika kennengelernt, die Liebe seines Lebens, und ist mit ihr zusammen in ein Haus nach Dragør gezogen. Er arbeitet jetzt bei der Mordkommission in Kopenhagen, genau wie Karl Stark. Soll ich meinen Onkel mal um Starks Nummer bitten?»

Nora nickte. «Ja, das wäre toll.»

Abdul brachte ungefragt noch einen Kaffee und zwinkerte Nora zu, als sie ihn fragend ansah.

«Heute ist ein besonderer Tag. Wie schön, dass Sie mal nicht gestresst telefonieren und nebenbei nur schnell etwas zum Mitnehmen bestellen, um es dann am Schreibtisch vor dem Computer zu essen», sagte er fröhlich.

Andreas schüttelte lächelnd den Kopf. «Manches ändert sich aber auch nie, oder?», fragte er.

Und dann vertieften sie sich in das obligatorische Gespräch: Wer jetzt was tat. Was aus Ole, Klaus und der Roten Rita geworden war, wer geheiratet hatte, wer Hausfrau geworden war und wer Karriere gemacht hatte.

«Und was ist mit dir?», fragte Nora vorsichtig, als Andreas von Scheidungen, Stellungen im öffentlichen Dienst und einer Zwillingsgeburt bei den ehemaligen Klassenkameraden berichtet hatte.

Natürlich hatte sie sich sofort sein Facebook-Profil angesehen, nachdem er sie kontaktiert hatte, aber die Informationen waren sehr spärlich. Er hatte nicht angegeben, ob er verheiratet oder Single war. Aus den Gruppen, in denen er Mitglied war, hatte sie nur herauslesen können, dass er vermutlich immer noch Triathlet war und seinen Enthusiasmus für Monty Python und den FC Chelsea nicht verloren hatte.

«Tja, was ist mit mir?», fragte Andreas.

In diesem Moment klingelte das Handy. Es war der Krebs.

«Tach. Ziemlich guter Artikel, muss ich sagen. Hätte aber trotzdem gern, dass du ihn ein bisschen umschreibst. Ich finde, ausgehend von den Ortsangaben, kann man den Mann zu leicht identifizieren, die müssen also etwas besser verschleiert werden. Und dann muss der dritte Teil gekürzt werden. Da wiederholt sich der Text. Deadline ist in einer halben Stunde. Tschüss.»

Noch ehe sie etwas erwidern konnte, hatte er aufgelegt.

Nora angelte eine Zwanzig-Pfund-Note aus ihrem Portemonnaie und legte sie auf den Tisch.

«Tut mir leid. Die Arbeit ruft.»

Andreas’ Miene war versteinert.

Nora versuchte, es wiedergutzumachen. «Wie lange bleibst du in der Stadt?»

Sie wurde mit seinem schiefen Grinsen belohnt. «Nun hau schon ab. Wir mailen.»

3. Kapitel

Nora wurde von der kleinen Trompetenfanfare geweckt, mit der sich die Billigfluglinie selbst zu ihrer pünktlichen Landung in Kopenhagen gratulierte.

Es war einer der üblichen Folterflüge, bei denen sie vor vier Uhr morgens aufstehen musste, um rechtzeitig am Flughafen anzukommen. Noch bevor die Maschine in Stansted auf die Startbahn gerollt war, hatte sie schon wieder tief und fest geschlafen.

Das Buch, das sie während der Reise lesen wollte – ein komplexes Sachbuch über Ölkonflikte in Afrika –, lag noch ungeöffnet auf ihrem Schoß, und sie steckte es wieder in die Handtasche, bevor sie aufstand und das Flugzeug verließ.

In der Ankunftshalle stand er in all seiner Leibesfülle und winkte mit einem Pappbecher von Starbucks, als hätte sie ihn in seinem dunkelgrünen Anzug nicht sowieso sofort entdeckt. Kein anderer Mann, den sie kannte, trug eine Weste. Vor allem nicht im Juni. Er strahlte über seinem grauen Vollbart. Christian Sand, ein anerkannter Historiker, spezialisiert auf die dänische Geschichte des 17. Jahrhunderts, und der Grund dafür, dass Noras voller Name im Pass Leonora Christine Sand lautete.

«Papa, du hättest mich wirklich nicht abholen müssen.»

«Das mache ich doch gern. Ich habe sowieso frei, bis ich nächste Woche zu der Konferenz in Stockholm fahre. Ich arbeite an einem neuen Aufsatz über die Flucht aus Hammershus», erklärte er enthusiastisch und nahm Noras Koffer.

Sie fuhren in dem kleinen erbsengrünen Fiat Punto, der Noras Vater schon seit mindestens einem Jahrzehnt beförderte, nach Bagsværd zum Elternhaus. Eigentlich hatte der Wagen ihrer Mutter gehört, aber nachdem diese die Familie verlassen hatte, hatte ihr Vater das Auto als sentimentale Erinnerung an eine zwanzig Jahre währende und weitgehend glückliche Ehe behalten.

Im Haus roch es unverkennbar nach Vater. Staubige Bücher, Pfeifenrauch, Leder und Roggenbrot, das zum Gehen in einer großen Tonwanne in der Waschküche stand. Er machte in der Küche Kaffee in der Stempelkanne, während Nora den Koffer in ihr Zimmer im ersten Stock trug. Ihr altes Bett aus gebeiztem Holz stand an demselben Ort wie immer, und selbst ihre alten Tim-und-Struppi-Plakate durften noch an der Wand hängen. Vielleicht würde sich Christian Sand eines Tages aus irgendeinem Anlass für Einrichtung und Modernisierung des Hauses zu interessieren beginnen, aber Nora konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, aus welchem.

Sie packte das gepunktete Kleid aus und hängte es über einen Bügel, damit es sich bis zum nächsten Abend aushängen konnte.

«Die Feier geht um fünf los. Wir fahren vorher bei Ellen vorbei und nehmen sie und Onkel Jens mit zu dem Landgasthof», erklärte der Vater. «David kommt nicht. Er ist in seinen Kleingarten gefahren. Diese Menschenansammlung ist ihm zu viel», fügte er seufzend hinzu.

Die Nachricht kam für Nora nicht überraschend. Bei ihrem hochbegabten Bruder war nie offiziell Autismus festgestellt worden, aber nach all dem, was Nora bisher darüber gelesen hatte, musste er unter irgendeiner Krankheitsform dieser Art leiden.

In seiner Tätigkeit als Aktuar bei einer großen Versicherung konnte er von seinem mathematischen Talent Gebrauch machen und gleichzeitig oft von zu Hause aus arbeiten und damit, so gut es ging, den Kontakt zu all diesen verwirrten und frustrierten Menschen meiden, von denen die Welt bevölkert war. An guten Tagen war er lediglich etwas verschlossen und schüchtern. An schlechten Tagen war er nicht ansprechbar. David sah man nur zu Davids eigenen Bedingungen oder eben auch nicht.

«Na ja, aber es wird bestimmt trotzdem eine schöne Feier. Hast du deine Rede schon vorbereitet?»

Der Vater nickte.

Nora hatte sich gefreut, ihre Lieblingstante aus Kalundborg wiederzusehen, und Sonderurlaub beantragt, um zu ihrem siebzigsten Geburtstag kommen zu können.

«Na gut, aber wenn du sowieso schon in der Stadt bist, musst du auch in der Redaktion vorbeischauen», hatte Krebs sie ermahnt.

Und genau das wollte sie auch tun, ehe sie sich im neuen Gebäudekomplex des Dänischen Rundfunks in Ørestad mit ihrer Freundin Louise zum Mittagessen treffen würde.

Sie nahm die S-Bahn von der Station Bagsværd, stieg in Nørreport aus und lief den restlichen Weg zur Redaktion, die sich über zwei Etagen eines Hauses erstreckte, in dessen Erdgeschoss ein Antiquariat lag.

«Heeey, Miss Sand», rief die Rezeptionsdame Anette frech.

Während eine lange Reihe von Journalisten, Chefredakteuren, Fotografen und Korrektoren von der Arbeit bei einem so ehrgeizigen Nachrichtenmagazin wie Globalt verschlissen worden waren, blieb Anette die einzige Konstante. Sie war seit der ersten Nummer von Globalt auf ihrem Posten und seither eine Art Übermutter für alle Journalisten und Redakteure. Sie kümmerte sich um deren Zahnarzttermine, schickte den Ehefrauen Blumen, wenn ihre Männer zu lange an einem Projekt arbeiteten, und hatte für alle kleinen und großen Sorgen ein offenes Ohr, ohne je etwas weiterzutratschen.

Krebs war nicht der einzige Chefredakteur, der vorgeschlagen hatte, ihren Namen ins Impressum zu setzen. Ohne ihre Mithilfe würde das Magazin auf keinen Fall einmal in der Woche erscheinen, behauptete er.

Nora zog eine Schachtel mit englischem Lakritzkonfekt, das sie am Flughafen gekauft hatte, aus der Tasche und stellte sie auf die Empfangstheke.

Anette drohte ihr mit dem Zeigefinger. «Pfui, du weißt doch genau, dass ich mir das nicht erlauben darf», sagte sie mit unverhohlener Begeisterung.

Die Schachtel verschwand blitzschnell in der obersten Schreibtischschublade, wo sie auf irgendeine Notsituation wartete, in der man einen süßen Seelentröster gebrauchen konnte.

«Krebs sitzt im Konferenzraum, sie sind gerade mit der 13-Uhr-Besprechung durch», erklärte sie und fügte hinzu: «Er hat heute gute Laune.»

Der Konferenzraum lag hinter einer kleinen Personalküche versteckt, und man konnte ihn nur erreichen, indem man sich an zwei Archivschränken und einem Stapel gebundener Zeitungssammlungen vorbeizwängte, an deren ursprünglichen Zweck sich niemand mehr erinnern konnte.

«Wenn das mal nicht unsere Entsandte ist!», sagte Krebs lächelnd und warf sich ein Nikotinkaugummi in den Mund.

Unter den Kollegen sorgte es immer wieder für Erheiterung, dass Krebs zwar vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte, seither aber mindestens ein ganzes Päckchen Nikotinkaugummi am Tag konsumierte. Vor Redaktionsschluss steckte er sich auch gern drei Kaugummis auf einmal in den Mund.

Auf dem Konferenztisch stand eine Sammlung leerer Kaffeetassen, darunter eine prätentiöse Penguin-Books-Tasse mit einem aufgedruckten Virginia-Woolf-Zitat. Eigentlich war die Kulturredakteurin Viola Ponte die Besitzerin dieser Tasse, doch der Sportredakteur riss sie sich jeden Morgen unter den Nagel, sodass Ponte mit einer angeschlagenen Tasse des Fußballvereins Brøndby vorliebnehmen musste, von der keiner zugeben wollte, dass er sie eingeschleppt hatte.

Die Tafel hinter Krebs war mit DIN-A3-Bögen in allen Stadien auf dem Weg zur Magazinseite zugekleistert. Einige waren schon mit Text und Fotografien bestückt, andere waren noch gähnend leer und nur mit ein paar hastig hingekritzelten Stichworten bedeckt.

«Dann lass mal hören, was du so treibst», sagte Krebs, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

«Hm. Ich habe ein paar Ideen. Pete und ich hatten darüber gesprochen, dass wir für einen Monat nach Afrika fahren und dort Geschichten sammeln könnten. Zum Beispiel könnte man …»

«Ja, aber wir hatten doch gerade die Ruanda-Geschichte. Hast du nichts, äh, Näheres?», unterbrach sie Krebs ungeduldig.

«Naher Osten?», fragte sie versuchsweise.

«Hm …» Krebs klang nicht überzeugt.

Nora holte tief Luft.

«Na gut. Außerdem gibt es da noch so eine Geschichte, aus der vielleicht etwas werden könnte. Aber ich weiß noch nicht, wie viel wirklich dahintersteckt. Erinnerst du dich noch an die beiden Mädchen von der Englandfähre?»

Krebs schüttelte den Kopf, als würde er versuchen, einen kleinen Informationsfetzen aus seinem Gehirn hervorzuholen, das normalerweise darauf trainiert war, die feinen Nuancen in der amerikanischen Außenpolitik in der New York Times und die kleinsten Kurskorrekturen an der Frankfurter Börse herauszufiltern.

«Äh. Nicht ganz.»

«Wie gesagt weiß ich nicht, ob etwas daraus werden kann. Aber ich bin über ein Foto gestolpert, das eine Verbindung zu diesem Fall haben könnte. Damals war er groß in allen Medien. Zwei junge Mädchen, die in den achtziger Jahren spurlos von einer Fähre nach England verschwunden sind.»

«Hm. Ist das nicht ein bisschen zu … historisch? Ich finde, das klingt eher wie eine Story für die Klatschpresse. Kurz vor dem Kreuzworträtsel», brummelte Krebs skeptisch.

Im selben Moment schneite Anette mit einem Stapel Dokumenten herein.

«Zur Unterschrift. Und bitte etwas schneller als beim letzten Mal, wenn’s geht», mahnte sie und machte auf dem Absatz kehrt.

«Anette – du bist doch eine Frau des Volkes», sagte Krebs feierlich.

Anette verdrehte die Augen.

«Kannst du dich an eine Geschichte mit zwei Mädchen erinnern, die von einer Fähre verschwunden sind … im Jahr … wann war das, Sand?»

Noch ehe Nora antworten konnte, platzte Anette heraus: «Na, und ob ich mich daran erinnere! Ich war damals selbst noch ein Teenie, und als es passierte, habe ich alles darüber gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte. Um ehrlich zu sein, habe ich mich danach jahrelang nicht mehr getraut, mit der Fähre zu fahren.»

«Hm. Du würdest also gern wieder etwas über diesen Fall lesen wollen?»

«Ja!», sagte Anette schlicht und stöckelte zurück zur Rezeption, wo schon wieder das Telefon klingelte.

Nora räusperte sich diskret.

«Okay, Sand, wir versuchen es. Das ist abseits der Agenda, aber lass uns einfach sehen, wie es läuft. Zwei Wochen. Und du bist in der Zeit, in der du dieses Geheimnis lüften willst, nicht von deiner normalen Arbeit befreit. Alles klar?»

«Ja, danke. Aber ich kann nicht dafür garantieren …», setzte Nora an, doch im nächsten Moment summte Krebs’ Handy wie ein Herzschrittmacher in der Brusttasche seines Hemdes. Er zog es heraus und sah verwundert auf das Display.

«Komisch. Eine russische Nummer. Da muss ich wohl rangehen», meinte er und wedelte mit der Hand, um ihnen zu bedeuten, dass die Audienz vorbei war.

Nora drehte eine Runde durch die Redaktion. Viele waren schon in den Sommerferien, aber in der Bildredaktion fand sie Magnus, der tief konzentriert dabei war, Fotos von seiner letzten Reise nach Afghanistan zu bearbeiten.

Normalerweise konnte sie mit Bildern von Soldaten nichts anfangen, aber Magnus, der schon im Alter von fünfundzwanzig Jahren mit drei internationalen Preisen ausgezeichnet worden war, hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Er hatte die Furcht in ihren Augen eingefangen, den Staub, die Verzweiflung, die Langeweile und den Siegesrausch.

Als er ihren Blick über seiner Schulter spürte, drehte er sich um.

«Hi, Nora», sagte er beiläufig und wandte sich gleich wieder dem Bildschirm zu.

«Magnus, wie ist das eigentlich mit unserem Bildarchiv – kann ich problemlos darauf zugreifen?»

«Ja, natürlich. Du musst nur in die Datenbank gehen. Was brauchst du denn?»

«Es ist eine Geschichte aus den Achtzigern.»

«Dann haben wir sie nicht in unserem Archiv, meine Liebe. Globalt gibt es bekanntlich erst seit 1998.»

Nach einer kurzen Denkpause, während der er den Farbkontrast einer Wüstenlandschaft korrigierte, schlug er vor: «Aber versuch es doch mal bei ServiceMedia. Die haben nahezu alle Pressefotos archiviert, die je in den dänischen Medien veröffentlicht wurden. Du kannst mein Passwort haben, wenn du es nicht weitersagst.»

«Danke», entgegnete sie und setzte sich an den nächstbesten Computer.

Erst googelte sie «Vermisst Englandfähre» und gelangte schnell zu einer Reihe von Artikeln über das spurlose Verschwinden von Lulu Brandt und Lisbeth Mogensen.

Mit ein paar Klicks fand sie Artikel im Ekstra Bladet und bei BT sowie eine längere Reportage im Ringkøbing Amts Dagblad, die vor allem die Einrichtung in den Mittelpunkt rückte, in der die Mädchen gelebt hatten. Sie hieß Vestergården und lag fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt. Nora druckte den Artikel aus, um ihn später zu lesen.

Dann notierte sie sich das Datum des Verschwindens der beiden Mädchen – den 4. August 1985 – und loggte sich anschließend mit Magnus’ Passwort auf der Homepage von ServiceMedia ein, das Hendrix78 lautete. Er erklärte es, ohne dass sie ihn danach fragte.

«Mein Hund», sagte er grinsend und deutete auf das Bild eines sabbernden Boxers, das über seinem Schreibtisch hing.

Zu dem Fall gab es acht Fotos. Drei davon stammten aus dem Ringkøbing Amts Dagblad. Nora klickte sie als Erstes an. Auf dem einen war die Einrichtung Vestergården zu sehen, auf dem nächsten ein lächelnder Mann mit Vollbart, den die Bildunterschrift als «Kurt Damtoft, Leiter des Vestergården» auswies. An das dritte Bild glaubte sich Nora vage zu erinnern. Die beiden Mädchen standen inmitten einer Gruppe fröhlicher junger Menschen am Hafen von Esbjerg und warteten darauf, die Reise ihres Lebens anzutreten. Lisbeth kniff die Augen zusammen und sah aus, als würde sie in die Sonne blinzeln, und neben einem riesigen Ghettoblaster stand die dunkelhaarige Lulu und lächelte schüchtern.

Nora klickte weiter zu den Fotos von Ekstra Bladet und BT. Es waren Aufnahmen aus dem Prozess gegen Kurt Damtoft und seine beiden Kollegen. «Grobe Verletzung der Aufsichtspflicht!», schrie die Schlagzeile des Ekstra Bladet. Außerdem brachten beide Boulevardzeitungen noch einmal das Foto von den zwei Mädchen am Hafen, mit der Fähre im Hintergrund.

«Die letzten Fotos von den Mädchen», lautete eine Bildunterschrift, die sich auch die Schlussfolgerung erlaubte: «Die beiden Schönheiten aus Jütland wurden auf hoher See ermordet.»

Nora wühlte in ihrer Tasche und zog ihren Kalender hervor, in den sie ihr Foto von den Mädchen gesteckt hatte. Sie zog es heraus und studierte es erneut.

Das Foto des Ekstra Bladet war eindeutig nicht das letzte Bild von den Mädchen. Irgendjemand hatte Lisbeth und Lulu auf der Fähre fotografiert, als sie nicht mehr in Gesellschaft der anderen Jugendlichen vom Vestergården waren. Die Frage war nur, wer – und warum niemand das Bild an die Presse weitergegeben hatte, als die große Suche nach den Mädchen auf Hochtouren lief. Und vor allem: Was hatte das Foto in ihrem Zufallsfund, einem Koffer aus Brine, zu suchen?

Gegen eine Tasse Kaffee ließ Magnus sich überreden, das Foto einzuscannen. Nora schickte es sich selbst per E-Mail und ließ sich von Magnus einige Kopien auf Fotopapier ausdrucken. Dann druckte sie auch die Gruppenbilder einige Male aus und steckte den ganzen Stapel in ihre Tasche, ehe sie die Redaktion verließ, um sich mit der Bahn auf den Weg nach Ørestad zu machen.

4. Kapitel

Nora und Louise hatten sich bei der Aufnahmeprüfung auf der Journalistenschule kennengelernt. Irgendetwas an dem schmalen Mädchen mit dem kurzgeschorenen Haar und den baumelnden Ohrringen hatte in der Vormittagspause Noras Interesse geweckt. Als sie ins Gespräch kamen, stellte sich heraus, dass sie den gleichen trockenen Humor hatten und dass Louise, chaotisch, wie sie war, vergessen hatte, Essen und Geld mitzunehmen, obwohl ihnen noch ein ganzer Tag mit Prüfungen bevorstand.

Nachdem sie für ein paar alternative Untergrundmagazine gearbeitet hatte, war Louise zur Überraschung aller beim Dänischen Rundfunk gelandet, wo sie als anerkannte und gefürchtete Redaktionsassistentin bei den Nachrichten arbeitete. Quellen, die sich notorisch weigerten, im Fernsehen aufzutreten, brachten es aus irgendeinem Grund nie über sich, Louise abzusagen. Wenn jemand knifflige Fälle löste, dann sie.

Nora stieg aus der Bahn, ging zur Rezeption und meldete sich an. Drei Minuten später stürmte eine strahlende Louise mit einem Stapel Papiere unter dem Arm die Treppe hinab.

«Hallo, Süße, cool, dich zu sehen!», rief sie und warf im selben Moment einen kritischen Blick auf ihre Armbanduhr. «Wir haben fünfundzwanzig Minuten, dann muss ich zurück. Ich warte auf einen Anruf von Brasks Leuten», erklärte sie. Brask war ein in Misskredit geratener Manager, der sein Unternehmen in den Ruin getrieben hatte.

«Traut der sich wirklich ins Fernsehen?», fragte Nora verblüfft.

«Er denkt immerhin darüber nach, und das ist ein gutes Zeichen für mich», antwortete Louise optimistisch.

Sie begaben sich in die Kantine.

«Wie geht es Tobias?», fragte Nora, als sie sich mit ihren Tellern hingesetzt hatten.

Louise verzog das Gesicht. «Der redet jetzt schon über seine Konfirmation nächstes Jahr. Ich komme gar nicht mehr mit. Im einen Moment hatte ich einen kleinen, niedlichen Jungen mit Grübchen, und jetzt schlurft ein schlechtgelaunter Teenie, an dessen Ohren ein iPod festgewachsen ist, durch mein Haus. Wenn er überhaupt zu Hause ist.»

Mit siebzehn Jahren war Louise vom Bassisten einer britischen Band schwanger geworden. Den Musiker sah sie nie wieder, aber neun Monate nach dem fulminanten Abschiedskonzert der Band in Dänemark war Tobias auf die Welt gekommen. Irgendwie hatte Louise es geschafft, nur mit der staatlichen Ausbildungsfinanzierung und ohne die Hilfe ihrer missbilligenden Eltern aus Thy über die Runden zu kommen.

Sie redeten über Männer, über Chefs und über die nie enden wollenden Einsparungen, die schon mehrere ihrer früheren Kollegen in Zeitungsredaktionen, aber auch im Radio und Fernsehen getroffen hatten. Als Louise ihren letzten Schluck Wasser trank und gerade aufstehen wollte, fiel Nora das Foto wieder ein, das in ihrer Tasche brannte.

«Ach, könntest du mir vielleicht noch bei einer Sache behilflich sein? Ich würde mir gern eine Sendung aus dem letzten Jahr ansehen. Ungeklärte Fälle.»

Louise erhob sich, nahm die Tabletts und balancierte sie zum Abräumgestell.

«Kein Problem. Im Archiv ist man mir sowieso noch einen Gefallen schuldig. Ich rufe gleich an.»

Sie zückte ihr Handy und führte ein kurzes Gespräch.

«Frag nach Susanne», sagte sie dann.

Als sie sich zum Abschied umarmten, klingelte auch schon Louises Handy.

«Ja, hallo», sagte sie geschäftig.

Sie winkte Nora zu und formte «Bertil Brask» mit den Lippen.

Nora ging den Schildern nach und fand das Archiv, das von einer lächelnden, molligen grauhaarigen Frau in einer kanariengelben Bluse geleitet wurde.

«Sind Sie Susanne?»

Die Frau nickte. «Und Sie werden von meiner Freundin Louise geschickt? Was kann ich für Sie tun?»

Nora erklärte ihr Anliegen, und Susanne gab einen Suchbefehl in ihren Computer ein. Nach weniger als zehn Sekunden drückte sie die Enter-Taste.

«Hier haben wir sie. Ungeklärte Fälle vom 5. April letzten Jahres», sagte sie und schrieb eine lange Nummer auf einen Zettel. «Warten Sie hier.»

Susanne ging an Nora vorbei zu einer Tür, wo sie eine ID-Karte, die an einem Band um ihren Hals hing, durch ein Lesegerät zog.

Nora setzte sich auf einen Stuhl und sah sich in dem modernen Büro um, das wirkte, als wäre es systematisch von allem Menschlichen bereinigt worden. Es bestand nur aus scharfen Kanten und Glas. Erschrocken zuckte sie zusammen, als die Tür aufging und Susanne mit einer grauen Kassette in der Hand wieder hereinkam.

«Bitte schön. Sie dürfen die Aufnahme leider nicht mitnehmen, aber Sie können sich dort hineinsetzen», sagte sie und deutete zu einer Tür, auf der «Besprechungsraum 2» stand.

Nora nahm das Band, ging in das Zimmer, stellte das Abspielgerät an und setzte sich an den leeren Konferenztisch. Das rote Logo von Unaufgeklärte Fälle flimmerte über den Bildschirm, während die schicksalsschwere Titelmelodie ertönte.

Der Moderator Jens Blindkilde erschien im Trenchcoat vor einem Gebäude, das aussah wie das Fährterminal in Esbjerg. Seine Stirn war wie immer zu ernsten Falten gerunzelt.

«Der Fall, den wir heute Abend wieder aufrollen wollen, beschäftigt die dänische und die britische Polizei schon seit Jahren. Es ist der Fall zweier junger Frauen, die auf der Überfahrt von Dänemark nach England spurlos verschwanden. Der Fall der Mädchen von der Englandfähre», begann er in schicksalsschwerem Ton.

Nora wühlte in ihrer Tasche und fand einen Kugelschreiber und einen Notizblock mit ein paar freien Seiten. Eine halbe Stunde später lief der Abspann, und Nora warf einen Blick auf ihre Notizen.

Lulu und Lisbeth waren zuletzt eine halbe Stunde nach dem Auslaufen der Fähre aus dem Hafen von Esbjerg gesehen worden. Eine Passagierin von damals, die Blindkilde und sein Rechercheteam aufgespürt hatten, glaubte, die beiden in Begleitung eines Mannes gesehen zu haben, konnte sich nach so vielen Jahren allerdings nicht mehr daran erinnern, ob er blond oder dunkelhaarig, groß oder klein gewesen war.

Obwohl Jens Blindkilde die Frau im Verlauf der Sendung dreimal als «sensationelle Augenzeugin» bezeichnete, war Nora nicht überzeugt von der Aussage.

Offenbar war es ihnen auch gelungen, Lulus leiblichen Vater ausfindig zu machen, der jedoch nicht im Fernsehen auftreten wollte. Er hatte seine Tochter nicht mehr gesehen, seit sie im Alter von zehn Jahren vom Jugendamt aus der Familie genommen worden war. In einer schriftlichen Erklärung behauptete er, seither wäre kein Tag vergangen, an dem er nicht daran gedacht hätte, «was mit der kleinen Lulu passiert ist».

Außerdem gab es ein kurzes Interview mit Karl Stark, der nach seiner Zeit in Esbjerg Hauptkommissar bei der Kripo in Kopenhagen geworden war. Es dauerte nur wenige Minuten und zeigte einen gequälten, grauhaarigen Polizisten, der nicht den Eindruck machte, als hätte er zu der Sache noch etwas hinzuzufügen.

In einer Szene sah er direkt in die Kamera. «Diese Mädchen haben Gerechtigkeit verdient. Irgendjemand da draußen muss wissen, was mit ihnen passiert ist», appellierte er an die Zuschauer.

Nora nahm das Band aus dem Gerät und legte es wieder in die Kassette, ehe sie zu Susanne ging und sich bedankte.

Dann trat sie in die Sonne hinaus, holte ihr Handy aus der Tasche, suchte im Internet nach der Nummer von Andreas’ Onkel Svend Jansson in Dragør und rief ihn an. Er war gern dazu bereit, Karl Stark zu fragen, ob er Zeit hätte, über den Fall zu sprechen. Zwei Minuten nachdem sie aufgelegt hatte, kam eine SMS mit einer Einladung zum Kaffee und einer Adresse in Dragør.

Als sie am nächsten Morgen aufstand, wartete in der Küche ein frischgebackenes Roggenbrot auf sie. Nora schnitt sich eine dicke Scheibe ab, belegte sie mit Käse und ging auf die Terrasse, um die Morgensonne zu genießen.

Ihr Vater saß unter dem Sonnenschirm und war in eine Chronik der Weekendavisen vertieft. Er brummte ihr freundlich zu, als er sie sah.

«Darf ich heute das Auto nehmen?», fragte sie mit vollem Mund.

«Ja, solange du rechtzeitig wieder da bist, um nach Kalundborg zu fahren», antwortete er und fragte dann ins Blaue hinein: «Wie geht es deiner Mutter?»

«Gut, glaube ich. Als ich das letzte Mal mit ihr telefoniert habe, war sie gerade auf dem Weg zu einem Mosaikkurs in der Toskana. Patrick will sie immer noch überreden, nach Devon zu ziehen, aber sie bleibt standhaft», erklärte Nora.

«Sieh einer an. Aber was um alles in der Welt sollte sie da auch?», fragte der Vater nachdenklich.

«Stimmt. Sie muss die British Library und das British Museum zu Fuß erreichen können, sonst würde sie wohl zugrunde gehen», sagte Nora. «Die Frage ist nur, wie lange Patrick das mit sich machen lässt.»

«Aber sie ist die renommierteste Cromwell-Forscherin des Landes. Meiner Meinung nach ist er derjenige, der die Zelte hinter sich abbrechen müsste. Devon!», Noras Vater schnaubte verächtlich.

Nora ließ ihn mit seiner Zeitung allein und ging ins Bad. Insgeheim hasste sie es, über Patrick und all das zu sprechen, was damals passiert war, weil es Dinge wieder aufwühlte, die sie am liebsten verdrängte. Sie hasste es, an den Tag zurückzudenken, an dem sie etwas früher von ihrer morgendlichen Schwimmrunde mit Andreas zurückgekehrt war und ihre Mutter mit einem kleinen lila Rollkoffer in der Einfahrt angetroffen hatte, während sie auf ein Taxi wartete.

«Mama, wo willst du hin? Hast du geweint?»

Ohne zu antworten, hatte die Mutter gefragt: «Ja, aber Nora – was machst du denn schon hier?»

Ehe Nora noch etwas sagen konnte, hatte das Taxi vor der Tür gehalten. Und dann war Elizabeth weg gewesen.

Nora war langsam ins Haus gegangen. Zu dem Schatten des Mannes, den sie Papa nannte. Eines Mannes, der gerade die Liebe seines Lebens verloren hatte und nie verstehen würde, was eigentlich der Grund dafür war.

Aber der Grund war ein Apfelbauer namens Patrick aus Devon, und in den darauffolgenden fünf Jahren hatte Nora sich geweigert, auch nur ein Wort mit den beiden zu sprechen.

Sie schüttelte den Gedanken ab und föhnte sich die Haare.

Eine halbe Stunde später war sie zum Aufbruch nach Dragør bereit.

Sie musste einige Runden in dem kleinen Fischerort drehen, ehe sie das gelbe Häuschen im Skippervænget fand.

Jansson saß mit freiem Oberkörper im Garten und trank Wasser aus einem dickbödigen Senfglas. Anscheinend hatte er gerade den Rasen gemäht. Vor ihm auf dem Tisch standen eine kleine türkisblaue Thermoskanne und zwei Kaffeetassen, daneben lagen eine Wochenzeitschrift, die bei den Kreuzworträtseln aufgeschlagen war, und eine rote Damenbrille.

Er sah sie fragend an, als sie vor dem weißen Zaun anhielt.

«Nora?»

Sie nickte.

«Komm doch rein», sagte er und musterte sie. «Ich kann mich noch gut an dich erinnern. Du bist immer morgens mit Andreas schwimmen gegangen, oder?»

Nora bestätigte das, und Onkel Svend ging ins Haus, um zwei weitere Kaffeetassen zu holen. Als er wieder herauskam, deutete er mit dem Kopf auf die Zeitschrift und die Brille.

«Annika ist gerade zu den Nachbarn gegangen. Sie wollte sich nach irgendeinem neuen Fischrezept erkundigen, das sie heute Abend ausprobieren möchte», erklärte er. «Na, aber du bist ja aus einem bestimmten Grund gekommen. Karl müsste jeden Moment hier sein. Er hat nicht viel Zeit, weil er später noch seinen Enkeln beim Volleyball zusehen wollte.»

«Ich habe ihn in Ungeklärte Fälle gesehen.»

«Tja. Ich glaube, er dachte, wir wären es den Mädchen schuldig, wenigstens noch diesen Versuch zu unternehmen. In der Hoffnung, dass es vielleicht irgendjemanden da draußen geben könnte, dem nach all den Jahren etwas einfällt», sagte er traurig und schüttelte den Kopf.

Im selben Moment wurde das Gartentor geöffnet, und der grauhaarige Mann, den Nora in der Fernsehsendung gesehen hatte, ging zielstrebig auf den Gartentisch zu.

Sein Blick war genauso fest wie sein Händedruck.

«Nora Sand», sagte er und schielte auf seine Uhr. «Ich habe knapp zwanzig Minuten Zeit, und ich tue das nur Svend zuliebe.»

Nora wusste seine Direktheit zu schätzen.

«Na, dann lassen Sie uns doch gleich anfangen. Ich habe Sie in der Fernsehsendung gesehen. Hat Ihnen der Beitrag irgendwie weitergeholfen?»

Karl Stark schüttelte den Kopf.

«Ich war auch nach der Sendung den ganzen Abend über im Studio, als die Leute anrufen konnten. Insgesamt kamen vierzehn Anrufe, aber es waren alles Telefonscherze oder falsche Behauptungen. Ein Mann aus Greve glaubte, Lisbeth quicklebendig im örtlichen Fitnesscenter gesehen zu haben, wo sie angeblich jeden Abend Spinning unterrichtet. Ein Medium in Herning konnte schwören, dass sich Lulus sterbliche Überreste in Wassernähe befinden. Was ja nicht gerade eine Sensation wäre.»

«Was glauben Sie, was passiert ist?», fragte Nora.

Karl Stark nahm sich viel Zeit, ehe er antwortete. Er schenkte sich Kaffee ein, tat einen Teelöffel Zucker hinein und rührte um.

«Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich habe jahrelang darüber nachgedacht. Es war einer meiner ersten Fälle, nachdem ich nach Esbjerg gekommen war. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Male ich an den Fall gedacht und mich gefragt habe, was wir hätten anders machen können und was wir übersehen haben. Es ergibt einfach keinen Sinn, dass zwei Menschen so spurlos verschwinden. Sind sie irgendeinen Selbstmordpakt eingegangen und freiwillig über Bord gesprungen? Das glaube ich nicht», er senkte die Stimme. «In der Presse ist nicht darüber berichtet worden, dass Lisbeth einen Artikel in ihrem Rucksack hatte, der an Bord gefunden wurde. Er handelte davon, wie man in London als Model Karriere machte. Warum hätte sie über Bord gehen sollen, wenn sie einen solchen Zukunftstraum hatte?»

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schüttelte den Kopf über sich selbst.

«Ich bin ein alter Narr. Als ich nach Kopenhagen zog, habe ich eine Kopie der Akte mitgenommen. In den ersten Jahren habe ich sie immer hervorgeholt, wenn ich einen ruhigen Moment hatte. Ich habe mich blind gesehen an vermeintlichen Zusammenhängen, die es gar nicht gab. Es ist so, wie wenn man ein Loch im Zahn hat. Die Zunge will die ganze Zeit dorthin. Aber mittlerweile … Nachdem diese Sendung keinerlei neue Erkenntnisse gebracht hat, habe ich wohl aufgegeben. Es gab ja auch keine trauernden Angehörigen, die angerufen und nach den Ermittlungsergebnissen gefragt haben. Es ist so viele Jahre her, und man ist immerzu mit anderen Dingen beschäftigt.»

Nora zog ihre Zeitungsausdrucke aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.

«Ist es korrekt, dass dies das letzte Foto von den Mädchen ist?»

Karl Stark sah erst sie an, dann betrachtete er den Artikel mit der Gruppe vom Vestergården am Kai, ehe sie an Bord gegangen waren, und nickte schließlich.

«In der Akte gibt es keine weiteren Fotos? Und es haben sich auch keine Zeugen mit Fotos an Sie gewandt?»

Er schüttelte den Kopf.

Nora holte ihren Kalender aus der Tasche, zog das Bild aus dem Koffer heraus und legte es auf die Ausdrucke.

«Ich hatte gehofft, Sie könnten mir erklären, woher dieses Bild stammt», sagte sie.

Karl Stark nahm das Foto und kniff die Augen zusammen, um es näher zu betrachten.

«Du liebe Güte! Wo kommt das denn her? Ich habe es noch nie gesehen.»

Ohne nachzudenken, riss er eine Seite aus Annikas Wochenzeitschrift aus und faltete sie um das Bild.

«Wer hat das angefasst?»

«Äh … ich. Und Andreas. Aber sonst niemand. Jedenfalls nicht, seit ich das Foto gefunden habe», antwortete Nora.

Stark holte tief Luft. «Das ist die erste Spur, seit wir die Ermittlungen damals einstellen mussten», sagte er. «Erzählen Sie mir genau, woher Sie es haben. Ich will jedes Detail wissen.»

Nora schenkte sich Kaffee nach und berichtete ihm von dem kleinen Fischerdorf Brine und dem Koffer mit den Fotos von jungen Mädchen.

Während sie erzählte, ging Svend Jansson ins Haus und wühlte in einigen Schubladen, bis er eine Pinzette fand. Mit der schob er das Foto vorsichtig in einen weißen Umschlag, den er seinem alten Kollegen reichte.

«Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich es an mich nehme», sagte Karl Stark. «Wir müssen sehen, ob die Spurensicherung irgendetwas findet. Ich zweifle daran, aber sie müssen es wenigstens versuchen», fügte er hinzu.

In dem Moment ertönte eine zwitschernde Frauenstimme. «Huhuuuu!»

Annika kam, die Arme voller Rhabarberstängel, den Gartenweg entlang.

«Guck mal, was wir von Flemming bekommen haben!», rief sie begeistert, ehe sie sich den Gästen zuwandte. «Hat er euch mit Kaffee versorgt?»

Karl Stark nickte, trank aus und gab Nora und Annika förmlich die Hand, ehe er aus dem Garten verschwand. Zu dem Volleyballspiel.

Nora blieb noch eine halbe Stunde und durfte erst fahren, nachdem man ihr ein Glas hausgemachte Erdbeermarmelade aufgezwungen hatte.

Wieder im Auto, hatte sie die plötzliche Eingebung, ihren Bruder David anzurufen. Nach dem vierten Klingeln sprang der Anrufbeantworter an, der sie aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen.

«Hallo, hier ist deine Schwester! Ich bin in der Stadt.» Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Wenn er sie sehen wollte, würde er sich melden.

Sie wendete das Auto und fuhr zurück nach Bagsværd.

Die Geburtstagsfeier übertraf alle Erwartungen. Mit ihren bunt geblümten Kleidern und ihrem schallenden Lachen konnte Tante Ellen jede Gesellschaft in gute Stimmung versetzen, aber im Kreise ihrer Familie und Freunde kam dieses Talent noch deutlicher zum Ausdruck. Es wurden Reden gehalten und Geburtstagslieder gesungen, und zum Abschluss unternahmen alle Gäste in der Abendsonne noch einen langen Spaziergang am Wasser.

Am nächsten Morgen wurde Nora von David mit einem Anruf beehrt. Sie kaufte Brötchen und eine dieser großen Zimtschnecken, denen David nur so schwer wiederstehen konnte, und fuhr in den Schrebergarten auf Amager.

Dort verbrachten sie einige Stunden zusammen, und David schien gute Laune zu haben, weil er ihr seine Pfingstrosen zeigte – eines der wenigen Interessengebiete, dem er mit derselben Leidenschaft nachging wie seinen Logarithmen. Nach ihrem Leben in London erkundigte er sich nicht, aber sie erzählte ihm einfach unaufgefordert davon. Von Andreas’ Besuch. Davon, wie Petes Wagen letzte Woche fast auf der Autobahn liegengeblieben wäre. Nora musste grinsen, als sie an Petes beeindruckendes Repertoire an australischen Flüchen dachte. Statt über die lustige Geschichte vom panischen Pete zu lachen, erklärte David nur ernst, wie wichtig es sei, immer das Motoröl nachzufüllen, bevor man sich auf eine längere Fahrt begebe.

«Ich glaube, das hat er inzwischen auch verstanden», sagte Nora zu ihrem Bruder, ehe sie zurück nach Bagsværd fuhr.

Ihr Vater war nicht zu Hause, und Nora aß in der Küche im Stehen einen schnellen Imbiss. Dann packte sie ihre Koffer und fuhr mit der Bahn zum Flughafen.

5. Kapitel

Eine knappe Stunde später stand Nora im Transitbereich und warf einen Blick auf die Abflugtafel. Es war noch zu früh, um zum Gate zu gehen. Sie betrat einen Buchladen und ließ ihren Blick ohne viel Hoffnung über das Bestsellerregal schweifen. Englische Bücher zu kaufen lohnte sich nicht, weil sie in London viel billiger waren. Aber hin und wieder hatte sie auch das Bedürfnis, sich auf einen guten dänischen Roman zu stürzen.

In der Belletristik reizte sie allerdings auch nichts, und sie schlenderte an den Reisebüchern vorbei zu dem kleinen Regal mit Sachbüchern, deren Bandbreite von Berufsratgebern bis hin zu geschichtlichen Themen reichte. Schließlich entdeckte sie einen blutrünstig aufgemachten englischen Bestseller mit dem Titel Murders of the Century, der über die makabersten Mordfälle der neueren Zeit berichtete.

Auf dem Cover prangte die verurteilte britische Kindermörderin Yvonne Loft. Sie grinste boshaft, als wären die zehn jungen Leben, die sie ausgelöscht hatte, ein grausamer Witz, den nur sie und ihr an den Taten beteiligter Freund verstanden.

Zerstreut nahm Nora das Buch aus dem Regal und blätterte durch die Schwarzweißfotos im Mittelteil. Um den Fall weiter zu illustrieren, hatte die Autorin ein Foto des mordenden Paares ausgegraben, wie es lächelnd mit einem Eis auf der Hafenmole saß und Händchen hielt.

Nora wurde fast schlecht, als sie den Bildtext las: «Yvonne Loft und Harry George genießen einen Tag in Brighton. Offenbar wurde das Foto nur wenige Stunden, bevor das Paar den siebenjährigen Timothy Kent entführte und ermordete, aufgenommen.»

Kann man ein Softeis essen und gleichzeitig einen Kindsmord planen?, grübelte Nora. Nicht die Grausamkeit erschreckte sie am meisten, sondern wie sie sich in die Normalität einschlich, ins alltägliche Leben – wie ein Zeichen dafür, dass wir uns nie sicher fühlen sollten. Dass sich hinter einem freundlichen Gesicht die tiefste Bösartigkeit verbergen konnte.

Das lächelnde, verliebte Paar, das Erdbeereis schleckt und dabei plant, einen Jungen zu vergewaltigen und zu erdrosseln. Der freundliche Lehrer aus einem Dorf in Ruanda, der im Blutrausch mit einer Machete Amok läuft. Der gutaussehende Ehemann im Anzug, der seine Frau in der Badewanne ertränkt, um an ihre Lebensversicherung zu kommen. Nora schauderte, und sie wollte das Buch gerade wieder ins Regal zurückstellen, als ihr Blick auf die nächste Seite fiel, wo ihr ein anderes Bild ins Auge stach.

Beim Anblick des kleinen Fotos bekam sie Gänsehaut.

Resolut klemmte sie sich das Buch unter den Arm und bezahlte es, ehe sie zum Gate ging.

Kaum saß sie im Flugzeug auf ihrem Platz, schlug sie erneut die Seite mit dem Foto auf und studierte es eingehend. Eine junge Frau mit hochgestecktem Haar schaute mürrisch in die Kamera. Sie stand vor einer weißen Mauer. Nora konnte sich nicht erinnern, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben, aber das Foto hätte aus dem Stapel in ihrem Koffer stammen können.