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Dieses Buch analysiert Online-Communitys, die der sogenannten "Mannosphäre" angehören, die für ihren Frauenhass und ihre Nähe zur "Alt-Right-Bewegung", der alternativen Rechten in den USA, bekannt ist. Im Fokus stehen Alt-Right-YouTuber, Incels, MGTOWs (Men Going Their Own Way) und NoFap-User sowie die Manifeste der Mörder Anders Behring Breivik und Elliot Rodger. Basierend auf den psychoanalytischen Ansätzen von Klaus Theweleit, Wilhelm Reich und Elisabeth Young-Bruehl untersucht der Autor, welche Fantasien und Bilder von Körperlichkeit, Geschlecht und Sexualität dort konstruiert und ausgetauscht werden. Die Männer offenbaren widersprüchliche Gedanken, Wünsche und Fantasien über Frauen, die frauenfeindlich sind, aber auch darüber hinausgehen. Sie befinden sich in einem Zustand der Hemmung bzw. Enthemmung und sind hin- und hergerissen zwischen (un)bewussten Kräften und Fantasien, die aufbrechen und abgewehrt werden. Sie oszilieren zwischen Selbstmitleid und defensiver Apathie sowie Machtfantasien und dem Hass auf andere Körper.
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Seitenzahl: 544
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Jacob Johanssen
Die Mannosphäre.
Frauenfeindliche Communitys im Internet
Köln: Halem, 2023
Hinweis: In diesem Buch werden beunruhigende und beleidigende Aussagen thematisiert. Einigen Leserinnen und Lesern könnte es schwerfallen, sich mit dieser Art von Material auseinanderzusetzen.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
© 2023 Herbert von Halem Verlag, Köln
Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.
Originaltitel: Fantasy, Online Misogyny and the Manosphere. Male Bodies of Dis/Inhibition.
All Rights Reserved. Authorised translation from the English language edition published by Routledge, a member of Taylor & Francis Group.
ISBN (Print)
978-3-86962-620-8
ISBN (PDF)
978-3-86962-621-5
ISBN (ePub)
978-3-86962-622-2
Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch imInternet unter http://www.halem-verlag.de
E-Mail: [email protected]
SATZ: Herbert von Halem Verlag
LEKTORAT: Rüdiger Steiner
DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg
UMSCHLAGFOTO: Elijah Hiett/Unsplash
GESTALTUNG: Claudia Ott, Düsseldorf
Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry.
Lexicon® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundry.
Jacob Johanssen
Frauenfeindliche Communitys im Internet
JACOB JOHANSSEN, Dr., (geb. 1986 in Hamburg) ist Associate Professor in Communications an der St. Mary’s University in London. Er hat Kommunikationswissenschaft und Soziologie in Salzburg, Erfurt und London studiert und an der University of East London promoviert. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Psychoanalyse, dem Internet und der Sexualität. Er ist Teil der Führungsgremien der Association for Psychosocial Studies (APS) und der Association for the Psychoanalysis of Culture and Society (APCS) sowie Founder Member des British Psychoanalytic Council (BPC).
VORWORT
EINLEITUNG – EINE PSYCHOANALYSE DER MANNOSPHÄRE
1.FASCHISTISCHE MÄNNERKÖRPER – DAMALS UND HEUTE
2.DIE SEXUELLE REVOLUTION, DIE MANNOSPHÄRE UND DER (POST)FEMINISMUS
3.GEGENREAKTION AUF DIE SEXUELLE REVOLUTION AUF YOUTUBE
4.INCELS – FANTASIEN DER ZERSTÖRUNG UND DES BEGEHRENS
5.MEN GOING THEIR OWN WAY (MGTOW) – FRAUEN SOLLEN (NICHT) EXISTIEREN
6.DIE MANIFESTE DER MÖRDER UND DER ABWESENDE VATER
7.NOFAP – MASTURBATION, PORNOS UND PHALLISCHE FRAGILITÄT
8.VON DER ENT/HEMMUNG ZUR ANERKENNUNG – EIN HOFFNUNGSSCHIMMER?
GLOSSAR
LITERATUR
Zuerst habe ich Jacob Johanssen dafür zu danken, welch prominenten Platz er meiner Arbeit Männerphantasien von 1977 in seiner eigenen Studie zur männlichen Gewalt in unserer Gesellschaft einräumt – seiner großartigen, in viele Richtungen ausgreifenden Studie.
Es war ja nicht viel los in den letzten Jahrzehnten auf dem Feld der analytischen ›Täterforschung‹. Zur deutschen Situation nach dem Ersten Weltkrieg – meinem speziellen Arbeitsgebiet – hat es Studien in der Geschichtswissenschaft gegeben, im englischsprachigen Raum etwa das Buch von Mark Jones Founding Weimar. Violence and the German Revolution of 1918-19 (2017), die hochqualifizierte Arbeit eines jungen Historikers, der ›alle Quellen‹ noch einmal durchforstet. Nur: zu den spezifisch psychisch-körperlichen Gründen dieser ›Violence‹, die das Buch im Titel führt, steht so gut wie nichts darin. Das ist die Crux mit den professionellen Historikern. Sie bearbeiten einen ›Gegenstand‹ oder ein ›Feld‹, das außerhalb von ihnen besteht, studieren die Akten, formulieren ihre ›Urteile‹ in einer kühlen Subjekt-Objekt-Relation: Der Historiker urteilt, die Geschichte ist das ›Beurteilte‹; dann schreitet er weiter zum ›nächsten Objekt‹. Als einen persönlichen Teil dieser ›Geschichte‹, die er da beschrieben hat, versteht er sich in aller Regel nicht.
Jacob Johanssen macht das anders. Ihm ist klar, dass eine Arbeit, die die männliche Gewalt zum Thema hat, nicht geschrieben werden kann, ohne die eigene historisch gewachsene Körperlichkeit mitzureflektieren. Diese Gewalt kann man nicht losgelöst von jeweils herrschenden Gesellschaftsstrukturen beschreiben. Dies bedeutet für unser Herrschaftssystem: Ohne ein Mitdenken der Bedingungen des seit Jahrtausenden dominanten ›Patriarchats‹. Und Teil dieser Struktur ist jeder Mann hier, auch wenn er sie kritisiert, selber: »Gleichzeitig reproduziere ich das Patriarchat zumindest bis zu einem gewissen Grad einfach dadurch, da ich ein Mann bin, der im neoliberalen Kapitalismus lebt.« (siehe Seite 282).
So benennt Johanssen die Gefahr, die allen Arbeiten droht, die sich von ›intellektuell und emotional überlegenen‹ Standpunkten aus mit den männlichen Gewaltformen in der Welt befassen. Die Gefahr, deren zentrale Strukturmerkmale unwillentlich zu wiederholen, wenn sie einfach nur als ›dumm‹, ›krank‹ und ›abwegig‹ beschrieben werden – also als den eigenen Denk- und Verhaltensweisen ›selbstverständlich unterlegen‹. Johanssen stellt fest: Wenn wir das Verhalten und die Ideen der Leute von Incel, MGTOW, No Fap und anderer Gruppierungen der ›Mannosphäre‹ einfach nur zurückweisen, produzieren wir nichts analytisch Brauchbares – wir reproduzieren dann nur deren spezifische Strukturen, die in psychiatrischen Begriffen als ›binäre und paranoisch-schizoide‹ bezeichnet werden können. Aber solche ›Diagnosen‹ befreien uns nicht von möglicher eigener Verstrickung. Insbesondere das Denken und Urteilen in ›Binaritäten‹ erweist sich als verhängnisvoll.
Wer innerhalb unserer – westlich-demokratischen Kultur und den damit gegebenen institutionellen Bedingungen – lebt und arbeitet, ist nicht von diesen Bedingungen befreit durch die Behauptungen: Ich bin aber anders, bin kein ›Gewalttäter‹, unterdrücke Frauen nicht, bin also nicht selber Gegenstand meiner Forschung und stehe über meinem Gegenstand. Diese Haltung ist weit verbreitet bei Menschen, die nicht gelernt haben, (psycho)analytisch zu denken. Sie neigen dazu, alles, was sie im Leben irgendwie ›stört‹ oder ›behindert‹, in der Außenwelt zu verorten. Das ›Böse‹, das ›Schlechte‹, das ›schwer Verdauliche‹ ist immer ›im Anderen‹. Dies macht zwar das Leben (scheinbar) leichter, ist aber kein guter Ausgangspunkt für zutreffende Erkenntnisse.
Ein hochqualifizierter deutscher Historiker hat kürzlich eine Studie zur deutschen Geschichte des 19./20. Jahrhunderts vorgelegt, ein gutes Buch mit einer Fülle von Daten und Namen, aus dem ich viel lerne. Alles gut belegt und durchdacht, z. B. wie die herrschenden Gruppierungen und Schichten des deutschen Kaiserreichs schon zum Ende des 19. Jahrhunderts nachweisbar mit Verve auf den noch in ›der Ferne liegenden‹ Krieg zusteuern, der als Erster Weltkrieg in die Geschichte einging. Er stellt dar, wie sie diesen künftigen Krieg (um die Weltherrschaft) ökonomisch-militärisch geradezu ersehnen, und macht auch keinen Bogen um die Darstellung der Gräuel der Vernichtung der jüdischen Populationen Europas in den Konzentrationslagern.
Aber Sigmund Freud bzw. die Psychoanalyse kommen in dem Buch nicht vor. Geht das?, frage ich. Kann man die deutsche Gewaltgeschichte, die deutsche Kriegsgeschichte, die Geschichte der Lager, den deutschen Vernichtungswillen, wie er sich in der versuchten Ausrottung jüdischer (und auch russischer) Menschen zeigte, darstellen, ohne sich in die Abgründe der psychischen Strukturen der Täter dieser Morde – überwiegend Männer – hineinzubegeben? Ich glaube, das kann man nicht. Und dies gilt für anglo-amerikanische Gewalttäter nicht weniger.
Als ich Männerphantasien zwischen 1972 und 1977 geschrieben habe – parallel zu den sich entwickelnden frühen Formen des (west) deutschen Feminismus – war ich Vater eines kleinen Jungen und frisch verheiratet mit einer Frau, die begonnen hatte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Freiburg zu arbeiten. Dies war verbunden mit den laufenden politischen Diskussionen – ökologisch, feministisch und antikolonialistisch – und bestimmt von der ›Gewaltfragec‹: Wo und wann ist der Einsatz von Waffengewalt erlaubt oder sogar geboten, eine Frage, die den – im Selbstverständnis pazifistischen – Körper zu zerreißen drohte.
Und wie verhält sich mein eigenes ›Mann-Sein‹ zu dem der tötenden Freikorps-Männer von 1920? Wie verhält es sich zum Mann-Sein meines Vaters, einem autoritätsgläubigen Hitler-Anhänger und Nazi-Mitläufer? Wie erscheint es in den Augen meiner Frau, wie nimmt unser Kind mich wahr? Wie erscheint mein Mann-Sein in der Improvisationsgruppe, in der ich Musik mache?
Fragt man heutige Männer der etwas älteren Generationen, die ihr Leben einigermaßen ›erfolgreich‹ hinbekommen haben, nach ihrem Lieblingssong, nennen die meisten den Titel I did it my way von Paul Anka bzw. Frank Sinatra. Zuletzt konnte man dies vom deutschen ExKanzler Gerhard Schröder hören. ›My Way‹, der Macht-Macho – unverändert, unveränderbar?
›My Way‹? Genau damit könnte ich mein Leben und Tun nicht benennen. Wenn schon dann: ›We did it our way‹. Aber auch das wäre noch zu angeberisch. Ohne meine Frau, ohne helfende, ohne mitschwingende Freundesgruppen, ohne Mitarbeiter und Unterstützer in Arbeitsgruppen und Institutionen, ohne Anteil an den sich verändernden Strukturen des Öffentlichen in der sich nach dem Zweiten Weltkrieg langsam demokratisierenden Gesellschaft, ohne Black Music, ohne ständige Reflexion des Eigenzustands innerhalb all dieser Verbindungen wäre das eigene ›Denken‹ doch eher nichts, es wäre gar nicht entwickelt. In der Zahl 1 existiert das (sogenannte) Individuum doch gar nicht. Die 2 ist das mindeste – vom Baby bis zu den Freuden der Liebe. Das ›autonome Subjekt‹ ist eine philosophische Konstruktion (dazu gleich mehr).
So ist es mir zuerst einmal eine große Freude, dass es im Jahr 2022 einen psychoanalytisch denkenden Menschen gibt, der die bald 50 Jahre alten Männerphantasien (begonnen mit dem Schreiben habe ich 1972) nicht nur mit Zustimmung liest, sondern sie fruchtbar weiterdenkt. Jacob Johanssen untersucht die heutigen relevanten ›faschistischen‹ Männer und ihre mörderischen Aktionen im Licht der älteren wie der neueren Forschungsliteratur. Dabei denkt er neuere psychoanalytische Konzepte mit und bringt sie in Beziehung zur veränderten technologischen Beschaffenheit der heutigen Welt. Größten Dank für diese gigantische Arbeit, die immer getragen ist von der Gewissheit, dass im Zentrum solcher Bemühungen die diversen menschlichen Körper zu stehen haben in der jeweils differenten Ausprägung ihrer Sexualitäten.
Der Einzelkörper – soweit er sich als einzelner zwanghaft zu behaupten sucht – erscheint bei Johanssen wie bei mir als ›fragmented body‹, als in seiner Entwicklung teil-zerstörter Körper, der sich zu panzern sucht gegen die Bedrohungen der Außenwelt und/oder machtvolle Formationen sucht mit der Absicht, sich ihnen einzufügen. Angstbesetzte, ›bedrohte‹ Körper helfen sich fast immer mit Gewalt. Der ›faschistische‹ Körper ist mit Ängsten beladen, insbesondere der Angst, von den äußeren Realitäten ›verschlungen‹ zu werden. Die Zentralangst alles ›Faschistischen‹ ist die Angst vor der Körperauflösung. Das trifft für 1920 zu, für 1960, für 1990 und für 2020 – mit den Differenzen des jeweils Umgebenden.
Das Wort ›queer‹ gab es 1977 nicht. Ebenso ›LGBTQ‹. Auch die Wörter ›Mannosphäre‹, ›Internet‹ oder ›Digitalität‹ waren unbekannt. Was gleich geblieben ist: »Die reale Frau ist nicht vorhanden und wird durch eine Fantasie ersetzt, die die Kontrolle über die Frau ermöglicht.«, wie Johanssen schreibt (siehe Seite 301). Aber Formen und Bedingungen dieser Fantasie sind verschoben.
Auch verschoben sind die Formen psychoanalytischen Denkens, das Auswege sucht aus der Situation zwanghafter (selbstauferlegter) Isolation der Mannosphäre. So denkt Jacob Johanssen das Konzept ›fragmentierter Körper‹ weiter im Rahmen der Arbeiten von Jessica Benjamin. Bei ihr wird der Fokus vom ödipalen/phallischen Konstrukt zu einer ›Psychoanalyse der Beziehungen‹ verschoben, wo ein menschliches Wesen ein anderes anerkennt als sowohl gleich wie verschieden von sich selbst. Wo Ideen und Gefühle geteilt werden können und aus der wechselseitigen Anerkennung und Überschneidung der Individuen ein ›Drittes‹ entstehen kann, das beiden zugehört. Dies Dritte, sagt Benjamin, kann nicht entstehen unter dem ›Regime des Phallus‹, kann nicht wachsen im ödipalen Freud/Lacan-Feld, wo der Vater als Verbotsinstanz und drohender Kastrator erscheint. Ihre Konstruktionen früher intersubjektiver Geschlechterrelationen zwischen Mutter und Kind gehen dabei über die Beschwörung des prä-ödipalen Feldes einer Einheit von Mutter und Baby – wie Mahler oder Anzieu es entwarfen – hinaus.
Natürlich kann ich solche Komplexitäten hier nur andeuten und bin damit beim Hauptproblem meiner Würdigung von Johanssens Arbeit. Ich habe sein Buch mit großer Zustimmung gelesen, bemerke nun aber beim Versuch, darüber zu schreiben, dass genau diese sehr weitgehende Übereinstimmung das Schreiben nicht etwa erleichtert, sondern erschwert. Ich kann ja nicht permanent sagen: ›Gut, genau, finde ich auch.‹ Die Kette des Zitierens wäre eine endlose und sie würde nur wiederholen, was im Buch alles steht.
So bietet es sich an, einige Unterschiede herauszuarbeiten. Die Männer, die Johanssen analysiert, gleichen zwar in vieler Hinsicht den von mir in Männerphantasien beschriebenen, in mancher Hinsicht aber auch nicht. Eine zentrale Feststellung in Männerphantasien lautet, die Fantasien über Frauen sind meist aus der Abwesenheit realer Frauen entstanden. Das gilt für die heutigen so nicht. Jacob Johanssen schreibt: »Die Männer sind von der Fantasie der Frau abhängig, weil die Frau sie (irgendwann) anerkennen und ihre Existenz bestätigen könnte.« (siehe Seite 301). Bei den Männern der Mannosphäre sind Frauen zwar auch ›abwesend‹, aber sie stehen im Zentrum der Fantasien dieser Männer. Nichts wird gedacht oder gefühlt ohne Bezug auf Weiblichkeit. Insgeheim wird eine Anerkennung der eigenen Existenz von Frauen ersehnt. Die Wut auf Frauen resultiert vor allem daraus, dass sie diese Erwartung nicht erfüllen wollen.
Von weiblicher Seite erkannt zu werden, anerkannt zu werden war beim wilhelminisch zugerichteten Mann von 1890 bis 1920 ein kaum anzutreffender Wunsch. Die Angst vor den körperauflösenden Qualitäten der Frauen war viel zu groß, um solche Nähe zuzulassen. Das wilhelminische Zivilleben bis zum Ersten Weltkrieg war so organisiert, dass wirkliche Nähe zwischen Männern und Frauen (über den Geschwisterbereich hinaus) nicht entstehen konnte, weil es kaum öffentliche Räume gab, in denen die verschiedenen ›Geschlechter‹ sich hätten begegnen können. Die Gymnasien waren nach Geschlechtern getrennt und öffentliche Tanzveranstaltungen existierten nicht.
All diese Dinge haben sich grundlegend geändert. Frauen sind heute überall in der Öffentlichkeit, sind an den Arbeitsplätzen, auf den Straßen, in Vereinen, in Fabriken und Büros. Sie sind in den Wohnungen nicht mehr eingesperrt und in der Werbung omnipräsent. Die Männer der Mannosphäre helfen sich dagegen mit einer speziellen Fantasie. Johanssen schreibt: »Die verschiedenen Communitys und Männer konstruieren stattdessen einen Anderen, der dazu da ist, ihnen zu dienen – als eine gehorsame Weiblichkeit, die das fragmentierte Ich der Männer stützen soll. Obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschen als Anerkennung, greifen sie auf die Zerstörung des Anderen zurück. Solche Handlungen scheinen jede Möglichkeit der Anerkennung, des gegenseitigen Verständnisses oder des Dialogs auszuschließen. Es hat den Anschein, dass die Männer, wenn sie Anerkennung wünschen, eine bestimmte Form der Anerkennung suchen: die Unterwerfung. Die Männer, angeheizt durch ihre faschistischen Körperfantasien, erträumen sich Szenarien, in denen sie die dominanten Männer sind, die von unterwürfigen Frauen bewundert und umsorgt werden.« (siehe Seite 301).
Eine Frau wird konstruiert, die ihre eigene Unterwerfung ersehnt. Eine tatsächliche Wahrnehmung ›des Anderen‹ und ›gegenseitiger Respekt‹ können da nicht entstehen. Wobei eine andere Differenz noch ungeklärt bleibt: Welches sind die Umstände, die Männer der Mannosphäre dazu bringen, ›die Frau‹ töten zu wollen? Wo ist der Punkt, an dem die Mordlust entspringt, der Entschluss zur Vernichtung des weiblichen Körpers? Der Punkt, auf den viele der Männerfantasien ja zusteuern: eine Welt ohne Frauen. Dies findet auch Johanssen schwer zu entscheiden. Wo wird der Incel, wo wird der MGTOW-Mann zum Killer, zum Attentäter? Er mordet nicht zufällig, er läuft nicht ›Amok‹ – er fasst einen Entschluß, so viel ist klar. Hier kann wohl nur das genaue Studium jedes Einzelfalls helfen.
Auch auf die zentrale Frage, woher die zerstörten, fragmentierten Körper kommen, hat das späte 20./frühe 21. Jahrhundert eine andere Antwort. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren es primär familiale Eingriffe wie Prügel, Missachtung und Verhöhnung kindlicher Bedürfnisse, Verächtlichmachung von ›Schwäche‹ und andere Formen psychischer und physischer Erniedrigung, die die männlichen Kleinkindkörper davon abhielten, eine stabile libidinöse Besetzung der eigenen Körpergrenzen zu entwickeln. Die eigene Außenhaut – dieses wundervolle Organ zur Entwicklung freundlicher Kontakte zu anderen Menschen – die Grundlage aller Sorten von Beziehungsfähigkeit, blieb in der Regel weitgehend unbelebt. Damit fehlte die Grundlage zur Entwicklung eines stabilen Körper-Ichs im Sinne Freuds.
Abhilfe schaffte das Militär. Diejenigen Männer, die die körperlichen Qualen des Drills und der systematischen Erniedrigung durch die Offizierskaste überstanden, erlebten das sehr oft als ›Befreiung‹, als Durchbruch in eine neue Körperlichkeit und als Durchbruch zu einer Stärke, die sie vorher nicht gespürt hatten. Das Heer, die militärische Formation, zu deren Teil sie wurden, ersetzte ihnen die psychisch nicht belebte Körpergrenze. Sie bildeten das aus, was Wilhelm Reich ihren ›Panzer‹ genannt hat. Ein muskuläres Außen-Ich, das von Befehl und Gehorsam strukturiert war und ihren Körper, solange sie sich erfolgreich in diesem System bewegten, daran hinderte, zu fragmentieren. Der militärische Terror schlug in ihren Körpern um in eine Gewissheit der Stärke im Bewältigen äußerer Probleme. Die Memoiren der Freikorpsmänner – die sich dann stolz ›soldatische Männer‹ nannten – sind voll von Schilderungen der Begeisterung über das Erreichen dieses körperlichen Stadiums: Freiheit! Ein ›befreiter‹ Zustand – allerdings ohne die Möglichkeit psychisch tragfähiger Beziehungen zu irgendwem. Die geradezu logische Folge: Allem, was diese Sorte muskulärer (ständig angstbedrohter) Balance stört, kann nicht anders begegnet werden als mit Gewalt. Mit Zerstörung der störenden Quellen, unter die insbesondere die Lebendigkeit von Frauen fällt – ihre (körperauflösende) Kraft des Erotischen.
Daraus ergibt sich eine häufige Frage der letzten Jahre: Wie funktioniert das denn heute, wo die körperliche Züchtigung nicht mehr den Spitzenplatz unter den ›Erziehungsmitteln‹ einnimmt? Und wo auch das Militär in dieser körperstabilisierenden Funktion nur für relativ wenige heutige junge Männer entscheidend ist.
Mir kamen dazu zunächst andere Körperbearbeitungsstätten in den Sinn: Sportstätten, Schützenvereine, die privaten Trainingscenter, die viele Männer regelmäßig aufsuchen, um die eigene Muskulatur zu ›stählen‹, oder, simpel gesagt, ›sich fit zu halten‹. Bis hin zu gladiatorischen Kampfverfahren wie vorgeführt in David Finchers Film Fight Club (1999).
Jacob Johanssen sagt dazu, dass die ehemalige Stabilisierungsfunktion des Militärs heute vorwiegend vom Internet wahrgenommen wird. Dem stimme ich voll zu. Die erste Idee in diese Richtung kam mir zuerst nach der Lektüre des 1.500-Seiten-Manifestes, das Anders Behring Breivik kurz vor seinem Oslo-Anschlag und den Utøya-Morden ins Netz gestellt hat. Breiviks Aussage im Prozess, er habe die Morde vor allem machen müssen, damit man seinen Internet-Text wahrnehme, unterstrich dies. Die Wahrnehmung seines Internet-Auftritts sollte seinen Helden-Status zementieren. Sie sollte seine von irdisch-weltlicher Gerichtsbarkeit nicht erreichbare Übergesetzlichkeit beweisen, letztlich: die Unverletzlichkeit seiner Körperlichkeit. Das Internet als ›body-armour‹.
Der Gebrauch des Internets als Körperpanzerung bestimmter Einzelmänner und Männergruppen wurde in der Folgezeit immer auffälliger. Jacob Johannsen arbeitet das in aller Deutlichkeit heraus an den verschiedenen (und doch so gleichen) Männergruppen der Mannosphäre. Ein sehr wichtiger Punkt in der körperlich-geistigen Formation des ›faschistischen Typus‹ ist hier berührt. Ein Punkt, der oft übersehen oder nicht ernst genommen bzw. als ›widersprüchlich‹ beiseite geschoben wird: nämlich die Gleichzeitigkeit hochentwickelter technologischer Kompetenzen. Ein Merkmal fast aller faschistischen Männlichkeit – mit Ideologien höchster ›Rückständigkeit‹ wie ›Blut und Boden‹ bei den deutschen Faschisten oder die Rede von der ›natürlichen‹ Überlegenheit des Männlichen über den Frauenkörper bzw. der ›Überlegenheit‹ der weißen ›Rasse‹ über alle ›People of Colour‹. Man gelangt zur Feststellung, die Männer der Mannosphäre sind irgendwie höchst modern und höchst rückständig zugleich. Sie empfinden dies aber eben nicht als ›einen Widerspruch‹. Für sie sind das Teile einer ganz besonderen Art von Ganzheit, die sie sich selbst attestieren. Verherrlichung steinzeitlicher Geschlechts-Konstruktionen und virtuose Netzbeherrschung bzw. die Fähigkeiten zum hochtechnologischen Raketenbau gehen Hand in Hand.
Es handelt sich dabei nicht um etwas ›Metaphorisches‹, es geht um reale Körperzustände. Es ist wichtig, das Internet als körperliche Realität zu begreifen, die Zusammenschaltung mit ›dem Netz‹ nicht prinzipiell zu unterscheiden von der Zusammenschaltung des soldatischen Manns ›alten Stils‹ mit seinem Maschinengewehr, seinem Motorrad, seinem Panzer, seinem Flugzeug. Die technischen Geräte sind nicht einfach ›totes Material. Die psycho-physische Zusammenschaltung mit ihnen verleiht vielen Körpern eine Art besonderer ›Lebendigkeit‹. Vor allem erhöht sie in einem enormen Umfang die Machtgefühle der so Verbundenen.
Bis vor zwei Jahrzehnten lebten die meisten Männer der verstreuten ›Right-Wing‹-Zweige auf der Welt überwiegend isoliert – ohne große Kenntnis voneinander, in kleineren Gruppierungen und oft zerstritten. Jetzt gibt es ihre internationale Präsenz, eine Art Omnipräsenz, die sie unermüdlich ausbauen und ausdehnen. Was heute ›Mannosphäre‹ heißt, ist ein Produkt des Internets (das einmal angetreten war, das Graswurzel-Demokratische auf der Welt zu fördern). Mit dem Anschluss ans Netz gliedert der von Fragmentierung bedrohte Einzelkörper sich in eine große übergreifende Ganzheit ein. Jeder zustimmende Like-Klick vergrößert die Person ins Überdimensionale. Wir werden Zeugen einer technologischen Neufundierung des ›Master-Race-Prinzips‹. Damit soll nichts prinzipiell gegen das Internet gesagt sein. Im Gegenteil: Es ist vielfältig nutzbar. Die Technologien stehen allen zur Verfügung – auch den Mördern und Gangstern, die seinen Gebrauch als Zuwachs ihres Macht- und Gewalt-Körpers erleben. ›Wir‹ nutzen es anders und sollten/können es anders nutzen.
Eine entscheidende Differenz zu der Figur, die ich den heutigen ›Normaltyp‹ nennen würde, ist hier berührt. Vom Status einer irgendwie in sich selbst ›stimmigen‹ Einheitlichkeit der eigenen Körperlichkeit haben sich viele Menschen der westlich-demokratischen Gesellschaften meiner Ansicht nach grundlegend entfernt. Ich suche das seit einiger Zeit mit der Bezeichnung ›Segment-Ich‹ zu fassen. Dieses ist so etwas wie die im Zivilleben gelungene ›Überwindung‹ jenes Körpertyps, der in Angst vor sogenannter ›schizophrener‹ Spaltung lebte. Dieser Körpertyp dominierte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Er sah sich als ›gut‹: guten Staatsbürger, guten Familienmenschen, guten gehorsamen Untertanen, guten Angehörigen einer überlegenen Rasse. Er sah sich als ›human‹, auch wenn er mordete. Die Obrigkeit würde schon wissen, was sie da anordnete. Alles, was hiervon abwich, bedrohte die Körper mit Fragmentierung, psychischem Zusammenbruch. Das ›Abweichende‹ wurde – wo nicht die Möglichkeit zum physischen Eingriff (= Umbringen) gegeben war – psychisch abgespalten. Wer das nicht schaffte und auffällig wurde, wurde als ›krank‹ angesehen. Die klinisch auffällige Form hieß ›Schizophrenie‹, d. h. die Spaltung in ›zwei Persönlichkeiten‹.
Heutige Bürger der westlichen Demokratien lassen sich eine solche Spaltung nicht mehr einreden. Sie haben zu viele Anschlüsse zu verschiedenen Sparten des Wirklichen. Man kann dies so beschreiben: Mann mittleren Alters, Angestellter, bringt Kinder zur Schule, verabschiedet Ehepartnerin mit Kuss, vereinbart auf dem weiterem Weg zur Arbeit ein Date mit heimlicher Geliebter, tätigt um 10:20 im Büro Aktiengeschäft (Immobilien, Waffenhandel), spendet um 10:50 für hungernde Kinder in Indien, macht um 11:30 einen Untergebenen wegen lascher Arbeitsauffassung zur Sau und ist in der Mittagspause nett zu allen umgebenden Mitarbeitern (für deren Entlassung er in der Sitzung um 14:30 plädiert; notwendig im Sinne der Firma). Er kann in einer Kirche sein oder auch nicht in einer Kirche sein, er kann am Morgen eine Stunde religiös sein und am Abend wieder. Eine Stunde Pazifist und Kinderhelfer, eine Stunde Kriegsunterstützer, dazwischen die anstehenden Anwaltstermine organisieren zur ›Vermittlung‹ einiger dieser Bereiche untereinander. Dabei hat auch seine Körperlichkeit häufigen Netz-Anschluss. Er kann dann zum Feierabend als guter Nachbar am Zaun stehen, am nächsten Tag aber nachbarschaftlicher Denunziant in Parkplatzfragen oder Fragen von Hundekacke sein. Er kann – wie David Lynch an einem College-Professor vorführt – die Tochter am Frühstückstisch als sauberer Vater wegen etwas Dreck unter ihren Fingernägeln ohrfeigen, aber nachts ›das Gespenst‹ sein, das in ihr Bett steigt und sie sexuell missbraucht.
Unter der Figur eines irgendwie einheitlichen Ichs ist das nicht unterzubringen. Wie geht dieser ›Normaltyp‹ damit um? Soweit ich sehe, wird beim Zustandswechsel in den neuen Bereich der jeweils alte Zustand abgespalten oder besser: weggedrückt. Das entscheidend Neue: Dies geschieht ohne irgendein Gefühl von ›Krankhaftigkeit‹. Das Umschalten von einem Zustand auf den anderen erscheint als absolut ich-synthon, als absolut unpathologisch. Das ›Ich‹ besteht aus einer bestimmten Anzahl von Segmenten, die ko-existieren, ohne sich gegenseitig groß zu behelligen. Wer gut damit umgehen kann, kommt gut klar mit den umgebenden gesellschaftlichen Realitäten. Dazu bieten die heutigen technologisch und sozial ausdifferenzierten Gesellschaften für die segmentierte Psyche der Einzelnen Aktions- oder Verhaltensspielräume, die im Prinzip z. B. jede Übertretung erlauben, solange sie nicht im Fokus der Öffentlichkeit erscheint. Wir leben in einer Gesellschaft von Enklaven, die sich gegenseitig in Ruhe lassen.
Männer der Mannosphäre scheinen demgegenüber eine solche Kulturtechnik des kühlen Segmentierens (der Welt und der eigenen Psyche) nicht gelernt zu haben bzw. sind daran gescheitert. Sie erstreben – wie Jacob Johanssen mehrfach betont – ein einheitlicheres Weltbild, das sich aber angesichts der vielen verwirrenden Wirklichkeiten, in denen ›Mann‹ leben muß, nicht erreichen läßt – außer mit Gewalt und Zerstörung.
Andere Formen des Widerstands gegen diese Segment-Welt sehen wir bei Bewegungen wie ›Fridays for Future‹. Hier begehren jüngere Menschen gegen die versierten Verhaltenstricks ›der Alten‹ auf, die ihnen als ›verlogen‹ erscheinen: nämlich jede halbe Stunde etwas anderes zu erzählen und sich an nichts davon wirklich zu halten.
Für die heutige Psychoanalyse ergibt sich daraus ein generelles Problem, nämlich die Frage: Mit welcher Art ›Ich‹ haben wir es eigentlich zu tun, wenn wir die Formel ›Ich‹ sprachlich verwenden – für uns selbst oder für andere ›Ichs‹ der Gesellschaft. Die Frage ist weitgehend unbeantwortet. Die meisten Autoren helfen sich damit, einfach das Wort ›Subjekt‹ in ihre Texte zu setzen, Dieses ›Subjekt‹ existiert aber nicht – außer als abstrakte philosophische Setzung. ›Subjekt‹ ist eine Idee und körperlos. Es geht aber um Körper. Um ihren fortwährenden Versuch, ihre einzelnen Fragmentalitäten so auszusteuern und zu organisieren, dass mit ihnen ›das Leben lebbar wird‹.
Lebbar wird es in Beziehungen zu anderen Menschen. Diese Einsicht lässt die Psychoanalyse Jessica Benjamins ins Zentrum der Betrachtungen von Jacob Johannsen rücken, wenn er darüber nachdenkt, wie den isolierten Welten der Mannosphäre zu entkommen wäre. Die Erkenntnis, dass das ›Ich‹ im Grunde nicht existiert ohne Relation auf ›den Anderen‹, ist zwar in der Theorie vorhanden – in die Formen unserer Rede und Formen unseres Verhaltens ist sie noch längst nicht eingezogen. Wir wissen nur sehr ungenau, was wir meinen, wenn wir ›Ich‹ sagen.
Jessica Benjamins Ausführungen zur ›Kraft des Vaginalen‹ – das die rechten Männer heute so intensiv wie die soldatischen Männer vor 100 Jahren als ›verschlingend‹ fürchten – setzt hier auch die nötigen Akzente zur Abgrenzung neuer psychoanalytischer Überlegungen vom Komplex des ›Ödipalen‹ mit seinem Hang zur binären Aufteilung (nicht nur) der Geschlechterverhältnisse der Menschheit(en). Diese Arbeit war mit dem Anti-Ödipus von Deleuze/Guattari nur zum Teil erledigt. Auch hier zeigt sich, dass jene Menschengruppen, die ihr ›Queer-Sein‹ in den letzten Jahrzehnten ins öffentliche Bewusstsein gehoben haben, auf weit mehr zielen als nur auf die Wahrnehmung und Anerkennung ihrer ›abweichenden‹ Sexualitäten. Bei der Auflösung der Systeme der ›binären Geschlechterordnung‹ werden zentrale Organisations- und Denkformen ›unserer‹ Gesellschaft infrage gestellt. Eine der Folgen sehen wir in der sukzessiven Auflösung aller Denkformen der ›Zweiheit‹, also der heteronormativen Geschlechter-Dualität wie auch dessen, was philosophisch ›Dialektik‹ heißt. Die Dinge sind nicht ›zweiseitig‹, sie haben (fast immer) mehrere Seiten; die Denkform These – Antithese – Synthese ist überholt. Auch das Beweisschema ›unseren‹ Sprachgebrauchs, das (fast immer) von einem bestimmten Punkt aus die Dinge ordnet – hierarchisch ordnet – und aus dieser ›Höhe‹ seine ›Wahrheitsbeweise‹ anzutreten sucht, ist im Kern höchst dubios geworden. Dass es möglich ist, mit ›rationaler‹ Argumentationsweise so gut wie alles und jedes zu beweisen, hat nicht zuletzt Anders Breivik in seiner Rede vor Gericht bewiesen. Alles, was er vorbrachte, war schön mit Statistiken und Tabellen belegt und dennoch großer Unsinn. Unsere Sprache, sowohl die alltägliche wie auch die Hochsprache, hinken der Wirklichkeit der Körper und der tatsächlichen Diversität der gesellschaftlichen Zustände hinterher. Umso bedeutender ist Jacob Johanssens Bemühen, hier Breschen ins Dickicht zu schlagen auf Feldern, deren Übersichtlichkeit nicht gerade zunimmt.
Weniger denn je sind wir ›am Ende‹ von Erkenntnisprozessen. Dass wir nicht in gesicherten ›demokratisch-zivilisierten‹ Verhältnissen leben, hat uns Trumps Amerika gezeigt (and it’s not ›the only one‹). Dass es Männer gibt, die das Leben unerträglich finden, weil es Frauen gibt, die ›Gleichheit‹ fordern, ist ein drängendes Problem an den Fundamenten der Demokratie. Gleichheit ist unnatürlich. Kapiert das doch endlich!
Klaus Theweleit
Herbst 2022
Nach Ian Kershaw, war »Hitler kein Fang für Frauen« (1998: 44).1 In seiner zweibändigen Studie über den faschistischen Diktator, beschreibt Kershaw diesen als ausgesprochen frauenfeindlichen Mann. Der moralische Kodex des frühen 20. Jahrhunderts befürwortete zölibatäres Leben bis ein Individuum das Alter von 25 Jahren erreicht habe. Wie Kershaw anmerkt, galt sexuelle Abstinenz bis zu einem gewissen Zeitpunkt als »gesund, vorteilhaft für die Willenskraft und die Grundlage für körperliche oder geistige Höchstleistungen« (ebd.). Als Hitler Wien im Alter von 24 Jahren 1913 verließ, hatte er keine sexuellen Erfahrungen gesammelt. Kershaw merkt an, dass in »einer Stadt, in der sexuelle Gefälligkeiten für junge Männer so weit verbreitet waren wie im Wien jener Zeit, von denen erwartet wurde, dass sie Prostituierte aufsuchten, während sie öffentlich einen strengen Moralkodex vertraten, war dies höchstwahrscheinlich ungewöhnlich« (ebd.). Er schlussfolgert, dass Hitler Frauen und weibliche Sexualität fürchtete. Er hatte seine Sexualität verdrängt – war also gehemmt. Ein gescheiterter Mann, der sich in grandiosen Begriffen als ein Künstler zu Höherem berufen sah. Auf der anderen Seite war Hitler ein Mann, der zum schlimmsten und dämonischsten Individuum des 20. Jahrhunderts wurde, verantwortlich für Massenmord und Massaker all jener die ›anders‹ oder ›schwächer‹ waren. Hitler war notorisch bekannt für seine Hybris, blinde Wut, (dargestellte) Ausbrüche und »fast-hysterische« (ebd.: 513) Gemütszustände – ein komplett enthemmtes Monster.
Über Hitlers gescheiterte Sexualität zu schreiben hat nichts Anekdotisches. Wir sehen an ihm beispielhaft die Verbindungen zwischen dem faschistischen Gemütszustand, der Sexualität und der verkörperten Erfahrung. Der Faschismus hat eine bestimmte historische Beziehung zur Männlichkeit, Weiblichkeit, dem Körper und der Sexualität – eine Beziehung die ihre Echos und Updates auf heutigen Bildschirmen und in den Körpern vieler Männer findet.
Frauenhass im Internet und insbesondere auf sozialen Medien, wie Twitter, Facebook und YouTube, ist in den letzten Jahren rasant angestiegen (BANET-WEISER 2018; GING/SIAPERA 2019). Forenplattformen wie 4chan, 8chan und Reddit spielen bei diesem Anstieg eine besondere Rolle. Die Zunahme von Frauenhass bzw. Misogynie ist auch bedingt durch wachsende rechte und faschistische Politik und Ideen, nicht nur durch Wahlen, PolitikerInnen und Regierungen – wie von Johnson, Trump, Modi, Bolsonaro, Salvini, Orbán, Duterte, Erdoğan, Le Pen – sondern durch eine organisierte Verbreitung im Internet. In jüngster Zeit wird der wachsende Rechtspopulismus in Europa und anderen Teilen der Welt (z. B. zu Zeiten der Trump-Regierung in den USA, dem Brexit Referendum in Großbritannien, den Anti-ImmigrantInnen-Diskursen von rechtsnationalen Parteien in Europa) auch begleitet von bestimmten Formen des Frauenhasses und einer Oppositionswelle hinsichtlich Frauenrechten und Rechten von Queeren (WALTON 2012; KESKINEN 2013; WILZ 2016; OUELLETTE/BANET-WEISER 2018).
In diesem Kontext sind in den letzten Jahren eine Reihe von Online-Communitys (oft allgemein als die ›Mannosphäre‹ oder auf Englisch ›manosphere‹ betitelt) entstanden, die hasserfüllte Inhalte über Frauen verbreiten (GOTELL/DUTTON 2016; GING 2017; KOULOURIS 2018; VAN VALKENBURG 2018; BRATICH/BANET-WEISER 2019). Die Mitglieder dieser Communitys behaupten, dass feministische heterosexuelle Frauen, queere Personen2, Linke und People of Colour (weiße) Männer unterminiert haben und es deshalb einer neuen Männlichkeit bedürfe. Diese Männlichkeit wird in vielerlei Arten in der Mannosphäre konstruiert und verbreitet.
Diese Communitys sind nicht nur schädlich für heterosexuelle Frauen (und jene die sich anderen Geschlechts- und Sexualitätskategorien zugehörig fühlen), sondern bringen sie in Fällen von Mord- und Vergewaltigungsdrohungen in akute Gefahr. Sie haben auch dazu geführt, dass Frauen getötet wurden. Die weißen, männlichen Täter sind oftmals Frauenhasser und Rassisten (MYKETIAK 2016; MURRAY 2017a, b; WILSON 2017; VITO/ADMIRE/HUGHES 2018). Ihre Ansichten werden durch die Mannosphäre und durch soziale Medien im Allgemeinen verstärkt. Online-Frauenhass ist nie nur harmlose ›virtuelle‹ Gewalt – er führt zu ›realer‹ Gewalt gegen Frauen.
Wir leben in einer Zeit, in der bestimmte Männer Frauen hassen. Wie äußern sich solche Formen des Hasses im Internet? Warum sind sie gerade jetzt im Wachstum begriffen? Inwiefern beziehen sie sich auf die Geschichte des Faschismus, der sexuellen Revolution und des Feminismus? Warum sind sie so intrinsisch auf Körperlichkeit und Sexualität bezogen? Wie wird Frauenhass durch diese Communitys verstärkt? Welche Rolle spielen Fantasien in diesem Kontext? Diese Fragen haben dazu geführt, dass ich dieses Buch geschrieben habe.
Die dem Buch zugrunde liegende Forschungsfrage lautet: Wie äußert sich Frauenhass in den unterschiedlichen Communitys der Mannosphäre? Ich möchte Schlussfolgerungen über die Fantasien dieser Männer, ihre Begierden und körperlich-affektiven Zustände ziehen. Deshalb analysiere ich Daten von Reddit3, YouTube und anderen Online-Foren sowie die Manifeste von zwei Mördern.
Dieses Buch ist eine psycho-soziale Analyse von Frauenhass und fokussiert die sozio-historischen Faktoren und die subjektiv-psychischen Dimensionen, die diesen Hass ermöglichen und verstärken. Beide bedingen einander. In ihrem Buch zum Frauenhass hat Kate Manne (2018) dagegen argumentiert, Misogynie als etwas genuin Psychologisches, Psychisches oder Subjektiv-Irrationales zu begreifen. Misogynie ist ihres Erachtens nicht ein primär individueller Gemütszustand, sondern eine Praktik, die tief im Patriarchat verwurzelt ist – mit dem Ziel, es aufrechtzuerhalten. Was hinter dem Frauenhass von einem Individuum steht, ist für Manne unmöglich zu untersuchen. Ich denke, dass eine polarisierende Perspektive nicht zielführend ist. Wir sollten Frauenhass als ein dialektisches und psycho-soziales Phänomen begreifen, das in Subjekten und im Sozialen verortet ist. Beide sind verwoben und verkörpern Misogynie in bestimmten Weisen. Ich versuche die subjektiven Dimensionen von Frauenhass und dessen Verortung im Patriarchat und in bestimmten sozio-historischen Kontexten zu verstehen.
In meinem theoretischen Rahmen beziehe ich mich auf die Psychoanalyse und insbesondere auf Klaus Theweleits Männerphantasien. Meine Analysen basieren außerdem auf den Arbeiten Sigmund Freuds, Wilhelm Reichs Theorie von Sexualität und Faschismus und Elisabeth Young-Bruehls Arbeiten zu Vorurteilen. Diese DenkerInnen betonen die zentrale Rolle von Sexualität, dem Körper und dem Unbewussten für die Analyse von Extremismus und autoritärer Ideologie. Wenn wir die gegenwärtige Faszination am Rechtsextremismus und Faschismus verstehen wollen, müssen wir das Thema Sexualität einbeziehen. Faschismus verspricht nicht nur eine kollektive Identität, Zugehörigkeit und körperliche Kraft, sondern auch eine bestimmte Dynamik zwischen Pflichten einerseits und Enthemmung andererseits sowie eine totale Dominanz des Anderen. Solche Themen sind besonders für jene attraktiv, die sich durch Frauen und Sexualität bedrängt und geschwächt fühlen.
Ich lege in diesem Buch besondere Aufmerksamkeit auf Körperlichkeit, Affekte sowie auf das Soziale. Eine psycho-soziale Perspektive – angelehnt an die britischen Psychosocial Studies – ist hilfreich, weil die Fantasien und Narrative, die ich analysiere, über das Diskursive oder Textuale hinausgehen: Sie werden durch den Körper, die Sexualität und durch Affekte geformt. Obgleich diese Narrative – etwa als Posts – als geschriebene Texte gelten, sind sie doch verkörperte Veräußerungen un/bewusster Dynamiken, die sich auf die Psyche der Männer beziehen und die weitere sozio-kulturelle Dimensionen haben.
Basierend auf Theweleit, Reich und Young-Bruehl, erarbeite ich das ›Konzept der Ent/Hemmung‹ (welches sich seinerseits auf Freuds ›Konzept der Hemmung‹ bezieht). Ich komme auf dieses neue Konzept während des gesamten Buches zurück, wenn ich die unterschiedlichen Männerfantasien analysiere. Im Zeitalter von Hook-up-Apps wie Tinder, selbstproduzierten Amateurpornos und offenen Diskussionen über sexuelle Praktiken in den sozialen Medien ist Sexualität scheinbar befreiter und enthemmter als sie es je war. Gleichzeitig führen solche Formen ungezügelter und sichtbarer Leidenschaften bei vielen Individuen zu Hemmungen und Konflikten. Ent/Hemmung ist ein generelles Symptom gegenwärtiger Technologiekulturen und wie in ihnen Sexualitäten gelebt, erfahren, gedacht und verhandelt werden. Das Konzept ist besonders auf die heterosexuellen Männer anwendbar, die ich in diesem Buch analysiere. Ihre Körper sind in einem Dauerzustand der Ent/Hemmung: Apathie und toxische symbolische Macht, widersprüchliches Begehren und der Druck und Sog des Unbewussten. Ihre Subjektivitäten sind fragil und sie fühlen sich von Frauen, weiblicher Sexualität und der angeblichen Macht, die Frauen heute haben, bedroht. Gleichzeitig fühlen sich die Männer unbegehrt und inadäquat. Sie reagieren auf solche existenziellen Versagensgefühle, indem sie sich zurückhalten und exkludieren, sich entfremdet als Teil eines bestimmten Online-Kollektivs fühlen. Sie haben gleichzeitig omnipotente Fantasien, die Ihnen das Gefühl geben, die Kontrolle zu haben. Und sie konstruieren eine generische Frau als die Andere.4 Diese Andere weist Ähnlichkeiten auf, wie JüdInnen von AntisemitInnen konstruiert werden und wie Subjekte, die nicht weiß sind, von RassistInnen konstruiert werden: sexuell promiskuitiv, etwas ausheckend, betrügerisch, verführerisch, ansteckend.
Es gibt bereits viel Literatur zu diesem Forschungsgegenstand und zum Thema des Frauenhasses in den sozialen Medien (FILIPOVIC 2007; JANE 2014, 2016; RENTSCHLER 2014; MASSANARI 2017; BANET-WEISER 2018; ZUCKERBERG 2018), den toxischen Praktiken misogyner männlicher User in Fan- und Gamingkulturen (MANTILLA 2015; SALTER/BLODGETT 2017; PROCTOR/KIES 2018) und auch Arbeiten zu Rechtspopulismus und Misogynie (WODAK 2015; LYONS 2017; OTT 2017). Dennoch gibt es Spielraum für weitere Forschung auf diesem Gebiet, insbesondere was die Beziehung zwischen rechtsextremen Ideen, Frauenhass und sozialen Medien – unter Berücksichtigung des (männlichen) Körpers – betrifft.
Dieses Buch diskutiert und analysiert vier Männlichkeitstypen, männliche Identitäten und Online-Communitys:
•Reaktionäre und Alt-Right-YouTuber, die sich über den gegenwärtigen moralischen Verfall aufgrund der sexuellen Revolution und des Feminismus aufregen (Kapitel 3),
•Incels, die Frauen entmenschlichen und gleichzeitig begehren (Kapitel 4 und 5),
•MGTOWs (Men Going Their Own Way), die ein männliches Lebensgefühl ohne Frauen propagieren (Kapitel 5),
•Mörder wie Anders Breivik und Elliot Rodger, die Frauen aufgrund ihres eigenen sexuellen Versagens getötet haben (Kapitel 6) und
•NoFap-Mitglieder, die von Pornografie und Masturbation absehen und die problematische Sichtweisen über Frauen und den Feminismus haben (Kapitel 7).
In dieser Einleitung skizziere ich die Kontexte, Themen und wichtigsten Argumente dieses Buches.
Rechtsextreme und faschistische Kräfte sind global auf dem Vormarsch. In Zeiten komplexer geopolitischer, klimatischer und ökonomischer Herausforderungen scheinen erstarkte Nationalismen und populistische Autoritarismen einfache Antworten für viele zu liefern. Alte Ideologien werden mittels neuer Technologien, wie etwa den sozialen Medien, kommuniziert (FUCHS 2018). Bestimmte Ideologien des Nationalismus haben sich international verbreitet. Sie sind durch inhärente Rassismen, Misogynie, Sexismen und allgemeine Xenophobie gekennzeichnet. Dieses Buch handelt von Frauenhass im Zeitalter des autoritären Kapitalismus und von den Gefahren des Faschismus und Rechtsextremismus. Viele Länder haben sich einer autoritären Form des Kapitalismus zugewandt, welcher der des Faschismus gefährlich nahe kommt (z. B. Ungarn, Brasilien, die USA oder Großbritannien). Christian Fuchs zeigt auf, dass die Unterschiede zwischen Rechtsextremismus und Faschismus darin bestehen, dass ersterer symbolische und reale Gewalt gegenüber politischen Gegnern einsetzt, während letzterer Gewalt gegen alle Gegner und Sündenböcke anwendet (ebd.: 56). Faschismus zeichnet sich durch seine Ideologie und sein politisches System aus. Obgleich es historisch sehr unterschiedliche Formen des Faschismus gegeben hat (etwa Nazismus unter Hitler in Deutschland und Faschismus unter Mussolini in Italien), gibt es dennoch kleinste gemeinsame Nenner, die Faschismus als unterdrückende, gewalttätige, autoritäre Form des Totalitarismus kennzeichnen. Jason Stanley (2018) nennt die folgenden Charakteristika von Faschismus: ein Bezug auf eine mythische Vergangenheit, Anti-Intellektualismus, eine starke Betonung von Hierarchien und ›law and order‹ eine Verzerrung von Realität, das Gefühl, sich in der Opferrolle zu befinden, sowie sexuelle Angst.
Rechter Autoritarismus hat nach Christian Fuchs folgende Merkmale:
1.Autoritarismus und Führung: ein Glaube an einen autoritären Führer und einen starken Staat,
2.Nationalismus, Ethnozentrismus: ein Glaube an die Überlegenheit einer bestimmten Gemeinschaft oder Nation,
3.Freund-Feind-Schema: ein Glaube an gefährliche Feinde (Andere), die eliminiert werden müssen,
4.Konservative Werte: Sexismus, Patriarchat, Militarismus (FUCHS 2018: 53).
Wichtige Aspekte von Faschismus und rechtsgerichtetem Populismus im Allgemeinen sind ihre konservative Geschlechterhierarchie, Sexismus und oftmals Frauenhass. Faschismus idealisiert den Körper, harte Arbeit, männliche Überlegenheit sowie körperliche Fitness und Gesundheit. Seine Ideologien sind dualistisch und separieren Geschlechter in die Sphäre der Produktion (Männer) und Reproduktion (Frauen). Der Körper des männlichen Soldaten wird der Idealkörper, den alle Männer durch körperliche Ertüchtigung erreichen sollen (FUCHS 2018: 68). Fuchs schreibt, dass so ein Dualismus durch das Patriarchat ideologisch rationalisiert wird. Das patriarchale System wird als korrekt und stimmig gesehen und
»Frauen werden hierbei oftmals auf Sexualität, Biologie und Hausarbeit reduziert« (ebd.: 240).
Wie der Faschismus, ist der rechtsgerichtete Populismus auch durch Rassismus, Nationalismus, Frauenhass und andere Formen der Xenophobie gekennzeichnet. Er wird durch exkludierende Diskurse und Aktionen angetrieben, durch die eine Gruppe oder ein charismatischer Führer hervorgebracht wird, der den Volkswillen verkörpern und existierende Eliten und Normen überwinden soll. Der rechtsgerichtete Populismus ist durch eine ›Wir-gegen-die‹-Logik gekennzeichnet und macht bestimmte Gruppen (Geflüchtete, Frauen, Queere, Menschen mit Behinderung usw.) für die Probleme einer Nation verantwortlich.
Die sogenannte ›Alt-Right‹, eine neue Bewegung von Rechten mit Ursprung in den USA, eine amorphe Ansammlung von Individuen und Gruppen, war in den letzten Jahren online und offline präsent (HAWLEY 2017; WENDLING 2018). Innerhalb weniger Jahre, wandelte sie sich von einer Nischenposition zum Mainstream im Westen (WENDLING 2018). »Die Alt-Right hat Donald Trump geholfen zum Präsidenten gewählt zu werden und Trumps Wahlkampagne brachte die Alt-Right in die Nachrichten« (LYONS 2017: 2). Sie ist antisemitisch, rassistisch, antifeministisch und gegen Gleichberechtigung. Wie Hawley ausführt:
»Bei der Alt-Right geht es im Wesentlichen um Rasse. In ihrem Kern ist die Alt-Right eine weiß-nationalistische Bewegung, auch wenn viele (vielleicht die meisten) der Menschen, die sich mit der Alt-Right identifizieren, diesen Begriff nicht mögen. Die energischsten und bedeutendsten Figuren der Bewegung wollen die Schaffung eines weißen Ethnostaats in Nordamerika erreichen. […] Wir können sagen, dass die Alt-Right auch eine antifeministische Bewegung ist, die sich gegen die heutigen Vorstellungen von der Gleichberechtigung der Geschlechter wendet und eine eher patriarchalische Gesellschaft befürwortet. Aber ihre Kritik am Feminismus stützt sich in der Regel nicht auf traditionelle religiöse Argumente über Geschlechterrollen. Die Alt-Right-Bewegung vertritt das, was sie ›Sexualrealismus‹ nennt – dass Männer und Frauen biologische Unterschiede haben, die sie für unterschiedliche soziale Rollen geeignet machen. Es gibt einige Überschneidungen zwischen der Alt-Right und der sogenannten Männerrechtsbewegung, die argumentiert, dass die Diskriminierung von Männern heute ein größeres Problem darstellt als die Diskriminierung von Frauen« (HAWLEY 2017:11, 17).
Diese Überschneidung zwischen der Alt-Right und der gegenwärtigen Männerrechtsbewegung ist wichtig im Hinterkopf zu behalten. Wie ich zeigen werde, weisen die verschiedenen Individuen und Gruppen, die ich im Buch diskutiere, explizite und teilweise implizite Verbindungen zur Alt-Right und der Männerrechtsbewegung auf. Die Alt-Right ist ein Überbegriff unter dem sich verschiedene rechte Gruppierungen sammeln. Sie ist führer- und hierarchielos. Sie benutzt »Ressourcen mit erheblichen Fähigkeiten und eignet sich Praktiken an, die meist mit sozialen Bewegungen der radikalen Linken in Verbindung gebracht werden« (SALAZAR 2018: 136). Dieses technologische Geschick und die Fähigkeiten der Alt-Right sind wichtig, um zu verstehen, warum junge Männer (und weniger ausgeprägt junge Frauen) durch ihre Internetnutzung in ihren Bann gezogen werden (FIELITZ/THURSTON 2019). Beispiele hierfür sind etwa YouTube-Videos (LEWIS 2018), Memes und animierte Gifs (DE COOK 2018; LAMERICHS et al. 2018), die Präsenz in sozialen Medien oder Merkmale aus der Gaming- und Populärkultur (BLODGETT/SALTER 2018).
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Beziehung zwischen dem anonymen Forum 4chan und der Alt-Right. Wie Wendling argumentiert, ist die 4chan-Community eine zentrale Dimension der Alt-Right, da sie ein »Nährboden und ein Ziel« (ebd.: 51) für viele Alt-Right-User wurde. 4chan verfügt im Grunde über keine oder nur geringe Moderationsrichtlinien. »Als ›Normie‹ – also jemand, der ›Mainstream‹ ist, das kleinste bisschen konventionell oder mit der dunklen Seite des Internets nicht vertraut – in 4chan einzutauchen, erfordert einen starken Magen« (ebd.: 52). 4chan kann wie Reddit als ein nostalgischer und regressiver Versuch gesehen werden, zu einem früheren Internet zurückzukehren, bevor das Internet zum Mainstream und von großen Unternehmen dominiert wurde. Es wird argumentiert, dass das politische Forum ›/pol/‹ (für ›politisch inkorrekt‹) auf 4chan als eine Basis für Rekrutierungsversuche seitens der Alt-Right genutzt wurde. Der ironische und humorvolle Ton in 4chan und anderswo (wie etwa bei Incels oder MGTOWs) ist ein Merkmal des neuen Rechtsextremismus im Internet (GREENE 2019; UDUPA 2019; KRÜGER 2021). Obgleich die Alt-Right in den letzten Jahren (seit etwa 2017) stark an Bedeutung verloren hat, da viele prominente Mitglieder von sozialen Medien des Mainstreams gebannt wurden, ist sie nicht vollständig verschwunden. Man kann von einer weiter existierenden Denkweise sprechen, die sich in anderen Ausläufern und in Versuchen von Alt-Right-Mitgliedern äußert, wieder mehr an Präsenz zu gewinnen (HERMANSSON et al. 2020).
Adrienne Massanari (2017) und Michael Salter (2018) haben beide argumentiert, dass insbesondere Reddit misogyne Communitys verstärkt und zusammengebracht hat. Es ist somit kein Zufall, dass alle Communitys, die in diesem Buch behandelt werden (Incels, MGTOW, NoFap) verschiedene Subreddits hatten und haben. Massanari merkt an, dass die Designs, Algorithmen und die Plattformpolitik von Reddit die Entstehung eines Mittelpunkts toxischer Männlichkeit begünstigt, wenn nicht sogar teilweise ermöglicht haben. Dadurch konnten sich Nischen-Communitys (z. B. über extreme Pornografie oder Fotos von Leichen) etablieren und lange halten. Erst 2017 und 2019 wurden die Moderationsrichtlinien aufgrund von steigendem öffentlichen Druck verschärft. Dies führte zu dem Bann von bestimmten Subreddits. Wie Massanari zeigt, ist Reddit jedoch keine toxische Plattform an sich, da es dort auch viele feministische, antirassistische oder andere progressive Räume gibt, in denen sich Menschen austauschen können.
Die Männerrechtsbewegung (Men’s Rights Movement), die es vor allen Dingen im englischsprachigen Raum, aber auch weniger ausgeprägt in Deutschland gibt, ist ein wichtiger Faktor, der die Mannosphäre beeinflusst hat. MRAs (Männerrechtsaktivsten) traten erstmals in den 1970er-Jahren in den USA in Erscheinung und können als Antwort auf die zweite Welle des Feminismus gesehen werden. Sie konzentrieren sich auf Bereiche moderner Gesellschaften in denen Männer angeblich benachteiligt sind, etwa die Kindererziehung, das Familienrecht, männliche Suizide, Gewalt gegen Männer sowie stereotype und hegemoniale Formen von Männlichkeit (MESSNER 1998). Das Internet liefert neue Möglichkeiten für MRAs und die Mannosphäre hat sich in den letzten Jahren auf Plattformen wie Reddit, YouTube und auf einzelnen Websites etabliert. Hawley definiert die Mannosphäre als:
»eine lose Ansammlung von Blogs, Reddit-Themen, traditionellen Webforen und Accounts auf sozialen Medien. Manche sind mehr oder weniger Selbsthilfegruppen oder konzentrieren sich auf individuelle Kampagnen, wie etwa der Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Jungen, oder dem Agitieren für Rechte von geschiedenen Vätern. Einige Communitys schwören komplett dem Sex und der Masturbation ab, während andere (wie PUAs) darauf fixiert sind mit so vielen Frauen wie möglich zu schlafen. Mache sind von Vergewaltigungsstatistiken und falschen Vergewaltigungsvorwürfen besessen. Manche haben sich einfach verschrieben die Sünden des modernen Feminismus zu katalogisieren« (HAWLEY 2017: 62).
Ich werde aufzeigen, dass die Mannosphäre Diskurse, Ideen, Bilder und Terminologien der Alt-Right entleiht oder explizit benutzt.
Neben den Faktoren, Gruppen und Begriffen, die ich gerade erläutert habe, gibt es vier kulturelle Entwicklungen oder Ereignisse der letzten 20 Jahre, die für den gegenwärtigen Frauenhass im Internet relevant sind und die als Initiationsfaktoren fungieren. Dies sind die Filme Fight Club (FINCHER 1999), die Matrix-Trilogie (WACHOWSKI/WACHOWSKI 1999), Gamergate und die Pick-up-Artist-Bewegung.
Zwei Filme, beide 1999 erschienen, haben in den letzten Jahren eine neue Bedeutung angenommen. Sie zirkulieren als Referenzpunkte in den Communitys der Mannosphäre und der Alt-Right-Bewegung. Im ersten Matrix-Film fragt Morpheus Neo, ob er die blaue oder die rote Pille einnehmen wolle. Die blaue Pille steht dabei für Ignoranz und Vermeidung der Realität, während die rote Pille sich auf die ganze Wahrheit bezieht. Die Idee der roten Pille (und ihrem Sprössling der schwarzen Pille) ist von der Mannosphäre aufgegriffen wurden, um die Wahrheit über eine bestimmte Geschlechtsanordnung auszudrücken. Fight Club ist ebenso wie Matrix ein Film über das Ablehnen oder Anerkennen der realen Welt. Männer formieren sich zu einer proto-faschistischen Gruppe, einer Art Männerbruderschaft. Der Film könnte als eine Inszenierung faschistischer Männlichkeit gesehen werden, da in ihm Geschlechtersegregation und Gewalt praktiziert wird. Fight Club ist auch bedeutsam, da in dem Film der Begriff ›Schneeflocke‹ (snow flake) benutzt wird. Tyler Durden ruft den Männern durch ein Megaphon zu: »Ihr seid keine schönen oder einzigartigen Schneeflocken!« ›Schneeflocke‹ wird von der Alt-Right benutzt, um despektierlich Menschen zu beschreiben, die angeblich leicht beleidigt oder angegriffen sind, oder auf andere Art schwach sind. Ähnliche Wörter in diesem Zusammenhang sind ›Cuck‹ (siehe Kapitel 7) und ›SJW‹ (›social justice warrior‹), mit denen oft Personen aus dem linken Spektrum bezeichnet werden. Kommentatoren haben angemerkt, dass die Alt-Right den Film (bewusst) falsch interpretiert. Allerdings ist dieses Argument problematisch, da es impliziert, dass Medientexte nur ›eine‹ Lesart zulassen. Die Cultural Studies haben aber beispielsweise gezeigt, dass Publika Medien unterschiedlich interpretieren. Meiner Ansicht nach sind weder Matrix noch Fight Club immanent faschistisch oder für den gegenwärtigen Kulturkrieg verantwortlich. Beide Filme beinhalten wichtige weibliche Charaktere – ein Fakt, der von der Alt-Right geflissentlich ignoriert wird. Wir könnten die Matrix-Filme auch als Kritik am Konsumkapitalismus und an der manipulativen Macht von digitalen Technologien lesen. Die Agenten und die Maschinen, die alles liquidieren, was anders ist und das System bedroht, können auch als Faschismuskritik betrachtet werden.
Tyler Durdens Utopie, wie im Laufe des Films immer klarer wird, ist »eine landwirtschaftlich organisierte Jäger- und Sammlergesellschaft, in der Menschen Lederkleidung tragen und Nahrung unweit verlassener Hochhäuser und Megaautobahnen anbauen« (VACKER 2019). Vacker merkt an, dass Durdens Zukunftsvision, der des Öko-Terroristen ›Unabomber‹ in den USA der 1980er- und 1990er-Jahre ähnelt. Dieser verschickte Briefbomben an Universitäten und Unternehmen mit dem Ziel, jegliche Technologie zu zerstören. Die Schlussszene von Fight Club kommt so einem ›ground zero‹ nahe, ein Begriff den Durden in der ersten Szene des Films benutzt. Als größte Angst wird im Film dargestellt, »dass unsere Massenkonsumgesellschaft der Bedeutungslosigkeit eines vom Nichts expandierenden Universums erliegt« (ebd.).
Die jungen heterosexuellen Männer dieses Buches sind mit Fight Club und The Matrix aufgewachsen – wie auch ich. The Matrix war ein besonders wichtiger Film für meine Generation und für mich. Eine globale Ikone der Populärkultur mit nachhaltigem Einfluss. Matrix und andere Science-Fiction Filme, nahmen die heutige Vermischung von Realität und Virtualität vorweg. Die heutige Welt hat sich immer stärker dem Hyperrealen angenähert. Die Idee der Selbstoptimierung ist ein wichtiger Bestandteil von Fight Club und auch ein impliziter Faden dieses Buches. Die Männer, die ich diskutiere, definieren und debattieren Ideen der Selbstoptimierung oder -verbesserung und was diese in Bezug auf Männlichkeit bedeutet. »Selbstoptimierung ist Masturbation, aber Selbst-Zerstörung, das ist Verbesserung«, sagt Tyler zu Jack im Film. Der Nihilismus von Fight Club wird von der Alt-Right und insbesondere von der Incel-Community aufgegriffen und in Form von Zitaten, Bildern und Memes geteilt. Incels erkennen sich in dem Film wieder.
Vacker argumentiert, dass die Männer aus Fight Club »Brüder im Geiste mit weißen Rassisten, harten Jungs im Internet, Anti-Wissenschaftseiferern, diesen Anti-Aufklärungsgruppen, die für prämodernen Aberglauben als eine Anleitung für hypermoderne Gesellschaften eintreten, sind« (VACKER 2019). Er schreibt außerdem, dass Matrix eine ähnliche Version vom Leben außerhalb jeglicher Technologie zeichnet. Beide Filme beginnen mit entfremdeten Männern (Neo und Jack), die ihre Existenzen grundlegend verändern, ja revolutionieren. Tyler Durden, ein proto-faschistischer Ideologe, wird als eine Idealform von Männlichkeit für die anderen, schwächeren Männer im Film dargestellt. Dies ist ein wichtiger Bestandteil der Anziehungskraft des Films und für die Männer, die ich in diesem Buch analysiere. Sie nehmen solche Transformationsfantasien auf. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass Jack und Tyler dieselbe Person sind und somit die inhärenten Widersprüche und Auseinandersetzungen von heutigen heterosexuellen Männern verkörpern. Diese Widersprüche sind von Begierden und Fantasien geprägt, in denen Männer mit gegensätzlichen Vorstellungen und Gefühlen konfrontiert werden. Hierauf werde ich in den folgenden Kapiteln im Detail eingehen.
Die Begriffe der ›roten Pille‹ und der ›Schneeflocke‹ könnten auch einfach als bloße popkulturelle Referenzen von geeky, männlichen Internetkulturen aufgegriffen worden sein, die mühelos eine Vielzahl von Elementen und Zitationspraktiken remixen und benutzen, um einer bestimmten Agenda zu folgen. Viele der Communitys und Männer, die ich in diesem Buch diskutiere, sind von der Idee der roten Pille überzeugt und bekennen z. B., ein MGTOW zu sein, da sie ›ge-redpilled‹ wurden und die wahre Realität und Natur der Welt erkannt haben. Für diese Männer bedeutet die rote Pille im Grunde von einem sexuellen Markt zu wissen (oder daran zu glauben), in dem Frauen nur an erfolgreichen Männern interessiert sind. Erfolg kann im Beruf oder anderswo errungen werden. Die schwarze Pille der Incels geht noch einen Schritt weiter und es wird behauptet, dass Sexualität vollständig biologisch determiniert sei – insbesondere das Aussehen und bestimmte Charakteristika, wie etwa die Kieferpartie eines Mannes. Incels sind der Ansicht, sie seien so von einem System benachteiligt und unterdrückt, da ihnen die biologischen Merkmale fehlen, daran teilzunehmen.
›Gamergate‹ ist wichtig, um zu verstehen wie männliche Communitys Frauenhass, Rassismus, und Sexismus verbreiten. Der Begriff bezeichnet eine im englischsprachigen Internet und den sozialen Medien stattfindende Belästigungskampagne, die das Fundament für symbolischen und physischen Terrorismus von (meist) weißen Männern gegenüber Frauen legte. Hierbei ist egal, ob sie diesem direkt oder indirekt ausgesetzt sind. 2014 – als Facebook, Twitter und andere soziale Medien vollends Mainstream geworden waren – veröffentlichte der Ex-Freund der Videospielentwicklerin Zoë Quinn ein langes Dokument im Internet. Hierin berichtete er ausführlich über die letzten Wochen seiner Beziehung und veröffentlichte auch intime Details. 4chan- und Reddit-User, vor allem aus Gamingkulturen, begannen daraufhin eine Belästigungskampagne gegen Quinn. In einer Welt von männlicher Fragilität und Frauenhass durfte eine Frau keine Videospiele entwickeln. Die User erdachten Verschwörungstheorien, dass Quinn mit männlichen Gamingjournalisten schlafen würde, damit sie im Gegenzug gute Kritiken bekam. Bald darauf wurden Gamejournalistinnen, Kritikerinnen und Designerinnen gezielt einer monatelangen Belästigungskampagne ausgesetzt. Sie wurden ›gedoxxed‹ (wobei private Details eines Individuums online geposted werden) und erhielten Tausende Vergewaltigungsund Morddrohungen. Gamergate war einer der ersten Kulturkriege des Internets. Männer erstellten gefälschte Twitteraccounts und gaben vor, Feministinnen zu sein, nur um Hashtags wie #EndFathersDay in die Twitter-Trends zu bekommen. Männliche Internet-Subkulturen, die bis zu diesem Zeitpunkt als unpolitisch und harmlos galten, offenbarten ihr infantiles und reaktionäres Gesicht (MASSANARI 2017; WENDLING 2018). Frauen, Minderheiten und progressive Individuen (oftmals als ›social justice warriors‹ betitelt) wollten angeblich Gamingkulturen verändern und die (virtuellen) Identitäten von Männern auslöschen. ›Politische Korrektheit‹, ›kultureller Marxismus‹ und Feminismus waren kurz davor, Gamingkulturen zu entern – so die paranoiden Fantasien der männlichen Gamer. Sie mussten sich dagegen natürlich wehren (PROCTOR/KIES 2018). Gamergate brachte Nerds mit MRAs zusammen und katapultierte sie in den Mainstream des Internets.
Massanari (2017) meint, dass vor allem die Plattform Reddit eine Bühne für Gamergate bot und dass sie auch die reaktionären und gewalttätigen Dimensionen vieler Männerkulturen im Internet erst vollständig entstehen ließ. Dies lag vor allen an Reddits quasi nicht existenten Moderationsrichtlinien.
George Hawley (2017) sieht Gamergate als Vorläufer der Alt-Right-Bewegung an. Die anhaltenden Belästigungen und das Trolling hat die Taktiken der Alt-Right beeinflusst. Die New York Times schrieb 2019, dass Gamergate die politische Kultur im westlichen Raum stark geprägt hat: Trumps Tweets, Bot-Armeen auf Twitter, Fake News und Hashtags, Kritik an Mainstream-Medien, zahlreiche Mord- und Vergewaltigungsdrohungen gegen Frauen, LGTBQI+, BIPoC, Userinnen sozialer Medien und Poliktikerinnen (WARZEL 2019) sowie die Armee antifeministischer YouTuber. Gamergate war der Prototyp von männlicher Online-Belästigung und radikalisierte junge Männer zu gewalttätigen Frauenhassern.
Ein anderes kulturelles Phänomen ist relevant, um einige der männlichen Internet-Communitys zu verstehen, die heute aktiv sind: ›Pick up Artists‹ (PUAs) stammen aus den frühen 1990er-Jahren und sind seit den 2000ern im Mainstream der US-Kultur angekommen – etwa durch TV-Datingshows. Pick up Artist bezeichnet eine Strategie, wie Frauen manipuliert werden können, um mit ihnen Sex zu haben. Sie suggeriert den heterosexuellen Männern die Illusion, dass sie jede Frau ›haben‹ oder ›knacken‹ können. Pick up Artists sind ein Bestandteil neoliberaler Sexualkultur die, durch Konkurrenz und das Konsumieren von PartnerInnen und Sexualität gekennzeichnet ist (BANET-WEISER/MILTNER 2016; KRAY 2018; O’NEILL 2018; BRATICH/BANET-WEISER 2019). Die rote Pille wird auch in gegenwärtigen PUA-Communitys oft erwähnt, etwa in dem populären Subreddit ›The Red Pill‹. PUAs sehen Frauen und weibliche Sexualität im Grunde als maschinell und biologistisch an. Frauen funktionieren demnach wie Maschinen und es braucht nur den richtigen männlichen ›Algorithmus‹, um Einlass zu ihnen zu bekommen. Diese Form des instrumentellen Denkens ist auch für andere Communitys, wie etwa Incels, MGTOWs oder NoFaps, maßgebend. PUAs implizieren einen traditionellen männlichen Anspruch auf Sexualität und eine phallische Potenz, die dadurch verstärkt wird, wie Männlichkeit oft in den Medien dargestellt wird – eine Männlichkeit die heterosexuelle Männer nie ausfüllen können, da es sich um Fantasien handelt. Rachel O’Neill (2018) hat gezeigt, wie ›PUA-Trainer‹ mit heterosexuellen Männern als Teil einer florierenden Verführungsindustrie arbeiten. Sie argumentiert, dass die Männer, die sie für ihre Studie interviewt hat, sich verunsichert fühlen und eine sogenannte ›postfeministische‹ Datingkultur, in der sich Frauen (auch) als phallisch und ermächtigt zeigen, als schwer durchschaubar ansehen (vgl. auch MCROBBIE 2009).
Dieses Buch leistet einen Beitrag zu einem psycho-kulturellen Ansatz in der Forschung über digitale Medien, wie er vor allem von Candida Yates und Caroline Bainbridge erarbeitet wurde (BAINBRIDGE 2012, 2013, 2019, 2020; BAINBRIDGE/YATES 2011, 2012, 2014; YATES 2007, 2015, 2019). Dieser Ansatz bezieht sich auf die Psychosocial Studies, psychoanalytische Theorien und Methoden, sowie auf Arbeiten der Medien- und Kommunikationswissenschaft und der Cultural Studies. Das Buch ist innerhalb der Studien über (soziale) Medien verortet, die sich auf die Psychoanalyse beziehen – ein wachsender Bereich innerhalb der Kommunikationswissenschaft (DEAN 2010; TURKLE 2011; BALICK 2014; HORBURY 2015; JOHANSSEN/KRÜGER 2016, 2022; CLOUGH 2018a; EICHHORN 2019; JOHANSSEN 2019; PINCHEVSKI 2019; SINGH 2019). Natürlich gibt es hier auch im deutschsprachigen Raum eine Tradition, die ich im englischen Original nicht weiter heranziehen konnte. Hier können vor allem AutorInnen wie Vera King (2013, 2014), Elfriede Löchel (1997, 2006), Brigitte Hipfl (2009, 2015), Ulrike Prokop (PROKOP/JANSEN 2006) Christina Schachtner (1993, 2016) und auch Steffen Krüger (2014) genannt werden.
Die Psychoanalyse ist hier insbesondere nützlich, da sie die ungeordneten und widersprüchlichen Weisen anspricht, in denen Subjekte durch soziale Strukturen in die Welt einbezogen werden und auf diese Bezug nehmen. Sie erweitert die Rationalität um Widersprüche, Ungereimtheiten, Ambivalenzen und scheinbar sinnlosen Erfahrungen, Gedanken, Fantasien und Äußerungen. Außerdem verfügt sie über eine einzigartige Theorie über die Beziehung zwischen Fantasie und Realität, die emotionale Investitionen in Diskurse, Bilder und Ideen thematisiert (JOHANSSEN 2019). Ein psychoanalytischer und psycho-sozialer Ansatz kann außerdem die Psychodynamiken von Individuen, die in kulturellen und sozialen Prozessen der Frauenfeindlichkeit eingebettet sind, besser analysieren und verstehen.
Die Psychoanalyse war von Anfang an mit Fragen zur Männlichkeit und Weiblichkeit und wie sich die Geschlechter zur Sexualität verhalten befasst. Sigmund Freud betonte, dass es keine ›normale‹ Sexualität gibt und Heterosexualität ein Mythos sei. Für ihn kam Weiblichkeit einem dunklen Kontinent oder einem Mysterium gleich. Obgleich diese Vorstellung von weiblicher Sexualität von Feministinnen kritisiert wurde, waren seine Arbeiten auch einflussreich für Disziplinen, die sich mit Gender und Sexualität beschäftigen. Sexualität und verwandte Themen werden oftmals in klinischer Terminologie von PsychoanalytikerInnen diskutiert. Einige AutorInnen haben sich hier auch kulturellen Fragestellungen geöffnet (LEMMA/LYNCH 2015; GIFFNEY/WATSON 2017; KNAFO/LO BOSCO 2017; LEMMA 2017; KANWAL/AKHTAR 2017).
Psychoanalytische Konzeptionen von Gender und Sexualität sind von vielen WissenschaftlerInnen diskutiert worden (u. a. POLLOCK 1988; ROSE 1986; BUTLER 1990; KOSOFSKY SEDGWICK 1993; COPJEC 1994; DE LAURETIS 1994; GROSZ 1995; DEAN 2000; YATES 2007; BAINBRIDGE 2008). Einige AutorInnen haben auch Männlichkeit im Speziellen (FROSH 1994) und Misogynie (Moss 2003), Diskriminierung wie etwa Sexismus, Rassismus und Homophobie (YOUNG-BRUEHL 1996; AUESTAD 2012, 2014; KRÜGER/FIGLIO/RICHARDS 2018) und Gewalt (SINCLAIR/STEINKOLER 2019) analysiert. Diskriminierung und Vorurteile treten dort auf, wo ein Individuum (oder eine Gruppe) un/bewusst eine grundlegende Bedrohung fühlt (die nicht objektiv vorhanden ist). Elisabeth Young-Bruehl definiert Vorurteile als »soziale Abwehrmechanismen« (1996: 209).
Das psychoanalytische Konzept der Fantasie nach Freud ist hierfür nützlich und ich verwende es oft in diesem Buch (FREUD 1981d). Die unterschiedlichen Plattformen und Communitys können alle als Räume angesehen werden, in denen Fantasien veräußert und von anderen kommentiert und oft bestätigt werden.
Fantasien sind nach Freud imaginäre Szenen, in denen das Subjekt der Protagonist ist. Freud stellt eine Analogie zwischen Fantasie und Nationalismus her, wenn er schreibt, dass Fantasien Legenden ähneln »mittels denen eine Nation groß und stolz geworden ist, und versucht ihre anfängliche Unbedeutsamkeit und Versagen zu verbergen« (FREUD 1981d: 20). Fantasieren repräsentiert oftmals ein Begehren nach Wunscherfüllung und die Erschaffung einer besonderen Realität (FREUD 1981d, e). So konstruieren z. B. die verschiedenen Online-Communitys, die ich analysiere, unterschiedliche frauenfeindliche Fantasien darüber, was männliche Identität in Bezug auf einen weiblichen Anderen bedeutet.5 Die User sehen Frauen auf eine bestimmte Art (z. B. als zu mächtig gegenüber Männern oder als oberflächlich). Passend dazu werden Fantasien über Männlichkeit und sozio-politische Ideen generiert, die vom Rechtspopulismus geprägt sind (etwa, dass Frauen zu Hause bleiben und nicht arbeiten sollen oder dass weiße Frauen nur Beziehungen mit weißen Männern haben sollen).
Aus psychoanalytischer Perspektive sind solche Fantasien und wie sie sich in Online-Inhalten manifestieren, durch eine (potenzielle) Identifikation der Männer mit intensiven Diskursen geprägt, die sie als machtlose Opfer und als durch bestimmte Gruppen (Feministinnen, Frauen) geschädigt ansehen. Rechtspopulismus und Faschismus nutzen die (un) bewussten Ängste von Subjekten aus, um diese auszubeuten und weiter zu verzerren. Dies sind insbesondere Ängste vor Andersartigkeit, Verlust und sozialem Wandel (AUESTAD 2014). Die Mannosphäre operiert in ähnlicher Weise. Sie macht sich eine populistische Logik des ›Wir-gegen-die‹ (Männer gegen Frauen) zu eigen, die Frauen und den Feminismus als Probleme isoliert und neue Formen der Männlichkeit verspricht. Gleichzeitig impliziert die psychoanalytische Fantasiekonzeption auch eine aktive Komponente: Neue Realitäten, Handlungen oder Beziehungen werden im Geiste konstruiert. Dies ist ein Prozess, den ich in den folgenden Kapiteln ausführlich beschreiben werde – wenn Fantasien zwischen der Opferrolle und toxischer symbolischer Macht oszilieren.
Es gibt einige weitere wichtige psychoanalytische Begriffe und Konzepte, die ich im Buch benutze und die ich an dieser Stelle definieren möchte. Es handelt sich um ›Begehren‹, ›Phallus‹, ›symbolische Kastration‹