Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Zu Hause erwartet ihn das Abendessen, danach die allwöchentliche Partie Bridge mit Freunden: der erfolgreiche Industrielle Ole Kramer ist auf dem Weg zu seinem Wagen. Er wird ihn nie erreichen. Von zwei 9 mm Geschossen getroffen liegt er vor seinem Kopenhagener Innenstadtbüro. Es vergehen nur wenige Stunden, bis Kriminalinspektor Valdemar Henriksen erkennt, daß er bei diesem Fall den dänischen Nachrichtendienst einschalten muß. Kramers Firma liefert Schaltanlagen für die Nato und ist Mitglied eines internationalen Konsortiums, das ein völlig neues Waffensystem entwickelt. Wer sind die Hintermänner dieses Mordes? Kramers Kompagnon, das Firmenkonsortium, konkurrierende Geheimdienste, Terroristen oder verzweifelte Friedensfreunde, die die Produkte der Rüstungsindustrie auf ihre Produzenten richten?"...ein Spionageroman, einer der besten, die in Dänemark geschrieben wurden." - AktuellAUTORENPORTRÄTSøren Jakobsen ist seit mehr als 20 Jahren Journalist. 1980 erschien sein erster Kriminalroman, der erste dänische Krimi, der im Geheimdienstmilieu spielt. Jakobsen schreibt "faction". Als Redakteur der grössten dänischen Tageszeitung, des liberalen Boulevardblattes "Extra Bladet" provoziert er mit der Entlarvung der Praktiken des dänischen Nachrichtendienstes ein Skandal. Seitdem beschäftigt er sich mit dem Phänomen der Geheimdienste. 1978 erhielt er für seine Recherchen den Cavling-Preis für Journalistik. "Die Marmortaube" ist sein vierter Kriminalroman.KURZBESCHREIBUNG:Der erfolgreiche Industrielle Ole Kramer, der in internationale Waffengeschäfte verwickelt ist, wird vor seinem Wagen tot aufgefunden. Wer sind die Hintermänner dieses Mordes? Kramers Kompagnon, konkurrierende Geheimdienste, verzweifelte Friedensfreunde...?Kriminalinspektor Henriksen schaltet den dänischen Geheimdienst in die Fahndung ein und macht eine skandalöse Entdeckung.-
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 289
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lindhardt & Ringhof
›Das Straßenbild verändert sich permanent. Täglich geschehen unzählige Kleinigkeiten, um die sich natürlich die Polizei zu kümmern hat. Wird einer Person auf der Straße übel, erwartet die Öffentlichkeit, daß die Polizei sich des Betreffenden annimmt und eventuell einen Krankenwagen ruft. Bleibt ein Fahrzeug auf einer Kreuzung stehen, ist es selbstverständlich, daß die Polizei den Verkehr umleitet oder den Wagen an den Straßenrand schieben hilft. Unternimmt ein Polizist nichts, haben Augenzeugen mit Recht allen Grund, sich zu wundern.
Eine Polizeistreife hat daher sehr genau auf jede Veränderung des Straßenbildes zu achten und sofort die Ursachen für Personenansammlungen und Aufläufe zu untersuchen. Es kann sich dabei um Fälle handeln, die die Polizeiverordnungen oder die Straßenverkehrsordnung verletzen, z. B. um Straßenmusikanten, Schlägereien oder Fußgänger, die von Radfahrern auf dem Bürgersteig behindert werden. Derartige Zustände sind umgehend zu beseitigen. Es können allerdings auch Situationen entstehen, die an und für sich nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizei fallen, in denen jedoch ebenfalls von der Allgemeinheit erwartet wird, daß sich jemand – im Zweifelsfall die Polizei – dieser Situation annimmt. Zum Beispiel eine Katze, die nicht allein von einem Baum kommt; ein Bienenschwarm, der sich auf einer Straßenlaterne niedergelassen hat oder die legendäre Entenmutter mit ihren Küken auf dem Weg zum nächsten Wasserlauf oder See.‹
Auszug aus der Anleitung des Polizeidirektors für neueingetretene Beamte in Kopenhagen
Es war die allzu perfekte Verhaftung eines Zivilfahnders in Kopenhagens Innenstadt, die zur Versetzung der Kollegen Søndergaard und Petersen in eine andere Fußstreife der Polizei führte. Der Zivile und seine Vorgesetzten beschwerten sich durchaus nicht, im Gegenteil, sie stellten die Verhaftung als besten Beweis für ihre Verkleidungskünste und Fähigkeiten hin, im Milieu unterzutauchen. Polizeiinspektor Aage Thomsen allerdings zog es vor, die unglücklichen Helden zu versetzen. Seine Überlegungen waren höchst simpel: je weniger Kontakt Søndergaard und Petersen mit der Bevölkerung hatten, desto weniger Ärger hatte er.
Die beiden Ordnungshüter konnten aber auch nicht einfach hinter einen Schreibtisch gesetzt werden. Wenn die Polizei schon immer weniger Verbrechen aufklärt, muß sie wenigstens ihren pädagogischen Einsatz erhöhen. Wenn jemand mit einer Anzeige aufs Revier kommt und erfahren muß, daß bei Sachbeschädigungen oder gewöhnlichem Einbruch gar nicht erst ermittelt wird, muß der Beamte in der Lage sein, dem Betroffenen, der den letzten Rest seines Glaubens an den Rechtsstaat zu verlieren droht, ein kurzes Referat über die knappe Personaldecke der Polizei zu halten. Gelingt dies, wird der Bürger die Wache mit dem Gefühl verlassen, daß er sich eigentlich schämen müsse, der Polizei mit einer derartigen Bagatelle zur Last gefallen zu sein.
Für diese Pufferfunktion fehlte Søndergaard und Petersen jedoch die Erfahrung.
Søndergaard und Petersen wurde als neue Dienststelle das 2. Revier in der Store Kongensgade zugewiesen. Den eigentlichen Grund ihrer Versetzung erfuhren sie nie. Sie waren naiv genug, den Vorgang als Anerkennung ihrer Dienste zu interpretieren.
Auf höherer Ebene hatte man allerdings das Gefühl, es hier mit relativ unkonventionellen Personalentscheidungen zu tun zu haben. Der Personalchef bat Thomsen um nähere Erläuterungen. Thomsen erledigte das mit einer Bemerkung, die nicht unbedingt zur Aufnahme in die Akten geeignet war:
»Wenn die Jungens in Nyhavn auf Streife gehen und sie verhaften wirklich mal jemanden ohne Grund, wird es sich höchstwahrscheinlich um einen besoffenen Schweden handeln. Und meiner Erfahrung nach beschweren sich besoffene Schweden nie. Wie du weißt, lege ich persönlich allergrößten Wert darauf, daß meine Leute mit äußerster Zurückhaltung vorgehen, wenn abzusehen ist, daß es zu Klagen vor Gericht kommen kann.«
Der Personalchef verstand sehr gut. Cleverer Bursche, dieser Thomsen, dachte er sich.
Auf dem 2. Revier konnten sich die Polizeiassistenten Søndergaard und Petersen in aller Ruhe einarbeiten.
Ihre wichtigste Aufgabe bestand in der Kontrolle der systematischen Falschparker vor den Botschaften in Østerbro. Ihre regelmäßigen Berichte ans Außenministerium allerdings waren nur für den internen Gebrauch bestimmt. Diplomaten können nicht belangt werden, aber das hieß noch lange nicht, daß sie nicht kontrolliert wurden.
Ausführlich erklärte ihnen der Revierleiter, warum eine so bedeutende Aufgabe nicht von städtischen Angestellten übernommen werden konnte. Eine komplizierte Geschichte für Søndergaard und Petersen: Mitten in Kopenhagen gelten Botschaften als exterritoriales Gebiet; es gibt die Wiener Konvention und besondere Rechte für Diplomaten – das Diplomatische Corps darf Schnaps und Zigaretten zollfrei einkaufen, ihre Wagen haben blaue Nummernschilder.
Von größerer Bedeutung war die Beziehung des 2. Reviers zum königlichen Hof. Patrouillefahrten rund um Amalienborg durfte man erst fahren, wenn man sich als besonders vertrauenswürdig erwiesen hatte.
Es verging einige Zeit, bis Søndergaard und Petersen ihre Chance bekamen. Erst einmal mußten Schwarzfahrer aus der S-Bahn von der Østerport Station abgeholt und eine Menge Besoffener in die Ausnüchterungszellen geschleppt werden – aber nicht eine interessante Demonstration fand vor den Botschaften statt. Darauf warteten die Kollegen, seit sie die Polizeischule verlassen hatten. Ihre Knüppel hatten sie bislang nur zur Zierde getragen.
Allerdings machten Søndergaard und Petersen bei ihrem langweiligen Dienst auch keine Fehler, und endlich ließ sie ihr Einsatzleiter auf dem Amalienborg Slotsplads Streife fahren. Das erhöhte zumindest ihr Prestige im Hause.
Der warme Augustabend, den Søndergaard und Petersen laut Wachplan in ihrem Streifenwagen zubringen mußten, schien nicht aufregender zu werden als die vorangegangenen Hundestreifen. Eine ausgestorbenere Gegend als das Botschafts- und Büroviertel an der Bredgade wird sich am Wochenende in Kopenhagen kaum finden lassen.
Das Wetter machte den beiden zusätzlich zu schaffen. Wie ein beschlagener Klarsichtbeutel hielt der Smog die Feuchtigkeit des Spätsommers gefangen.
Man brauchte nicht lange im Auto zu sitzen, bis die Kleidung am Körper klebte. Bereits nach der ersten Runde irritierten Søndergaard die feuchten Flecken, die sich unter seinen Achselhöhlen ausbreiteten und bald auch auf der Brust zu sehen waren. Søndergaard kurbelte das Seitenfenster noch ein Stück runter.
»Du holst dir die Gicht, bevor du fünfundvierzig bist«, knurrte Petersen. Er konnte Zug nicht ausstehen.
»Das Risiko muß ich eingehen ... ich muß mich abkühlen.«
»Willst wohl noch mit Lene zum Tanzen?«
Søndergaard nickte.
Zu seiner Enttäuschung fragte Petersen nicht weiter. Petersen war einige Jahre älter als er, verheiratet und hatte Kinder. Wie die Meisten in dieser Situation hatte er die hektischen Freitagund Samstagabende längst hinter sich. Für ihn war die Jagdsaison vorbei.
»Können wir uns schon eine Pause erlauben? Ich habe Hunger.« Petersen fummelte an der Metallklammer des kleinen Notizblocks. Sie fuhren an den letzten Häuserreihen Nyboders vorbei. Der weiße Opel schaukelte, als sie um die scharfe Kurve am Ende der Store Kongensgade bogen. Die Tachonadel zitterte an der Markierung der innerhalb der Stadt zulässigen Sechzig.
»Noch eine Runde«, meinte Søndergaard.
Petersen guckte auf die Uhr am Armaturenbrett. »Ok, ’ne kurze.« »Kongens Nytorv, Holbergsgade, Toldboden, Amalienborg und dann ab zu einer frischen Tasse Kaffee.«
Søndergaard grinste. »In den Amaliehaven willst du nicht?«
»Den gucken wir uns nur aus dem Auto an. Ich hab’ viel zu viel Hunger, um noch in irgendwas reinzugeraten.«
»Okay.«
Ein paar Minuten später rollte die Polizeistreife 023 langsam auf den kopfsteingepflasterten Schloßplatz. Søndergaard, der eigentlich auf das Steuer achten sollte, war beschäftigt. Reine, persönliche Neugierde. Brannte Licht im Palais von Christian IX., war die königliche Familie zu Hause, und konnte er Lene erzählen, daß er auf sie aufpassen mußte?
Das Palais war dunkel. Margarethe und Henrik hatten wohl genug von all den Touristen, die in dem neuen Park hinter dem Schloß herumrannten und sich auf die Mauern stellten, um wenigstens einen kurzen Blick auf die Regentenfamilie zu werfen. Vom höchsten Punkt des Parks aus konnte man genau in die Bel-Etage des Schlosses gucken.
Wenn man zwischen einer Reihe schöner Schlösser wählen kann, läßt sich nichts dagegen sagen, daß man ab und zu umzieht, um sein Privatleben ungestört von aller Öffentlichkeit genießen zu können. An diesem Abend gefiel das dem treuen Untertan Søndergaard gar nicht. Die Möglichkeit, sich interessant zu machen, war dahin. Er mußte sich abreagieren.
Aber jeder Versuch, sich zu unterhalten, war aussichtslos. Zu laut dröhnten die Reifen auf dem Kopfsteinpflaster. Søndergaard gab trotzdem nicht auf.
»Was ist?« Petersen hatte nur mitbekommen, daß Søndergaard über Prinz Henrik redete.
Søndergaard wandte ihm den Kopf zu, es gelang ihm aber nicht mehr, seine Meinung über den Prinzen zu wiederholen. Über Sprechfunk kam eine Meldung.
»023, bitte kommen ... bitte kommen«, forderte der Funker des 2. Reviers.
Petersen fischte das Mikrophon aus der Halterung.
»Hier 023, Amalienborg Slotsplads.«
»023, bitte fahren Sie sofort zur Marmorkirche. Dort sollen Schüsse gefallen sein.«
»Verstanden.«
Søndergaard schaltete Sirene und Blaulicht ein und trat aufs Gas.
Das gellende Heulen brach sich zwischen den Sandsteinmauern des Schlosses und überrumpelte den wachhabenden Gardesoldaten, der beinahe sein Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett fallen ließ.
»Bestimmt irgendwelche Jugendliche, die Knaller hinter einer Katze hergeschmissen haben.« Søndergaard sah seine Verabredung platzen.
Unfug, dachte Petersen. Du weißt genauso gut wie ich, daß es in diesem Viertel nicht einen Bewohner unter fünfzig gibt.
Die dumme Bemerkung paßte dennoch ausgezeichnet zum Stil ihres Einsatzes. Søndergaard und Petersen mußten höchsten 250 Meter weit fahren, doch bereits nach 75 Metern sprang eine Ampel auf Rot um. Søndergaard hatte gerade in den dritten Gang geschaltet. Er trat hart auf die Bremse, überlegte kurz und beschleunigte erneut. Alles in allem eine dramatische Vorstellung. Allerdings ohne Zuschauer, die sie hätten beeindrucken können. Zum Glück kam ihnen aus der Seitenstraße der Bredgade niemand entgegen, ein Unfall hätte sich kaum vermeiden lassen. Søndergaard fuhr mit aufheulendem Motor bei Rot über die Ampel.
Der Anblick der Kirche hatte einen beruhigenden Einfluß auf ihn. Als sie auf den Kirchplatz fuhren, stellte er Blaulicht und Sirene wieder ab. Der Platz war schlecht beleuchtet. Die Laternen waren mit grellen, städtischen Standardleuchtröhren bestückt, aber die mächtige, graphitgraue Kirche und die imponierenden Wohn- und Bürogebäude neutralisierten die blauvioletten Strahlenbündel des Kunstlichts. Die Dämmerung ist ein diffuser Feind; die Guerilla der Natur.
Søndergaard schaltete das Fernlicht ein, als er rechts abbog. Der Scheinwerfer erwischte ein frisches Graffiti an der Kirchenmauer:
›Menschen vor Profit!‹
Die Beamten kümmerten sich nicht um die schreiendrote Sprayschrift, sie hatten wichtigere Dinge zu tun, als diese Beleidigung des Gotteshauses zu beachten.
Søndergaard nahm das Gas zurück, sein Kollege kurbelte das Seitenfenster runter und suchte die dunklen Eingänge der Patrizierhäuser mit dem Dachscheinwerfer ab.
Am Eingang von Rotaprint war nichts zu bemerken. Auch nicht an den sogenannten Anwälteeingängen, wo die blankpolierten Messingschilder mit den Anwaltsnamen im Scheinwerferlicht aufblitzten.
Søndergaard und Petersen wurden langsam ruhiger. Gleich hatten sie die Hälfte des Platzes kontrolliert, in spätestens drei Minuten den gesamten Platz. Bestimmt falscher Alarm.
Vor der Nummer 7 versperrten parkende Autos den Blick auf den Bürgersteig. Søndergaard bremste und schaltete zurück in den ersten Gang. Von der Store Kongensgade bog ein Wagen auf den Kirchplatz, und einen kurzen Moment war Søndergaards Aufmerksamkeit abgelenkt, obwohl er wußte, daß er auf einer Einbahnstraße fuhr und der Wagen den entgegengesetzten Weg um die Kirche nehmen mußte.
Der Streifenwagen fuhr langsam an den beiden parkenden Autos vorbei.
»Halt an, verdammt noch mal, halt an, Kerl!« Der sonst so besonnene Petersen brüllte, seine Stimme überschlug sich fast.
Vor lauter Überraschung trat Søndergaard die Bremse durch und würgte den Motor ab. Verflucht!
Bevor er wenden konnte, um wenigstens etwas vom Fußweg zu sehen, war Petersen bereits aus dem Wagen. Er versperrte nun Søndergaard die Sicht, doch der Polizeiassistent glaubte, vor dem schmiedeeisernen Gitter etwas Helles zu erkennen. Ein paar helle Schuhsohlen und ein Bündel Kleider.
Petersen hatte mehr als genug gesehen. Er zog seine Walther mit einer Geschwindigkeit, als wollte er sich duellieren und ging hinter einem der parkenden Wagen, einem silbergrauen BMW der Generaldirektorenklasse, in Deckung.
»Deckung!« Petersens Schrei hallte auf dem Kirchplatz nach. Søndergaard öffnete die Fahrertür, rollte sich aus dem Wagen und duckte sich hinter das linke Vorderrad. Einige Sekunden war alles ruhig.
»Bleib in Deckung.«
Søndergaard mußte seine Pistole ziehen. Dem Lehrer der Polizeischule hätte die Zeit, die er dazu brauchte, gar nicht gefallen. Seine Finger waren nervös und unsicher.
»Bleib bloß hinter dem Wagen. Da liegt ein Toter auf dem Fußweg. Möglicherweise sind die noch hier.«
Søndergaard erbleichte. Seine schwarze Silhouette vor dem weißen Polizeiwagen lieferte das perfekte Ziel für einen Heckenschützen. Er warf sich auf den Boden und kroch unters Auto.
Als er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte er den Bürgersteig übersehen.
Die neuen Schuhe gehörten einem dunkelgekleideten Mann, der in einer dunklen Pfütze lag. Im Neonlicht sah die Blutlache wie dickflüssiges Altöl aus.
Links vor dem Toten oder Sterbenden lag ein schwarzer Diplomatenkoffer. Offenbar war er gegen das schmiedeeiserne Gitter geschleudert worden. Oder hatte sich der Erschossene damit zu schützen versucht? Jedenfalls war die Aktentasche aufgesprungen, in der Blutlache lagen weiße Briefbögen.
Søndergaard kniff die Augen zusammen. War der Mann tot? Ihm kam es so vor, als sei die Lache in der kurzen Zeit, in der er unter dem Wagen lag, größer geworden.
Brechreiz stieg in ihm hoch. Er konnte nicht länger auf den Mann blicken, dessen Leben langsam in die Zementplatten sickerte.
Auf Knien und Ellenbogen kroch er vorwärts, bis ihm die Reifen den Blick auf den Sterbenden versperrten.
Ein scharfes, beunruhigendes Geräusch zerriß die Stille. Metall auf rauhem Asphalt. Søndergaard war psychisch und physisch in höchster Bereitschaft, mehr konnte er nicht ertragen. Sein Herz schlug einen Saltomortale und hämmerte wie eine außer Kontrolle geratene Pumpstation.
Was zum Teufel war bei dem BMW los? Hatte der Täter auch auf Petersen geschossen? Oder machte sich Petersen zum Schuß bereit?
»Was auf deiner Seite?«
Petersens Stimme ... es tat gut, sie zu hören.
»Nichts.« Søndergaard versuchte auch zu flüstern, gleichzeitig aber so deutlich zu sprechen, daß sein Kollege die Antwort verstand . Während er auf dem Asphalt lag, hatte er nur die Geräusche der Autos auf der Store Kongensgade gehört. Nie hätte er geglaubt, daß man sich mitten in einer Millionenstadt so einsam fühlen konnte.
»Ist besser, wenn ich mal gucke, ob er noch lebt.« Petersens Stimme war weit weg, drang aber gut durch. Scheinbar hatte er keine Angst mehr, daß sich der Schütze noch auf dem Platz versteckte.
Søndergaard änderte seine Position. Er erkannte Petersens zu kurze Uniformhose und seine Schuhe am Rand der Blutlache. Der Kollege wollte sich hinknien, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Petersen schwang seine Pistole, als hätte er plötzlich wieder Angst bekommen, von hinten angegriffen zu werden. »Was ist?« Søndergaard war überrascht über seine belegte, ängstliche Stimme. Ängstlich und belämmert. Gab es etwas Schlimmeres für einen Polizisten im Dienst?
»Sieh dir das an. Sie haben ihm fast den ganzen Hinterkopf weggeblasen.«
Søndergaard sah, wie Petersen um den Toten herumging. Er versuchte sich zusammenzureißen, war aber nicht imstande, sich die Mischung aus Blut und Gehirnmasse anzusehen, die auf den Fußweg floß. »Ich ruf den Krankenwagen und das Revier«, sagte er. Sie brauchten Verstärkung.
Wieder auf dem Fahrersitz registrierte Søndergaard, daß der Wagen die ganze Zeit illuminiert wie ein Ausflugsdampfer auf dem Platz gestanden hatte, während er und sein Kollege sich bemühten, einem Hinterhalt zu entgehen. Die geöffnete Fahrertür hatte den Kontakt der Innenbeleuchtung ausgelöst. Vor Aufregung hatte er es nicht bemerkt. Schöner Mist. Ein Verrückter hätte die freie Wahl gehabt zwischen zwei schwarzgekleideten Polizisten: vor einem Hintergrund von Weiß oder Silbermetallic.
Petersen war hoffentlich zu beschäftigt, um sein idiotisches Verhalten bemerkt zu haben. Søndergaard wurde rot. Hastig bediente er die Sprechfunkanlage. Sekunden später hörten die beiden Männer auf dem Kirchenvorplatz ihre Kollegen in der Fredericiagade ausrücken. Zwischen der Kirche und der Hinterausfahrt des 2. Reviers lagen nur zwei Häuserblöcke.
Der Krankenwagen heulte durch die Innenstadt, obwohl Søndergaard gesagt hatte, es sei nichts mehr zu machen. Man brauchte kein Arzt zu sein, um hier den Totenschein auszustellen. Er hatte noch gemurmelt, daß der Mann mit einem abgesägten Jagdgewehr erschossen worden sei, aber daran konnte er sich später nicht mehr erinnern. Auf dem Tonband, das in der Hauptwache bei allen Meldungen mitläuft, wurde es allerdings registriert.
Als der Krankenwagen Nr. 6 vom Reichshospital, genauer gesagt vom Rechtsmedizinischen Institut hinter dem Krankenhaus abfuhr, bog eine schwere Honda auf den Amager Strandvej. In den Kleingartenkolonien und Segelklubs herrschte reges Treiben. Es war die Zeit für einen Abendkaffee oder ein Bier. Vor den alten Bunkern auf dem Weg zur Badeanstalt fochten ein paar Jungen einen kleinen Phantasiekrieg aus, sie schossen imaginäre Bomber auf ihrem Flug zur Benzininsel ab. Als das Motorrad vom Strandvej auf den Øresundsvej fuhr, bedienten sie gerade ihre Luftabwehrraketen: Äste, die beim letzten Mitsommernachtsfeuer nicht mit verbrannt waren.
Das sanfte Brummen der vier gleichmäßig arbeitenden Zylinder ließ sie einen Moment aufhorchen. Da der Honda-Fahrer aber zu keinem lokalen Motorradklub gehörte, interessierte er sie nicht weiter.
Der Polizei hätte es auch wenig geholfen, wenn sie sich das Nummernschild der Maschine gemerkt hätten. Es war gestohlen. An den Schienen der Güterbahn bog die Honda auf einen schmalen Schotterweg und hielt kurz darauf vor einem primitiven Werkzeugschuppen. Mit einer beinahe anmutigen Bewegung stieg der Fahrer ab und sah sich um. Trotz der zunehmenden Dunkelheit blieb das getönte Plexiglasvisier des Sturzhelms geschlossen. Unpraktisch, denn das Visier beschlug, als der Fahrer die Maschine mit ziemlicher Mühe durch das Tor des Schuppens schob. Aufmerksamen Beobachtern wäre möglicherweise aufgefallen, daß der Fahrer verhältnismäßig kleine Stiefel trug. Überhaupt wirkte die Gestalt sehr feminin.
Als die Leuchtstoffröhren unter dem mit Spinnweben verhangenen Dach zu flimmern aufgehört hatten, öffnete der Fahrer die linke Seitentasche, schlug ein paar Lappen auseinander und hielt eine mattschwarze Pistole in der Hand. Eine 9mm Heckler & Koch, ein westdeutsches Markenfabrikat, Dienstpistole in einigen Bundesländern.
Den Motorradfahrer reizte es, die Handschuhe auszuziehen und noch einmal den Zeigefinger um den Abzug zu krümmen. Eine unglaubliche Macht lag in dieser kleinen Bewegung.
Es war jedoch nicht der richtige Augenblick, sich solchen Überlegungen hinzugeben. Die Pistole verschwand wieder in der schützenden Dunkelheit der Seitentasche, der Sturzhelm wurde abgenommen.
Auch das Gesicht lieferte keine endgültige Antwort, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Volle Lippen und ein sinnlicher Amorbogen, nur saß darüber ein buschiger Schnauzbart. Kinn und Backen zeigten allerdings nicht die typischen schwarzen Schatten, die auf einen kräftigen Bartwuchs hinweisen. Die Stirn war hoch wie bei vielen Frauen, darüber ein kurzer Herrenschnitt, eine zivilisierte Punkfrisur. Der deutliche Unterschied zwischen Haupthaar und Augenbrauen wurde durch die Färbung betont.
Der Motorradfahrer arbeitete mit der Geschicklichkeit eines routinierten Mechanikers oder Fabrikarbeiters. Die neue Heckler & Koch wurde in einen Schraubstock gespannt, und blitzschnell war der Lauf zu einem ungewöhnlich großen Kaliber ausgebohrt. Die Stahlspäne würden im Nachhinein nicht mehr zu identifizieren sein. Die Möglichkeit dazu sollte das Polizeilabor sowieso niemals bekommen, denn einen Augenblick später verdampften die Späne in einem Säurebad.
Inge Kramer zündete sich eine Zigarette an und ging zum Fenster. Den Tabak schmeckte sie kaum noch, es war die dritte Zigarette innerhalb weniger Minuten. Sie kannte Oles Fahrgewohnheiten und das Motorengeräusch seines BMW, eigentlich gab es keinen Grund, am Fenster zu stehen und vor Ungeduld nervös zu werden. Dorte und Manfred nippten an den Campari-Sodas und wechselten einen vielsagenden Blick. Sie waren zum Abendessen eingeladen, danach wollte man Bridge spielen. Der Ablauf dieser Freitagabende war so eingespielt, daß sie Inges Irritation über Oles Verspätung nicht verstanden. Einem vielbeschäftigten Geschäftsmann konnte das doch mal passieren. Oder gab es tiefere Gründe für Inges Unruhe? Ab und an war ein feindlicher Unterton in den Bemerkungen zu hören gewesen, die die beiden miteinander wechselten.
»Ich begreife nicht, wo er bleibt.« Inge Kramer drückte ihre Zigarette aus.
Manfred schwenkte die Eiswürfel in seinem hohen Campariglas. Er mochte den Aperitif nicht austrinken, zum Essen und beim Kartenspiel würde es noch genug Alkohol geben.
»Vielleicht ist er in eine Verkehrskontrolle geraten«, versuchte er ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Vielleicht, trotzdem ist es mir unverständlich, wo er bleibt. Er wechselt jedes Jahr seinen Wagen, da können sie kaum was finden.«
»Wirklich? Seine Autos sehen sich alle so ähnlich, daß ich es nie bemerkt habe.« Manfred war überrascht. Natürlich hatte er Oles geschäftlichen Erfolg mitbekommen, das ließ sich gar nicht vermeiden. Aber daß Oles Erfolg so groß war, daß er sich jedes Jahr einen der teuersten BMW’s leisten konnte, beeindruckte ihn doch. Oder war es nur ein Steuertrick? Manfred war sich nicht sicher.
»Ich rufe jetzt im Büro an. Wenn die auch nicht wissen, wo er ist, fangen wir ohne ihn an.«
Inge ging in die Küche, ein kleines Tastentelefon hing dort am Türpfosten. Es gab keinen Grund, Dorte und Manfred das Gespräch mithören zu lassen, möglicherweise fielen barsche Bemerkungen. Aber weder im Stadtbüro noch im Fabrikzentrum in Lundtofte meldete sich noch jemand.
Inge Kramer stellte eine Flasche Rosechatel in den Weinkühler und zerkleinerte Eiswürfel. Sie ärgerte sich noch immer, wurde aber spürbar nervöser. Normalerweise rief Ole an, wenn er sich verspätete, egal, ob er noch in einer wichtigen Konferenz saß oder bereits unterwegs war.
Es mußte etwas passiert sein.
Die aufgeschweißte Öltonne gab mit einem Klagelaut nach, als die Flammen der Motorradreifen das dünne Metall erhitzten. Mit der steigenden Temperatur des brodelnden Gummis wechselte die rostrote Tonne ihre Farbe in dunkelbraune und brandigblaue Töne.
Der Hondafahrer trat von der Abfalltonne in den Windschatten des alten, rotbemalten Holzschuppens. Wachsame, grünbraune Augen folgten der breiten Fahne von schwarzem, fetten Rauch, der sich über das Nachbargrundstück, eine verlassene Zementgießerei, wälzte. Doch weder die Geräusche der Tonne noch die Rauchbelästigung riefen neugierige Jugendliche, wütende Kleingartenbesitzer oder Umweltschützer der Gegend auf den Plan.
Der Motorradfahrer steckte sich eine Zigarette an. Die Spuren waren verwischt, jetzt kam die Reaktion auf die Anspannung.
Es tat gut, den Rauch in die Lungen zu ziehen. Und es tat gut, daran zu denken, daß jetzt die anderen Probleme hatten. Die Spezialisten der Polizei, die den Platz vor der Kirche zentimeterweise untersuchten, weißes Pulver streuten, fotografierten. Erst in ein paar Stunden würden diese Trüffelschweine erkennen, daß der ganze Aufwand umsonst war.
Und der Polizeichef mußte vor immer aggressiver fragenden Journalisten einräumen, daß man noch keinen Schritt weitergekommen war.
Ein Mord, ein Terrorakt ... und ohne jeden Hinweis. Morgen oder übermorgen würden seine Vorgesetzten über den Mann herfallen, der sein Bestes gab, aber nicht einmal die Andeutung einer verwertbaren Spur hatte.
Die Kugeln, die Ole Kramer getroffen hatten, würden ganz Westeuropa beunruhigen.
Zumindest Ulla Bojskov war zufrieden, als Anders nach seinem Autounfall wieder mit Routinearbeiten bei der Politischen Polizei beschäftigt war. Jetzt kam er wieder zu normalen, bürgerlichen Zeiten zum Essen. Er half im Haushalt und beschränkte sich nicht nur darauf, am Samstag die Steaks zu braten. Ihr Alltag hatte sich verändert. Anders war abgelenkt und geistesabwesend, wenn er schwierige Fälle zu bearbeiten hatte.
Ulla war der Ansicht, daß die Persönlichkeitsveränderung ihres Mannes mit seiner langen Krankheit und der quälenden Ungewißheit zusammenhing, ob er im Rollstuhl enden würde, von Kopf bis Fuß gelähmt. Sie hatte Angst, ihn danach zu fragen. Sie wartete, bis Anders mehr Abstand zu der Sache bekommen hatte und selbst darüber reden wollte.
Endlich hatte Anders erkannt, daß die Karriere ihren Preis hatte, und daß dieser Preis für manchen nicht nur ein gesteigertes Prestige und Gehaltsaufbesserung zur Folge hatte, über die sich das Finanzamt freut.
Sie waren sich wieder nähergekommen, und Anders hatte endlich wieder ein vernünftiges Verhältnis zu den Kindern. Eigentlich war er bloß noch ein Wochenend- und Feierabendvater gewesen. Sie kannte die Schäden, die diese amputierte Form des Familienlebens bei Kindern anrichten konnte, nur zu gut.
Es war kurz vor elf. Anders räumte das Teegeschirr ab. Ulla stand auf, um den Fernseher abzuschalten. Vorsichtshalber rief sie in Richtung Küche:
»Willst du die Nachrichten sehen?«
Anders klapperte mit dem Geschirr.
»Willst du die Nachrichten sehen oder nicht?«
»Nein, mach aus.«
Das Farbbild schrumpfte auf einen kleinen Punkt zusammen, dann wurde der Schirm mattgrau. Ulla wollte die Lampe in der Sitzecke ausschalten. Das Geräusch eines bremsenden Autos ließ sie aufhorchen. Als sie die Gardine ein Stück zur Seite zog, um zu sehen, was sich draußen abspielte, hörte sie feste Schritte auf dem Gartenweg.
»Anders, da kommt jemand.«
Keine Reaktion aus der Küche, nur das Geräusch des laufenden Wasserhahns. Ulla lief in den Flur. Sie wollte noch vor dem Klingeln öffnen. Die Kinder brauchten nicht wach zu werden. Sie schaltete das Außenlicht ein.
Auf der Treppe stand ein junger, gutgekleideter Mann.
»Guten Abend, Kriminalassistent Mogens Svendsen. Entschuldigen Sie die Störung, ist Ihr Mann zu Hause?«
»Ja, bitte kommen Sie herein.«
Der unscheinbare Ford Fiesta fuhr auf der Autobahn in Richtung Hillerød und bog an der Ausfahrt zum Frederiksundsvej ab. Anders Bojskov registrierte die Festbeleuchtung im Bürotrakt des PET1, der ›geheimen‹ Etage über den Räumen des 3. Reviers.
»Wenigstens einmal müssen auch die hohen Herren noch arbeiten«, bemerkte er. Selten genug waren sie um diese Zeit noch anwesend. Eine Ausnahme war Kriminalinspektor Laurids Jansen, nur half ihm das wenig. Mit den leitenden Juristen der Abteilung kam er deshalb trotzdem nicht klar.
»In der ganzen Hütte geht’s zu wie im Bienenschwarm«, antwortete Svendsen. »Übrigens wußte ich gar nicht, daß du bei der Anti-Terrortruppe bist.«
»Ist auch etwas übertrieben, ich war bloß auf ’nem Kurs.«
Svendsen parkte auf einem der reservierten Parkplätze hinter dem anonymen Bürokomplex, der sowohl den dänischen Geheimdienst als auch das größte Polizeirevier Kopenhagens beherbergt.
»Du sollst dich bei Jansen melden«, sagte Svendsen formell.
»Weißt du, ob unsere Leute schon da sind?«
»Kein Ahnung. Ich bin bloß der Chauffeur.«
Ob sie mich noch mal zur Mordkommission versetzen, überlegte Anders Bojskov, als er die langen Korridore des 3. Reviers entlangging. Mit dem Kriminalassistenten Bruno Frederiksen hatte er sich damals angefreundet. Bei der Aufklärung des Mordes an dem Call-Girl Annette Theiler hatten sie zusammen ein gutes Stück Arbeit geleistet. Dafür waren seine Erinnerungen an den Chef der Mordkommission, Valdemar Henriksen, eher gemischt. Anders Bojskov mochte Henriksens brüske Art nicht. Als Neuling in der Abteilung bekam man leicht den Eindruck, als Rekrut eingezogen worden zu sein.
Laurids Jansen telefonierte, als Bojskov in sein Büro trat. Der Kriminalinspektor signalisierte ihm, sich zu setzen. Dichter Zigarillorauch brannte in Anders Bojskovs Augen. Eigenartig, daß der Rauch anderer Leute so schnell unangenehm werden kann, wenn man selbst aufgehört hat zu rauchen.
Jansen nahm darauf keine Rücksicht. Der Inspektor rauchte bereits die zweite Schachtel des Tages, wie Anders sah. Caminante. Groß und dick wie Zigarren und kaum die richtige Stimulanz für einen Mann, der gerade aus dem Genesungsurlaub zurück war.
Jansen legte auf und lächelte.
»Hoffentlich mußte Svendsen dich nicht aus eurem Doppelbett zerren.«
»Nein, nein. Wir waren noch nicht im Bett.«
»Gut. Zum Glück haben wir dich zu Hause erwischt. Hat Svendsen dir erzählt, worum es geht?«
»Keine Details. Nicht einmal den Namen des Toten. Er sagte nur, daß wir es vermutlich mit einem Attentat zu tun haben.«
»Viele Details haben wir auch nicht, Anders.« Jansen strich sich übers Kinn. Der Bart kratzte wie eine borstige Kokosmatte. »Wir sind in höchster Alarmbereitschaft. Ein Unbekannter hat den Ingenieur Ole Kramer erschossen, als er nach Hause fahren wollte. Ich nehme an, du weißt, wer Kramer war?«
»Ich kenn den Namen aus der Zeitung. Er hatte gewaltigen Erfolg, ich weiß nur nicht mehr, womit.«
»Viele dürften es auch nicht sein, die das wissen. Kramer war Experte auf dem Gebiet der militärischen Datenverarbeitung und so gut, daß ihn sogar die Amis respektierten. Møller hat mir heute abend erzählt, daß Kramer innerhalb der NATO ein ziemlich hohes clearing2 hatte.«
Jansen griff zu seinen unentbehrlichen Zigarillos, erwischte aber die leere Packung. Gereizt warf er sie in den Papierkorb. »Na, wir müssen zu Møller. Die Ermittlungen werden auf höchster Ebene geleitet.«
Vizepolizeimeister John Møller war Laurids Jansens neuralgischer Punkt, seit sich Møller das Recht vorbehalten hatte, in alle wichtigen Ermittlungen eingeschaltet zu werden oder sie selbst zu leiten. Selbständiges Arbeiten war für Jansen seitdem kaum noch möglich, obwohl sein Job auf dem Papier zu den höchsten bei der Kripo und im Nachrichtendienst gehörte. Überall hatten diese Juristen ihre Finger drin. Und hinter ihnen stand Viggo Nielsen, der Staatssekretär im Justizministerium. Ihm hatte PET-Chef Oluf Trapp Madsen alle wesentlichen Ermittlungsergebnisse mitzuteilen.
Doch auch John Møller hatte seine Probleme. In Krisensituationen, die seine Anwesenheit weit über die normale Dienstzeit hinaus erforderten, fürchtete er zuweilen, verrückt zu werden: gespalten zwischen den Operationen, die ihn beschäftigten und die er möglichst genau kontrollieren mußte, und seinem Privatleben. Normalerweise war Tove Møller eine vernünftige Frau. Mußte John aber Überstunden machen oder saß er in langwierigen Konferenzen, brach ihre Eifersucht mit einer Gewalt hervor, die jeden Psychoanalytiker begeistert hätte, wäre er Tove Møller begegnet. Abgerichtet, immer das Richtige zu tun und zu sagen, konnte Møller die wilden Gefühlsausbrüche seiner Frau nur mit Mühe ertragen.
Am schlimmsten war allerdings, daß ausgerechnet John Møller, der sich nicht einmal im Privatleben einen Fehltritt leistete, die lebhaften amourösen Aktivitäten und alkoholischen Exzesse seines Chefs, Oluf Trapp Madsen, decken mußte. Beides durfte sich nicht einmal ein Polizeimeister erlauben, für den PET-Chef war es ein ständiger Balanceakt am Rande des Abgrunds.
Jansen hätte den kalten Perfektionismus Møllers besser verstanden, wenn er die Qualen des Vizepolizeimeisters in all ihren Details gekannt hätte. Doch trotz lebenslanger Erfahrung hatte er seinen Plagegeist nie durchschaut.
Obwohl die südlich gelegenen Büros des PET-Gebäudes dunkle Sonnenblenden vor den Fenstern haben, wird es unerträglich in ihnen, wenn die Wärmeabsorbation der dicken Betonelemente im Hochsommer ihr Maximum erreicht. Die Sicherheitsbestimmungen verbieten zudem offene Fenster – es könnten ja interne Papiere herausfliegen.
Daher war es nur gerecht, wenn die Führungskräfte unter der Hitzewelle am meisten zu leiden hatten. Schließlich hatten sie die schönsten Büros belegt und die internen Sicherheitsbestimmungen zusammen erarbeitet.
Wenn das Gebäude nicht mehr zu ertragen war, verkürzten sich die Arbeitstage von Oluf Trapp Madsen auf eine noch gerade zu vertretende Länge. Allerdings hinterließ er immer die Telefonnummer seiner diversen Sommeradressen im Büro.
Zurück blieb in aller Regel nur John Møller, von dem böse Zungen behaupteten, daß er sogar im Nadelstreifenanzug Tennis spielte. An diesem heißen Sommerabend sahen Bojskov und Jansen den stellvertretenden Chef zum ersten Mal in Hemdsärmeln und roten Hosenträgern.
Auf seinem kleinen Bürotisch stand eine Thermoskanne. Gedeckt war für vier Personen.
»Bitte«, forderte Møller auf, »ich glaube, eine Tasse Kaffee können wir gut gebrauchen, bevor wir den Fall noch einmal durchgehen. Trapp muß jeden Moment kommen.«
Jansen wußte, daß der Chef so spät kam, weil er aus einem Wochenendhaus bei Hornbaek hergerufen werden mußte. Eine neue Freundin, dachte der Kriminalinspektor. In dienstlichem Interesse müßte man eigentlich Buch führen.
Anders Bojskov war unsicher. Er war zum ersten Mal allein mit der Führung der PET.
»Bevor wir uns den anstehenden Problemen widmen, möchte ich Bojskov danken.« Møller lächelte dem schlanken Kriminalassistenten, der in Cordhosen und Gesundheitslatschen steckte, freundlich zu.
»Ohne daß es jemand bisher direkt ausgesprochen hat, habe ich doch das Gefühl, daß sich unser Verhältnis zur Mordkommission durch dich erheblich verbessert hat. Valdemar Henriksen ist von allein gekommen, um uns von Anfang an in diesen Fall einzuweihen. Wir alle kennen Henriksen. Von ihm akzeptiert zu werden, ist bestimmt genauso schwierig wie der Gang des Kamels durchs Nadelöhr.«
Henriksen hat uns doch bloß informiert, um sich für den Fall abzusichern, daß er mit einem ungeklärten Mord sitzen bleibt, dachte Jansen. Wenn etwas schiefgeht, kann er es jetzt dem Geheimdienst in die Schuhe schieben.
Die Tür wurde aufgerissen. In den leichten Sommerhosen und dem karierten Hemd sah Trapp Madsen wirklich aus wie ein Chef, dem ein sorgfältig vorbereitetes Wochenende ziemlich plötzlich kaputtgemacht worden ist. Sein Auftritt ließ allerdings keinen Zweifel daran, daß er gekommen war, um die Führung zu übernehmen.
»Ich brauch ’nen Kaffee. Gibts ’ne Tasse für mich?«
Jansen guckte sich Trapp genau an. Er hatte getrunken. Trotzdem war er bestimmt über die Autobahn gebraust wie der Henker.
»Ja bitte«, Møller schien ganz ruhig. Ärgerte er sich, daß Trapp so schnell erschienen war?
Trapp goß sich ein. »Wie weit sind wir, John?«
»Ich bin die Akte des Ingenieurs Ole Kramer durchgegangen. Wir haben ihm einmal eine Sicherheitsbescheinigung ausgestellt. Nach der Lage der Dinge muß ich sagen, die Akten stützen Henriksens Theorie, daß wir es mit einem Terrorakt zu tun haben.«
»Wieso?« fragte Trapp Madsen, während er sich den Bart kratzte.
»Ole Kramer war einer der führenden Experten für EDV-Anlagen, unter anderem für militärische Kodes. Vielleicht der einzige dänische Industrielle, für den sich die internationale Rüstungsindustrie interessierte. Die Kleinigkeiten, die seinerzeit für den Starfighter geliefert wurden, hatten doch bloß symbolische Bedeutung.«
»Deshalb braucht man doch noch lange nicht von einem Terrorakt zu reden. Von Kramers Arbeit für die NATO wußten doch offensichtlich nur wenige Fachleute. Ich glaube, Valdemar Henriksen hat eine Nummer mit uns vor.« Trapp stand auf und begann, auf und ab zu gehen.
»Ole Kramer wurde nicht erschossen, er wurde geschlachtet. Henriksen sagt, er hätte, seit die Armenier versuchten, den ersten Sekretär der türkischen Botschaft zu ermorden, so etwas nicht mehr gesehen.«
»Es kann aber auch eine verlassene Liebhaberin gewesen sein. Oder seine Frau hat genug von ihm gehabt. Wenn sie die Aktien an die Amerikaner oder die Japaner verkauft, ist sie doch sicher Multimillionärin. Vielleicht war es auch sein Kompagnon, der sich die Aktienmehrheit in der Firma sichern wollte. Es gibt da ziemlich viele Möglichkeiten von der bekannten, gutbürgerlichen Sorte. Die sollten wir erst einmal untersuchen, bevor wir uns mit Theorien über terroristische Vereinigungen befassen. Warum gerade jetzt und noch dazu in Dänemark? Die Rote Armee Fraktion sitzt hinter Schloß und Riegel, jedenfalls die Mitglieder, die noch am Leben sind ... und die Infrastruktur der Roten Brigaden in Italien ist geknackt. Wer hätte das Organisationstalent und die Waffen, um sowas mitten in Kopenhagen durchzuziehen?«
Jansen mußte sich beherrschen, um Møller nicht merken zu lassen, wie er die Situation genoß. Der Inspektor konnte sich der versteckten Kritik, die in Trapps Fragen lag, nur anschließen. Terror in Dänemark schien Jansen ausgeschlossen.
Nur Anders Bojskov fühlte sich unwohl in seiner Rolle als Schaf im Wolfsrudel.
»Möglicherweise ist das alles richtig«, räumte John Møller ein, »nur ändert es nichts an der Tatsache, daß die Mordkommission um unsere Unterstützung gebeten hat. Ich befürchte, wir schneiden uns ins eigene Fleisch, wenn wir nein sagen. Außerdem, so bescheiden brauchen wir wohl in der Beurteilung unserer eigenen taktischen Möglichkeiten nicht zu sein, daß wir schon vor Valdemar Henriksen Angst haben.«
Trapp unterbrach seine Wanderung. »Was schlägst du konkret vor, John?«
»Wir schicken zwei Mann in die Mordkommission, meinetwegen Bojskov und Winther. Wenn der Fall wirklich keine nachrichtendienstlichen Aspekte hat, ziehen wir uns ganz ruhig wieder zurück.«
»Was hälst du davon, Jansen?«
»Sehr vernünftiger Vorschlag.«
»Und du, Anders.«
Trapps Frage überrumpelte den Kriminalassistenten, er war nicht gewohnt, in Chefkonferenzen seine Meinung zu äußern.
»Es ist ja noch nicht lange her, daß ich bei der Mordkommission war, also ...«
Trapp fing seinen Blick auf und sagte überraschend heftig:
»Das will ich nicht hören. Ich weiß, du tust, was man dir sagt – und manchmal auch etwas mehr. Die Frage ist, ob du Valdemar Henriksen so gut kennst, daß du ihn erwischst, bevor er uns den schwarzen Peter zuschiebt.«
»Ich werde mein Bestes tun. Ich habe ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Bruno Frederiksen.«
»Du willst also nicht eindeutig ja oder nein sagen?« bohrte Trapp Madsen weiter.
Anders Bojskov wußte nicht, was er sagen sollte. Møller kam ihm zu Hilfe. »Ich meine, du solltest Henriksen anrufen. Wenn wir noch mehr Zeit mit taktischen Überlegungen verschwenden, löst sich die Frage von allein, und weder Bojskov noch Winther werden an den Ermittlungen beteiligt.«