Die Mondsucherin - Frederike Böhme - E-Book

Die Mondsucherin E-Book

Frederike Böhme

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Beschreibung

An ihrem 21. Geburtstag erfährt die Studentin Magdalena von Vermes von einem Notar, dass sie adoptiert wurde! Sie erhält einen Brief der bereits verstorbenen leiblichen Mutter und ein geheimnisvolles Buch. Ihre junge kleine Welt gerät völlig aus den Fugen. Magdalena fühlt sich betrogen und bricht den Kontakt zu ihren Eltern ab, nur zur Großmutter hält sie die Beziehung aufrecht. Sie wird zu ihrer Verbündeten und Freundin bis über den Tod hinaus.Wild entschlossen nun auch die restlichen Wurzeln ihrer Herkunft zu identifizieren, beginnt sie die Suche nach ihrem leiblichen Vater. Diese entwickelt sich zur Suche nach der eigenen Identität. Eine schicksalhafte Rolle spielt dabei der Mond. Magisch angezogen folgt sie ihm in die Antarktis. Dort trifft sie auf den jungen Biologen Mikail, der ihren Blick auf die Welt komplett verändert. Doch dunkle Schatten der Vergangenheit verfolgen sie. Magdalena kann dem Leben und seinen Geschenken noch nicht vertrauen. Getrieben von der Sehnsucht nach Antworten auf ihre noch offenen Fragen reist sie weiter nach Afrika. Dort lernt sie einen Medizinmann kennen. Fasziniert von seiner Persönlichkeit folgt sie ihm zu seinem Stamm. Der Schamane führt für sie eine Heilräucherung durch. Was nun geschieht, hatte sich die junge Frau in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Geläutert, mit innerer Klarheit und einem Plan kehrt sie voller Tatendrang nach Haus zurück, wo sie von ihrer Freundin bereits sehnsüchtig erwartet wird.Dort angekommen erwartet sie noch jemand: Mikail! Das Glück scheint nun vollkommen.Doch noch sind nicht alle Schatten der Vergangenheit bereinigt. Ein düsteres Geheimnis von Mikails Vorgesetztem bedroht die Zukunft des jungen Paares. Es gilt noch eine alte Rechnung aus Studententagen zu begleichen, die tragischer nicht sein könnte. Doch dieses Mal ist das Schicksal nicht Gegner, sondern Verbündeter, hoffentlich?

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Frederike Böhme, wurde als 4. Kind einer alteingesessenen Gärtnerfamilie geboren. Aufgewachsen an der ehemaligen deutsch–deutschen Grenze in Niedersachsen verließ sie früh ihr Elternhaus und ging nach Süddeutschland.

Mit dem Lesen lernen wuchs auch ihre Leidenschaft für Bücher.

Nach der Ausbildung und einigen beruflichen Neuorientierungen eroberte sich das Schreiben einen festen Platz in ihrem Leben.

Heute lebt sie in einer Patchwork Familie in Baden-Württemberg und hat ihren ersten Roman „Die Mondsucherin“ geschrieben. Ihre gewonnenen Lebensweisheiten möchte sie anderen Menschen zur Freude, aber auch zur Orientierung mitgeben.

„Wer mutig nach dem Verlangten sucht, entdeckt bisweilen fröhlich oder traurig, was er finden wollte. Nie aber ist es ein Verlust, am Ende steht stets der Gewinn! Wer nie den Mut zum Suchen aufbringt, betrügt sich selbst um das, was das Leben für ihn an Weisheiten bereitgehalten hat.“

Frederike Böhme

Die Mondsucherin

Eine Adoption und ihre Folgen

www.tredition.de

© 2013 Frederike Böhme

Erste Auflage

Umschlaggestaltung, Illustration: Ekkehard Frank

Lektorat, Korrektorat: tredition

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8495-6870-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Brief an mein geliebtes unbekanntes Kind Teil 1

Kapitel 1 Der Geburtstag

Kapitel 2 Krieg der Gefühle

Kapitel 3 Das rote Buch

1. Die Geschichte vom Uhrmacher

2. Die Geschichte vom Perlensucher

3. Die Geschichte von den Wellenreitern

4. Die Geschichte der Mondsucherin

5. Die Geschichte von der Vernunft und der Unvernunft

Kapitel 4 Am Ende steht ein Anfang

Kapitel 5 Konfrontation der Eltern mit sich selbst

Brief an mein geliebtes unbekanntes Kind Teil 2

Kapitel 6 Die Lösung des Rätsels?

Kapitel 7 Neue Wege

Kapitel 8 Zu Hause bei der Großmutter

Kapitel 9 Vater und Tochter

Kapitel 10 Das Leben schreibt seine eigenen Geschichten

Kapitel 11 Frühstück zu dritt

Epilog

Rosa Zwergrosen bedecken mein Grab.

Ihr süßer Duft dringt hinter den Vorhang, in meine neue Welt.

Von hier aus wache ich über Dich.

Wo immer du bist, ich begleite Dich ins Leben hinein.

Wir sind auf ewig miteinander verbunden, durch ein mit Liebe fest geknüpftes Band, über alle Welten und Grenzen hinweg.

Gesühnt werden wird Unrecht. Vergebung wird

Brief an mein geliebtes unbekanntes Kind Teil 1

Mein geliebtes Baby, wenn Du diesen Brief liest, werde ich nicht mehr am Leben sein. Ich will dir hiermit sagen, wie sehr ich Dich liebe, auch über den Tod hinaus.

Kein Tag verging, an dem ich nicht an Dich dachte oder Dich schmerzlich vermisste. Nur die Gewissheit, dass Du in einer guten Familie aufwächst, hat mir die Zeit bis zu meinem Tod erträglich gemacht. Ich weiß, dass Deine Adoptiveltern dir alles ermöglichen, was sie können. Auch das verdient Würdigung.

Ich bestand darauf, als ich Dich zur Adoption freigeben musste, zu erfahren, zu was für Menschen du kommen solltest. Eine unübliche Bedingung, doch sie wurde mir gewährt.

Ich erzähle Dir hier die Geschichte, meine, Deine, unsere. Vielleicht schaust Du ja, wenn Du alles eines Tages verarbeitet haben wirst, in den Himmel, zu den Sternen, zum Mond und spürst meine Liebe. Hoffentlich spüre ich auf der anderen Seite des Lebens, dass auch Du dieses Gefühl für mich empfindest.

Wer weiß …

Herzenswärme und Innigkeit sind unsterbliche Weggefährten. Sie existieren so lange wir Menschen uns diese Gefühle erlauben.

Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden.

Ich war 23 Jahre alt, studierte begeistert Philosophie und Psychologie. Ich genoss mein Studentenleben in vollen Zügen. Dazu gehörten, so wirst Du es hoffentlich auch einmal erleben, eine Menge Partys. Auf einer solchen lernte ich Deinen Vater kennen.

Wir verliebten uns und ich wurde schwanger, aber nicht nur das, ich erhielt zeitgleich noch die verheerende Diagnose: Multiple Sklerose!

Für mich war innerhalb eines Gespräches von 15 Minuten mit meinem Arzt meine ganze Zukunft zerbrochen. Noch schlimmer war, dass mein Papa zu diesem Zeitpunkt selbst schon seit längerer Zeit gegen den Krebs kämpfte. Meine Eltern boten mir an, wieder zu Hause zu wohnen, da es ja nun mit dem Studieren vorbei sei. Ich wollte davon zuerst gar nichts hören, weil ich den beiden nicht zusätzlich zur Last fallen konnte. Sie waren ja ohnehin schon durch die Erkrankung meines Vaters gebeutelt genug.

Meine Entzündungswerte lasen sich wie ein Kapitel aus einem Horrorheftchen und so blieb mir keine andere Wahl, als nach Hause zurückzukehren. Ich wurde mir mehr und mehr meiner ausweglosen Situation bewusst.

Kein Arzt traute sich genau voraussagen, wie sich die Krankheit entwickeln würde, wie lange ich mich noch ohne fremde Hilfe würde bewegen können usw.

Mit dem Gedanken, ein Baby zu bekommen, hatte ich mich schnell angefreundet und tiefes Glück für das Kleine, in mir heranwachsende Wesen empfunden. Es fällt Dir leichter, meine Situation im Nachhinein zu verstehen, wenn ich Dir die Krankheit so gut ich das als Laie kann, beschreibe. Deswegen hier ein paar Informationen:

Die Multiple Sklerose (MS) wird als Encephalomyelitis disseminata (ED) bezeichnet und ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), deren Ursache trotz großer Forschungsanstrengungen noch nicht geklärt ist. Sie ist neben der Epilepsie eine der häufigsten neurologischen Störungen bei jungen Erwachsenen. Die Entzündungen verursachen Narben, diese führen zu, wie in meinem Fall, ausgeprägten Funktionsstörungen. MS ist eine Krankheit, die Gehirn und Rückenmark befällt. Im Zentralnervensystem gibt es über 20 Milliarden Nervenzellen, die untereinander mit einer noch viel größeren Zahl von Leitungsbahnen verbunden sind. Bei mir wurden und werden durch diese Entzündungen fast alle Bahnen zerstört. Es gibt Fälle, wo die Krankheit in Etappen/ Attacken verläuft. Dazwischen kommt es häufig wieder zu Besserungen des Befindens. In meinem Fall schritt sie jedoch von Beginn an stetig fort. Heilende Medikamente gibt es derzeit nicht, obwohl intensiv geforscht wird. Mir wird leider der medizinische Fortschritt nicht mehr zugutekommen.

Mein Vater war, trotz seiner Erkrankung, sehr tapfer. Er löste meine Studentenwohnung auf und baute mit Freunden den Keller des Hauses zu einer kleinen Wohnung aus. Als wir beginnen wollten, sie einzurichten, verstarb mein Papa. Jetzt waren meine Mutter und ich auf uns allein gestellt. Zu dem Kummer über meine Situation kam die Trauer über den Verlust ihres geliebten Mannes.

Gott sei Dank war mit Dir alles in Ordnung. Du entwickeltest dich prächtig, bestätigte mein Gynäkologe bei jedem Kontrolltermin.

Meine Mutter jedoch, Deine Großmutter, ertrug die Trauer und Belastung, die meine Krankheit und der Tod meines Vaters verursachten, nicht. Sechs Wochen vor Deiner Geburt erlitt sie einen Herzinfarkt und verstarb.

Ich glaube, dass ihr gebrochenes Herz und die Sorge um mich dazu geführt hatten.

Ich saß zu dieser Zeit bereits im Rollstuhl. Der Krankheitsverlauf hätte durch die Einnahme von starken Medikamenten verzögert werden können. Dies hätte aber bedeutet, dass Du bleibende Schäden wegen der zu erwartenden Nebenwirkungen zurückbehalten würdest. Das wollte ich auf keinen Fall! Du solltest so gesund wie nur irgend möglich geboren werden.

Da meine Eltern für den Umbau des Kellers ihr gesamtes Sparvermögen investiert hatten, reichte das Geld auf ihrem Konto gerade noch für die Beerdigung Deiner Großmutter. Ich stand nun völlig mittellos da. Arbeiten konnte ich nicht mehr. Auch nach der Schwangerschaft schlossen die Ärzte eine Berufsausübung aus. Also musste ich zum Sozialamt und Geld für meinen Lebensunterhalt beantragen. Um diese Unterstützung für Dich und mich zu erhalten, hätte ich allerdings das Haus Deiner Großeltern verkaufen müssen. Die Begründung lautete, wer Sozialhilfe bezieht, darf kein Wohneigentum besitzen. Das ging auf keinen Fall, denn die Wohnung im Keller war ja bereits für meine Bedürfnisse behindertengerecht umgebaut. Die Sachbearbeiterin vom Sozialamt ahnte, dass meine gesundheitliche Situation eine Versorgung von Dir unmöglich machen würde.

Sie setzte sich umgehend mit dem Jugendamt in Verbindung. Kurze Zeit später, ich hatte indessen einen Mieter für den Rest des Hauses gefunden, erschien im Auftrag der Behörde eine Beamtin, etwas älter als ich, der Abteilung Familien- und Krisenintervention, die der Jugendbehörde zugeordnet war. Ihr Name war Xenia. Sie erkannte schnell, dass ich wohl eine der schwersten Entscheidungen zu treffen hatte, die einer werdenden Mutter widerfahren konnte. Nach einigen Beratungsterminen war klar, dass ich nur noch dafür sorgen konnte, dass Dich eine andere Familie in Freude und Liebe groß ziehen würde.

Der schönsten Aufgabe der Welt war ich nicht mehr gewachsen, so grausam dies auch für Dich klingen mag. Der Akt Adoption ließ sich nicht vermeiden.

Hier half mir die Sozialpädagogin des Jugendamtes sehr einfühlsam und kompetent. Entgegen sämtlichen Vorschriften wählte sie mit mir zusammen eine passende Familie für Dich aus und übermittelte mir obendrein die Adresse. Das ist eigentlich bei einer Adoption strengstens verboten, aber sie drückte beide Amtsaugen für mich zu.

Xenia besuchte mich bis zu Deiner Geburt zweimal wöchentlich. Wir freundeten uns an. Dieser Mensch steckte so voller Lebensenergie, von der ich in meiner Verzweiflung oft profitierte.

Am 23.04.1987 erblicktest du um 11.22 h per Kaiserschnitt das Licht der Welt. Die Schwestern im Operationssaal, auf der Wöchnerinnenstation und die Ärzte wussten über meine gesundheitliche Situation und die Adoption Bescheid. Das Stationsteam kümmerte sich rührend um mich. Meinen Schmerz, meine Trauer konnten sie mir nicht nehmen. Entgegen sämtlichen Regeln und Gesetzen sorgte die diensthabende Hebamme dafür, dass ich mit Dir bis zur Übergabe zusammen sein konnte. Dich für Stunden als das größte Glück in meinem Leben zu erfahren, erfüllten sie mir. Es war wie ein Wunder, wie vom Schicksal geschenkte Gnadenzeit. Alle Schwestern und Ärzte hatten Dich sofort ins Herz geschlossen. Dich erlebte ich als das zauberhafteste Geschöpf auf Erden, das ich je kennenlernen durfte, Du mein allergrößter Schatz. Du beschertest mir die wunderbarsten Glücksmomente meines Lebens, ein engelsgleiches Wesen, das all meine Erfahrungen und Empfindungen, die ich bis dahin durchlebt hatte, unwichtig erscheinen ließ. Ich danke Dir dafür so sehr!

Am Abend nach der Entbindung besuchte mich die Sozialarbeiterin Xenia. Sie sah mich im Krankenbett sitzen, Du schliefst friedlich in meinen Armen. Unser Anblick trieb der Beamtin Tränen in die Augen. Im Radio erklang eine Ballade: “The dilemma of the brain and the heart.“ Der Zwiespalt zwischen Kopf und Herz bzw. Verstand/Vernunft und Gefühl), verbunden mit dem Klang der Geigen beschrieben exakt unser beider Zustand. Später fragte sie mich, ob ich mir einen Namen für Dich überlegen wollte, obwohl wir beide wussten, dass Deine Adoptiveltern Gebrauch von dem Recht machen würden, Dir einen Vornamen nach ihrem eigenen Geschmack zu geben. Dann sah sie Dein rosa Armbändchen mit dem Namen „Dorothee“. Warum diesen Namen, willst du wissen? Der Name leitet sich von zwei griechischen Worten her. Der eine ist „Doron“ und meint Gabe oder Geschenk. Der andere, „Theos“, bedeutet Gott. Zusammengesetzt heißt das so viel wie „Geschenk Gottes oder Gottesgabe“. Außerdem hatte ich während meines Studiums über zwei Frauen mit diesem Vornamen gelesen. Die eine, Dorothea Viehmann sammelte Geschichten und war eine wichtige Quelle für die Gebrüder Grimm. Sie hatte ihnen zahlreiche ihrer gesammelten Märchen, Fabeln, und Sagen erzählt, die die Brüder anschließend niederschrieben und weltbekannt wurden. Du wirst sicher einige davon kennen.

Die andere war Dorothea Christiane von Eixleben. Sie war die erste deutsche promovierte Ärztin.

Beide Persönlichkeiten haben mir sehr imponiert, da sie mit unglaublicher Kraft ihren Lebensplan konsequent verfolgten und gesellschaftliche Widerstände überwanden. Die Geschichtensammlerin geriet in die Kritik, weil sie als alleinstehende Dame regelmäßig die Herren Grimm ohne Beisein einer Anstandsdame empfing. Ihr wurde vorgeworfen, die moralistischen Tugenden einer Frau, zu verletzen. Von Eixleben erstritt sich das Recht zu studieren, und zu promovieren, um Heilkunde als Beruf aktiv auszuüben. Das war eine Revolution, ein Meilenstein in der Entwicklung der Gleichberechtigung. Ich dachte, die Biografien dieser Pionierinnen könnten gute Vorzeichen für Dein Lebensglück, Deinen Lebensweg sein.

Xenia fand Deinen Namen klasse. Allerdings bestünden die Adoptiveltern auf dem Passus der Namensänderung und hätten ihre Wahl bereits mitgeteilt. Sie wollten Dich Magdalena nennen. Magdalena, die Linderin von Leiden, die Strahlende, ein schöner Name. Die Wahl spricht für ihren geistigen Horizont. Für mich aber bleibst du Dorothee! Weißt Du, nur mit Geldleistungen erzieht man kein Kind. Eltern müssen Werte und soziale Aspekte kennen und vermitteln. Nur so kann eine Seele wachsen und reifen, Stärke neben Widerstandskraft entwickeln. Das ist ihre Aufgabe, ihre Herausforderung.

Meine Liebe zu Dir überdauert alle Ereignisse. Sie verbindet uns miteinander, wo wir uns auch befinden. Dabei ist es egal, ob Du im Diesseits vor dem Vorhang des irdischen Lebens stehst und ich dahinter. Das Jenseits liegt nur eine Stoffbreite entfernt.

Dich in „fremde“ Hände zu geben, war eine Entscheidung, ja vielmehr ein Tribut an meine Liebe zu dir. Wäre ich gesund, so gäbe es diese Adoption nicht, Mann hin oder her.

Zurück zu den Ereignissen: Am 24.04.87 kam früh morgens der Arzt, der Dich auf die Welt gebracht hatte. In jener Nacht hatte ich gar nicht geschlafen, weil ich mich von Deinem Antlitz nicht losreißen konnte und die Zeit mit Dir mir so unendlich viel bedeutete. Das Glück mit Dir war so kurz, wie hätte ich es da verschlafen können?

Er lächelte. Genugtuung stand ihm ins Gesicht geschrieben, sich über alle Gesetze hinweggesetzt zu haben. Dr. Becker, so hieß er, bemühte sich rührend, mir den Abschied so wenig schmerzhaft wie möglich zu machen. Liebevoll nahm er Dich in die Arme und beugte sich zu mir vor, damit ich Dich ein letztes Mal küssen konnte. Dann verschwand er leise. Ich meine, auch Tränen in seinen Augen entdeckt zu haben. Mehr weiß ich über die Stunden Deiner Adoption nicht. Eine Woche später holte mich die Sozialarbeiterin ab und fuhr mit mir im Krankentransport nach Hause. Sie gab sich ungeheure Mühe, mich aufzumuntern. Ich spürte aber nur eine unendliche Leere und Einsamkeit in mir. In den darauffolgenden Wochen verschlechterte sich mein Gesundheitszustand rapide. Ich fühlte mich mut- und kraftlos, wollte nur schlafen, nur vergessen. Ich versuchte, dem Schmerz zu entfliehen, Dich für immer verloren zu haben.

Xenia kam fast jede Woche. Die vielen Besuche zeigten mir ihre aufrichtige Anteilnahme verbunden mit selbstloser Fürsorge. Sie war das einzig Lebendige in meinem Leben, ein Krümel auf einem leer gegessenen Teller. Eines Tages kam sie wie häufig unverhofft vorbei. Ich saß teilnahmslos in meinem Rollstuhl und starrte durch das Kellerfenster hinaus in das kleine Stückchen Garten. Sie erzählte mir, dass sie ein letztes Mal Kontakt zu Deiner Adoptivfamilie aufgenommen hatte. Du würdest Dich prächtig entwickeln und wärest der Sonnenschein der ganzen Familie.

So sehr ich mich über die schöne Botschaft freute, meinen Kummer milderte das nicht. Ich konnte die seelischen und körperlichen Schmerzen nicht mehr länger ertragen. Es gab keine Aussicht auf Genesung. Ich sah mich mit jedem neuen Tag dem Sterben näher als einem selbstbestimmten würdevollen Leben. Deswegen wollte ich meinem Zustand des Dahinvegetierens ein Ende setzen, dem Leiden, der Ausweglosigkeit entfliehen. Weg von dieser Welt, in der ich mich nutzlos, darüber hinaus überflüssig fühlte, in eine andere, die mir mittlerweile so verlockend erschien. Ich sehnte mich danach, hinter den Vorhang zu treten, auf eine süß duftende Blumenwiese.

Ich bat Xenia um einen letzten Gefallen. Die Formalitäten, was Dich anging, waren ja geregelt.

Sie sollte mir Medikamente besorgen, den Rest wollte ich dann selbst erledigen… Ich wollte Sterbehilfe von ihr.

Erschrocken lehnte sie ab und drohte den Kontakt sofort abzubrechen. Xenia tobte. Ich gab nach.

Xenia schlug mir stattdessen vor, meine Gedanken, Empfindungen, Erfahrungen, meinen Schmerz, meine Trauer für dich aufzuschreiben. Für den Fall, dass Du in einigen Jahren Nachforschungen anstelltest, riet sie mir, alles zu dokumentieren, was ich Dir weitergeben wollte oder was Du für Dein eigenes Leben benötigen würdest. Ich sollte mein geistiges Erbe formulieren, das was mir davon für dich bedeutungsvoll und wissenswert erschien. Jeder trüge Wissen und Weisheiten in sich, die es an geliebte Menschen weiterzureichen lohne. Darüber könnte ich mir Gedanken machen, nicht über das Sterben, forderte sie. Diese Idee entzündete ein Licht in der Dunkelheit. Trotzdem war ich hin- und hergerissen. Würde Dich denn interessieren, was ich zu sagen hatte? Woher sollte ich die Kraft dafür nehmen? Ich war doch nur ein jämmerlicher Schatten meiner Selbst! Nach Nächten des Grübelns und Zögerns rang ich mich dazu durch, es zu versuchen. Ich konnte nicht mehr laufen und nicht längere Zeit am Stück eine Tätigkeit ausüben. Schreiben und Telefonieren war Gott sei Dank kein Problem. Ich wusste, dass diese Fähigkeiten nur noch eine bestimmte Dauer mir gehörten, also legte ich los. So entstanden dieser Brief und die Geschichten in dem roten Buch, das ich Dir widmete. Ein Nachschlagewerk von Lebensaufgaben und Lösungen, ein Ratgeber.

Das mein geliebter Schatz war nur durch Dich möglich. Die Liebe zu Dir hat mich beflügelt. Je mehr ich mich im Formulieren übte, desto größer wuchs die Überzeugung, dass ich das Richtige tat. Ich merkte: Schreiben ist harte Arbeit!

Von Geschichte zu Geschichte fiel es mir leichter, meine Gedanken auszudrücken. Ich lernte, mir über den Sinn und die Kraft eines Wortes klar zu werden.

Monatelang arbeitete ich daran, das Leben mit all seinen versteckten Weisheiten, die ich durch mein Schicksal entdeckte, verständlich aufzuschreiben, hoffe ich jedenfalls.

Ich trage den brennenden Wunsch in mir, dass die Geschichten Dich trösten, Dir den richtigen Weg weisen, Dir den Mut verleihen, aufzustehen, wenn Du gefallen bist, auch wenn es Dir schwerfällt, Dir die Zuversicht geben, dass das Ende gut sein wird, dass Zweifel verjagt werden, Du Wunder erkennen und dankbar annehmen kannst, dass Du nicht eher aufgibst, bis Du wahre Liebe gefunden hast, dass Du Dich darin wiedererkennst, dass Begegnungen mit Menschen nie zufällig, nie unnütz sind, dass Du die Aufgaben und Rätsel löst, die das Leben für Dich bereithält. Ich trage den brennenden Wunsch in mir, Dir zu sagen, wie sehr ich Dich in meinem Herzen behüte!

Ich komme langsam zum Ende. Sicherlich drängen Dich viele Fragen. Eine davon lautet vermutlich, warum Du die Hintergründe Deiner Adoption heute oder erst jetzt erfährst. Pass gut auf!

Meine gesammelten Werke sowie meinen Brief bis hierhin an Dich, zeigte ich Xenia beim nächsten Besuch.

Xenia weinte und lachte abwechselnd und schaute mich schweigend an, als sie fertig gelesen hatte. Es weit nach Mitternacht. Ich fühlte mich so munter wie seit langem nicht mehr.

„Du kannst verdammt noch mal sehr zufrieden mit Dir sein. Ich bin glücklich, dass ich Dich kennenlernen durfte. Du behältst für immer einen Platz in meinem Herzen“, lobte sie mich. Ich erzählte ihr, dass ich mich mit einem Notariat in Verbindung gesetzt, und um Verwahrung des roten Büchleins und dieses Briefes gebeten hatte.

Nachdem der Notar von meiner Situation gehört hatte, war er gern bereit, mir zu helfen. Er besuchte mich am gleichen Tag meines Anrufes. Dieser Mann ist ein richtiger Gentleman, ein Frauentyp, vielleicht lernst du ihn persönlich kennen. Er war beauftragt, Dir diesen Brief, also Teil 1, an deinem 21. Geburtstag persönlich zuzustellen. Es gibt noch einen 2. Teil, aber dazu wird dir der Notar mehr sagen. Außerdem erhielt er mein Testament und einen Auftrag an die Friedhofsgärtnerei für meine Grabgestaltung und -pflege. Im Leben liebte ich rosa Zwergrosen so sehr! Ihnen obliegt die Pflicht, Hüter meiner sterblichen Überreste zu sein. Es sind zierliche und zugleich kräftige Pflanzen, von edler Anmut, zart leuchtend, genauso wie Dein Antlitz zu der Zeit, als ich Dich in meinen Armen halten durfte.

Zurück zu jener Nacht. Nachdem Xenia die Geschichten im roten Buch gelesen hatte, wollte sie aufbrechen.

Die Sozialarbeiterin lächelte, bemerkte aber sofort mein Zögern. Ich bemühte mich, zu sprechen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt. Einige Male öffnete ich den Mund und versuchte es erneut. Kein Ton verließ meine Lippen.

Ich nahm den Block vom Tisch und fing an abgehackt und krakelig zu schreiben. Xenia bereitete das Entziffern einige Mühe: „Ich bin dabei zu sterben, jetzt!“

Sie begriff sofort. Sie konnte es in meinen Augen lesen, besser als auf dem Papier! So blieb sie die ganze Nacht bei mir. Wir lauschten bereits dem Vogelgezwitscher, als Xenia den kleinen Prinzen zitierte: Der kleine Prinz sagt, als der Abschied naht: „Ich bin dankbar, Dich kennengelernt zu haben! Eines Tages sehen wir uns wieder!“

Xenias Wangen waren feucht. Weinen konnte ich nicht, nicht mehr. Ich hatte die Meinen bereits für Dich verbraucht. Im Gegenteil, ich erlebte mich seltsam gefasst.

Mit einer schier endlosen Umarmung verabschiedete sich Xenia. Ich hörte ihr Schluchzen noch einige Augenblicke. In mir breitete sich eine Art von bisher nie gekannter Ruhe aus. Die Sonne ging auf, wunderschön wie nie zuvor.

Jetzt schreibe ich den Brief, diesen Brief an Dich fertig. Ich fühle mich jetzt, glücklich, aber mehr und mehr kraftlos. Das war heute in der Morgendämmerung noch anders. Die Energie in meinem Körper schwindet, wie der Gesang eines Vogels, der sich immer weiter entfernt.

P.S. Die Kanzlei:

Morgen wird der Notar kommen, diesen Brief, das rote Buch abholen und für Dich aufbewahren. Einen Schlüssel für das Haus hat er bereits.

Ich habe Dr. Wüstinghausen gebeten, als Vermögensverwalter, mein Haus zu vermieten. Er verwaltet die Mieteinnahmen bis zu Deinem 21. Geburtstag. Wenn du mein Grab besuchen willst oder sonst etwas brauchst, frag ihn. Vielleicht hilft dir dieser irdische Ort, mir zu begegnen, wer weiß!

Ich bin mit mir im Reinen. Dies schenkt mir ein Gefühl von Klarheit. Die Bereitschaft zu gehen, erfüllt mich mit tiefer Freude. Sie bettet mich in Zuversicht. Ich werde diese Welt jetzt in Liebe loslassen. Die Zeichen des sich aus der irdischen Wirklichkeit Loslösens scheinen mir nun allzu verlockend. Ich freue mich, hinter den Vorhang zu treten, auf dem Weg zu spazieren, den ich zuvor einige Male im Traum leichtfüßig entlanggeschritten bin. Hin zu meiner duftenden Blumenwiese! Längst übte meine Seele das Hinübertreten in eine andere Existenz. Ich bin bereit. Leichten Fußes gehe ich Schritt für Schritt.

Für denjenigen, der mit Frieden in der Seele diese Welt verlässt, verliert der Tod sein grausames Gesicht. Die Angst davor erscheint mir jetzt unnötig. Mein Körper bleibt hier, meine Liebe und Freude begleiten mich. Sie verwandeln sich in Engelsflügel, die mich zur grünen Aue tragen, von der uns der Herrgott ein Leben ohne Mangel verspricht.

Dankbar schaue ich dem Licht entgegen. Sei unbesorgt, es geht mir gut.

Ich liebe Dich und bin bei Dir. So baue ich Brücken über Zeit und Raum hinweg.

Ich weiß, dass der Brief Dein Leben verändern wird. Ich hoffe, er gibt Dir Klarheit, Wahrheit und Rückhalt, zeigt die die Wurzel deiner Herkunft. Es täte mir leid, Dir damit Schmerz und Kummer zuzufügen. Aber Du, mein geliebtes Kind, hast die Wahrheit verdient, denn die Wahrhaftigkeit bedeutet immer Anfang, Neubeginn. Ich bin überzeugt davon, dass Du Erfüllung und Liebe in Deiner Lebenszeit findest. Doch vor dem Lohn steht das Mühen. Halte durch. Lies die Geschichten. Vertraue dem Zauber, der in ihnen wohnt.

In Liebe Deine Mutter Elvira

Kapitel 1 Der Geburtstag

Thema: Philosophische Gesetzmäßigkeiten in unserer Gesellschaft: „Jeder Mensch bezahlt für das, was er durch sein Tun und Nichttun anrichtet. In einigen Fällen sogar mit dem Leben. Wer nicht an das Gesetz von Ursache und Wirkung glaubt, spürt es am eigenen Leibe in einer unerbittlichen Brutalität, die vernichtende Ausmaße annehmen kann.“

Geehrte Studenten,

ich erbitte Ihre Hausarbeit bis zu unserem nächsten philosophischen Seminar in zwei Wochen zu oben genanntem Thema. Viel Spaß und gute Gedanken.

Ihr Professor

Magdalena starrte ratlos auf die Hausaufgabe. Was zum Kuckuck sollte sie denn zu so einem Text schreiben? Langsam kamen ihr Zweifel, ob sie tatsächlich das richtige Studienfach gewählte hatte…

Plötzlich schreckte sie aus ihren Gedanken, weil es an der Tür klingelte. Wer konnte das sein? Ihre Eltern erwarteten sie erst morgen, da sie unbedingt noch die Hausarbeit beginnen musste, Geburtstag hin oder her! Victoria, ihre Freundin jobbte und konnte es auch nicht sein. Alle anderen Gratulanten waren ebenfalls zur großen Party zu Hause bei ihren Eltern einbestellt worden, die konnten es auch nicht sein.

Es klingelte schon wieder, diesmal mehrmals.

Scheint wohl was Wichtiges zu sein, dachte Magdalena, ging in den Flur und betätigte den Türöffner.

„Bitte kommen Sie rauf, 2. Stock rechts, rief sie gelangweilt ins Treppenhaus.“

„Ja danke, ich komme hoch!“

Also die Zeugen Jehova kann ich jetzt gar nicht brauchen und erst recht nicht irgendeinen Vertreter, murmelte sie, den Türgriff in der Hand haltend und sich an den Türstock lehnend.

„In meinem Alter sollte ich definitiv mehr Sport treiben!“ keuchte er, während er die letzten zwei Stufen auf einmal nahm.

„Guten Tag, mein Name ist Dr. Wüstinghausen. Sind Sie Magdalena von Vermes?“

„Ja, die bin ich.“ Magdalena war unsicher. Was konnte dieser zugegebenermaßen sehr gut aussehende ältere Herr von ihr, er ähnelte etwas George Clooney, wollen?

„Ich freue mich, Sie hier und heute anzutreffen. Ich bin Notar und müsste Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen.“ Lächelnd, als würde er Magdalenas Misstrauen bemerken, hielt er ihr seine Visitenkarte hin.

Magdalena betrachtete sie kurz und wippte unentschlossen hin und her.

„Äh, Herr Wüstinghausen, ich habe irgendwie gar keine Zeit, es ist, äh, es passt mir gerade nicht so gut.“ Krampfhaft überlegte sie, wie sie den Mann wieder loswerden könnte. Sie musste doch an ihrer Hausarbeit arbeiten und konnte sich zudem überhaupt nicht vorstellen, was ein Notar von ihr wollen könnte!

„Verzeihen Sie junge Dame, aber ich habe eine Beauftragung erhalten, mich mit Ihnen genau heute in Verbindung zu setzen. Es ist wirklich dringend und für Sie von großer Bedeutung, dass wir uns kurz unterhalten.“

Na ja, wie ein Halunke sieht der wirklich nicht aus. Außerdem, wenn er ein Verbrecher wäre, hätte er mich schon längst abmurksen können, überlegte Magdalena, noch immer zwischen Tür und Türstock stehend.

„Also gut, kommen Sie rein!“ Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung einzutreten und schloss die Tür.

„Hier entlang bitte.“

Der Notar ging durch den Flur in den kleinen Raum und bewegte sich auf das kleine Bistrotischchen zu.

„Nehmen Sie Platz, ich hol mir nur noch einen Stuhl aus der Küche, -ist halt nur ein winziges Appartement.“

„Oh, es ist nett, wirklich nett, erinnert mich an meine eigene Studentenzeit! Ist allerdings schon ein paar Jährchen her,“ seufzte er.

„Glaub ich gleich“, murmelte Magdalena leise, kam mit einem Klappstuhl unter dem Arm aus der Küche und setzte sich dem Notar gegenüber.

„Tja, Frau von Vermes, lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Ich habe hier für Sie einen Brief und ein Buch, beides soll ich Ihnen heute übergeben.“

„Wie, was? Von wem? Ich verstehe nicht!“

„Nun ja.“ Magdalena entging nicht, wie angespannt er beide Hände ineinander verschränkte und auf den Tisch drückte.

„Frau von Vermes, dies sind Unterlagen einer ganz besonderen Frau, der Sie sehr am Herzen lagen. Sie ist bereits seit gut zwanzig Jahren tot. Sie war trotz ihres jungen Alters eine starke Persönlichkeit. Als ich Sie kennenlernte, bzw. sie Kontakt zu mir aufnahm, war sie bereits von ihrer Krankheit und dem bevorstehenden Tod deutlich gezeichnet. Trotzdem, und das war es, was mich sehr berührt hat, strahlte sie Ruhe und Liebe aus. Es war vermutlich die Liebe zu Ihnen, die sie ihren Weg in einer mir niemals wieder begegneten Würde und innerem Frieden hat gehen lassen. Ich spreche hier von Ihrer leiblichen Mutter, die mich beauftragt hatte, heute, an Ihrem Geburtstag diese Unterlagen zu überbringen.“

„Was? Sie müssen sich irren, Meine Eltern wohnen nur eineinhalb Autostunden von hier entfernt!“ Entsetzt schaute sie zu ihrem Gegenüber.

„Wie leibliche Mutter? Was soll das heißen?“

„Verzeihen Sie, darf ich Ihnen berichten, was ich weiß? Alles Weitere wird in diesen beiden Dokumenten stehen, die ich Ihnen hiermit übergeben habe.“ Während der Notar Magdalena freundlich anschaute, griff er neben sich nach seiner Aktentasche und holte eine weitere Mappe heraus.

„Soweit ich informiert bin, sind Sie kurz nach Ihrer Geburt adoptiert worden. Der Grund wird wohl die unheilbare Krankheit Ihrer Mutter gewesen sein, aber wie gesagt, Näheres dürften diese beiden Unterlagen erklären. Ich verstehe gut, dass das jetzt alles ein bisschen viel für Sie ist. Wenn Sie die Dokumente gelesen haben, sollten wir uns noch einmal treffen. Ich denke, ich gebe Ihnen jetzt erst einmal Zeit, dass Sie sich mit den Nachrichten in Ruhe auseinandersetzen und mit den Unterlagen vertraut machen.

Würden Sie mir nur noch diese Empfangsbescheinigungen unterschreiben? Eine Ausfertigung davon ist für Ihre Unterlagen. Ich weiß, dass das jetzt eine schwere Stunde für Sie ist.“ Mitfühlend sah Dr. Wüstinghausen in Magdalenas erbleichtes starres Gesicht. Er sah ihr an, dass die junge Frau einen Schock erlitten hatte. War ich vielleicht doch nicht einfühlsam genug gewesen, überlegte er, während er seinen Montblanc Füller aus der Innentasche seines Sakkos zog. Magdalenas Hände zitterten, als sie die beiden Blätter näher zu sich heranschob.

„Frau von Vermes, hier bitte.“ Er drehte seine Mappe zu Magdalena, öffnete sie und deutete mit dem Füller auf die Stelle, wo sie unterschreiben sollte.

Geistesabwesend unterzeichnete sie die beiden Blätter und legte den Stift darauf ab. Schockiert schaute Magdalena Dr. Wüstinghausen an.

„Das ist kein Scherz, nicht wahr?“

„Nein Frau von Vermes, das ist es nicht. Es wäre wenn, dann auch ein sehr Geschmackloser! Trotzdem gratuliere ich Ihnen herzlich zu Ihrem Geburtstag.“

„Äh, danke.“

„Ich finde allein hinaus. Es ist gut denke ich, wenn Sie jetzt Zeit für sich haben und auch wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen auch für die Dokumente, die ich Ihnen zugestellt habe. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Melden Sie sich bei mir in der Kanzlei, wenn Sie nach Lesung der Unterlagen noch Fragen haben, oder ich irgendwie behilflich sein kann. Ich bin sicher, wir sehen uns wieder. Ich empfehle mich. Auf Wiedersehen.“

Dr. Wüstinghausen steckte den Füller wieder in sein Sakko und griff nach der Mappe und einem unterschriebenen Blatt auf dem Bistrotisch. Magdalena war unfähig, sich zu bewegen. Noch einmal betrachtete er die junge Frau. Überbringer solcher Nachrichten zu sein, war auch für ihn kein Alltagsgeschäft. Die feinen Züge um ihre Mundwinkel, die Augen! Für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, noch einmal seine Mandantin vor sich sitzen zu sehen. Diese junge Frau war unverkennbar ihre Tochter! Er fühlte Sympathie aber auch Mitleid für sein Gegenüber. In was für ein emotionales Chaos er sie gestürzt hatte, machte ihm trotz seiner langjährigen Erfahrung ziemlich zu schaffen. Er konnte zu seinem Bedauern vorerst nicht mehr für die junge Frau tun, als Zeit zu geben, um sich neu zu ordnen und dann da zu sein, wenn sie ihn brauchte.

Entschlossen griff er nach seiner Aktentasche, verstaute die Unterlagen darin und hielt Magdalena die Hand hin. Sie streckte die Ihrige aus, verfehlte aber die Hand des Notars und nickte ihm nur noch zu.

Ein paar Sekunden später hörte Magdalena, wie die Tür ins Schloss fiel. Sie hob den Blick und schaute aus dem Fenster. Die Sonne schien. Sie aber nahm die gegenüberliegende Häusersilhouette nur schemenhaft wie im dicken Nebel wahr.

Alles verschwamm vor ihren Augen. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch und hielt sich mit beiden Händen den Kopf, so als könne dieser den Tumult an Gedanken nicht allein tragen. Einige Minuten verharrte Magdalena in dieser Pose, dann wanderten ihre Augen in die Küche. Dort lagen auf dem Tisch noch Victorias Gauloises von ihrem letzten Besuch. Sie hatte sie vergessen, als sie wieder mal drohte, zu spät zur Arbeit im Supermarkt zu kommen.

Magdalena rauchte eigentlich nicht, aber jetzt, in diesem Moment, konnte sie nicht anders. Sie ging in die Küche und zündete sich eine davon an. Für einen Augenblick wurde ihr schwindelig. Nachdem sie das Küchenfenster geöffnet und den Weg der blauen Nikotinschwaden nach draußen verfolgt hatte, wanderte ihr Blick wieder zurück zu den Gegenständen, die der Notar auf dem Bistrotisch abgelegt hatte. Der Brief schien wirklich alt zu sein, so vergilbt wie der aussieht, dachte sie. Was sollte sie tun? Dieser Mann hatte gerade den Glauben über ihre Herkunft zerstört, ihr die Wurzeln genommen, die sie bis zu dieser Stunde ins Leben getragen hatten!

Langsam ging sie ins Zimmer zum Tisch zurück und berührte zaghaft erst den Brief, dann das blassrote Büchlein und blieb dann mit den Augen an der Aufschrift „Teil 1“ des Umschlags hängen. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie erschreckte und ging einen Schritt zurück. Was um Gottes Willen läuft hier, was soll das alles, schoss es ihr in den Kopf.

Nach einigen Augenblicken hatte sich Magdalena wieder einigermaßen unter Kontrolle. ‚Es bringt ja nichts die Sachen anzustarren,‘ überlegte sie. ‚Ich muss was tun, irgendwas muss ich jetzt tun,‘ forderte sie sich auf.

Als wäre es die letzte Gelegenheit sein, bevor sich ihr Verstand endgültig und erfolgreich gegen die Neuigkeiten zur Wehr setzen würde, schnappte sie sich den Brief mit der Aufschrift „An mein geliebtes unbekanntes Kind“, setzte sich aufs Bett und öffnete ihn. Vorsichtig entfaltete sie die mehr als zehn Blätter und begann zu lesen.

Kies spritzte wie Wassertropfen aus einer Pfütze, als Magdalena mit ihrer silberfarbenen Mercedes-A-Klasse in einer gewaltigen Staubwolke vor dem freistehenden Einfamilienhaus im Nagolder Stadtteil Galgenberg stoppte. Dieser Luxuswagen war ein Geschenk ihrer überaus großzügigen Großmutter zum bestandenen Abitur gewesen. ‚Das Einzige, was in meinem Leben wirklich Glanz versprüht, ist mein Auto alles andere ist ein Katastrophe‘, resümierte Magdalena, während sie die Schlüssel aus dem Zündschloss zog und noch einen Augenblick sitzen blieb. ‚Was sage ich denen jetzt? Sage ich überhaupt was?‘ Sie blickte auf das kleine, alte, liebevoll renovierte Häuschen. Hier war sie herangewachsen. Es war ihr zu Hause, der Ort ihrer Familie aber weder das eine, noch das andere fühlte sich seit gestern, als sie den Brief gelesen hatte, noch so an. Vertraut kam ihr das alles hier schon noch vor, aber gleichzeitig fühlte sie eine Distanz, ein Fremdsein im Altbekannten, wo sie doch jeden Stein, jede Blume, jeden Zentimeter in und auswendig kannte.

‚Was weiß eigentlich Großmutter über die ganze Sache?‘

Alles hatte sich seit gestern verändert. Nur die Gefühle an ihre Oma merkwürdigerweise nicht, stellte sie erstaunt fest, als sie die Hand vom Lenkrad nahm.

‚Ich habe mich nie in meiner Familie so zu Hause gefühlt, wie ich mir seit Kindertagen in zahllosen Träumen herbeigesehnt hatte, jetzt weiß ich warum,‘ stellte Magdalena noch immer im Auto sitzend, traurig fest. Irgendetwas bislang nicht Greifbares hatte oft dafür gesorgt, dass sie sich nie hatte vollkommen geborgen fühlen können, weder in den Armen der Mutter noch in denen ihres Vaters.

Magdalenas Verstand wusste, dass ihre Eltern sie liebten, bis in ihr Herz hatte es dieses Gefühl bis heute jedoch nicht geschafft vorzudringen und jetzt, jetzt konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, dass es dazu noch jemals würde kommen können. Traurig blickte sie gen Himmel. Aber es regte sich noch etwas anderes in ihr: Seit sie gestern den Brief gelesen hatte, wuchs eine Art Verbindung zu dieser Frau, ihrer leiblichen Mutter, in ihr. Diese Zeilen hatten eine Brücke zu einem Menschen gebaut, den sie nie würde kennenlernen können, aber die Verbindung war da, das spürte Magdalena genau.

Sie atmete tief durch. Was würden wohl die nächsten Stunden und Tage bringen? Wie sollte sie jetzt mit dieser Nachricht fröhlich Geburtstag feiern können? Es war ja nicht mal ihre richtige Familie!

Eigentlich hatte sie ja ihren einundzwanzigsten Geburtstag als Anlass für eine kleine Auszeit vom anstrengenden Geschichts- und Philosophiestudium nehmen wollen, aber jetzt schien ihr das Studium eine Lappalie zu sein, verglichen mit dem, was sie seit gestern erfahren hatte. Belanglose Plaudereien, einen Haufen Geschenke, aber auch erschreckende Berge von Essen, darauf hatte sich die schüchterne Magdalena bereits seit Wochen seelisch eingestellt. Das war ja auch nicht so schlimm, es war ja nie anders gewesen, wenngleich sie sich solche Ereignisse schon immer etwas stiller und weniger aufgeblasen gewünscht hatte. Doch jetzt musste sie wieder die vollkommene Tochter spielen, nur damit die Familie sehen konnte, wie viel Energie die Eltern in die akkurate Erziehung gesteckt hatten, und zwar höchst erfolgreich. ‚Aus ihrer Sicht war das ja auch noch nachvollziehbar, aber warum hatten sie es in ihrem Perfektionismus nicht geschafft, mich bei Zeiten darüber zu informieren, dass ich ein Adoptivkind bin?‘ Dieser Gedanke bohrte sich in Magdalenas Bewusstsein und ließ sie leise in ihrem Autositz aufseufzen. Ihre Mutter, von Beruf Fachverkäuferin für Damenoberbekleidung, war seit jeher darauf bedacht, ein makelloses Bild für die Öffentlichkeit zu zeichnen, welches nicht immer den Tatsachen entsprach. Dieser Umstand hatte innerhalb der Familie schon oft für Streitigkeiten, vor allem mit ihrer Großmutter väterlicherseits, gesorgt. ‚Hoffentlich übertreibt es Mama nicht wieder und ist einmal ein bisschen zurückhaltend‘, dachte sie bei sich, und legte die Sonnenbrille auf den Beifahrersitz. Sie stockte kurz innerlich bei dem Wort ‚Mama‘, es schien ihr nicht mehr angemessen zu sein.

‚Auf in den Kampf, du wirst schon die Gelegenheit finden, sie mit der neu gewonnen Wahrheit zu konfrontieren! Funktionier einfach‘, munterte sich Magdalena in Gedanken auf. Sie streckte ihre Schultern nach hinten und nahm eine aufrechte Körperhaltung ein, so als ob sie sich in Alarmbereitschaft versetzen müsste. Unbewusst öffnete sie die Fahrertür so heftig, dass diese bedrohlich in der Verankerung hin und her wippte. Zeitgleich hupte sie einige Male. Das Ritual, das Magdalenas Mutter so sehr gefiel, wenn sie ins Nest zurückkehrte. Eines der wenigen Mittel, mit dem sie ihrer Mutti ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte, erinnerte sie sich bitter. ‚Unsere Gemeinsamkeiten beschränken sich auf ein paar unbedeutende Vorlieben, wie zum Beispiel langes Schlafen oder Krimis lesen oder so. Da gibt es nichts, was ich als vererbten Wesenszug an mir wiedererkenne, wenn ich an meine Mutter denke. Aber wir sind ja auch tatsächlich nicht aus einem Holz geschnitzt‘, sinnierte Magdalena, während sich ihre schwarzen Nike Turnschuhe in den Kies gruben.

„Hallo, mein Schatz. Na, lass‘ dich umarmen, meine Große“, rief Evi, Magdalenas Mutter, während sie barfuß mit ausgebreiteten Armen aus dem Haus auf ihr Kind zu stolperte. Steine bohrten sich in Evis Füße, sodass sie unruhig hin und her tänzelte, um dem Piksen derselben zu entgehen.

Wie ein warmer Sommerwind umhüllte Mutterliebe die zurückgekehrte Studentin, trotzdem lief ihr ein Schauer über den Rücken.

„Komm rein! Deine Sachen holen wir nachher, mein Schatz. Magst du was essen? Furchtbar dünn bist du! Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich regelmäßig und vor allem gesund ernähren! Das Beste ist wohl, wenn ich einmal in der Woche komme und deinen Kühlschrank fülle, dann weiß ich, dass es läuft.“

Magdalena atmete tief durch. ‚Jetzt gibt sie mir wieder das Gefühl, ich könnte mich nicht selbst um mich kümmern, wie immer‘, ärgerte sie sich, sagte aber nichts.

Beide betraten das kleine bis zum Türbogen mit Efeu bewachsene Häuschen und gingen durch den schmalen Flur in die Küche. Es duftete nach Vanille und gebratenem Fleisch. Die Einundzwanzigjährige schaute sich um und wandte ihren Blick angewidert ab.

„Wenn ich das Essen hier sehe … Wie viele Gäste erwartest du, sechzig, achtzig, oder mehr?“

‚Warum ging es nicht einmal eine Spur bescheidener, ruhiger intimer? Würden sie mir eigentlich nie die Wahrheit sagen wollen‘, fragte sie sich. Magdalena spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Sie brauchte im Moment all ihre Kraft, um nicht auf den Brief ihrer toten Mutter zu sprechen zu kommen.

Diese paar Minuten Zusammensein mit Evi und dem Wissen, wer sie wirklich geboren hat, ließen sie erkennen, wonach sie seit jeher auf der Suche war: Geborgenheit. Sie konnte sich nicht erinnern, ob und wie oft sie diese bei ihren Eltern in Kindertagen gespürt hatte. ‚Es war wie eine Mauer zwischen meinen Herrschaften und mir, die es immer verhindert hat, mich ganz zu öffnen‘, überlegte sie, denn ihre Gedanken wanderten immer wieder zurück zu dem Besuch des Notars und dem Brief.

Magdalena war kein Mensch, der gerne und oft ausging. Sie war eher schüchtern und in sich gekehrt. Die Verwandlung zur studierenden Partymaus, hatte sie nie gereizt.

In der Küche setzte ihre Mutter die Begrüßung munter fort. Magdalena spürte, wie das Ekelgefühl über die Berge von Lebensmitteln in ihr aufwallte. Evi rechtfertigte sich, als sie Magdalenas Miene sah: „Nur die engste Familie, wie immer. Lass dir erst mal anständig gratulieren, mein Engel. Alles Gute zum Geburtstag liebe Magdalenapüppi, ich liebe dich!“

Dabei umarmte sie ihre Tochter so heftig, dass dieser der Atem stockte und sie ganz steif wurde. Evis Stimme zitterte. Rührung lag in ihrem Tonfall verbunden mit unterschwelliger Angst, vielleicht auch Melancholie, die Magdalena erst heute wirklich auffiel. Evi behütete seit vielen Jahren ein Geheimnis, eine Wahrheit, die sie, zusammen mit ihrem Mann, wie ihren Augapfel beschützte. Sie verbarg nicht etwa ein Mysterium der romantischen oder süßen Art, dessen Magie und Glanz zu kostbar für die Öffentlichkeit gewesen wäre, eher das düstere, eine Familienbande bedrohendes Gegenteil, und es musste so bleiben. Davon war sie felsenfest überzeugt.

Magdalena verkörperte den Inbegriff der Sturheit in Perfektion, wenn sie es für angebracht hielt. Das hatte sich in Kindertagen leider oft gezeigt, erinnerte sich Evi deprimiert. Wenn sie eines Tages die Wahrheit herausfinden würde, könnte dies nur in einer Katastrophe enden, nichts anderes war logisch. Magdalena ist viel zu sensibel, viel zu grüblerisch. Sie würde es als ein Verbrechen betrachten, über die Wahrheit jahrelang zu schweigen, wenngleich eine Lüge ja noch viel schwerer wiegen würde und ihr den Garaus machte. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als die Wahl zwischen Pech oder Schwefel. Magdalenas Mutter beendete den Ausflug in die Vergangenheit und in Spekulationen energisch und befahl sich in Gedanken: ‚Einfach weiterfunktionieren und die Wahrheit streng unter Verschluss halten!‘

Abrupt löste Evi die Umarmung und quengelte gehetzt: „Na los, mein Kind! Pack deine Geschenke aus, der Tisch im Wohnzimmer ist fertig, wie jedes Jahr!“ Sie schob ihre Tochter in den Türrahmen, der Küche und Wohnraum miteinander verband, und zeigte auf ein Tischchen mit säuberlich aufgestapelten Geschenken. Durch die Glasfront des Raumes, an die sich eine großzügige Terrasse anschloss, blinzelte zwischen den bodenlangen weißen Gardinen die Sonne.

Der Körper ihrer Mutter vibrierte vor Anspannung, das konnte Magdalena deutlich spüren, als ihr Blick den Gabentisch erfasste. Sie war aufgedrehter als das Geburtstagskind selbst. ‚Erwartungsvoll, als ob sie Lob so dringend bräuchte, wie normale Menschen die Luft zum Atmen‘, dachte Magdalena. Sofort schämte sie sich für diesen schäbigen Gedanken. Sie wusste doch, dass ihre Mutter einfach nicht anders sein konnte. Als Teenager hatte sie, aus Angst vielleicht genauso zu werden, einmal im Internet nach Gründen für dieses psychisch fragwürdige Verhalten gesucht, war aber nicht so recht fündig geworden. Alles, was sie dort gelesen hatte, hatte sie nur noch mehr geängstigt. Damals beschloss sie für sich, so zu tun, als würde ihre Mama ganz normal, wie andere Muttis ihrer Klassenkameraden, sein.

Heute allerdings fand sie das Gehabe ihrer Mutter nervig, sodass sie gar nicht mehr davon überzeugt war, richtig mit ihrer Heimkehr gehandelt zu haben.

‚Ich hab mich entschlossen, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen,‘ ermahnte sie sich, während sie das erste Päckchen in die Hand nahm. ‚Seit gestern gibt es eine plausible Erklärung, einen handfesten Grund, warum ich mich so unglücklich und einsam in meinem Leben fühle, setzte sie dem Gedankenkarussell noch eins drauf.

„Also in dieser Geschwindigkeit wirst du mit Auspacken sicher nicht bis zum Kaffee fertig:“ Evi reckte kurz aus der Küche ihren Kopf ins Wohnzimmer und zog sich im nächsten Moment wieder zurück.

‚Spitze Bemerkungen platziert sie seit jeher leidenschaftlich, wann immer sich eine Gelegenheit dazu findet‘, murmelte Magdalena leise.

„Pack deine Geschenke aus. Wir haben uns total viel Mühe gegeben, dir eine besondere Freude zu machen“, rief Evi aus der Küche ins Wohnzimmer rüber, während sie einen duftenden Zitronenkuchen aus dem Ofen holte und zu den bereits fertigen drei Torten abstellte.

‚Neugierde ist die gelebte Angst vor Kontrollverlust, herbeigeführt durch Unwissenheit‘, rezitierte die Studentin aus einer Vorlesung still vor sich hin.

Geistesabwesend betrachtete sie den wunderschönen Strauß mit 21 roten Rosen, die den ganzen Raum mit betörendem Duft erfüllten.

Nach einer Weile des Auspackens türmte sich auf dem Fußboden vor dem Tischchen ein riesiger Berg von zerknülltem Geschenkpapier, Schleifchen und Geschenkbandkringeln.

Eine neue Jeans, eine knallrote Lederjacke, mehrere Bücher, CDs und diverse Schminkutensilien, die Magdalena sich niemals von dem mageren Studentengeld, das ihre Eltern ihr gaben, hätte leisten können, stapelten sich vor ihr.

Magdalenas Augen strahlten jetzt doch ein wenig. Die beiden hatten sich wirklich Mühe gegeben! Unbeschwerte Freude empfand sie dennoch nicht. Sie fühlte eine schwere Last auf ihrer Brust, wollte sich dies aber vor ihrer Mutter nicht anmerken lassen.

Diese hingegen platzte bei dem Anblick schier vor Stolz, die richtige Geschenkeauswahl getroffen zu haben. Die restliche Familie bestehend aus Omas, Opas, Onkeln und Tanten müssten sich mit den hinteren Rängen der Geschenkehitliste zufriedengeben. ‚Ja, ich bin eine gute Mama, ich hab‘ meinen Job immer vorbildlich ausgeführt‘, lobte sich Evi in Gedanken. Sie konnte sich nur mit Mühe von den leuchtenden Augen ihrer Tochter losreißen, erinnerte sich aber zeitgleich an das Chaos von unfertigen Leckereien in der Küche und wandte sich wieder dem Herd zu. Es gab bis zur Ankunft der Verwandtschaft eine Menge zu tun! Wie die Hausherrin die Großeltern väterlichersowie mütterlicherseits kannte, kamen die nicht erst um 15.30 h, wie verabredet, sondern geraume Zeit früher.

„Magdalena, räum den Papiermüll auf, bitte gleich ins Altpapier! Der Kaffeetisch muss auch noch gedeckt werden“, seufzte sie von der Türschwelle mit schweißnasser Stirn. Unansehnliche rote Stressflecken bildeten sich im Gesicht. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie ganz in ihrem Element war.

„Ja, mach ich. Du Mama, vielen Dank noch mal für die schönen Sachen. Kann ich meine Klamotten aus dem Auto holen und mich noch eine wenig hinlegen, bis die Gäste kommen? Ich bin irgendwie total k o!“ Magdalena hoffte, dass sich Evi auf ihren Wunsch einlassen würde. Sie hatte keine Lust mehr auf dieses Theaterspiel. Viel lieber würde sie sich mit dem roten Buch und dem Brief beschäftigen, die sie am Morgen noch schnell in ihrer Handtasche verstaut hatte!

„Ja Kind, wenn es denn unbedingt sein muss? Ich hatte gehofft, du würdest mir ein bisschen zur Hand gehen, es ist ja schließlich dein Ehrentag!“ Magdalena biss sich auf die Zunge. Noch war nicht der richtige Zeitpunkt, erst wollte sie das Buch lesen.

„Mama bitte, studieren ist anstrengender, als du denkst!“

Magdalena verließ den Raum, bekam aber noch mit, wie ihre Mutter beleidigt seufzte, und ging zum Auto. Draußen an der frischen Luft atmete sie tief ein. Sie musste sich beeilen, in ihr Zimmer zu kommen, bevor Evi es sich noch anders überlegen konnte und ihre Mitarbeit einforderte.

Magdalena schloss leise die Tür und verriegelte sie. Selbst ihr Zimmer, ihr Refugium fühlte sich sonderbar an. Trotzdem glaubte sie sich hier oben sicher, sicherer als unten bei ihrer Mutter. Vorsichtig holte sie das Buch aus ihrer Tasche und kuschelte sich in die Decken auf ihrem Bett. Dann öffnete sie gespannt aber auch mit einem flauen Gefühl im Bauch das Buch. Auf der ersten Seite klebte ein Foto von ihr als Säugling. Ein Foto, dem das Alter deutlich anzusehen war. Es musste aufgrund der vielen Knicke, Risse an den Ecken und Schmutzflecken obendrauf lange in einer Tasche oder Ähnlichem deponiert worden sein.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Sie schaute sich das Foto noch einmal genauer an und stutzte. Magdalena hob den Kopf und blickte auf ihren Schreibtisch. Dort befand sich exakt das gleiche Bild in einem silbernen Rahmen – nur war es längst nicht so ramponiert, wie dieses Exemplar hier! Im Gegensatz zu den Unmengen von Abzügen, die es aus ihrer Kinderzeit gab, existierten ihres Wissens nach nur ganze drei Fotos, auf denen Magdalena kurz nach der Geburt abgelichtet war. Sie hatte in der Vergangenheit immer wieder versucht, den Grund dafür zu erfahren. Eine Ausrede nach der anderen hatte sie sich von den Verwandten anhören müssen, während die Eltern alle Fragen in diese Richtung gänzlich ignorierten, Antworten totschwiegen. Wie niedergeschlagen sie darüber seit Kindertagen war! Den Höhepunkt bildete einmal die abstruse Begründung, dass Mama und Papa im Glückstaumel ihrer Geburt und in vielen Momenten einfach nicht ans Fotografieren gedacht hätten! Jetzt, wo sie das Bild anschaute, war es, als würde sie diese Sätze noch einmal hören.

Sie erinnerte sich, wie sie als Teenager mehr und mehr das Gefühl hatte, ihre Eltern würden etwas vor ihr geheim halten. Später kapitulierte sie vor der Mauer unausgesprochener Worte und fragte nicht mehr nach.

Der Abzug des Fotos nahm fast vollständig das Blatt ein. Es hing mit Fotoecken etwas windschief auf der Buchseite. Merkwürdig. Sie trug noch das rosa Namensbändchen vom Krankenhaus, das sich auf ihrem Exemplar seltsamerweise nicht befand. Plötzlich stockte ihr der Atem. Auf dem Armbändchen stand nicht Magdalena, sondern Dorothee! ‚Darüber hat meine leibliche Mutter doch im Brief geschrieben! Genau!‘

Fassungslos fiel ihr Blick auf den Text unterhalb des Bildes und saugte sich daran fest:

MEINE GELIEBTE TOCHTER - EINEN TAG NACH DER GEBURT.

MORGEN KOMMT DIE DAME VON DER ADOPTIONSSTELLE UND WIRD MEINEN KLEINEN SONNENSCHEIN ABHOLEN.

ES ZERREISST MIR DAS HERZ, ABER ICH HABE KEINE ANDERE WAHL.

GRAUSAME, UNABÄNDERLICHE WAHRHEIT.

Magdalena wurde schwindelig. Jedes gelesene Wort schmerzte in ihren Augen, in ihrer Seele. Es tat so fürchterlich weh, dieses Rausgerissen Sein aus dem vertrauten Leben! Unten im Haus war jemand, zu dem sie Mama sagte, es aber nicht war, mit ihrem Vater war es dasselbe. Und doch waren es die Menschen, mit denen sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht, ihnen vertraut hatte!

Allmählich löste sich Magdalena aus der Schockstarre, die sich gestern nach den Ereignissen wie eine Rüstung um ihren Körper und ihr Denken geschlossen hatte. Bis jetzt hatte sie versucht, die Gefühle unter Verschluss zu halten, weil sie Angst davor hatte, was passieren würde, wenn sie sie zuließ. Langsam löste sich dieses Gelähmt Sein auf und machte es ihr unmöglich die Fassade eines glücklichen Geburtstagskindes aufrecht zu erhalten.

„Magdalena, komm bitte runter! Deine Großeltern möchten dir zu deinem Geburtstag gratulieren!“ Dumpf und wie aus weiter Ferne drangen die Worte ihrer Mutter zu ihr ins Zimmer.

Ihre Mama stand wahrscheinlich wippend auf der untersten Stufe der Treppe, die ins Obergeschoss zu ihrem Zimmer führte, mutmaßte Magdalena. Sie konnte einfach nicht da runtergehen! ‚Wenigstens noch ein paar Minuten, bis ich weiß, was ich tun soll, genehmige ich mir‘ überlegte Magdalena fieberhaft.

„Ja, ich komme gleich!“

Dann blickte sie erneut auf das Bild und das rote Buch. Sie konnte jetzt nicht mehr länger an sich halten. Sie weinte und schluchzte, bis sie das Gefühl hatte, ohnmächtig zu werden. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Ihr Kopf dröhnte. Die Worte einer toten, IHRER leiblichen Mutter hatten die Ordnung ihrer bisherigen Existenz grundlegend über Bord geworfen. Plötzlich musste Magdalena lächeln, als sie an den Brief dachte. Elvira hatte sie wirklich geliebt. Sie war nicht wegegeben worden, weil im Leben ihrer Mutter für ein Kind kein Platz war, nein! Sie wurden getrennt, weil ihnen das Schicksal nur eine kurze gemeinsame Zeit zugedacht hatte! Magdalena schüttelte den Kopf, das eine hatte ja mit dem anderen gar nicht zu tun, das rechtfertigte doch die jahrelange Heimlichtuerei der Familie von Vermes nicht!

„Magdalena! Deine Gäste warten auf dich! Das ist nicht in Ordnung! Komm jetzt runter, wir wollen die Torte anschneiden!“, dieses Mal waren es die Worte ihres Vaters, die sie aufhorchen ließen. Streng und energisch hatte er geklungen. Sie musste etwas unternehmen, irgendwas. Bevor sie sich der Gesellschaft da unten, die mittlerweile eingetroffen sein dürfte, widmen konnte.

„Ja Papa, ich bin gleich da.“

Magdalena stand vom Bett auf und griff nach ihrer Handtasche. ‚Ich muss mit jemandem sprechen, der so alt ist wie ich. Verdammt noch mal was soll ich tun?‘ Während Magdalena Selbstgespräche führte, fischte sie in ihrer Tasche nach dem Handy.

Als sie es in Händen hielt, versuchte sie wie ferngesteuert, die Nummer zu wählen. Ihre Hand zitterte dermaßen, dass sie ständig mehrere Tasten gleichzeitig berührte. Nach ein paar erfolglosen Versuchen hatte sie es geschafft. Freizeichen, einmal, zweimal, dreimal. Geh dran, bitte, bitte, flehte sie.

„Hallo?“

„Hey Victoria“, presste sie zwischen den Lippen hervor.

„Hey Magdalena, ich dachte, bei dir versammelt sich heute ein großes Aufgebot an Verwandten! Sind die Alten etwa so langweilig, dass du mit mir telefonieren musst, oder taugen die Geschenke nichts?“

„Äh Vicky, ich kann das nicht sagen, nicht jetzt. Komm bitte morgen um 08:00 Uhr zu mir? Geht das? Meine … äh … - Mutter ist dann in der Arbeit. Die Luft ist rein und ich erkläre dir alles.“

Obwohl sie sich um einen normalen Tonfall bemühte, kreischte Magdalena ins Telefon.

Anschließend konnte Victoria nur Schluchzen hören.

„Magda! Hallo, was ist los? Hast du was geraucht? Ich verstehe kein Wort. Was faselst du denn da?“

„Vicky, keine Fragen, nicht jetzt, bitte!“, stöhnte sie, beendete das Telefonat, und schaltete ihr Handy aus. Immer noch zitternd schob sie es langsam zurück auf den Schreibtisch.

Magdalena atmete tief durch. Sie wusste, dass ihr keine Zeit mehr blieb. Sie musste sich der Geburtstagsgesellschaft zeigen.

„Magdalena, jetzt hör auf! Sei nicht so albern! Du bist 21 Jahre und nicht sechs geworden! Mach die Tür auf und komm runter, damit wir dir endlich gratulieren können. Es hat uns ziemlich viel Anstrengung gekostet, deine Geburtstagstorte nicht vollends ohne dich aufzuessen.“ Das war die rauchige Stimme von Großmutter Marlies, ganz dicht an ihrer Zimmertür. „Oma“, flüsterte sie leise. Der Mensch, zu dem sie sich immer hingezogen gefühlt hatte.

Sie wollte ja aufstehen und runtergehen, aber in dem Moment, wo sie die Stimme ihrer Oma vernommen hatte, versagte ihr Körper.

„Sturm und Drang der Jugend, da helfen keine Pillen. Das kommt von allein und verschwindet auch so! Ich brauche unbedingt einen Whisky“, hörte sie ihre Oma noch lamentieren und die Treppe hinuntergehen.

‚Verdammt noch mal, reiß dich zusammen und geh darunter‘ befahl sie sich.

Magdalena stand langsam auf und drehte sich zum Fenster.

Was um Gottes willen sollte sie jetzt tun? Es fiel ihr schwer, Überlegungen anzustellen. War die Adoption der Grund dafür, dass sie sich in ihrem Leben so unglücklich und unverstanden fühlte? Sie starrte teilnahmslos aus dem Fenster. Das Wetter würde in ein paar Stunden umschlagen. Dunkle Wolken zogen drohend vorbei. Sie schloss die Augen. Die Anspannung wich langsam aus ihren Gliedern. Der Wind nahm zu.

Wie in stiller Meditation gefangen, wiegte sie ihren Körper leicht nach vorn und zurück.

Dann hielt sie inne.

‚Scheiße, ich geh da jetzt runter und schenk denen reinen Wein ein und fertig! Magdalena strich ihr Haar glatt und ging langsam aber festen Schrittes auf die Tür zu.

„Pimpi, komm jetzt endlich! Deine Geburtstagsgäste sind langsam ziemlich sauer auf dich. In einer Viertelstunde gibt es Abendessen, dein Leibgericht! Das ist die letzte Warnung, oder soll ich die – die Tür eintreten? Benimm dich mal wie eine Erwachsene! Ich dachte, die Pubertät hätten wir hinter uns!“

Magdalena hielt sich an der Türklinke fest.

Der Mann, der sie liebevoll mit ihrem Kosenamen ansprach, hämmerte noch einmal kräftig gegen die verschlossene Zimmertür. Sie spürte seinen Zorn durch die Tür wie einen eisigen Windhauch. Dann hörte sie ihn ärgerlich die Treppe hinunterpoltern.

Wie sollte sie jetzt mit ihm umgehen? Es war ja nicht ihr richtiger Vater, also konnte ihr seine Kritik auch wirklich egal sein!

Nein, ganz egal war es Magdalena trotz alledem nicht. Sie mochte diesen Mann sehr gern, den, den sie bis vor einem Tag noch als ihren leiblichen Vater angesehen hatte. Derjenige, dessen Autorität sie sich bisher immer fügte und, die sie anerkannte. Bis heute galt er als ihr größter Fan und Held, der universelle Problemlöser, die starke Schulter, die alles verzeihen und reparieren konnte. Und jetzt? Was blieb davon übrig, wenn in seinen Adern nicht das gleiche Blut floss?

Zitternd öffnete sie die Tür und trat hinaus in den Flur bis zur obersten Treppenstufe.

Im Wohnzimmer schien die Stimmung umzuschlagen. Lautes Stimmengewirr drang dumpf an ihre Ohren. Mit einem Mal spürte sie eine unbändige Kraft in sich aufsteigen, die sie förmlich zur Geburtstagsgesellschaft hinzudrängen schien. Plötzlich ordnete ihr Verstand in Sekundenschnelle ihre Gedanken und sie merkte, wie unbeschreiblich wütend sie war. Wie ein wildes Tier, dem man die Fesseln entfernt hatte, bäumte es sich in ihr auf und übernahm die Kontrolle. Sie war nicht mehr sie selbst! Das Tier suchte seine Beute, und die saß im Wohnzimmer.

Denen da unten würde sie jetzt mal Tatsachen einschenken. Die können was erleben! Wenn SIE das Leben auf dem linken Fuß erwischte, dann den Rest der „Familie“ bitte auch!

Sie jagte hinab ins Wohnzimmer zu den Gästen. Ein- oder zweimal holte sie tief Luft, genau realisierte Magdalena das in diesem Moment nicht. Das Gespräch im Wohnzimmer kam zum Erliegen, die Gäste schauten sie vorwurfsvoll, fragend, verwirrt, abwartend und stumm an. Dann begann sie mit zuckersüßer Stimme, obwohl ihr Körper bebte:

„Ich dachte, ich sollte zum Abendessen kommen! Was gibt‘s denn?“

Daraufhin fingen alle gleichzeitig an zu reden. Aber alle Glückwünsche und Begrüßungen ignorierte sie. Jedem Anflug von versuchter körperlicher Annäherung entzog sie sich oder sie verschränkte die Arme vor der Brust. Teilnahmslos nahm sie Platz und schaute zuerst ihre Mutter, dann ihren Vater an.

„Gibt es jetzt was zum Essen, oder nicht?“ Erneut herrschte Stille. Magdalena entschuldigte sich nicht, lächelte nicht, sie saß nur steif da.

Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel sahen sich schockiert an. Das war nicht ihre Magdalena, nie und nimmer! Ihre Großmutter Marlies fand als Erste die Sprache wieder.

„Die Pubertät ist ohne Frage eine schwierige Zeit! Hier dauert sie extrem lang an! Klaus, mein Junge, bring bitte noch einen Whisky!“

Die Aufforderung galt Magdalenas Vater. Genau genommen seit heute Adoptivvater in den Augen der zutiefst verletzten und aggressiven Studentin. Höchst irritiert und schockiert vom Verhalten seiner Tochter füllte er wortlos das Glas seiner Mutter, während seine Frau das Lieblingsessen der Einundzwanzigjährigen, Königsberger Klopse, Reis und grünen Salat mit Dillsoße auftischte. Betretene peinliche Stille verbreitete sich über der Tafel.

„Bitte greift zu!“

Mehr schaffte auch Magdalenas Mutter nicht zu sagen. Schweigend befüllte sie einen Teller nach dem anderen. Dampfschwaden kräuselten sich über den Portionen wie kleine Hurrikane. Die furchtbare Anspannung erdrückte jedes Fünkchen Ungezwungenheit in den bleich gewordenen Gesichtern der Verwandtschaft, um die sich die Gastgeberin beim Hinreichen des Salates mit einem aufgesetzten Lächeln krampfhaft bemühte. Alle Gäste blickten konzentriert auf das Essen, als ob dort die Erklärung für dieses nahezu unerträgliche Beisammensein zu finden wäre. Nur das des Geburtstagskindes blieb unberührt. Sie lenkte ihren Blick stattdessen von einem Familienmitglied zum anderen.

„Also jetzt iss mal was, damit sich deine Laune wieder bessert“, forderte ihre Mutter sie auf.

„Seitdem du dich in dein Zimmer verkrochen hast, bist du ja völlig durch den Wind. Sag deinem Verehrer, dem Geburtstagskind macht man keine schlechte Laune. Das ist in dieser Familie unerwünscht!“

Ihre Mutter wendete sich wieder mit Genugtuung über ihre schnell angefertigte Problemanalyse dem eigenen gefüllten Teller zu.

„Wer himmelt unsere Tochter an? Wer ist der Kerl, der miese Briefe schickt, die uns den ganzen Tag verderben? Und ich hab ernsthaft angenommen, es geht um eine schlechte Note an der Uni!“

Bei Klaus sprangen alle Alarmglocken an. Was sollte sein Baby mit einem Verehrer? Er schaute fragend und vorwurfsvoll zu seiner Magdalena. Noch nie hatte es Geheimnisse zwischen ihnen gegeben.

Diese sah zuerst ihn, dann die anderen mit hochgezogener Augenbraue an.

„Also das ist ja jetzt der Gipfel! Ihr, ihr seid sauer auf mich? Was Besseres fällt euch nicht ein? Was soll diese dumme Verehrer Theorie? Schlechte Note an der Uni, nein stimmt auch nicht!“

Sie haut mit der rechten Hand so heftig auf den Tisch, dass Omas Whisky bedrohlich ins Schwingen geriet und beinahe aus dem Glas zu schwappen drohte. Nach einem tiefen Luftzug setzte sie etwas ruhiger und leiser fort.

„ICH BIN durch den Wind! Na, das ist ja kein Wunder würde ich behaupten! Gestern hatte ich Besuch von einem Notar, Dr. Wüstinghausen. Wisst ihr, was ich unter anderem von ihm bekommen habe? Einen Brief mit der Aufschrift „an mein geliebtes unbekanntes Kind.“ Wann wolltet ihr mir eigentlich sagen, dass ich adoptiert bin? Wann? Hm?“

Heiße Tränen der Wut und Enttäuschung liefen ihr die Wangen hinunter. Sie brannten auf der Haut. Magdalena schaute in die Runde, warf jedem Gast einen traurigen und verachtenden Blick zu.