Die Nacht zuvor - Wendy Walker - E-Book + Hörbuch
SONDERANGEBOT

Die Nacht zuvor E-Book

Wendy Walker

3,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ist sie Opfer - oder Täterin? Rosie und Laura sind so verschieden, wie zwei Schwestern nur sein können. Doch sie haben sich ihr Leben lang aufeinander verlassen können. Als Laura nach einem Blind Date spurlos verschwindet, setzt Rosie alles daran, sie zu finden. Irgendetwas muss bei diesem Date furchtbar schiefgegangen sein. Ist Laura in Gefahr – oder auf der Flucht, weil sie selbst etwas Schreckliches getan hat? Denn Laura stand schon einmal unter Verdacht, einen Mord begangen zu haben. Damals fand man keine Beweise gegen sie. Aber die Zweifel blieben. Auch bei Rosie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 385

Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Rosie und Laura sind so verschieden, wie zwei Schwestern nur sein können. Doch sie haben sich ihr Leben lang aufeinander verlassen können. Als Laura nach einem Blind Date spurlos verschwindet, setzt Rosie alles daran, sie zu finden. Irgendetwas muss bei diesem Date furchtbar schiefgegangen sein. Ist Laura in Gefahr – oder auf der Flucht, weil sie selbst etwas Schreckliches getan hat? Denn Laura stand schon einmal unter Verdacht, einen Mord begangen zu haben. Damals fand man keine Beweise gegen sie. Aber die Zweifel blieben. Auch bei Rosie.

 

Von Wendy Walker ist bei dtv außerdem erschienen:

Herzschlag der Angst

 

 

 

 

In liebevoller Erinnerung anEstel Herbowy Kempf (1915–2017)

1

Laura Lochner. Erste Sitzung.Vor vier Monaten. New York City.

Laura: Ich weiß nicht, ob das hier eine gute Idee ist.

Dr. Brody: Das entscheiden Sie, Laura.

Laura: Wenn Sie nun versuchen, mich zu heilen, und ich danach noch kaputter bin?

Dr. Brody: Und wenn nicht?

Laura: Ich habe Angst, zurückzukehren. In die Vergangenheit. Zu dem Abend im Wald. Ein Stück Erinnerung fehlt noch immer.

Dr. Brody: Es liegt bei Ihnen. Nur Sie können das entscheiden.

Laura: Ich hatte sie in der Hand. Die Waffe, mit der er getötet wurde. Aber die Nacht damals hat mich nicht verändert. Sie hat mir nur gezeigt, was ich schon immer war.

Dr. Brody: Dann fangen wir damit an. Erzählen Sie mir von dem Mädchen, das Sie schon immer waren.

2

Laura. Heute. Donnerstag, 19:00 Uhr.Branston, Connecticut.

Lippenstift, kirschrot.

Ich wähle die Farbe, weil sie fröhlich ist und leuchtet. Optimismus in einem kleinen Röhrchen. Genau das brauche ich heute Abend.

Das Gästebad im Haus meiner Schwester ist unglaublich klein, mit Deckenschräge und einem winzigen, ovalen Spiegel. Der Lippenstift balanciert am Rand des Waschbeckens.

Ich trage ihn als Erstes auf, damit ich es mir nicht mehr anders überlegen kann, rolle den Optimismus quer über meine Lippen. Dann der Concealer. Zwei Streifen unter meine braunen Augen, schon verschwinden die dunklen Schatten wochenlanger Schlaflosigkeit. Roséfarbenes Rouge verleiht meinen Wangen Farbe. Sie haben viel zu lange keine Sonne gesehen.

Schlaflose schlafen tagsüber.

Meine Schwester Rosie hat mir ein hübsches Kleid geliehen. Schwarz mit winzigen Blümchen.

Trag doch zur Abwechslung mal ein Kleid. Dann fühlst du dich hübsch.

Rosie ist gerade dreißig geworden. Sie hat einen Ehemann und ein Kleinkind – Joe und Mason. Sie wohnen in einem Haus in den Hügeln von Branston, zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Und eineinhalb Kilometer von dem Ort, an dem alles angefangen hat. Der Straße, in der wir aufgewachsen sind. Deer Hill Lane.

Rosie sagt, sie hätte ohnehin keine Gelegenheit, das Kleid zu tragen. Der Rock sei im Weg, wenn sie Mason nachjage, und abends reiche es höchstens für ein Bier im Einkaufszentrum, für alles andere sei sie zu müde. Es klingt, als vermisste sie die Zeit, in der sie nichts Besseres zu tun hatte, als sich zu schminken und schön anzuziehen. Dabei braucht sie weder das Kleid noch die Gelegenheit, es zu tragen, denn ihre Tage sind voller ungestümer Umarmungen und lautem Gelächter und klebriger Küsse.

Ihrem Mann Joe ist es ohnehin egal. Er vergöttert sie. Auch nach dreizehn Jahren Ehe. Auch nachdem sie in derselben Straße aufgewachsen sind. Auch mit Mason in ihrem Bett und einem alten Haus, an dem ständig etwas kaputtgeht, und obwohl Rosie nie ein Kleid trägt.

Er vergöttert sie, weil sie früher ständig hübsche Kleider für ihn getragen hat und er noch immer diesen Menschen in ihr sieht.

So ein Mensch muss ich heute Abend sein.

Ich wühle in einem Haufen Handtücher und Kleidungsstücken nach meinem Handy. Dann rufe ich in der App das Profil auf und wecke die Hoffnung. Jonathan Fields. Sein Name klingt wie ein Lied.

Jonathan Fields. Ich habe ihn auf einer Dating-Website namens findlove.com entdeckt. Dieser Name sagt alles. Jonathan Fields ist vierzig. Seine Frau hat ihn vor einem Jahr verlassen, weil sie nicht schwanger werden konnte. Das Haus hat sie behalten. Er fährt einen schwarzen BMW.

Das hat er mir erzählt.

Ich habe mit Jonathan Fields telefoniert. Er sagte, er möge weder E-Mails noch SMS, die seien zu unpersönlich. Eigentlich hasse er Online-Dating, aber ein Freund habe seine Verlobte über findlove.com gefunden. Es sei kein Portal für schnelle Affären. Nicht eben mal schnell über den Touchscreen wischen. Man brauche eine Stunde, um sein Profil zu erstellen. Die Fotos würden geprüft und genehmigt. Jonathan Fields sagte, es sei, als würde die eigene Großmutter ein Blind Date organisieren, worüber ich lachen musste.

Jonathan Fields sagte, mein Lachen gefalle ihm.

Mir gefiel seine Stimme, und nun, da ich mich an sie erinnere, wird mir ganz warm. Ich merke, wie sich meine Mundwinkel nach oben kräuseln. Ein Lächeln.

Ein verdammtes Lächeln.

Ich habe viel von meinem Job erzählt, was es leichter machte, wenig über mich zu verraten.

Ich habe einen eindrucksvollen Lebenslauf vorzuweisen, nachdem ich mir mein Leben lang ein Bein ausgerissen habe. Princeton … MBA an der Columbia … Job an der Wall Street!

»Wall Street« ist ein Begriff, der immer zieht, so antiquiert er mittlerweile sein mag. Ich arbeite in Midtown, weitab der Wall Street. Und die Firma, bei der ich bin, ist nicht annähernd so sexy wie Goldman Sachs. Ich sitze am Schreibtisch und lese Zeug und schreibe Zeug und hoffe bei Gott, dass es richtig ist, was ich schreibe, weil die Leute in unserer Firma auf meinen Rat hin Geschäfte machen. Den Rat einer 28-Jährigen, die einen Seelenklempner braucht, der ihr sagt, wie sie sich benehmen soll.

Jonathan Fields arbeitet bei einem Hedgefonds in Downtown Manhattan, daher versteht er meine Arbeit.

Das hat er jedenfalls gesagt.

Ich habe nichts über meine Kindheit hier erzählt, in der ich mit den Nachbarskindern durch den Wald hinter unserem Haus gestreunt bin. Ich und Rosie – und Joe, dessen Familie in unserer Straße wohnte, bis er auf die Highschool kam und sie weiter in die Stadt zogen.

Ich habe ihm auch nicht erzählt, weshalb ich jahrelang nicht mehr hier gewesen bin.

Ich nutze keine sozialen Medien, niemals, also kann er mich nicht überprüfen. Ich habe ihm auch nicht den Nachnamen meines Vaters verraten. Lochner. Über Google stößt man noch immer auf Laura Lochner und das, was sie vor Jahren getan oder nicht getan hat – die können sich nie so recht entscheiden. Seit ich von hier weggegangen bin, benutze ich meinen mittleren Namen, den Nachnamen meiner Mutter. Heart. Laura Heart. Ist das nicht ironisch? Ich habe mich nach dem einen Ding in meinem Inneren benannt, das sich kaputt anfühlt.

Verschweigen ist nicht lügen.

Rosie hat Joes Nachnamen Ferro angenommen, sodass es in ganz Connecticut keine Lochners mehr aus unserem Klan gibt.

Ich sagte ihm, ich käme im Minivan meiner Schwester. Er sei blau. Und peinlich. Ich müsse mir ein neues Auto kaufen, aber ich hätte immer so schrecklich viel zu tun.

Es klopft. Ich mache auf, Joe steht verlegen vor mir. Er trägt noch den Anzug aus der Kanzlei, hat aber die Krawatte gelockert und den ersten Hemdknopf geöffnet. Joe ist eins siebenundachtzig und kommt kaum durch den Türrahmen, ohne sich zu bücken. Sein Bauch wölbt sich über die Hose, die zu eng geworden ist. Aber er sieht trotzdem attraktiv aus.

»Ich soll dir sagen, du sollst das Kleid anziehen«, sagt er, als würde es ihm die Eier abklemmen, über Frauenkleidung zu sprechen.

Von unten erklingt die Stimme meiner Schwester. »Zieh das verdammte Kleid an, das ich dir gegeben habe!«

Joe lächelt und reicht mir ein Glas Bourbon. »Deine Schwester mit ihrem Mundwerk. Unser Kind ist jetzt schon gearscht.«

Ich merke, wie mein Lächeln breiter wird, und würde am liebsten weinen. Joe liebt meine Schwester. Sie liebt ihn. Beide lieben Mason. Liebe, Liebe, Liebe. Ich bin von ihr umgeben und bereue, dass ich so lange nicht hier war. Doch ich weiß auch, weshalb ich weggegangen bin. Die Liebe ist zwar hier, aber ich bekomme sie nicht zu fassen.

Ich trinke einen Schluck Bourbon.

»Na ja, das war zu erwarten, oder? Du hast eine Lochner geheiratet.«

Joe verdreht die Augen. Schüttelt den Kopf. »Ich weiß. Kann ich noch aussteigen?«

»Schwerlich.«

Joe seufzt. Er wirft einen Blick auf das Kleid, das an der Stange des Duschvorhangs hängt. »Na schön. Zieh einfach das Kleid an. Und dieser Typ – falls sich herausstellt, dass er ein mieser Kerl ist, trete ich ihm so gewaltig in den Arsch …«

Ich nicke. »Kapiert. Kleid. Arschtritt.«

Als er weiterspricht, verblasst mein Lächeln. »Bist du sicher, dass du schon so weit bist?«

Ich bin wegen eines Mannes heimgekehrt, wegen einer Trennung, das ist alles, was sie wissen. Mir fehlte der Mut, ihnen mehr zu erzählen. Sie sind glücklich, dass ich wieder da bin. Überglücklich. Und ich könnte es nicht ertragen, ihnen dieses Gefühl zu nehmen, indem ich ein weiteres dunkles Kapitel meines Lebens enthülle. Sie haben keine Antworten von mir verlangt, was mir verrät, dass sie mit dem Schlimmsten rechnen – und es eigentlich gar nicht wissen wollen. Vielleicht ist der Glaube daran, dass ich mich geändert habe, für sie genauso wichtig wie für mich. Vielleicht können wir von jetzt an eine normale Familie sein, weil ich nicht mehr ich bin.

Trotzdem muss es ein bisschen übertrieben wirken, dass ich in meinem begehrten Job eine Auszeit nehme, dass eine erwachsene Frau wegen einer Trennung bei der Familie ihrer Schwester einzieht. Der Trennung von einem Mann, dem sie nie begegnet sind, von dem sie nicht einmal gehört hatten. Wie ernst kann das schon gewesen sein? Rosie verströmt diese Frage permanent, das merke ich genau.

Mir fällt wieder ein, was Joe gerade gesagt hat. Bin ich schon so weit? Ich schaue ihn an und zucke mit den Schultern. »Wahrscheinlich nicht.«

»Super«, sagt er sarkastisch.

Fast das gleiche Gespräch hatten wir schon früher am Tag, in der Küche. Joe lief im Kreis, wischte die Arbeitsplatte ab, horchte auf die Geräusche der Spülmaschine und schien zufrieden, dass er alles wieder in Ordnung gebracht hatte, nachdem er von der Arbeit gekommen war. (Er ist ordentlich. Rosie nicht.) Er ist wie ein glücklicher Hamster in seinem Laufrad.

Amüsier dich einfach. Denk nicht zu viel darüber nach. Ich würde barfuß über Scherben laufen, um einen Abend für mich zu haben!

Rosie hatte seinen Arm geboxt, und er hatte theatralisch geseufzt, als sehnte er sich nach seinem Leben als Single zurück. Das taten beide gern. Rosie morgens, wenn sie mir in der Küche Kaffee macht und sich über den langen Tag beklagt, der vor ihr liegt. Joe abends, wenn wir mit unserem Bourbon allein sind. Dann schiebt er seine zotteligen schwarzen Haare nach hinten, damit ich den zurückweichenden Haaransatz sehe. Siehst du das? Ich werde vor lauter Langeweile kahl!

Doch alles, was ich sehe, ist die Wahrheit. Ich kann sie sehen, wenn sie Mason in die Arme nehmen oder sich heimlich küssen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Alles andere ist nur Gerede.

So reden glückliche Menschen, wenn sie wollen, dass wir anderen uns besser fühlen.

Unser Freund Gabe war vorhin auch da und hatte gute Ratschläge beigesteuert. Als wir Kinder waren, war Gabe der Vierte im Bunde unserer Räuberbande gewesen. Er hatte mit seinen Eltern und seinem älteren Bruder gleich nebenan gewohnt, bevor der auf die Militärakademie und danach zur Armee gegangen war. Gabe wohnt jetzt in dem Haus, in dem er aufgewachsen ist. Er hat es seiner Mutter abgekauft, nachdem sein Vater gestorben und sie nach Florida gezogen war.

Seltsam, dass die drei noch hier sind. Genau dort, wo ich sie vor zehn Jahren zurückgelassen habe.

Gabe hat letztes Jahr eine Frau geheiratet, die er bei der Arbeit kennengelernt hat. Melissa. Sie war seine Klientin, aber darüber spricht er nie, weil es peinlich und unpassend ist – seine Worte. Gabe beschäftigt sich mit IT-Forensik und arbeitet gelegentlich für misstrauische Ehepartner oder Ehepartnerinnen wie Melissa. Er hatte die Beweise gefunden, die zu ihrer Scheidung führten, und jetzt ist sie mit ihm verheiratet.

Er ist glücklich, aber nicht so glücklich, dass er dumme Witze darüber reißen würde. Ich nehme an, es braucht mehr als ein Baby, um ihn so weit zu bekommen. Melissa war kaputt, und Gabe repariert gern – vor allem Menschen. Doch für Rosie und Joe ist Melissa eine Außenseiterin, und für mich, die ich gerade erst nach Hause gekommen bin, auch. Sie ist für ihren ersten Ehemann aus Vermont hierhergezogen und für Gabe hiergeblieben. Es ist schwierig, ihr unvoreingenommen zu begegnen.

Dass wir sie eher tolerieren, statt sie in unserer Runde willkommen zu heißen, macht die Sache nicht besser, auch wenn wir uns Mühe geben, das zu verbergen. Sie ist groß und dürr, weshalb sich Rosie mit ihren eins zweiundsechzig und achtundfünfzig Kilo klein und dick fühlt. Melissa mag es nicht, dass Joe ständig flucht, und zuckt jedes Mal zusammen, wenn er das F-Wort benutzt. Weshalb er es natürlich besonders oft tut. Letzte Woche beim Grillen hat er es viermal in einem einzigen Satz untergebracht. Und ich bin eine alleinstehende Frau, die Melissas jetzigen Mann schon ein Leben lang kennt. Sie ist zu einfach gestrickt, um unsere Freundschaft zu verstehen.

Darum sagt Joe jedes Mal, wenn sie geht und möchte, dass Gabe mitkommt, Scheiß drauf. Mit der Räuberbande aus der Deer Hill Lane ist nicht zu spaßen.

Heute blieb Gabe, nachdem Melissa gegangen war. Er zwinkerte mir übertrieben zu und sagte zu meiner Ermutigung: LaurawirddenTypenglattzumFrühstückverspeisen. Sie war immer wild und furchtlos.

Ich hatte versucht zu lächeln. In Wahrheit habe ich einen tollen Job aufgegeben, weil mir ein Mann das Herz gebrochen hat. Ich bin wohl doch nicht so wild und furchtlos. Ich bin keine Lara Croft oder Jessica Jones, die sich von nichts und niemandem was gefallen lassen. Männer liegen mir zu Füßen –aber ich habe keine Zeit für sie, weil ich die Welt retten muss.

Das Gespräch brach ab, bevor wir zum interessanten Teil kamen. Zu den Dingen, die das wilde und furchtlose Mädchen früher getan hatte. Genau hier, in dieser Stadt.

Mason ruft nach Joe. Seine Stimme lässt mein Herz schmelzen. Vermutlich hat Rosie ihn dazu animiert. Ich kann es förmlich hören – Mason, ruf nach Daddy! Sie genießt nämlich gerade ein Glas Wein.

Joe verdreht die Augen.

»Soll ich den Bourbon dalassen?«

»Wer von uns braucht ihn mehr?«, entgegne ich.

»Gutes Argument.«

Jo nimmt den Bourbon und lässt mich mit Kleid und Make-up allein.

Und dem Spiegel.

Ich hatte Jonathan Fields nicht sofort gefunden. Ich war noch neu bei findlove.com und machte alles falsch. Mein erster Fehler war, mich ehrlich zu beschreiben. Ich sagte, ich sei unabhängig, aber kompromissbereit. Mir sei Tequila lieber als Chardonnay, Tauchen lieber als Sonnenbaden, Turnschuhe lieber als High Heels. Ich schrieb, ich wisse nicht, ob ich Kinder wolle. Grauenhaft.

Und dann der schlimmste, kolossalste Fehler von allen – die Fotos. Sie waren aktuell und ungefiltert. Ich bei einer Wanderung mit einer alten Freundin. Ich, wie ich mit Mason im Vorgarten spiele. Ich in der Küche, nur im T-Shirt, das mausbraune Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Nicht mal mein jämmerlicher Hauch von Brüsten war zu sehen.

Ich fand sie attraktiv – die Fotos, meine ich (was Brüste angeht, bin ich keine Expertin). Das ganze Profil, das war ich. Mein altes Ich.

Als wir noch Kinder waren und wie die Wilden durch den Wald rannten, als die romantische Liebe noch eine Million Jahre entfernt war, pflegte unsere Mutter in der Küche Hof zu halten. Eines Tages kamen Rosie und ich unbemerkt herein. Ich weiß nicht mehr, was wir aus dem Haus holen wollten, jedenfalls blieben wir in der Küchentür stehen und hörten, wie sie sich mit Mrs Wallace, Gabes Mutter, über mich unterhielt. Ich war damals sechs und Rosie acht. Sie tranken Kaffee.

Ich weiß nicht … Sie wurde schon so geboren. Mit Fäusten statt Händen. Es ist schwer, ein solches Mädchen zu lieben.

Diesen Ausdruck hatte ich nie vergessen. Fäuste statt Händen. Oder den Schluss, den sie daraus gezogen hatte. Rosie hatte mich nach draußen gezerrt, wo wir frei und unbeschwert waren. Sie hatte gewitzelt, unsere Mutter hätte sowieso immer unrecht. Sie wollte mich vor Worten beschützen, die eigentlich verletzend waren, doch ich war einfach nur stolz gewesen, dass meine Mutter mich überhaupt wahrgenommen hatte. Ich hatte immer geglaubt, ich sei unsichtbar für sie.

Wir sprachen nie wieder darüber – dass es schwer war, mich zu lieben. Rosie schnappte sich Joe und hielt ihn fest wie den goldenen Ring auf dem Karussell. Und ich lehnte alles ab, was nur im Entferntesten feminin wirkte, stieß es mit den Fäusten, die ich statt Händen hatte, zurück. Die Farbe Rosa. Lächeln. Kleider.

Im Rennen um die Liebe hatte Rosie laufen gelernt, während ich noch immer krabbelte. Sie versucht bis heute, mir das Laufen beizubringen. Ich sehe mich in dem winzigen, ovalen Spiegel strafend an. Meine braunen Augen und das mausfarbene Haar.

Nein, nein, nein.

Auf gar keinen Fall. Kein Blick zurück. Lippenstift, kirschrot …

Die alte Laura fand jeden Morgen bei findlove.com ein leeres Postfach vor. Kein zwinkerndes Smiley, kein »Gefällt mir«, keine Nachricht. Und obwohl Rosie ihre Sorge hinter einem Lächeln versteckte, half sie mir, mein Profil zu überarbeiten, und das neue verhalf mir zu meinem Date mit Jonathan Fields.

Ich ziehe das Kleid an, wickele es um meinen Körper und binde es in der Taille. Wir hatten schon immer dieselbe Konfektionsgröße, obwohl Rosie Brüste und Kurven und hohe Wangenknochen hat und goldene Strähnen ihr Gesicht aufhellen. Manchmal denke ich, dass ich all diese Dinge schon als kleines Mädchen weggezwungen habe. Doch ich gestatte mir, in den Spiegel zu schauen, und entdecke, was ich erwartet habe. Mein Spiegelbild ist hübsch. Ich bin hübsch.

Ich ziehe das eine Paar High Heels an, das nicht im Keller verstaut ist. Schwarz. Ich gehe aufs Ganze.

Die dunklen Schatten unter den Augen abgedeckt. Die Lippen strahlend rot. Rosige Wangen. Hübsches Kleid. Ich bin feminin und möchte Spaß haben. Ich bin klug, aber gehorsam. Bereit, wie ein Möbelstück ins Leben eines Mannes einzuziehen. Ich sehe in Jeans ebenso gut aus wie in einem schwarzen Cocktailkleid. Das ist es, was Männer angeblich wollen. Das ist es, was Frauen von sich behaupten.

Es kommt mir unaufrichtig vor, aber das spielt keine Rolle. Nicht heute Abend.

Rosie hat mich gecoacht – wie man sexy ist, ohne ordinär zu wirken. Klug, aber nicht einschüchternd.

Es ist ein Spiel, Laura. Tu, was nötig ist, um das erste Date zu bekommen. Danach kannst du du selbst sein. Die Leute wissen nicht, was sie wollen, bevor es ihnen ins Gesicht springt.

Ja. Das stimmt.

Joe war pragmatischer.

Männer lesen die Profile gar nicht. Die schauen sich die Fotos an und messen ihren Ständer.

Manchmal kommt es mir vor, als würde ich den Verstand verlieren, wenn ich das alles durchschauen will. Der Seelenklempner hat gesagt, ich würde es hier verstehen, zu Hause. Was mit mir und den Männern ist. Mit mir und der Liebe. Weshalb ich nicht fähig bin, sie zu finden, und weshalb ich sie vertreibe, wenn sie mich findet. Ich, die Fäuste statt Händen hat. Das Mädchen, das niemand lieben kann. Hier bin ich also.

Unsere Mutter war schön und tat alles, was man von ihr verlangte. Sie hätte findlove.com total abgeräumt. Und doch verließ unser Vater sie, als ich zwölf war. Er verließ sie und uns für eine Frau, die älter als unsere Mutter war. Eine Frau, die keine Kleider trug. Er verließ uns und zog mit ihr nach Boston. Heute lebt unsere Mutter in Kalifornien und versucht dort noch immer, über das erste Date hinauszukommen.

Unser Vater hieß Richard. Er hasste es aus naheliegenden Gründen, wenn man ihn Dick nannte.

Ich habe Dick seit sechzehn Jahren nicht gesehen.

Ich bin es leid, nicht zu wissen, was mit mir und der Liebe ist.

Heute Abend aber werde ich keine Fragen stellen. Ich werde nicht grübeln, weshalb Jonathan Fields mein Profil angeklickt hat – ob er bei meinen neuen Fotos einen Ständer bekommen oder mein falsches Profil gelesen und sich gut dabei gefühlt hat. Ich bin das alles leid. Ich will, dass es vorbei ist. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich will glücklich sein wie Rosie und Joe. So glücklich, dass ich dumme Witze darüber reiße.

Ich hole tief Luft und nehme den kirschroten Lippenstift von der Ablage. Schalte das Licht aus. Gehe zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. Joe und Rosie sind in der Küche und kochen mit zu viel Knoblauch. Gabe ist zu seiner Frau nach Hause gegangen, zweifellos unfreiwillig. Dennoch beneide ich ihn, weil jemand auf ihn wartet. Er ist innerlich zerrissen, aber auch glücklich. Nichts ist perfekt. Ich würde mich damit zufrieden geben.

»Oh!«, keucht Rosie. »Du hast das Kleid angezogen!« Sie tritt vom Herd zurück und legt die rechte Hand aufs Herz, als wollte sie den Fahneneid leisten. Sie ist sich nicht sicher, ob ihr der Gedanke gefällt, dass ich ein Date habe. Seit sie mich in New York abgeholt hat, balancieren wir auf einem Hochseil aus Hoffnung und Sorge. Aber die Tatsache, dass ich ihr Kleid trage, scheint sie zu beruhigen. Wenn ich so hübsch aussehe, wird es vielleicht ein ganz normales Date.

»Du siehst sehr gut aus.« Joe nickt wie ein Lehrer, der eine Klassenarbeit zurückgibt. Ein Lehrer, der nicht pervers ist. Eine Klassenarbeit mit einer guten Note.

»Danke«, sage ich mit dem Lächeln, das oben verloren gegangen war.

Ich spüre nackte Arme an meinen nackten Beinen, ein kleines Lebewesen, nur mit einer Windel bekleidet und von unbändiger Freude erfüllt, schaut zu mir hoch. »Lala«, sagt Mason. Er schließt die Augen, als wollte er genießen, dass er mich kennt, meinen Geruch, meinen Namen (so halbwegs), und dass ich mich jetzt zu ihm herunterbeugen und ihn hochheben und ihm einen Riesenschmatzer geben werde.

Ich frage mich, ob ich mich als Kind je so gefühlt habe. Vorstellen kann ich es mir nicht.

Rosie gibt mir ihre Autoschlüssel. »Aber du kommst heute Abend zurück, oder? Sonst kann ich dir ein Uber rufen …«

Ich nehme die Schlüssel. Ich werde nicht lange mit diesem Mann wegbleiben. Nur lange genug, um ihn zu ködern. Rosie hat mir erzählt, wie das geht, und ich werde es endlich richtig machen.

Ich nehme die Schlüssel, um ganz sicherzugehen. Will man abstinent bleiben, ist der Minivan der Schwester noch wirksamer als unrasierte Beine. Ich werde heute Abend auf jeden Fall nach Hause kommen.

»Denk an die Handtasche!«, sagt Rosie. Sie steht auf der Arbeitsplatte, schwarz, passend zum Kleid. »Ich habe sie für dich ausgeräumt.«

Ich nehme die Handtasche und stecke den Lippenstift, mein Portemonnaie, das Handy und ein paar Dinge, die ich sonst immer dabeihabe, hinein.

Ich gehe zur Seitentür, die zur Einfahrt führt.

»Du kommst doch nach Hause?«, fragt Rosie noch einmal.

»Keine Sorge.«

Ich lächle ihnen ein letztes Mal zu. Sie schauen mich an, quer durch einen Raum, in dem es still geworden ist. Hoffnung blitzt in Rosies Augen auf – und tötet die Hoffnung in mir. Denn gleich darauf zeigt sich abgrundtiefe Angst in ihrem Blick, die Angst, die immer da ist, wenn sie mich ansieht.

Ich sage nichts, schlucke die Worte hinunter.

Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, denn ich werde heute Abend nicht ich selbst sein.

Der Lippenstift und das Kleid haben sie nicht überzeugt. Aber sie wird schon sehen. Ich habe mein altes Ich auf dem Dachboden gelassen. Diesmal habe ich alles richtig gemacht. Und ich habe Jonathan Fields gewählt. Einen Mann mit einer Erfolgsgeschichte in Sachen Liebe und Hingabe.

Keine Sorge, Rosie. Morgen früh wirst du schon sehen.

Heute Abend mache ich alles richtig.

Und wenn es mich umbringt.

3

Rosie Ferro. Heute. Freitag, 05:00 Uhr.Branston, CT.

Etwas stimmt nicht.

Rosie spürte es, sowie sie im dämmrigen Zimmer die Augen öffnete. Ein zwei Jahre alter Körper hatte sich neben ihr eingerollt. Mason suchte nachts stets die Wärme seiner Eltern. Joe war weg, seine Decke zurückgeschlagen, vermutlich hatte er sich in einem Anfall von Frust aufs Sofa unten im Familienzimmer begeben. Das Bett war nicht mehr groß genug für drei, und keiner von ihnen besaß die Energie, Mason den nächtlichen Umzug abzugewöhnen.

Das Nachtlicht reichte aus, um sein süßes, unschuldiges Gesicht zu erkennen. Weiß wie Schnee mit dem dunklen Haarschopf, genau wie bei seinem Vater. Ein kleines Mann-Kind.

Sie drückte die Wange gegen seine weiche Haut.

»Okay«, flüsterte sie sich selber zu. »Alles okay.«

Aber sie glaubte nicht daran.

Sie griff nach dem Handy auf dem Nachttisch. Es war fünf Uhr, was auch das Pochen in ihrem Kopf erklärte. Sie waren später als üblich ins Bett gegangen. Mason war ruhelos gewesen und wollte nicht schlafen.

Nachdem Rosie fünf Geschichten erzählt und neben seinem Bett gesessen hatte, bis er eingeschlafen war, hatte sie zwei Benadryl mit einem Glas Wein heruntergespült. Sie wusste, dass sie nur zur Ruhe kommen würde, wenn sie sich ausknockte.

Joe hatte nicht nach dem Grund gefragt. Den kannte er nur zu gut. Sie war gereizt, seit Laura bei ihnen eingezogen war. Rosie war mit dem Minivan in die Stadt gefahren und hatte ihrer Schwester beim Packen geholfen wie eine Bärenmutter, die ihr Junges von einer Klippe rettet. Und wie eine Bärenmutter hatte sie auch zu Hause nicht aufgehört, sich Sorgen zu machen und ihre Schwester zu beobachten, aber möglichst unauffällig, um es nicht noch schlimmer zu machen. Diese Aufgabe hatte jeden Nerv in ihrem Körper in Alarm versetzt, bereit, auf jede Krise zu reagieren.

Joe hatte sie auf die Stirn geküsst, als sie, eingerollt zu einer Kugel, im Bett gelegen und ins Leere gestarrt hatte. Ihre Gedanken waren von einem schlimmen Szenario zum nächsten gerast, während sie darauf wartete, dass die Medikamente und der Wein endlich wirkten.

Es geht ihr gut, hatte Joe gesagt. Es ist doch nur ein Date.

Er war wieder nach unten gegangen, um eine Sportsendung zu schauen und Bier zu trinken. Er hatte beinahe übermütig gewirkt, als er das Zimmer verließ, weil er den Fernseher und das gesamte Erdgeschoss ausnahmsweise für sich allein hatte. Ihr Haus war klein, und mit Laura darin war es noch kleiner geworden.

Joe und Laura steckten immer irgendwo zusammen – in der Küche oder im Familienzimmer – und stachelten einander mit ihrem sarkastischen Humor an. Und auch Gabe kam jetzt öfter als sonst vorbei, und zwar ohne Melissa (zum Glück, denn Rosie hatte sich nie an sie gewöhnen können). Joe war ein anderer Mensch, wenn er mit Laura und Gabe zusammen war. Dann war er wieder der starke, gut aussehende Junge, der die ganze Welt beherrschte. Oder zumindest die Deer Hill Lane. Es war etwas in seiner Stimme und seinem Lächeln. Unbezähmbares Selbstvertrauen. Sie vermisste es, ihn so zu sehen. Doch die Zeit bewegte sich nur in eine Richtung. Sie waren keine Kinder mehr.

Joe sagte, er mache sich keine Sorgen um Laura, und Rosie wollte nicht mehr deswegen streiten. Er hatte immer eine Antwort, zu der ihr nichts mehr einfiel.

Du kennst sie nicht so gut wie ich.

Ehrlich? Ich bin doch mit euch beiden aufgewachsen.

Aber …

Kein Aber … Was weißt du über Laura, das ich nicht weiß?

Nichts – und dennoch ist es anders, eine Geschichte zu hören, als sie selbst zu erleben. Sie zu sehen und zu fühlen und die ungreifbaren, unbeschreiblichen Dinge aufzunehmen, die sich tief in einem festsetzen. Joe hatte gesagt, er fände es nicht beunruhigend, dass Laura ein Date mit einem Fremden aus dem Internet hatte, obwohl sie erst wenige Wochen zuvor aus ihrem alten Leben geflohen war. Wegen eines Mannes, der sie abserviert hatte, nachdem sie ihm ihr Herz geschenkt hatte, was immer das auch heißen mochte.

Tatsache: Laura hatte diesen Freund nie erwähnt, bis sie nach Hause gekommen war. Wie ernst konnte es schon gewesen sein? Und doch hatte er sie dazu gebracht, eine Pause im Job einzulegen – einem begehrten Job, den man ihr nicht lange freihalten würde.

Laura hatte zweifellos Pech mit Männern. Für einen so klugen Menschen – und das war sie – beging sie erstaunlich oft den gleichen Fehler. Aus einem Grund, den Joe nicht zu verstehen, den er nicht zu spüren schien. Die letzte Trennung war nur ein Symptom.

Oder eine Warnung.

Rosie drückte die Lippen auf Masons warme Wange und kroch vorsichtig aus dem Bett. Sie ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, durch den Flur und die Treppe hinunter. Ihr Mann lag auf dem Sofa, sein großer, stämmiger Körper suchte unter einer kleinen Decke Wärme.

Rosie trat ans Erkerfenster, schaute auf die Straße hinaus und nach rechts zur Einfahrt, wo normalerweise ihr Wagen stand.

Sie sah sich forschend um. Die Straße hinunter nach rechts, dann nach links. Ihr Verstand schaltete einen Gang höher.

Sie ging zum Sofa und legte Joe die Hand auf den Arm, bis er sich rührte.

»Was ist los?«, murmelte er. »Wie spät ist es?«

»Fünf.«

»Was ist passiert? Mason …«

»Dem geht’s gut. Er schläft.«

Rosie legte sich auf das Fleckchen Sofa, das noch frei war, und drückte sich an ihn. Er öffnete die Arme und zog sie an sich. Seine Wärme, seine körperliche Kraft ließen sie seufzen.

»Was ist dann?«, flüsterte er.

»Der Wagen ist noch nicht da.«

»Welcher Wagen?«

»Mein Wagen. Mit dem Laura zu ihrem Date gefahren ist.«

Joe küsste sie aufs Ohr und lachte. »Schön für sie.«

Rosie stieß ihn weg und setzte sich auf, schaute zwischen Joe und der leeren Einfahrt hin und her.

»Das ist nicht komisch!«

»Die Pferde sind mit ihr durchgegangen. Na und?« Joe strich mit der Hand über ihren Oberschenkel. »Vielleicht wäre das auch eine gute Idee für uns.«

»Stopp.« Rosie schob seine Hand weg und stand auf. Sie ging ans Fenster, die Arme verschränkt, die Schultern angespannt. »Findest du es nicht seltsam, wie sie plötzlich drauf ist? Online-Dating. Über Nacht wegbleiben.«

Joe setzte sich jetzt auch auf und zog die Decke um die nackten Schultern. »Sie will sich nur über sich selbst klar werden, das ist alles. Vielleicht wird es Zeit. Vielleicht ist sie es leid, immer wegzulaufen.«

Rosie dachte nach. Laura hatte die Stadt gleich nach der Highschool verlassen. Sie hatte nie zurückgeschaut, war nur in den Ferien gelegentlich vorbeigekommen. Hatte Geschenke für Mason geschickt, angerufen und gesimst und gemailt. Aber sie war nie länger bei ihnen geblieben. Wenn Rosie sie sehen wollte, fuhr sie mit Mason in die Stadt und zwang Laura, Teil ihres Lebens zu sein.

Und jetzt war sie plötzlich hier. Wollte sich verändern. Suchte nach dem richtigen Mann. Trug Make-up und Kleider. Fragte Rosie um Rat, während sie sie früher als Mädchen bezeichnet hatte, als wäre dies die schlimmste Beleidigung.

Na los! Sei kein Mädchen!

Mein Gott, wie sie damals alle in die Gefahr gelockt hatte. Auf Bäume, die höher als das Dach waren. Auf den nur halb gefrorenen Teich.

Na los!

Hinter den Häusern lag ein Naturschutzgebiet. Weite Wälder, Wanderwege und Bäche, die ihnen als Spielplatz gedient hatten. Laura war die Jüngste, und alle hatten sich bemüht, sie vor sich selbst zu beschützen.

Sie hatte die Aufmerksamkeit anderer wie ein verhungerndes Tier aufgesogen, zuerst die der Nachbarskinder und später die der Nonnen in der katholischen Schule, auf die die Geschwister gingen.

St. Mark’s von der Heiligen Dreifaltigkeit. Es war ein Witz in ihrer protestantischen Familie. In der Stadt gab es ganz passable Schulen bis zur achten Klasse, aber darüber hinaus waren die Klassenverbände zu groß und chaotisch. Privatschulen waren teuer. Genauso wie die Häuser in den umliegenden Kleinstädten mit öffentlichen Schulen, die für die Kinder ein Sprungbrett für die Aufnahme in die besten Colleges waren. Eine konfessionelle Schule war die beste Wahl für Familien wie die von Rosie und Laura, vor allem, nachdem ihr Vater sie verlassen hatte.

Die Lehrerinnen hatten Laura vergöttert. In der achten Klasse wurde sie beim Rauchen erwischt, doch was immer sie auch anstellte, sie redeten mit ihr wie mit einem Lämmchen, das ohne Herdeninstinkt geboren war. Es gibt einen guten Grund, bei der Herde zu bleiben, sagten sie zu ihr. Nämlich das Überleben.

Wenn du die Herde verlässt, kommen die Wölfe.

Und Laura hatte immer die gleiche Antwort gegeben.

Super, ich mag Wölfe.

Rosie schaute wieder zu Joe.

»Ich sehe mal in ihrem Zimmer nach.«

»Lass das.« Er flehte sie beinahe an.

»Wieso?«

»Du weckst sie doch nur auf, wenn sie ein Uber genommen hat und jetzt schläft. Und sie hat schlecht geschlafen, seit sie hier ist. Sie wird noch zu einem Zombie.«

»Aber wenn ihr was passiert ist?«

»Es war doch nur ein Date.«

»Mit einem Typen aus dem Internet.«

»Das ist heute nun mal üblich. Außerdem ist er steinalt und fährt einen BMW.«

Rosie seufzte. »Ich habe trotzdem ein schlechtes Gefühl.«

»Das hast du um diese Jahreszeit immer.«

Da hatte er recht. Es war noch nicht September, aber der typische Geruch lag schon in der Luft, der Wechsel der Jahreszeit, Feuer, all das weckte Erinnerungen, die nie einen festen Ort in ihr gefunden hatten. Und wenn sie einmal aus den Winkeln ihrer Erinnerung krochen, liefen sie bis zum Ende durch.

Kühle Nachtluft, Rauch und Hitze, die von einem Feuer herüberwehten. Knackende Zweige, noch nicht ganz tot. Noch nicht bereit, zu verbrennen …

»Und wenn es nun doch mit Laura zu tun hat? Wenn es ein Zeichen ist?« Rosie ging wieder zum Sofa und baute sich vor ihrem Mann auf.

»Bitte weck sie nicht. Ich kann um fünf Uhr morgens keinen Schwesternkrieg ertragen.«

»Ich muss einfach nachsehen. Ich bin auch ganz leise.«

Joe griff nach ihrem Handgelenk, ließ aber los, als sie ihren Arm wegzog.

Es gab so vieles, das sie noch immer nicht über Lauras Rückkehr wussten. Sie hatte nie den Namen des Mannes erwähnt, der ihr das Herz gebrochen hatte. Sie nannten ihn nur »Arschloch«. Oder »A-Loch«, wenn Mason im Zimmer war. Das war Joes Idee gewesen. Keiner von ihnen wollte Laura bedrängen, wenn sie noch nicht bereit war, darüber zu sprechen.

Doch viele Teile ihrer Story passten einfach nicht zusammen.

Zum ersten Mal im Leben dachte ich, ich hätte alles richtig gemacht.

Sie sagte, sie sei bei einem Therapeuten gewesen, um ihre schlechten Gewohnheiten abzulegen, um sich zu verändern. Doch wenn sie alles richtig gemacht hätte, wäre ihr Freund wohl kaum verschwunden.

Die Nonnen in St. Mark’s hatten recht gehabt, sie verließ immer die Sicherheit der Herde. Und Laura hatte auch recht. Sie mochte Wölfe.

Doch Laura war kein Lamm.

Rosie blieb oben an der Treppe stehen und gab sich der Erinnerung hin.

Billiges Bier in Plastikbechern. Zigaretten. Lipgloss mit Geschmack. Insektenspray …

Es war eine Tradition am letzten Tag des Sommers, dem letzten Samstagabend, bevor die Schule wieder anfing.

Branston war eine Kleinstadt, eingerahmt vom Long Island Sound auf der einen und von den Waldgebieten des Staates New York auf der anderen Seite. Nördlich der Deer Hill Lane erstreckte sich das Naturschutzgebiet mit der Schlucht und dem Fluss. Dahinter lagen nur Wälder und gewellte Ackerflächen.

Von New York City aus war es nicht weit, aber Laura war nie wieder in Branston gewesen. Nicht ein einziges Mal in elf Jahren.

Es war jedes Jahr das Gleiche. Dutzende einheimischer Jugendlicher, die beinahe platzten vor Aufregung beim Gedanken an all das Neue, das in der Luft lag. Eine neue Jahreszeit. Eine neue Klasse. Älter werden. Neue Dinge wollen. Neue Dinge fürchten. Neue Dinge brauchen. Die Hoffnung, die gegen die Angst kämpfte, so wie der Sommer gegen den Herbst. Rosie konnte das Gefühl noch immer heraufbeschwören.

Sie hatten auf einem Schotterweg geparkt und waren zu einer kleinen Lichtung gegangen. Die Musik ging im Lärm betrunkener Teenager unter. Sie war im zweiten Jahr auf dem College, Laura in der Abschlussklasse der Highschool. Joe war an diesem Abend nicht auf der Party gewesen. Seine Familie hatte ein letztes Wochenende im Haus am Cape verbringen wollen. Und Gabe war schon wieder auf dem College. So kam es, dass nur Rosie und Laura dort gewesen waren. Und nur Rosie hatte den Schrei im Wald gehört.

Rosie ging leise über den Hartholzboden. Ihr Haus war ein Cape Cod aus den 1930ern. Die Böden oben waren aus Vogelaugenahorn, prachtvoll, aber alt, und knarrten bei jedem Schritt. Sie schaffte es am Schlafzimmer vorbei, ohne ihren Sohn zu wecken.

Laura schlief auf dem umgebauten Dachboden. Das Zimmer lag am Ende des Flurs, hinter dem Gästebad. Es brannte kein Licht, die Tür war geschlossen.

Rosie machte noch einen Schritt, setzte den Fuß behutsam auf, verlagerte ihr Gewicht.

Dann hielt sie inne, war sich plötzlich bewusst, dass sie voller Panik in ihrem eigenen Haus umherschlich, wie sie es getan hatte, als Mason gerade geboren war. Wie oft hatte sie ihn aus einem friedlichen Schlaf geweckt, nur um sicherzugehen, dass er noch atmete? Ihre Ängste waren nicht normal.

Oder vielleicht doch. Vielleicht waren sie durchaus begründet.

Rosie hatte ihre Schwester seit ihrer Geburt beschützt. Sie hatte es im Blut, in den Knochen. Aber es hatte nie gereicht. Letztlich hatte sie versagt.

Der Geruch des Feuers. Der Schrei im Wald …

Den würde sie nie vergessen. Sie würde ihn immer hören. Der Wald war auf einen Schlag still geworden. Niemand hatte sich gerührt. Alle waren wie erstarrt und fragten sich, was sie da gehört hatten. Warteten ab, ob er noch einmal ertönen würde. Und so war es. Ein zweiter Schrei. Rosie hatte sich am Feuer nach Laura umgesehen. Als ihre Beine schon in Richtung Straße liefen, wo die Autos parkten, woher der Schrei gekommen war, hatte sie noch Ausschau gehalten und gehofft, sie hätte sich geirrt. Dass der Schrei nicht von ihrer Schwester gekommen war.

Noch zwei Schritte, dann stand sie vor der Tür zum Dachzimmer. Sie drückte das Ohr ans Holz und horchte. Auf den Fernseher. Auf Musik. Laura schlief manchmal ein, während noch Geräte liefen. Aber alles war still.

Sie legte die Hand auf den Türknauf und drehte ihn sanft. Auch er knarrte, war alt. Und die Tür klemmte. Man kam einfach nicht ins Zimmer, ohne denjenigen, der dort schlief, zu wecken. Aber das war ihr egal, denn die Erinnerung war wieder da.

Sie waren zur Straße gelaufen, durchs Dickicht, einen richtigen Weg gab es nicht. Es war dunkel gewesen. Jemand hatte eine Taschenlampe dabei, die hatten sie eingeschaltet. Jemand anderes war ins Auto gestiegen und hatte die Scheinwerfer eingeschaltet. Aus den Schreien war ein Schluchzen geworden. Auf der Straße fanden sie zwei Gestalten. Eine stand, die andere lag ganz still auf dem Schotter …

Rosie stieß langsam die Tür auf. Sie waren nicht im Wald. Was immer sie in diesem Zimmer finden würde, es hatte nichts zu bedeuten. Laura war eine erwachsene Frau. Vielleicht war sie zu betrunken gewesen, um noch zu fahren, und bei ihm geblieben. Vielleicht hatte sie auch mit ihm geschlafen. Sie hatte versprochen, mit dem Wagen nach Hause zu kommen, aber solche Versprechen wurden ständig gebrochen. Vor allem von Laura. Vor allem, wenn es um Männer ging. Die Sehnsucht und das Verlangen, die nie befriedigt wurden, waren stärker als jede gute Absicht.

Und wenn sie mit ihm geschlafen hatte? Joe hatte recht: Der Typ war älter. Vierzig und geschieden. Geradezu langweilig sicher.

Doch all die Vernunft konnte nichts ausrichten. Die Vergangenheit, der Schrei im Wald. Und der Junge, der zu Füßen ihrer Schwester lag. Die Erinnerung lief unbarmherzig weiter, wie ein Film.

Sie war zu Laura gerannt, atemlos, weil sie ständig ihren Namen gerufen hatte. Laura! Dann, beim Näherkommen, ihr Gesichtsausdruck. Entsetzen. Fassungslosigkeit. Und der Junge auf dem Boden. Die Blutlache um seinen Kopf. Lauras erste Liebe. Der ihr das Herz gebrochen hatte. Tot.

Der Film lief bis zum Ende. Wie immer. Rosie blinzelte, um das letzte Bild zu vertreiben.

Laura war zehn Jahre weg gewesen, aber das spielte keine Rolle. Rosie würde immer mit der nächsten Tragödie rechnen.

Nun, da die Tür offen war, schaltete sie das Licht ein.

Und fand ein leeres Bett.

4

Laura Lochner. Sechste Sitzung.Vor drei Monaten. New York City.

Laura: Rosie meint, ich selbst wäre an allem schuld. Sie sagt, ich bin diejenige, die anderen das Herz bricht.

Dr. Brody: Was halten Sie davon? Was ist mit denen, die Sie geliebt haben?

Laura: Sie haben mich nicht geliebt. Sie dachten es nur.

Dr. Brody: Weil sie Sie nicht kannten?

Laura: Mag sein. Rosie sagt, ich würde mir Männer aussuchen, die mich nicht lieben. Ich würde sie aussuchen, weil sie mich nicht lieben. Aber warum sollte ich so etwas tun?

Dr. Brody: Um etwas zu beweisen.

Laura: Was denn?

Dr. Brody: Es wäre hilfreich, wenn Sie die Antwort selbst fänden.

Laura: Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich hasse Sie gerade ein bisschen.

5

Laura. Die Nacht zuvor. Donnerstag, 19:30 Uhr.Branston, CT.

Jonathan. John. Johnny. Jack. Als ich in die Stadt fahre, frage ich mich, wie ihn die Leute wohl nennen.

Es ist viel Verkehr, und ich bin spät dran. Bauarbeiten. Die Straße wird einspurig. Scheiße. Zuspätkommen ist gut. Lass ihn warten! Das sage ich mir selbst. Ich kann eine der Frauen sein, die damit durchkommen. Ihren Eifer verstecken. Ihr Verlangen verstecken.

Ich spiele mit dem Gedanken, ihm eine Nachricht zu schicken, aber er hat gesagt, er möge keine SMS. Anrufen will ich nicht, weil es ein bisschen extrem wäre. Und natürlich ist mein Akku schwach, weil ich das Ladegerät in meinem Zimmer vergessen habe. Es ist ja nicht so, als würde Rosie eins im Auto aufbewahren.

Er wird schon zehn Minuten warten. Oder?

Im Wagen riecht es nach Goldfischli und Apfelsaft. Rosie macht ihn jede Woche sauber, aber das nützt nichts. Sie riecht es vermutlich gar nicht mehr, weil sie sich daran gewöhnt hat, genau wie an den abgestandenen Kaffee, nach dem die ganze Küche riecht, bis Joe von der Arbeit kommt und die Kanne endlich ausschüttet.

Vorher ist die Küche Rosies Reich, und meist sitzt sie da und starrt ins Leere, während Mason Zeichentrickfilme schaut. Sie gießt mir abgestandenen Kaffee ein (um den Bourbon-Kater zu vertreiben, den ich mir an langen Abenden mit Joe und Gabe angetrunken habe) und rezitiert Mantras aus ihren feministischen Zeiten, während sie mir im selben Atemzug Verschönerungstipps gibt.

Du brauchst keinen Mann, Laura. Für gar nichts.

Sie kann leicht behaupten, man brauche etwas nicht, wenn sie es selbst in Händen hält. Sie könnte ebenso gut sagen, sie brauche keinen Kaffee, während sie die zweite Tasse inhaliert.

Trotzdem erinnere ich mich an ihren Ratschlag, als mich die Angst überkommt, er könnte gehen, nur weil ich zehn Minuten zu spät dran bin.

Ich brauche keinen Mann.

Nachdem ich mich jahrelang gefragt hatte, warum es mir so schwerfiel, einen Mann zu finden, der mich liebte, war es mir endlich gelungen.

Er war nicht lange bei mir geblieben, doch während ich ihn hatte, löste er eine ganze Lawine von Bedürfnissen aus. Das Bedürfnis, festgehalten und berührt zu werden. Das Bedürfnis, zu lachen und zu weinen und die Seele eines anderen Menschen zu erforschen. Das Bedürfnis, gesehen zu werden. Gekannt zu werden. Nicht die wilde und furchtlose Kriegerin zu sein, die die Welt eroberte, sondern das kleine Mädchen, das an einem Ärmel oder Mantelsaum zupfte und bittend hochschaute. Das immer in der törichten Hoffnung hochschaute, jemand werde zurückschauen und sich freuen, es zu sehen.

Meine albernen Tagträume sind wirklich jämmerlich.

Jonathan Fields … wirst du Nathan genannt? Oder Nate?

Ich frage mich, ob er im richtigen Leben auch so gut aussieht. Ich frage mich, ob seine Haare so dunkel und dicht sind wie auf den Fotos, seine Augen so blau. Sein Körper so durchtrainiert, wie er sich unter dem Hemd abzeichnet. Ich frage mich, ob ich in seinen Augen das sehen werde, was ich liebe. Schalk. Nur ein bisschen. Nicht die Art, die mein altes Ich mochte. Nur genug, um es ruhigzustellen.

Doch was immer ich auch sehen mag, wenn ich Jonathan Fields zum ersten Mal erblicke, ich werde es nicht ignorieren. Ich werde nicht so tun, als wäre er der Richtige, wenn alles darauf hindeutet, dass er der Falsche ist. Aber ich werde auch keine Beweise erfinden, um mir einzureden, dass er der Falsche ist, wenn er der Richtige ist.

Mein Mangel an Instinkt ist ein Handicap. Dieser Abend wird nicht einfach.

Jonathan Fields. Ich bin fast da.

Vorbei an der Baustelle auf der Main Street. Ich biege links in die Hyde und dann in die Richmond. Entdecke eine Parklücke mit Parkuhr und fahre hinein. Wir sind in einem Irish Pub verabredet. Er wird von einem schicken Restaurant und einem Italiener flankiert. Im Sommer kann man draußen sitzen. Als Jugendliche kamen wir mit falschen Ausweisen rein. Das ist heute wohl schwieriger. Oder sie haben gelernt, die Ausweise besser zu fälschen. Unsere waren noch jämmerlicher als meine Tagträume.

Ich habe so viele Erinnerungen an meine Kindheit in dieser Stadt. Seit ich wieder hier bin, kriechen sie aus allen Ecken.

Jonathan Fields hat diesen Treffpunkt vorgeschlagen. Er sagte, er wohne in der Nähe und sei Stammgast, die Barkeeper würden ihm oft einen Whisky ausgeben. Nicht dass er sich keinen leisten könne, hatte er hinzugefügt. Ich habe nicht mit diesen Informationen gearbeitet. Habe mein Gerüst zu Hause gelassen. Heute Abend gibt es keine Erfindungen. Keine Rekonstruktionen. Kein absichtliches Wegschauen. Ich hatte einen exzellenten Therapeuten, selbst wenn ich eine schreckliche Patientin gewesen sein muss.

Ich klappe den Spiegel in der Sonnenblende auf und überprüfe mein Aussehen. Die Wimperntusche ist nicht verschmiert. Die Wangen sind rosig. Ich ziehe den kirschroten Lippenstift nach, weil ich mir auf die Lippe gebissen habe. Reibe mit dem Finger ein bisschen Farbe von den Zähnen. Lippenstift auf den Zähnen geht gar nicht. Wäre ein fataler Fehler gewesen.

Verdammt! Bin ich meine eigene Mutter geworden? Ich klappe den Spiegel zu und starre durch die Windschutzscheibe auf die Straße. Nachdem Dick uns verlassen hatte, konnte unsere Mutter nur schlafen und essen, wenn sie einen Freund hatte, und sie machte wirklich vor nichts und niemandem Halt. Sie ging fast jeden Abend weg, und ich weiß noch, dass ich sie dafür gehasst habe.

Wie sehe ich aus, Mädels?

Das ist uns scheißegal, Mom. Wir müssen lernen und Klassenarbeiten schreiben und haben unsere Periode und bekommen Brüste und haben mit all den anderen Foltern der Pubertät zu kämpfen – allein – danke für gar nichts.

Ich will nicht jemand sein, den ich hasse. Aber das ist vielleicht nötig.