Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale - Marcel Mauss - E-Book

Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale E-Book

Marcel Mauss

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Beschreibung

Ein Schlüsseltext des 20. Jahrhunderts In seiner Schrift "La Nation", um 1920 unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs verfasst, entwickelte Marcel Mauss einen Begriff von "Nation", dem zufolge diese über sich hinaus zum Internationalismus treibt. Eine entscheidende Rolle spielte für ihn dabei ein "Sozialismus von unten", den er als "Nationalisierung" im Sinne einer allmählichen Bewusstwerdung der Nationen versteht, ihre ökonomischen Interessen selbst in die Hand zu nehmen. Große Hoffnungen setzte er dabei in den Völkerbund ("Société des Nations"). Den damaligen Zustand der Nationen, ihre Geschichte und ihre Zukunftsaussichten erschließt Mauss in diesem Werk aus ökonomischer, rechtlich-moralischer und kulturhistorisch- ethnologischer Perspektive. Sein Werk besticht sowohl durch stupendes Detailwissen als auch durch verblüffende Vorhersagen, etwa zum Auseinanderfallen Jugoslawiens oder zum Siegeszug des Islam. Mauss' Schrift, die nach seinen Plänen sein politisches Hauptwerk werden sollte, ist Fragment geblieben; sie wurde 2013 erstmals vollständig aus dem Nachlass ediert.

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Marcel Mauss

Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale

Herausgegeben und mit einer Einführung von Jean Terrier und Marcel Fournier

Aus dem Französischen von Christine Pries

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

In seiner Schrift »La Nation«, um 1920 unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs verfasst, entwickelte Marcel Mauss einen Begriff von »Nation«, dem zufolge diese über sich hinaus zum Internationalismus treibt. Eine entscheidende Rolle spielte für ihn dabei ein »Sozialismus von unten«, den er als »Nationalisierung« im Sinne einer allmählichen Bewusstwerdung der Nationen versteht, ihre ökonomischen Interessen selbst in die Hand zu nehmen. Große Hoffnungen setzte er dabei in den Völkerbund (»Société des Nations«). Den damaligen Zustand der Nationen, ihre Geschichte und ihre Zukunftsaussichten erschließt Mauss in diesem Werk aus ökonomischer, rechtlich-moralischer und kulturhistorisch-ethnologischer Perspektive. Sein Werk besticht sowohl durch stupendes Detailwissen als auch durch verblüffende Vorhersagen, etwa zum Auseinanderfallen Jugoslawiens oder zum Siegeszug des Islam. Mauss’ Schrift, die nach seinen Plänen sein politisches Hauptwerk werden sollte, ist Fragment geblieben; sie wurde 2013 erstmals vollständig aus dem Nachlass ediert.

Vita

Marcel Mauss (1872–1950) war ein französischer Soziologe und Ethnologe, der am Collège de France in Paris lehrte. Er stand der politischen Linken nahe und gründete die Zeitschriften Mouvement Socialiste und L’Humanité. Bekanntestes Werk von Mauss, der als Vaterfigur der Anthropologie in Frankreich gilt, ist Die Gabe ( Essai sur le don, 1923/1924).

»Früher konnte man Ausdrücke wie Zwang, Gewalt und Autorität verwenden, und sie haben ihre Geltung, aber dieser Begriff der kollektiven Erwartung gehört meines Erachtens zu den grundlegendsten Begriffen, über die wir arbeiten müssen. Ich kenne keinen anderen Begriff, der von vergleichbarer juristischer und ökonomischer Prägekraft wäre: ›Ich erwarte‹ ist die Definition schlechthin eines jeden kollektiven Akts.«

(Mauss 1969 [1934]: 117)

Inhalt

Vorwort

Jean Terrier und Marcel Fournier: Zur Einführung

1. Die Nation: Stationen eines Forschungsprojekts

2. Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale

Polysegmentäre Gesellschaften und Reiche

Die Nation als integrierte Gesellschaft

Die Nation als Demokratie

Die Nation als Nationalität

Die sozialistische Nation

3. Grenzen von Die Nation

Jean Terrier: Zur Textgestalt

Tabelle der verwendeten philologischen Zeichen

Tabelle der vorherigen Veröffentlichungen — Die Nation

Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale

Gegenstand des Buches

Erster Teil — Die Nation als Gesellschaftsgattung

Kapitel I — Einleitung

Kapitel II — Nationen und Nationalitäten

[I][I]

II

Zweiter Teil — Die internationalen Beziehungen oder Vom Internationalismus

Kapitel I — Die internationalen Phänomene

Zwei Vorbemerkungen

I. – Zivilisation

II. – Technik

III. – Ästhetik

IV. – Religion

[V. – ] Juristische [Tatsachen]

[VI. – ] Sprachliche [Tatsachen]

Kapitel II — Morphologische Phänomene

[I. – Verkehrswege, Kommunikationsmittel, intersoziale Gruppen]

II. [– Krieg und Frieden]

III. [– Unterordnung und Kolonialisierung]

Kapitel III — Die ideellen Phänomene

I. – Völkerrecht

II. – Das Christentum

III. – Die Arbeiter-Internationale

Strukturelle Auswirkungen

Dritter Teil — Über die Nationalisierungen oder den Sozialismus

Einleitung

Kapitel I — Definition von Sozialismus und Nationalisierung

Kapitel II — Die sozialistischen IdeenDas Nationalisierungsprinzip

Die Ideen und die Syst[eme]

Kurze kritische Darstellung der Theorien des Sozialismus

Kapitel III — Die ökonomischen Tatsachen

Ökonomische Tatsachen

[I.] – Bildung kapitalistischer Körperschaften

Bildung von anonymem und kollektivem Kapital

II. – Organisation: Aufbau des kollektiven Kapitals, Kartelle, Trusts

III. – Der Vertikalkonzern

IV. – Auswirkungen des Krieges

Kapitel IV — Die ökonomische Bewegung von unten

I. – Die Arbeiterdemokratie

II. – Die Zeit des Krieges und die Nachkriegszeit

III. – Genossenschaftliche Zusammenarbeit oder Die Verbraucherdemokratie

Ergänzung zu Die Nation

Das Nationalitätenprinzip

I. – Die Nationen

II. – Der Internationalismus

III. – Schluss

Anhang

Literatur

Vorwort

Wäre das vorliegende Buch von Marcel Mauss einfach eine Studie zur Idee, zur Geschichte und zur Realität des Nationalstaats, so dürfte mit Recht gefragt werden, was es denn in der Schriftenreihe des Instituts für Sozialforschung zu suchen habe; denn mit dem Vorhaben einer kritischen Gesellschaftsanalyse, wie umfassend auch immer verstanden, hätte ein solches Buch dann doch wohl nur wenig zu tun. Gewiss, es ließe sich geltend machen, dass das Werk von Mauss inzwischen weit genug aus dem Schatten von Émile Durkheim herausgetreten ist, um als ein eigenständiger Beitrag zu vielen wichtigen Fragen der Sozialtheorie zu gelten (vgl. etwa Karsenti 1997; Fournier 1994), weswegen eine Veröffentlichung dieses postum erschienenen Buches in unserer Reihe auch unabhängig von Traditionszugehörigkeiten gerechtfertigt sein könnte; aber so recht scheint dieses Argument nicht zu stechen, ist es doch die erklärte Absicht der Schriftenreihe unseres Instituts, vornehmlich solche Studien zu publizieren, die in einem weiten Sinn der kritischen Diagnose der Gegenwartsgesellschaften dienen – warum dann also an diesem Ort eine Untersuchung zum veraltet anmutenden Konzept der Nation? Ein anderes Argument, das sich anführen ließe, könnte sein, dass Mauss mit seinen Studien zum Gabentausch längst als einer der Stammväter einer kapitalismuskritischen Tradition angesehen wird und insofern die Aufnahme eines weiteren Buches aus seiner Feder in unsere Reihe naheliegen müsste – aber auch das wäre so lange kein stichhaltiger Grund, wie nicht gezeigt werden könnte, dass auch die vorliegende Schrift eine Spur jenes kritischen, sich an den kapitalistischen Zeitläuften reibenden Geistes in sich trägt. Genau das ist aber der Fall: Mauss wollte mit seiner Studie in Form einer historischen Soziologie der Nationen zeigen, dass sich diese mit einer gewissen inneren Zwangsläufigkeit nicht nur auf einen Zustand des friedlichen Miteinanders, sondern auch einer sozialistischen Kooperationsgemeinschaft zubewegen; er arbeitete an seiner Studie, um mit den Mitteln einer umfassenden Analyse der sozialen Implikationen der Nationalstaatsbildung zu zeigen, dass damit die Weichen in Richtung sowohl eines harmonischen Zusammenlebens unter den Völkern als auch einer Vergesellschaftung des jeweiligen Volksvermögens gestellt sein würden. Was immer man über einen solchen Erklärungsanspruch denken und wie immer man auch die eigentümliche Spannung zwischen nüchtern-positivistischem Gestus und geschichtsphilosophischem Impetus beurteilen mag, mit ihrem untergründigen Ziel, der Bildung von Nationalstaaten eine emanzipatorische Entwicklungsrichtung zu entlocken, ragt diese Schrift weit über vergleichbare Studien zum Thema hinaus; sie darf aufgrund ihrer einzigartigen Synthese aus profundester Geschichtskenntnis, soziologischer Deutungskraft und praktisch-politischem Fortschrittswillen ohne Übertreibung als eine der bedeutendsten Schriften zur Idee der Nation gelten. Das Institut für Sozialforschung weiß sich daher glücklich, das mühselig aus dem Nachlass rekonstruierte Buch von Marcel Mauss in deutscher Übersetzung in der eigenen Schriftenreihe veröffentlichen zu können.

Die beiden Wissenschaftler, denen es gelungen ist, aus den seit dem Ende des Ersten Weltkriegs entstehenden Manuskripten von Marcel Mauss zu einer geplanten Schrift über die »Nation« nachträglich das vorliegende, in Frankreich 2013 erschienene Buch zusammenzustellen, sind Marcel Fournier, ein eminenter Kenner des Werkes von Mauss (vgl. Fournier 1994 und 1997), und der jüngere Sozialtheoretiker Jean Terrier; die Einführung, die sie gemeinsam zur französischen Ausgabe beigesteuert haben und die in unsere Ausgabe übernommen wurde, enthält einen fulminanten Überblick über die weitgehenden Absichten, die Mauss mit dem ihn beinah zeitlebens beschäftigenden Projekt verfolgte. Anstatt hier also zu wiederholen, was in dieser Einführung sorgfältig und äußerst eindrucksvoll entwickelt wird, will ich mich im Folgenden darauf beschränken, nur kurz das leitende Erkenntnisinteresse des Buches zu umreißen, um damit dem deutschsprachigen Publikum den Einstieg in die Lektüre zu erleichtern.

Der ganze Kosmos des Werkes von Marcel Mauss wird hierzulande ja erst ganz allmählich sichtbar. Trotz der energischen Versuche, die vor allem Henning Ritter in den 1970er Jahren unternommen hatte, Mauss’ Schriften im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen (vgl. Mauss 1975 [1950]), war es hier um deren Verbreitung und Rezeption bis vor kurzem eher schlecht bestellt. Interessanterweise hat sich das nach meinem Eindruck erst geändert, als im Gefolge der weltweiten Finanzkrise das Interesse an kapitalismusskeptischen Theorien erneut anstieg; denn damit wuchs plötzlich auch wieder die Aufmerksamkeit für die Schrift Die Gabe, die deswegen unschwer als kapitalismuskritisch angesehen werden konnte, weil sie in der »totalen sozialen Tatsache« des Gabentausches archaischer Gesellschaften ein solidaritätsstiftendes Medium der sozialen Integration angelegt sah, das ausdrücklich auch für moderne Gesellschaften als sowohl erforderlich wie auch als in Resten noch existent angesehen wurde – so spielt Mauss bekanntlich am berühmten Ende seiner Studie auf die französische Sozialgesetzgebung seiner Zeit an, um zu belegen, dass in rudimentärer Weise solche dem Gabentausch ähnliche Formen von nicht am individuellen Gewinn orientierten Sozialpraktiken auch im Kapitalismus überlebt haben (vgl. Mauss 1995 [1925]: Kap. IV. 1). War dieser Zusammenhang zwischen ethnologischer Recherche und kapitalismuskritischer Absicht in der Studie Die Gabe aber erst einmal durchschaut, so stieg mit einem Mal das Interesse an seinen anderen Schriften auch im deutschsprachigen Raum. Was im Zuge dieser nun plötzlich aufflammenden Rezeption an den Schriften von Marcel Mauss schrittweise deutlich wurde, war etwas, was zuvor infolge der Dominanz vor allem der strukturalistischen Lesart eines Lévi-Strauss sogar in Frankreich kaum hatte sichtbar werden können (vgl. dazu vorzüglich: Hahn 2015): dass dieser Soziologe aufgrund seiner lebenslangen Bindung an das im Frankreich der Jahrhundertwende zunächst von Jean Jaurès verkörperte Projekt des Sozialismus all seine weitausholenden Studien nicht zuletzt mit dem untergründigen Interesse betrieben hatte, diejenigen normativen Ressourcen in modernen Gesellschaften aufzuspüren, die der sozialen Verbreitung eines wirtschaftlichen Solidarismus entgegenkommen könnten. Stärker als sein Onkel und Lehrmeister Émile Durkheim, bei dem freilich derartige Tendenzen auch schon angelegt waren (vgl. exemplarisch Filloux 1977), wollte Marcel Mauss die Soziologie als eine Disziplin verstanden wissen, in der mit den Mitteln einer umfassenden, die archaischen Gesellschaften miteinbeziehenden Tatsachenforschung die Möglichkeiten der Wiederbelebung eines solidarischen Kooperationsgeistes auf dem Boden der modernen kapitalistischen Gesellschaften erkundet werden.

Der Einsicht in dieses zentrale Erkenntnisinteresse von Mauss verdankt sich, wenn ich es richtig sehe, die erstaunliche Flut von Veröffentlichungen, die innerhalb des letzten Jahrzehnts zu seinem Werk im deutschsprachigen Raum erschienen sind; dazu gehören nicht nur erstmalige Editionen von hierzulande bislang weitgehend unbekannten Schriften aus seiner Feder (vgl. Mauss 2012 [1968/1969], 2015 und 2013 [1947]), sondern auch monografische Einführungen in sein Gesamtœuvre sowie Sammelbände zur Schrift Die Gabe (vgl. Moebius 2006; Moebius und Papilloud 2006). Nicht alles aus diesem Konvolut von Neuerscheinungen ist gewiss in derselben Weise geeignet, jenes zuvor umrissene Bild des politisch-praktisch motivierten Sozialtheoretikers zu unterstützen – so dient etwa das Handbuch der Ethnographie (2013 [1947]) im Wesentlichen nur einer methodischen Klärung von Leitlinien der ethnografischen Forschung; aber im Großen und Ganzen lässt sich wohl sagen, dass sich das neuere Interesse am Werk von Marcel Mauss vor allem dem Eindruck verdankt, darin würde mit positivistischen Mitteln, enormen geschichtlichem Sachverstand und soziologischer Phantasie nach Wegen der Überwindung des privategoistischen Geistes der kapitalistischen Moderne gesucht (vgl. exemplarisch Karsenti 1997). Im Lichte eines solchen Erkenntnisinteresses muss nun fraglos auch Mauss’ direkt nach dem Ersten Weltkrieg erwachtes Engagement für das Thema des Nationalstaats und des Nationalismus verstanden werden; nach allem, was wir über seine Motive für dieses dann bis ans Lebensende verfolgte Projekt wissen, glaubte der Soziologe, in der Nation eine »totale soziale Tatsache« entdeckt zu haben, die wie die archaische »Gabe« alle sozialen Sphären umfasst, daher zwischen wirtschaftlichen, politischen oder rechtlich-moralischen Belangen keine Unterscheidungen zulässt und die Gesellschaftsmitglieder unter normalen Bedingungen dazu motiviert, sich gemeinsam für eine kooperative Form des Wirtschaftens einzusetzen und nach friedlichem Austausch mit allen anderen Staatsvölkern zu streben. Legt man sich das Ziel der vorliegenden Studie in dieser Weise zurecht, so wird unmittelbar klar, vor welche enormen Herausforderungen sich Mauss gestellt gesehen haben muss; so perfektionistisch wie er offensichtlich sowohl in empirischer als auch in theoretischer Hinsicht war, verlangte ein solches Projekt von ihm nicht nur eine geschichtliche Rekonstruktion sowohl der Entstehung als auch der allmählichen Verbreitung des Nationalstaatsgedankens, sondern auch eine begriffliche Differenzierung von unterschiedlichen Graden und Formen der Nationenwerdung oder, wie Mauss sagt, der »Nationalisierung« einer Gesellschaft. All das wird nun in der vorliegenden Studie unter steter Einbeziehung des historischen Materials mit begrifflicher Akribie und enormem Gespür für weltpolitische Zusammenhänge entwickelt – wollte man in Hinblick auf das atemberaubende Vermögen zur begrifflichen Durchdringung geschichtlich komplexester Vorgänge nach Vergleichbarem in der Soziologie Umschau halten, so fiele einem im deutschsprachigen Raum als erster wohl Max Weber ein.

Auf jeden Fall besteht das enorme Verdienst der vorliegenden Studie darin, bei Berücksichtigung der Vielzahl historischer Einzelfälle eine Reihe von generalisierungsfähigen Hypothesen zu entwickeln, die die Ausgangsbedingungen und die normative Entwicklungsrichtung der Nationenbildung betreffen. Das beginnt mit der Beobachtung, dass eine Gesellschaft, nämlich eine unter einer bestimmten Verfassung kontinuierlich auf einem eigenständigen Territorium zusammenlebende Gruppe von Menschen, erst dann zu einer Nation wird, wenn sie durch die Zentralisierung politischer Macht weit genug sozial integriert ist, um jedes Mitglied gegenüber dem staatlichen Zentralorgan eine politische Loyalität empfinden zu lassen. Bereits diese erste Bestimmung erlaubt es Mauss dann im Weiteren, an solchen nationalstaatlichen Gebilden graduelle Differenzierungen vorzunehmen, die sich daran bemessen, in welchem Grade die sozial integrierenden Normen bereits als kollektiv hervorgebracht begriffen werden und damit aller außersozialen Autorität entkleidet worden sind – ist ein solcher Säkularisierungsprozess noch nicht abgeschlossen, besteht also weiterhin der Glaube an religiöse Quellen politischer Macht oder gilt die politische Treuepflicht anderen sozialen Organen als den zentralstaatlichen Instanzen, so spricht Mauss von bloßen »Nationen im Werden« oder auch von politischen Reichen.

All diese Unterscheidungen, zu denen noch viele weitere hinzukommen, die ausnahmslos von eminenter Bedeutung für die politische Soziologie sind, dienen dem Autor allerdings nur als Vorstufe zur Behandlung des Themas, das ihm vor allem am Herzen liegt – nämlich welche normative Entwicklungsrichtung die einmal erfolgreich errichteten Nationen dann nehmen können, wenn sie nicht in eine »Fetischisierung« nationaler Gemeinsamkeiten und damit in einen partikularistisch überhöhten Nationalismus abgleiten. Hier setzt ein, was die französischen Herausgeber des Buches als Tendenz zu einer »geschichtsphilosophisch-teleologischen Herangehensweise« bezeichnen und worin angesichts der gegenwärtigen Lage der Weltpolitik sicherlich das eigentlich Herausfordernde der Argumentation von Mauss liegt; er ist der Überzeugung, dass es der mit der Nationalstaatsbildung einhergehende Wandel im moralischen Kollektivbewusstsein für alle Staatsbürger und -bürgerinnen nahelegt, sich für eine staatlich kontrollierte, den genossenschaftlichen Geist befördernde Wirtschaftspolitik einzusetzen und einen friedlichen Austausch mit allen anderen Staatsvölkern herbeizusehnen. Allerdings stützt Mauss diese optimistische Diagnose nicht allein auf Vermutungen über Wandlungen im kollektiven Moralbewusstsein, sondern noch viel stärker auf Mutmaßungen bezüglich der sozialisierenden Wirkungen der historisch neu entstandenen Kommunikationsmittel; was der wirtschaftliche Zwang zum internationalen Handel an Techniken entstehen lässt, um Verkehrswege abzukürzen, Transfers zu ermöglichen und Absprachen zu treffen, ist nach Überzeugung des Soziologen zusammengenommen dazu angetan, sowohl den inneren Zusammenhalt einer Nation zu stärken als auch den Hang zu einem friedlichen Internationalismus zu befördern.

Liest man heute alle diese zuversichtlichen Prognosen, so drängt sich unweigerlich die Frage auf, welche historischen Entwicklungen deren Realisierung in den letzten beiden Jahrzehnten verhindert haben; nach dem dramatischen Ende des Kalten Krieges machte sich weltweit ja die Hoffnung auf eine Überwindung der Feindseligkeit zwischen den Nationalstaaten breit, die inzwischen durch das Wiedererwachen eines von Mauss bereits befürchteten Fetischismus nationaler Besonderheiten bitter enttäuscht worden ist. Angesichts solcher Rückschritte lässt sich die weitblickende Studie von Marcel Mauss wohl am ehesten als Skizze eines idealen Entwicklungsverlaufs verstehen, vor deren Hintergrund empirisch zu prüfen ist, welche politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Weichenstellungen es verhindert haben, dass die von ihm prognostizierten Verbesserungen eingetreten sind; gerade der optimistische Überschwang seiner soziologischen Analyse der Entstehung und Zukunft von »Nationen« wäre es dann, der uns heute bei der erforderlichen Aufklärung der weltpolitischen Lage zugute käme. Es bleibt daher nur zu hoffen, dass die vorliegende Studie die Leserinnen und Leser findet, die sie im Sinne einer therapeutischen Unterrichtung über die Verfehlungen der letzten Jahrzehnte zu nutzen wissen.

Axel Honneth

Frankfurt am Main, im August 2017

Zur Einführung1

Die Nation: Eine Expedition in den Bereich des Normativen

Jean Terrier und Marcel Fournier

Für seine Bewerbung als Nachfolger von Jean Izoulet auf dem Lehrstuhl für Sozialphilosophie am Collège de France verfasste Marcel Mauss 1930 im Alter von 58 Jahren eine »Notiz«, die Angaben zu seinem beruflichen Werdegang und ein Schriftenverzeichnis enthielt (vgl. Fournier 1996). Der Zweck eines solchen Textes besteht gewöhnlich in der Beschreibung des Gesamtwerks des Bewerbers, wobei besonderes Augenmerk auf die Spezifität und Originalität von dessen wissenschaftlichen Leistungen gelegt wird. Einer der roten Fäden dieser Vorstellung ist die klare Trennungslinie, die Mauss zwischen einerseits der »reinen Wissenschaft«, für die seine anthropologischen und soziologischen Arbeiten stehen, und andererseits den Schriften zieht, die den »Bereich des Normativen« betreffen (Mauss 1979: 220). Gegen Ende des Textes erwähnt Mauss kurz ein »in Vorbereitung« befindliches »großes Werk«, dessen »Manuskript so gut wie abgeschlossen« sei und in dem »die Nation« als »Grundbestandteil einer modernen Politik« betrachtet werde (ebd.). Er fügt hinzu, dass dieses Werk nicht in der Buchreihe »Travaux« von L’Année sociologique erscheinen werde, da er Wert darauf lege, »die reine Soziologie selbst von einer absolut unvoreingenommenen Theorie zu unterscheiden« (ebd.). Mauss präsentiert dieses Werk gleichzeitig als Synthese und Weiterentwicklung vorhergehender Veröffentlichungen über das Genossenschaftswesen, die Nation und den Internationalismus sowie über den Bolschewismus und als Kulminationspunkt seiner Überlegungen zur politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Zu Mauss’ Lebzeiten ist dieses Werk nicht erschienen, geschweige denn fertiggestellt worden; wie wir weiter unten näher ausführen werden, wurden nach seinem Tod nur Bruchteile davon veröffentlicht.

Die Berufung von Mauss ans Collège de France, die für den Durkheimismus und die Sozialwissenschaften im Allgemeinen eine Form von Anerkennung darstellte, gestaltete sich schwierig. Das zeigen die vielen Debatten über die Art des zu schaffenden Lehrstuhls, die wiederum zu weiten Teilen über die Person bestimmt, die am geeignetsten ist, ihn zu übernehmen. »Sozialphilosophie«, »Politische und ökonomische Ordnung Europas«, »Geschichte der mittelalterlichen Philosophie«, lauten die Denominationen, die in Betracht gezogen wurden. Schließlich einigte man sich auf die Schaffung eines Lehrstuhls für »Soziologie«, auf den Marcel Mauss am 29. November 1930 berufen wurde. Der Gedanke ist nicht abwegig, dass gerade dieses Zaudern in Bezug auf die Art des zu schaffenden Lehrstuhls dazu führte, dass der Bewerber am Ende seiner »Notiz« besonders seine politischen Schriften hervorhebt; denn für diejenigen, die wie wir den Inhalt des »großen Werks« kennen, ist es offenkundig, dass es ebenso von der Soziologie her kommt wie von der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie und dabei gleichzeitig Überlegungen zur »politischen und ökonomischen Ordnung« Europas über einen sehr langen Zeitraum hinweg enthält.

Dass Mauss so viel Gewicht auf die politische Seite seines Denkens legte, mag seine Zeitgenossen überrascht haben. Denn mit Ausnahme seines Textes über den Bolschewismus, der 1924 in der Revue de métaphysique et de morale erschien (Mauss 1997 [1924]), hat er seine politischen Schriften im Wesentlichen außerhalb des akademischen Feldes im engeren Sinne veröffentlicht: vor allem in der Presse sowie in Verbands- oder Gewerkschaftszeitschriften. Überdies wirkte die Zäsur zwischen Tatsache und Norm sowie Wissenschaft und Politik im Jahr 1930 aufgrund des damals am Ende der Dritten Republik noch deutlichen Einflusses von Kantianismus und Positivismus womöglich klarer und einleuchtender, als sie uns heute erscheint. In dem erwähnten Text beschreibt Mauss sich selbst ohne zu zögern als »Positivisten, der ausschließlich an Tatsachen glaubt« (Mauss 1979: 209).

Uns dagegen mag die Behauptung, dass das Denken von Mauss – und zwar in seiner Gesamtheit – auch ein politisches Denken ist, banal erscheinen. Denn viele seiner Texte, angefangen natürlich mit seinem Essay Die Gabe, haben eine sehr politische Rezeption erfahren. Dafür gibt es Beispiele zuhauf, wie etwa der hochgradig normative Gebrauch, den das Collège de sociologie um Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois von Mauss’ Schriften gemacht hat (Hollier 2012 [1995]; oder aber, jüngeren Datums, die von Alain Caillé ins Leben gerufene Arbeit von M.A.U.S.S. (Mouvement anti-utilitariste dans les sciences sociales), die unter anderem eine ganz bestimmte Lesart der Gabe politisch anzuwenden versucht.2 Zudem sind Mauss’ politische Schriften für uns im Unterschied zu seinen Zeitgenossen leichter zugänglich (Mauss 1997); dies hat eine große Zahl von Fachuntersuchungen über Mauss als »Gelehrten und Politiker« nach sich gezogen (vgl. Dzimira 2007), die sich teilweise mit dessen Herangehensweise an das Phänomen des Nationalen beschäftigen.3 Der Einfluss der Überlegungen von Mauss zur nationalen Frage ist zwar nach wie vor gering; die meisten Exegeten und politischen Denker beziehen ihre Anregungen weiterhin aus dem Essay Die Gabe. Gleichwohl lässt sich nicht mehr behaupten – wie noch Raymond Aron 1976 –, dass Die Nation ein »höchst selten gelesener und höchst selten zitierter Text« sei.4 So reiht sich zum Beispiel Dominique Schnapper mit ihrer Studie über das Phänomen des Nationalen ausdrücklich in die Mauss’sche Traditionslinie ein (Schnapper 1994). Und Rogers Brubaker, gegenwärtig einer der bedeutendsten Vertreter der Nation and Nationalism Studies, hat Mauss eine scharfsinnige kritische Untersuchung gewidmet (Brubaker 2004).

So wichtig solche Untersuchungen auch sein mögen, erfuhren sie doch dadurch notwendig eine Einschränkung, dass das Hauptwerk, das Mauss dem Phänomen des Politischen gewidmet hat, nicht verfügbar war. Bisher schien es nicht ratsam oder auch nur möglich zu sein, einen zwar weit fortgeschrittenen, aber doch unvollständigen Text öffentlich zu machen, der zu einem guten Teil bloß aus hastig verfassten Manuskripten mit vielen Streichungen besteht, in denen sich viele Stellen kaum entziffern lassen. Henri Lévy-Bruhl hat daher in seiner Edition von 1956 bekräftigt, dass »es nicht in Frage kam, sie in diesem Zustand zu veröffentlichen, da einige von ihnen absolut unleserlich und andere nicht genügend ausgearbeitet waren« (Lévy-​Bruhl 1969 [1956 [1953/54]] : 571). Deshalb hat er sich damit begnügt, ziemlich kurze, aber ausgesprochen sorgfältig transkribierte Auszüge zu veröffentlichen. In den Jahren 1997 und 1998 hat Marcel Fournier unsere Textkenntnis dadurch erweitert, dass er weitere Auszüge verfügbar machte.5

Die Herausgeber dieses Bandes haben sich selbst ein Urteil über den Inhalt dieser Manuskripte bilden wollen. Nach Sichtung aller im Fonds Marcel Mauss am IMEC in der Abbaye d’Ardenne verwahrten Mappen schien uns das Thema interessant, seine Behandlungsweise originell, die Bedeutung des Textes beträchtlich und seine Edierung möglich, wenn auch schwierig zu sein. Mit dieser Abhandlung legen wir nun der Öffentlichkeit die Summe unserer Bemühungen vor.

Natürlich handelt es sich um ein unvollendetes Werk, doch wir sind trotzdem der Überzeugung, dass an seinem Erscheinen ein großes Interesse besteht. Wenn Mauss seine bis 1930 veröffentlichten politischen Artikel als »Abstecher« in den Bereich des Normativen bezeichnet, so scheint es uns angemessen, in Bezug auf das »große Werk« von einer echten Forschungsreise, einer Expedition zu sprechen. Denn dieser Text hat tatsächlich den Charakter eines Abschlussberichts bzw. einer von einer Reise in die Ferne mitgebrachten Abhandlung. Mit anderen Worten gibt Mauss auch an den Stellen, an denen er als politischer Philosoph, als Historiker und als Ökonom agiert, die ethnologische Methode nicht völlig auf und bleibt der Vorgehensweise seines Faches treu, aufgrund des Umwegs über eine wenig vertraute Realität notgedrungen auf Distanz zu gehen, die Tatsachen akribisch zu beobachten und zu sammeln, die so gewonnenen Erkenntnisse zusammenzutragen und gegebenenfalls praktische Schlussfolgerungen vorzulegen. Wir haben uns bemüht, diesen Text so weit wie möglich mit dem in Einklang zu bringen, was der Verfasser gewollt hätte: ein »großes« politisches »Werk« – allerdings ohne die Schwankungen, Unschlüssigkeiten, Widersprüche, Ungereimtheiten und Fehler zu unterschlagen, die das Manuskript an einigen Stellen enthält. Die – dezidiert Mauss entlehnten – Prinzipien, von denen wir uns bei der Einrichtung des Textes haben leiten lassen, werden wir weiter unten erläutern. Zunächst seien die leitenden drei Gesichtspunkte dieser Edition hervorgehoben: Wir möchten die Entstehung des Projekts beschreiben und es in das Leben und Werk von Émile Durkheims Neffen in einer der aktivsten Phasen seines beruflichen und politisch engagierten Lebens – zwischen 1920 und 1930 – einordnen (1); wir möchten die Grundgedanken dieses Textes darlegen und dabei besonders seine Originalität unterstreichen (2); und wir möchten den Fragmentcharakter dieses Werks und einige seiner Grenzen erläutern, indem wir sowohl seinen internen Spannungen als auch dem Kontext der Zwischenkriegszeit Rechnung tragen (3).

1. Die Nation: Stationen eines Forschungsprojekts

Einige Hinweise erlauben die Annahme, dass Marcel Mauss schon im Ersten Weltkrieg während seiner Zeit an der Front über den Plan zu einem Buch über die Nation nachgedacht hat. In dieser Hinsicht besonders interessant sind die Kriegserinnerungen, die in Mauss‘ Manuskript von Die Nation anklingen.6 Mauss erwähnt »die langen Mußestunden innerer Einkehr«, zu denen es sogar in den »schlimmsten Augenblicken« des Krieges kam, in denen »Einschläge in der Nähe und in der Ferne unsere Truppen trafen« und »wir von unser aller abgrundtiefem Verhängnis […] und der Furcht vor der Zeit nach dem Krieg« beherrscht waren. In diesen Augenblicken versuchte er zu verstehen, »warum« dies alles geschah – und darin liegt der Keim seines Buches, das ursprünglich einem »Traum an der Front« entsprang.7 Mauss stand sofort eine angemessene Methode vor Augen – nämlich im Ausgang von den Tatsachen zu praktischen Schlussfolgerungen zu gelangen –, und er sah seine Bemühungen in dem »Nutzen« gerechtfertigt, den ein solches Werk für alle Gesellschaften haben würde. Denn Mauss hoffte, Wege aufzeigen zu können, die mit größter Sicherheit den Frieden garantieren würden:

»In der kurzen Zeitspanne, die uns unser bereits von Alter und Krieg angegriffenes Leben noch lässt, habe ich alle denk- und zumutbaren Anstrengungen unternommen, meine Nachforschungen durchzuführen und niederzuschreiben. Meiner Meinung nach habe ich die Problemstellung so gut abgesichert und so pragmatisch […] und außerdem so übersichtlich und so allgemein gehalten, dass dieses Werk nützlich sein könnte – auch über unsere Zeit und die gegenwärtigen, vornehmlich westlichen Gesellschaften hinaus.«8

Nach seiner Rückkehr ins zivile Leben macht Mauss sich an die Verwirklichung des geplanten Werks. Die Hauptanstrengung konzentriert sich auf das Jahr 1920, besonders während der Sommermonate und zu Beginn des Herbstes. Als er eingeladen wird, sich auf einer vom 24. bis zum 27. September in Oxford stattfindenden Konferenz zum »Problem der Nationalitäten« zu äußern, zieht Mauss sich zur Vorbereitung seines Vortrags in seine Heimatstadt Épinal in den Vogesen zurück, wo seine Mutter Rosine immer noch wohnt. Dort setzt er auch seine Arbeit an Die Nation fort: »jeden Morgen«, macht er in einem Brief an Henri Hubert deutlich. Nicht ohne Stolz präsentiert er seinem Freund und »Arbeitszwilling« das »Ergebnis seiner Arbeit«:

»Das IV. Buch über den Sozialismus ist fertig: Kap. I. Definition des Sozialismus. Geschichte. Definition der Nationalität (fertig). Kap. II. Die Formen des Sozialismus. Geschichte und Kritik des utopischen Sozialismus, des pamphletistischen Sozialismus, des Staats- und Fabriksozialismus und des revolutionären Sozialismus (fertig). Kap. III. Schwierigkeit der Einwirkung auf die Gesellschaft (fertig, mit 140 S. aber zu lang, an LB [Lévy-Bruhl] geschickt). Kap. IV. Theorie der Nationalisierung (teilweise fertig, unterbrochen bis das Buch der Webbs eintrifft). Kap. V. Der Sozialismus der Institutionen (teilweise fertig). Kap. VI. Entwurf der anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen (muss noch geschrieben werden).«9

All dies ist ziemlich weit entfernt von der Vorstellung, die man sich auf der Grundlage des von Henri Lévy-Bruhl 1956 veröffentlichten Textes über die Nation von Mauss’ Werk machen würde: In diesem Text sind nämlich nur die benachbarten Themen der Nation und des Internationalismus vertreten, während die Frage des Sozialismus, die immerhin die Hälfte des Projekts ausmacht, außer Acht gelassen wird; umgekehrt findet die nationale Frage in der obigen Liste kaum Erwähnung. Wenn man jedoch eine zweiseitige handschriftliche Notiz miteinbezieht,10 wird deutlich, dass Mauss von vornherein ein ungemein umfangreiches und ambitioniertes Projekt ausgearbeitet hatte. Dieser nahezu unleserlichen Notiz zufolge sollte der Titel des Werks »Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale« lauten. Sie enthält auch den Entwurf eines Arbeitsplans, aus dem hervorgeht, auf welche Themenfelder Mauss eingehen wollte. Von diesen äußerst zahlreichen und vielfältigen Themen lassen sich folgende entziffern: die »Bewusstheit der Nation«, die Rechte der Bürger, die Definition des Sozialismus, die »relative Neuheit des Sozialismus«, die Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus, der »reaktionäre, primitive Charakter des Bolschewismus«, die Begriffe der »Nation«, des »Kollektivismus«, der »Nationalisierung«, die Theorie der Berufsgruppen (Durkheim) und die Klassentheorie (Marx).

Mauss ist sich der Schwierigkeit der Aufgabe bewusst, ein, wie er im Haupttext schreiben wird, »vor allem politisch[es] Buch« in Angriff zu nehmen, das versucht, »die gegenwärtige Situation der Nationen zu beschreiben und daraus einige wenige Lehren für die Praxis zu ziehen«.11 Diese Schwierigkeit hat zwei Gründe: Erstens ist der »nötige Abstand […] nicht gegeben«, und abgesehen davon fehlt es an Daten. Mauss »[geht] das Risiko ein« und hofft, dass »[seine] Beobachtungen […] binnen kurzer Zeit entkräftet oder bestätigt werden«.12 Die Abfassung von Die Nation wird mehrfach unterbrochen und wieder aufgenommen. Ende 1921 zwingt eine schwere Krankheit – eine Lungenstauung – Mauss zu einem langen Krankenurlaub. Seine überraschten Freunde raten ihm zu absoluter Ruhe, bedauern aber, dass »der Staat, die Nation und alles, was sich daraus ergibt, liegenbleibt!«13 Im Anschluss an diese Beurlaubung (Mauss nimmt den Lehrbetrieb erst im April 1922 wieder auf) wendet er sich anderen Tätigkeiten und Forschungsfeldern zu und widmet der Nation nicht mehr alle seine Kraft. Ende des Jahres berichtet er seinen englischen Freunden Sir James Frazer und Lady Frazer von der Verzögerung, zu der es bei seiner Arbeit gekommen ist: »Unhappily my great work on ›La Nation‹ is rather backwards not through my fault. But if my health keeps strong enough I hope to be able to finish it next year and return after to my former studies.«14

Doch Mauss zieht es zunehmend zu neuen Ufern. Zunächst einmal widmet er seinem politischen Engagement viel Zeit. Außerdem findet er zu seinem bevorzugten Betätigungsfeld zurück: der Genossenschaftsbewegung. Er erklärt sich bereit, regelmäßig für L’Action coopérative zu schreiben (zwischen Januar 1920 und August 1921 erscheinen mehr als 20 Artikel aus seiner Feder). Sein Hauptanliegen sind nämlich Bildung und Erziehung. »Es geht darum«, heißt es wiederholt, »sowohl Kader zu bilden als auch die Massen zu erziehen.« (Mauss 1997 [1920b]: 325) Als aktiver Propagator ist Mauss auch in die Organisation der Genossenschaften eingebunden und bleibt bis 1925 Mitglied des Planungsstabes des Nationalen Konsumgenossenschaftsverbands, der Fédération nationale des coopératives de consommation (FNCC); im Jahr 1922 beteiligt er sich an einer neuen, vom Verband ins Leben gerufenen Unterrichtskommission, zu deren Aufgaben es gehört, alle nützlichen Informationen über die Genossenschaftsbewegung zu sammeln und den Medien und dem schulischen Umfeld zugänglich zu machen. Und als schließlich Aktivisten und Kenner der Genossenschaftsbewegung das Projekt eines »wissenschaftlichen Organs, das sich der Untersuchung genossenschaftlicher Probleme widmet«, auf den Weg bringen – die Revue des études coopératives –, willigt Mauss ein, dessen Redaktionskomitee beizutreten. Er unterzeichnet das »Genossenschaftsmanifest«, das in der ersten Ausgabe erscheint, und veröffentlicht in der vierten Ausgabe einen langen Artikel über die »Notwendigkeit einer statistischen Abteilung im Nationalen Konsumgenossenschaftsverband«: »Nehmen wir uns die Genossenschaftsstatistik vor!«, verkündet er (Mauss 1997 [1921b]). Zum selben Zeitpunkt nimmt Marcel Mauss seine journalistische Tätigkeit wieder auf und veröffentlicht ab dem Sommer 1920 in La Vie socialiste regelmäßig Texte über die Genossenschaftsbewegung, Erinnerungen, Überlegungen zu »neuen Formen des Sozialismus« und kurze Analysen der internationalen politischen Lage (Polen, Großbritannien, Italien), nicht zu vergessen die zentrale Frage der Stunde: der Beitritt zur Dritten Internationale. Aus Treue zu Jean Jaurès verfolgt La Vie socialiste die Absicht, sich diesem Beitritt zu widersetzen, kann aber nicht verhindern, dass es zum Bruch kommt, der die Gründung der Kommunistischen Partei Frankreichs nach sich zieht. Damals büßen die Sozialisten die Kontrolle über die Zeitung L’Humanité ein, und als Zentralorgan der Sozialisten bietet sich die vier Jahre zuvor von Jean Longuet gegründete, laut Mauss »nette kleine Zeitung« Le Populaire an. Als diese in eine Morgenzeitung umgewandelt wird, erklärt Mauss sich bereit, Mitglied ihres Aufsichtsrats und ihrer Führungsspitze zu werden. Zwischen 1921 und 1925 veröffentlicht er eine große Zahl von Artikeln, darunter drei Artikelserien über »Wechselkurse«: die erste zwischen dem 4. und dem 21. Dezember 1922 (sieben Artikel), die zweite vom 18. Januar bis zum 3. April 1924 (24 Artikel) und eine dritte, darunter ein Postskriptum, vom 14. April bis zum 14. Mai 1924 (fünf Artikel). Die Arbeit eines echten Fachmanns für politische Ökonomie. Mauss liest Keynes sowie den Autor von Die Deflation (1925 [1924]), Charles Rist, und diskutiert mit seinem Freund, dem Soziologen und Ökonomen François Simiand. Wir befinden uns in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es versteht sich von selbst, dass eine der zentralen Fragestellungen dieser Arbeit internationaler Natur ist: Will man vermeiden, dass Europa »abgleitet«, muss, wie Mauss selbst unterstreicht, eine »rationale Reparationspolitik«, die die Aktiv- und Passivposten der Kriegsparteien auf »vernünftige« Weise festsetzt, betrieben und eine Wechselkurspolitik eingeleitet werden (Mauss 1997 [1922a].

Marcel Mauss maßt sich keineswegs an, »höhere Ökonomie« zu betreiben. Es geht ihm darum zu verstehen, was geschieht, und den sozialistischen Aktivisten die kritische finanzielle Lage zu erklären, in der Frankreich sich zu jener Zeit befindet und die durch die Instabilität des Franc und die Schwierigkeiten der Regierung gekennzeichnet ist, für einen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen. Seine Untersuchung über die Wechselkurse versteht Mauss als »sachdienlich«, und im Stil des Chefs der Sozialistischen Partei, Léon Blum, schlägt er eine ganze Reihe von Sofortmaßnahmen vor: die Abwertung des Franc, die Einführung einer Erbschafts- und Vermögenssteuer, den Ausgleich des Haushalts durch die Auferlegung »neuer Opfer« (neue Steuern, Verringerung der Staatsausgaben usw.) (Mauss 1997 [1922b]). Mauss zieht daraus eine allgemeine Schlussfolgerung, deren Hauptgedanken er von Simiand übernimmt und der folgendermaßen lautet: aus den Manipulationen der Währungen und Kredite ein »sozialrevolutionäres Instrument« machen, das »mühe- und schmerzlos« ist. In den Augen von Mauss besteht darin eine Möglichkeit, »die Wissenschaft in den Sozialismus einzubeziehen«, die Politik zur Vernunft zu bringen und konkrete Lösungen zu finden. Das Erscheinen der Artikelserie über »Die Wechselkurse« wird eingestellt, als Le Populaire scheitert und 1924 von einer Tageszeitung auf eine Halbmonatsschrift umgestellt wird.

Auch in professioneller und intellektueller Hinsicht ist Mauss beschäftigter denn je. Als »Erbe« muss er die neue Folge von L’Année sociologique auf den Weg bringen (1925–1927); in der ersten Ausgabe erscheint sein berühmter Essay Die Gabe (1925), ein Text von über 150 mit ausgesprochen vielen Belegstellen versehenen Druckseiten. Daneben beteiligt er sich an der Gründung des Institut français de sociologie und ruft in Zusammenarbeit mit Lucien Lévy-Bruhl und Paul Rivet das Pariser Ethnologie-Institut ins Leben. Außerdem arbeitet Mauss an einem »kleinen Buch« (zweifellos im Unterschied zu dem »großen Werk« über die Nation), eine soziologische Bewertung des Bolschewismus, dessen Einleitung und erstes Kapitel er im Februar 1925 unter dem Titel »Socialisme et bolchevisme« in Le Monde slave veröffentlicht (Mauss 1997 [1925a]). Andere Teile waren schon im Jahr zuvor in der Revue de métaphysique et de morale erschienen. Nach eigenen Angaben hat Mauss die Abfassung des Buches Ende 1923 beendet, und er fügt hinzu: »Ich muss noch die letzten beiden Kapitel auf den neuesten Stand bringen, was leicht sein wird.« (Ebd.: 699) Doch das Werk ist niemals erschienen. Mauss’ Arbeitsweise ist nicht dazu angetan, ihn große Schreibprojekte zum Abschluss bringen zu lassen, wie er selber dem amerikanischen Soziologen E. E. Eubank anvertraute, als dieser auf der Durchreise in Paris war: »Ich […] arbeite ganz einfach an meinem Material, und falls sich hier und da mal eine brauchbare Verallgemeinerung zeigt, dann notiere ich sie mir, und wende mich dann etwas anderem zu. […] Wenn ich eine Arbeit völlig abgeschlossen habe, vergesse ich sie, lege sie beiseite und beginne etwas Neues.« (Eubank 1985 [1934]: 154; Übers. modifiziert) Wie man am »Bruchstückhaften Plan zu einer allgemeinen deskriptiven Soziologie« erkennt, das im ersten Heft der neuen Zeitschrift erscheint, ist Mauss anscheinend mehr daran gelegen, verschiedene Forschungsstrategien vorzuschlagen, als eine allumfassende soziologische Theorie auszuarbeiten. »Es ist wenig hilfreich, über eine allgemeine Soziologie zu philosophieren, wenn man zunächst so viel kennenlernen und wissen muss und dann so damit beschäftigt ist, es zu verstehen.« (Mauss 1969 [1934]: 354)

Anfang der 1920er Jahre verdrängen die Überlegungen zum Phänomen der Gabe allmählich die Beschäftigung mit der Nation. 1920 erscheint »Quelques faits concernant des formes archaïque de contrat chez les Thraces« (Mauss 1920), 1921 »Une forme ancienne de contrat chez les Thraces« (Mauss 1969 [1921]) und 1923 dann »L’obligation à rendre les présents« (Mauss 1969 [1923]). In seinen Vorlesungen an der École pratique des hautes études werden im Studienjahr 1923/1924 Malinowskis Arbeiten erörtert, insbesondere der Potlatsch, das agonistische Ritual der Gabe bei den Kwakiutl im Nordwesten Amerikas. In den Mélanges offerts à Charles Andler veröffentlicht Mauss »Gift, Gift« (1969 [1924]), und Die Gabe kommt schließlich 1925 heraus.

Auch wenn sich zwischen 1920 und 1925 der Wechsel von einem Forschungsthema zu einem anderen feststellen lässt, wäre es falsch, darin einen Bruch zu sehen. Wie in einigen Interpretationen angemerkt worden ist (vgl. Mallard 2011; Ramel 2006), besteht zwischen Mauss’ Arbeit an der Nation und der an der Gabe durchaus eine Form von Kontinuität. In gewisser Weise kann man sogar sagen, dass Die Gabe eine Vertiefung seiner Arbeit über die nationale Frage darstellt. Einerseits, und darauf hat Florence Weber hingewiesen, besteht das »politische Hauptanliegen von Die Gabe« in der »Kritik von Almosen« und der Begründung eines Rechts auf nationale Solidarität und Sozialhilfe (Weber 2012). Andererseits sollte aber auch die andere wesentliche Achse dieses berühmten Textes nicht unterschlagen werden: die Beziehung zwischen sozialen Entitäten. Die Nation und die Gabe sind mit anderen Worten zwei Seiten derselben Problematik, nämlich der Beschaffenheit des »Intersozialen«. Nach der Lektüre der Schlussfolgerungen von Die Gabe wirft Henri Hubert seinem Freund denn auch vor, dass er »politische und moralisch-praktische Erwägungen« in seine Analyse gemischt habe, und er fragt ihn: »Bist Du wirklich sicher, dass man Deinen menschlichen ›Felsen‹, wie Du sagst, mit der Entwicklung der Sozialversicherung in Verbindung bringen kann? In jenem Absatz hast Du mehr an Dein Buch über die Nation gedacht als an Dein gegenwärtiges Thema. Ich finde, Du triffst nicht den richtigen Ton.«15

Grundsätzlich besteht der Gedanke von Mauss darin, dass die Identität einer jeden sozialen Entität – eines Individuums, eines Clans, einer Klasse, einer Nation, einer Zivilisation – von ihrem Austausch mit den anderen sozialen Entitäten abhängt, sodass diese verschiedenen Ebenen ein »hypersoziales System von sozialen Systemen« bilden (Mauss 1969 [1930]: 463). Wenn die Sozialwissenschaften ein soziales Phänomen erfassen wollen, müssen sie also immer den Kontext mitberücksichtigen, in dem es steht. Dies gilt für die Gesellschaften: »Denn der Glaube, dass die Außenpolitik einer Nation nicht zu weiten Teilen ihre Innenpolitik bedingt, und umgekehrt, ist eine Abstraktion.«16 Und dies trifft auch auf Individuen zu, die als Produkte des Sozialisierungsprozesses immer in einem sozialen »Milieu« verankert sind. So »lebt« jede Gesellschaft, »die für die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, bereits ein Milieu darstellt, […] inmitten anderer Gesellschaften, die ebenfalls Milieus darstellen.« Und daraus schließt Mauss ganz logisch, »dass die Gesamtheit der internationalen oder, besser gesagt: intersozialen Bedingungen des Zusammenlebens der Gesellschaften ein Milieu der Milieus darstellt.«17

Ebenso sehr wie Die Gabe reiht sich Die Nation in diese Art von Sozialphilosophie ein. Der letztgenannte der beiden Texte beharrt auf der Bedeutung des intersozialen Austauschs als fundamentale Tatsache des gesellschaftlichen Lebens. Natürlich kommt es hier nicht in Frage, dass wir alle Bestandteile der sehr anregenden und originellen Mauss‘schen Überlegungen zum Internationalen erläutern, doch mehrere starke Punkte verdienen Beachtung. Erstens legt Mauss gegen die humanistische und kosmopolitische Philosophie das Gewicht auf das, was man die »Konkretheit« des Austauschs nennen könnte. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf dessen materielle Bedingungen und Vermittlungen: Verkehrswege, Navigationstechniken, Kommunikationsmittel usw.18 In einigen in ihrer Hellsichtigkeit bemerkenswerten Abschnitten schreibt Mauss zum Beispiel, dass die Entwicklungsschritte, die das Telefon, der Telegraf und das Reisen darstellen, dabei sind, die internationalen Verhältnisse von Grund auf zu verändern: Die ganze Welt wird dadurch zu einem einzigen Kommunikationsraum, der »in Erregung [gerät], spürt, was auf der Welt geschieht, und [darauf] reagiert«; es bildet sich eine »öffentliche[] Meinung der Menschheit«, die in der Lage ist, die Regierungen dauerhaft zu überwachen und sie dadurch zu nötigen, ihre »uralten machiavellistischen Machtstrategien und Brutalitäten« aufzugeben.19 Zweitens interessiert Mauss sich für die sozialen Akteure als Träger des Austauschs. Den transnationalen Gemeinschaften – »verstreute Völker« (Juden, Zigeuner),20 »Händler«, »Siedler«, Matrosen, Soldaten, Künstler, Philosophen, Reisende – widmet er mehrere Seiten voller anregender soziologischer Eingebungen. Obwohl sie von den Sesshaften immer schlecht gemacht und verachtet wurden, haben diese Gruppen »überall dort, wo sie vorbeikamen, nachdrücklich für die Gärung des Fortschritts und der Zivilisation gesorgt«.21 All dies weist darauf hin, dass Mauss das evolutionäre Paradigma nicht minder zu überwinden sucht als die schlichten Einflusstheorien, indem er mit einer echten soziologischen Transfertheorie aufwartet, die die Rolle der Akteure des Transfers und der materiellen Formen, die diese Transfers annehmen, ganz genau analysieren soll.22 Mauss unterstreicht, dass »[a]lles Soziale, das nicht direkt Teil der Verfassung der Gesellschaft selbst ist«, nämlich ihr Territorium, ihre natürlichen Ressourcen und ihre großen sozialen Gruppen, »eine Anleihe einer Nation oder Gesellschaft bei einer anderen darstellen [kann]«:23 Über mehrere Seiten beschreibt Mauss konkret und kenntnisreich, wie materielle Güter, aber auch Ideen, Wortschätze, Künste und sogar Religionen und Rechtsnormen zwischen Nationen und Zivilisationen zirkulieren können.

Kommen wir nun zum Essay Die Gabe. Dieser Text fügt sich in das Mauss’sche Paradigma der Beziehungen und Interaktionen ein, insofern er sich mit drei Phänomenen befasst: (1) mit der Konstituierung der Individuen durch das Bindungsnetz, das sie untereinander durch den Tausch weben, der vor allem die Form des Geschenks annimmt; (2) mit den Austauschbeziehungen zwischen den sozialen Segmenten innerhalb derselben sozialen Entität (Kula und Potlatsch verbinden zum Beispiel alle Clans und Stämme miteinander, die jeweils den umfangreicheren Gesellschaften der Trobriander und der Kwakiutl angehören); (3) und eher andeutungsweise mit dem Austausch zwischen großen Gesellschaften, wie Reiche oder Nationen sie darstellen. So begegnet man in diesen Jahren bei Mauss einem Beharren auf der grundlegenden Offenheit der Gesellschaften, auf der Durchlässigkeit der sozialen Grenzen und auf dem Zirkulieren der Ideen und Güter: Jeder am Austausch teilnehmende Stamm ist gezwungen, »in seiner Gesamtheit aus dem engen Kreis seiner Grenzen, seiner Interessen und seiner Rechte« herauszutreten (Mauss 1995 [1925]: 65). Beim Tausch kommt die konstitutive »Mischung« von »Sachen, Werten, Verträgen und Menschen« zum Ausdruck.24

Unsere Interpretation zusammenfassend und vereinfachend, könnte man sagen, dass die 1920er Jahre bei Mauss durch die Absicht gekennzeichnet sind, den Internationalismus im Sinne eines weltweiten gesellschaftlichen Kooperationswillens soziologisch zu begründen. Eine solche Kooperation muss durch rechtliche Normen geregelt werden, und über diese Normen muss im Rahmen internationaler Instanzen nach dem Modell des Völkerbunds25 verhandelt werden, den Mauss begeistert unterstützt. Da Mauss – und darin ist er Durkheim treu – philosophischen Abstraktionen, dem Kosmopolitismus und einer Geschichtsphilosophie misstraut, der zufolge die Menschheit sich auf einen Weltstaat zubewegt, kommt es für ihn nicht in Frage, seinen Internationalismus als bloß normative Position, als bloßes Desideratum anzulegen. Er muss vielmehr auf einer Berücksichtigung der »konkete[n] Wirklichkeit« beruhen, »die der Beobachter am einfachsten und unmittelbarsten erfassen kann«, das heißt auf den »sozialen Gebilde[n], d[en] großen Kollektive[n], die im Laufe der Geschichte entstanden sind« (Durkheim und Mauss 2012 [1913]: 455). Er muss sich also den Entitäten widmen, die sich auf jeder Ebene des »hypersozialen Systems« feststellen lassen, um sie »zu beschreiben, sie in Gattungen und Arten einzuteilen, sie zu analysieren und zu versuchen, ihre einzelnen Bestandteile zu erklären« (ebd.). Der politische Internationalismus ist kurz gesagt nur als normativer Anhang einer Soziologie der sozialen und intersozialen Beziehungen möglich; und eine solche Soziologie beschreiben und begründen Die Nation und Die Gabe gemeinsam. Die Verwandtschaft der beiden Texte kommt besonders deutlich in einem Abschnitt von Die Gabe zum Ausdruck:

»Indem die Völker […] den Willen zum Frieden gegenüber plötzlichen Wahnsinnstaten geltend machen, gelingt es ihnen, das Bündnis, die Gabe und den Handel an die Stelle des Kriegs, der Isolierung und der Stagnation zu setzen. Die vorgeschlagene Untersuchung könnte also zu Folgerungen dieser Art führen. Die Gesellschaften haben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern. Zuerst mußten die Menschen es fertigbringen, die Speere niederzulegen. Dann konnte es ihnen gelingen, Güter und Personen auszutauschen, und zwar nicht nur zwischen Clans, sondern zwischen Stämmen und Nationen und vor allem zwischen Individuen. […] Auf diese Weise haben es die Clans, Stämme und Völker gelernt – so wie es in der Zukunft in unserer sogenannten zivilisierten Welt die Klassen, Nationen und Individuen lernen werden – einander gegenüberzutreten, ohne sich gegenseitig umzubringen, und zu geben, ohne sich anderen zu opfern.« (Mauss 1995 [1925]: 181 f.)

Dieser Auszug aus dem Schlussteil des Essays (»Allgemeine soziologische und moralische Schlußfolgerung«) scheint uns das internationalistische und pazifistische Anliegen, das ihm zugrunde liegt, gut zu veranschaulichen.

Nach dem Essay Die Gabe wendet Mauss sich anderen Forschungsthemen zu. Er veröffentlicht insbesondere einen Aufsatz über die physische Wirkung des Todesgedankens (Mauss 1926), danach einführende und die Methodenfrage betreffende soziologische Texte, die gleichwohl nicht frei von Überlegungen zum Politischen sind, da er sich darin um die Klärung des Verhältnisses von Sozialwissenschaften und Politik bemüht (Mauss 1969 [1927a], [1927b]). In diesen Texten schließt Mauss an Durkheim an und bekräftigt seinerseits, dass die Sozialwissenschaften nicht »eine Stunde Mühe« wert wären, wenn sie nicht zur Suche nach praktischen Lösungen anregen würden; doch gerade diese Nähe zwingt den Forscher dazu, »die Politik aus der reinen Soziologie zu eliminieren« – was für Mauss bedeutet, dass man vermeidet, auf kategorische Weise »Gesetze zu diktieren«, und dass man auch die Lücken hinnimmt, die jedes Wissen enthält: eine undogmatische Haltung, an der sich im Umkehrschluss auch die Politiker ein Beispiel nehmen sollten (Mauss 1969 [1927a]: 233). Schließlich muss sein 1929 gehaltener Vortrag über den Begriff der Zivilisation erwähnt werden (Mauss 1969 [1930]), über den wir weiter unten noch etwas sagen werden.

2. Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale

Mit der Wahl von »Der Sinn fürs Soziale« als Titelzusatz für dieses Buch haben wir einen Vorschlag von Mauss aufgegriffen.26 Unserer Meinung nach sollte man hier den Terminus »Sinn« unbedingt auch im Sinne von »gerichtet sein auf« verstehen: Mauss zufolge stellt die Nation somit ein Ziel dar, auf das die Gesellschaften zustreben. Dies spricht für eine zumindest teilweise geschichtsphilosophisch-teleologische Herangehensweise, in der wir lieber eine von Marx hinterlassene Spur als einen Evolutionismus à la Comte oder Spencer sehen würden.27 Wie wir gerade nahegelegt haben, besteht Mauss’ ursprüngliche Absicht in Die Nation jedenfalls darin, soziologische Argumente für eine antinationalistische und internationalistische politische Einstellung zu liefern; dieser Einstellung wiederum liegt in erster Linie die Erfahrung des Krieges zugrunde, dieser maßlosen Geißel der Moderne, diesem »Anschlag auf das menschliche Leben«:28 Es muss alles getan werden, um seine Wiederkehr zu verhindern. Die politische Matrix von Die Nation ist also das Projekt einer dauerhaften Befriedung der internationalen Beziehungen.

Um dieses Projekt zu verwirklichen, legt Mauss eine Neuinterpretation der »Nation« in ihrer doppelten Dimension als konkrete soziale Tatsache und als politische Wertvorstellung vor, für die sowohl ihre »morphologische« als auch ihre »physiologische« Seite erkundet werden, um die in dem Aufsatz »Divisions et proportions de la sociologie« (1969 [1927a]) vorgeschlagene Unterscheidung aufzugreifen, die in diesem Band ebenfalls sehr präsent ist. Mauss hat nicht vor, die Bedeutung des Nationalen zu leugnen, aber er hält es für wesentlich, dass es anders wahrgenommen wird. Gegen die objektivistischen Nationalismen des 19. Jahrhunderts versucht Mauss einerseits, das Nationale zu historisieren und folglich auch zu denaturalisieren, indem er es als spezifische, typisch moderne, soziale Organisationsform beschreibt; und andererseits bemüht er sich, eine soziologische Theorie internationaler Beziehungen auszuarbeiten, die bis dahin schon durch die Prämissen des sozialtheoretischen Denkens seiner Zeit erschwert worden war. Mauss schlägt eine politische Definition der Nation als einer Gruppe von Individuen vor, denen ihre wechselseitige ökonomische und soziale Abhängigkeit gemeinsam bewusst wird und die sich dazu entschließen, diese wechselseitige Abhängigkeit in eine kollektive Kontrolle über den Staat und über das Wirtschaftssystem zu überführen. »National« zu sein heißt für eine Gesellschaft, ihre Bürger dazu zu bringen, die Souveränitätsprärogativen selbst auszuüben: In einer Nation delegieren die Individuen die »Macht, in deren Besitz sie sich mittlerweile wissen«,29 nicht mehr blindlings an die fremden Mächte der Tradition, Religion oder Natur. Mauss macht darauf aufmerksam, dass die Ereignisse »mehr denn je von der öffentlichen Meinung und dem Willen der Menschen gelenkt« werden.30 Eine Nation ist ein Rechtsstaat, das heißt eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern jene Macht garantiert, die auf die Dialektik der formal garantierten Freiheiten und der Verpflichtung zurückgeht, an deren Erhalt mitzuwirken. Dies bringt Mauss in seinem Vortrag über »The Problem of Nationality« zur Sprache: In einer Nation »ist die Zentralmacht stabil, konstant, es gibt ein Gesetzgebungs- und ein Verwaltungssystem; die Vorstellung von den Rechten und Pflichten des Bürgers und die Vorstellung von den Rechten und Pflichten des Vaterlands entsprechen und ergänzen sich.«31 Auch wenn die Nation immer ein Rechtsstaat ist, der seinen Bürgern bestimmte Freiheiten garantiert, ist sie nicht unbedingt eine Demokratie – wenn man darunter eine Gesellschaft versteht, in der die Freiheit, als Gleiche an den politischen Entscheidungsprozessen teilzuhaben, zu den Freiheiten gehört, die sie ihren Mitgliedern zusichert. Auch diejenigen Gesellschaften verdienen die Bezeichnung Nation, die das Ideal einer Regierung »des Volkes für das Volk« verwirklichen, ohne allerdings das Stadium erreicht zu haben, in dem die Entscheidungen auch »durch das Volk« getroffen werden.

In Wirklichkeit gibt es hier eine Schwierigkeit, die eine ausführlichere Erörterung verdient. Die hier versammelten Texte enthalten nämlich drei verschiedene Definitionen von Nation, die nicht uneingeschränkt miteinander vereinbar sind und deren Verschiedenheit zumindest beim ersten Lesen unweigerlich Verwirrung stiftet.32 Alle drei betonen, dass die Kriterien der bewussten Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft und der Identifikation mit ihr Faktoren des Nationalen darstellen. Andererseits bildet für eine der Definitionen die Demokratie die Grundlage einer Nation; über die bewusste Mitgliedschaft (subjektives Element) hinaus verlangt dieselbe Definition (als objektive Elemente) merkwürdigerweise eine »Rasse «,33 eine »Sprache«, eine »Moral« und einen »Nationalcharakter«.34 Und wie verhält es sich mit dem »Sozialismus«, dem immerhin die Hälfte des Textes gewidmet ist? Gehört er in Mauss’ Augen zu den wesentlichen Bestandteilen einer vollendeten Nation, so wie für manche Theoretiker der Zweiten Internationale?35

Um Mauss’ Position im Hinblick auf das Phänomen des Nationalen richtig zu erfassen und diese Spannungen aufzulösen, muss man sich klarmachen, dass er die Nation nicht als etwas Statisches wahrnimmt, sondern als historische Entwicklung, als Prozess. Ähnlich wie Simmel und Weber (vgl. Nedelmann 1984) versteht Mauss die Gesellschaft als komplexe Realität, die in Bewegung ist, was dazu führt, dass er eher eine Theorie der Nationalisierung vorlegt als eine Theorie der Nation. Dennoch versucht er gleichzeitig, innerhalb dieses Prozesses typische Momente und Formen zu identifizieren. Nicht zuletzt spricht er ganz unzweideutig von einer »vollendeten Nation« oder einer »vollständigen Nation« als einer Form mit eindeutigen Charaktermerkmalen, nach der die »potentiellen Nationen« streben, ohne sie vielleicht jemals zu erreichen (ohne sie jedenfalls, stellt Mauss klar, in der Zeit, in der er an diesen Fragen arbeitet, erreicht zu haben). Mauss schlägt mehrere Definitionen von Nation vor, weil mehrere aneinander angrenzende, aber keineswegs identische soziale Formen das Attribut national verdienen. Im Folgenden werden wir zunächst kurz all die Gesellschaften vorstellen, die die Bezeichnung national nicht verdienen; dann werden wir vier mögliche Entwicklungsstufen einer Nation beschreiben. Obwohl Mauss diesen Aspekt nicht ausdrücklich thematisiert, ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Übergänge zwischen diesen verschiedenen Entwicklungsstadien sozial bedingt sind: Auch wenn sich bei Mauss, wie gesagt, Spuren einer Form von Geschichtsphilosophie entdecken lassen, besteht die treibende Kraft hinter der Modernisierung – zu der auch das Phänomen der Nationalisierung gehört – bei ihm wie bei Durkheim darin, dass die Maschen des sozialen Gewebes enger werden. Die Verdichtung der Gesellschaften, die wachsende geografische Mobilität der Menschen wie auch der vermehrte Austausch zwischen Gruppen und Individuen über immer größere Gebiete hinweg stehen am Ursprung der Integrations-, Individualisierungs- und Säkularisierungsprozesse.

Polysegmentäre Gesellschaften und Reiche

Eine erste Bedingung für das Vorhandensein einer Nation stellt die soziale Integration dar. Eine »integrierte Gesellschaft« ist eine Gesellschaft, die nicht in Untergruppen unterteilt ist, die wie Familien, Clans, feudale Rangordnungen oder religiöse Gruppen über moralische und politische Autorität verfügen. In den polysegmentären Gesellschaften (Mauss übernimmt diesen Ausdruck von Durkheim) verorten die Individuen die Autorität grundsätzlich nicht in der Gesellschaft als Gesamtheit der Stämme, sondern unmittelbar auf der Ebene des Clans als erweiterter Familie. Integrierte Gesellschaften haben dagegen die Tendenz, die beiden Pole des Kontinuums der sozialen Entitäten unvermittelt einander gegenüberzustellen: das Individuum und die Gesellschaft, deren Sinnbild der Staat ist.36 Die Zentralisierung der politischen Macht ist somit ein Gesichtspunkt der Integration einer Gesellschaft: Eine Nation ist nur dann vorhanden, wenn die politische Treuepflicht nicht den sozialen Untergruppen, sondern ausschließlich dem Staat zufällt.37 Aus diesem Grund bezeichnet Mauss diejenigen Gesellschaften als bloße Nationen im Werden, in denen die Zwischengruppen noch von Bedeutung sind, so wie in Japan, das vom Weiterbestehen der Clans geprägt ist.38 Selbst die Situation in Großbritannien ist problematisch, weil es sich in England, Schottland und Wales aufteilt.39

Von den anderen Faktoren, die die Aufnahme in den Rang einer Nation einschränken, erwähnt Mauss den kollektiven Glauben an den außersozialen Ursprung der Normen: Deshalb verdienen die Länder, in denen die sozialen Regeln als Frucht der Tradition, der Natur oder der Religion und nicht der Arbeit der Gesellschaft an sich selbst betrachtet werden, nicht den Titel vollständiger Nationen. Solche Fälle sind Mauss zufolge Japan und – überraschenderweise – sogar Deutschland, wo die jeweiligen Kaiser eine religiöse Legitimität bewahrt haben. Eine Gesellschaft muss also sozial integriert sein und sie muss über eine »intrinsische«40 (und nicht traditionale, charismatische oder religiöse) Macht verfügen, um den Titel Nation erreichen zu können.

Je nachdem, wie ihre Organisation genau beschaffen ist (vor allen Dingen, ob eine stabile politische Führung vorhanden ist), bezeichnet Mauss die polysegmentären, nicht integrierten Gesellschaften als »auf Clans […] beruhende[]« oder »stammesförmige[] Gesellschaften«.41 Die Gesellschaften, die auf dem Weg zur Integration, aber noch nicht kompakt oder säkularisiert genug sind, schlägt Mauss vor, »Völker« oder »Reiche« zu nennen.42 Noch 1920 stuft Mauss zahlreiche Gesellschaften als pränational ein. Die Gesellschaften der australischen Aborigines und der größte Teil der afrikanischen Gesellschaften haben Mauss zufolge noch nicht die Form einer Nation, ja noch nicht einmal eines Reichs angenommen.43 Obwohl einige südamerikanische Staaten genügend integriert sind, um Nationen zu bilden, sind andere, wie etwa Mexiko oder Venezuela, allerhöchstens Reiche.44 Ein solcher Fall ist auch Russland.45 In Bezug auf das Verhältnis zwischen den bereits bestehenden Nationen und den Gesellschaften auf dem Weg zur Integration – damit ist die koloniale Frage angesprochen – äußert Mauss sich ziemlich deutlich: Von buchstäblichen Massakern bis zur ökonomischen Ausbeutung verurteilt er alle Formen von kolonialer Willkür mit Entschiedenheit. Trotzdem verteidigt er in Übernahme einer während der Dritten Republik weit verbreiteten linken Position die Kolonialisierung, insofern sie eine Gesellschaft aus indigener Gewaltherrschaft zu befreien vermag: »Was auch immer die Verbrechen der imperialistischen Kolonialisierung gewesen sein mögen: In beträchtlichen Teilen der Erde hat sie Barbarei, Krieg, Sklaverei und Elend zurückgedrängt.«46

Mauss ist zwar der Ansicht, dass früher oder später alle Völker in das Nationenstadium eintreten werden. Das hindert ihn aber nicht, den Europäern bei dieser Entwicklung sowohl eine Vorreiterrolle als auch die einer Antriebskraft zuzugestehen. Bei seiner Einschätzung der südamerikanischen »Nationen im Werden« betont Mauss zum Beispiel, dass diese Gesellschaften »bunt zusammengewürfelt und rückständig« seien: »in ihnen leben zu wenige Europäer und zu viele Mischlinge, Schwarze, Indianer und unterschiedliche verschiedenrassige Mischlinge.«47 Zwischen der Hervorhebung des Phänomens der Anleihe und der Bedeutung, die bei Mauss der homogenen Entwicklung der Nationen zukommt, besteht ein Spannungsverhältnis, das genauer analysiert werden müsste.

Die Nation als integrierte Gesellschaft

Wenn sie einen bestimmten Integrations- und Säkularisierungsgrad erreicht hat, kann eine Gesellschaft eine Nation werden, das heißt »eine materiell und moralisch integrierte Gesellschaft mit einer stabilen und konstanten Zentralmacht, feststehenden Grenzen und einer relativen sittlichen, geistigen und kulturellen Einheit der Einwohner, die bewusst für den Staat und seine Gesetze eintreten.«48 Die aufschlussreichste Wendung in diesem Zitat ist womöglich das bewusste Eintreten, die bewusste Mitgliedschaft oder Zustimmung. Mauss hebt das Gefühl der Legitimität des Staates hervor, das die Bürger empfinden müssen. Bei einer solchen Konzeption stehen die individuellen Vorstellungen im Vordergrund: Eine Nation beruht auf den subjektiven Einstellungen ihrer Bewohner, auf deren Identifikation mit den bestehenden politischen Institutionen. Über dieses Gesetzesbewusstsein hinaus haben die Bürger einer Nation, wie Mauss durch einen Vergleich mit der Antike zeigt, ein Gefühl für die Gesellschaft im Ganzen: Sie sind nicht zuletzt über die Ereignisse im Bilde, die sich innerhalb der Gemeinschaft abspielen, und empfinden eine Form von Solidarität mit den anderen Mitgliedern (zum Beispiel im Fall von äußeren Bedrohungen). Obwohl die nationale Gesellschaft eine »materiell und moralisch integrierte« Gesellschaft ist, die die Zustimmung ihrer Bürger genießt, fällt auf, dass in dieser ersten Definition von Mauss weder die demokratische Organisationsform noch auch nur die Souveränität des Volkes zu den Bedingungen einer Nation gehört. Im Jahr 1920 befinden sich mehrere Gesellschaften in diesem ersten Nationenstadium: Mauss erwähnt die »jungen Nationen« Südamerikas – Chile, Argentinien, Brasilien – und die seit neuestem unabhängigen europäischen Staaten wie Polen oder Ungarn. Japan, China und Indien sind nicht weit von deren Stand entfernt. Da es bis 1918 keine Demokratie gewesen ist, erwägt Mauss, auch Deutschland in diese Kategorie einzuordnen.

Die Nation als Demokratie

Entsprechend dem Nachdruck, den er auf die Prozesshaftigkeit legt, interessiert Mauss sich weniger für die Demokratie als für die Demokratisierung, die er als Bestrebung versteht, »mit Hilfe des Systems der parlamentarischen Volksvertretung die Teilhabe an der Souveränität und an der Führung« der nationalen Angelegenheiten »auf das Volk« aus[zu]weite[n].49 Dieser Prozess ist offenbar eine der Entstehungsbedingungen der modernen Nationen: Das Kriterium der demokratischen Organisationsform ist nämlich für die zweite Definition einer »vollständigen Nation«, die Mauss vorlegt, allem Anschein nach zentral. Dort ist von einer »hinreichend integrierte[n], mit einer bis zu einem gewissen Grade demokratischen Zentralmacht versehene[n] Gesellschaft« die Rede, »die auf jeden Fall über die Vorstellung von nationaler Souveränität verfügt.«50 Frankreich, die Schweiz, die Vereinigten Staaten und Belgien stehen für solche demokratischen Nationalstaaten Modell – Beispiele, die erkennen lassen, dass eine religiöse und sprachliche Homogenität nicht immer erforderlich ist, was ein zusätzliches Anzeichen für den sehr politischen Charakter darstellt, den Mauss der Definition der Nation verleiht.

Die Nation als Nationalität

Auf diese zweite Definition der Nation folgt die Erinnerung an die »Grenzen«, die »durch eine Rasse, eine Zivilisation, eine Sprache, eine Moral, mit einem Wort durch einen Nationalcharakter« gesetzt seien. Die Anführung dieser Kriterien ist »seltsam«,51 weil sie einen Übergang vom Subjektiven zum Objektiven, vom Politischen zum Kulturellen vornehmen. Noch verwirrender ist, dass Mauss Rasse und Sprache in seiner Einleitung als »sogenannte[] Nationalitätskriterien« bezeichnet.52 Dies hat Bruno Karsenti völlig zu Recht zu der Bemerkung veranlasst, diese dritte Erscheinungsform der Nation sei der »Punkt der Mauss’schen Argumentation, der am schwersten zu verstehen ist« (Karsenti 2010: 290).

Um diese Schwierigkeiten zu lösen, muss man, wie auch Karsenti betont, Mauss’ Theorie der »Verhärtung« der »Nation« zu einer »Nationalität« Rechnung tragen. Während eine »Nation« von den Prinzipien der freiwilligen Mitgliedschaft der Bürger und der Volkssouveränität geleitet ist, liegt einer »Nationalität« eine Vorstellung von kultureller und sozialer Homogenität zugrunde. In der »Nation als Nationalität« wenden die Organisationsprinzipien des Nationalen sich mit anderen Worten gegen sich selbst. Eine Nation beruht nämlich auf dem bewussten Willen der Bürger. Außerdem verfügt sie über einen zentralen Staatsapparat, der in der Lage ist, in die sozialen Verhältnisse einzugreifen und sie zu steuern. Diese Elemente machen eine raschere und tiefgreifendere Selbsttransformation der Gesellschaft durch eine demokratische Arbeit der Gesellschaft an sich selbst möglich: Mauss deutet die Möglichkeit an, dass vor allem durch öffentlichen Unterricht »der bis dahin unbewusste kollektive Nationalcharakter zum Gegenstand der Fortschrittsbemühungen« wird.53 Durch eine interessante Kehrtwende gibt Mauss zu erkennen, dass eine derartige demokratische Handlungsmöglichkeit nicht nur zu einer Verflüssigung der sozialen Verhältnisse führen kann, sondern auch zu einer Form von Verhärtung, die Mauss nationale »Fetischisierung« nennt.54

Diese Verhärtung vollzieht sich in zwei Schritten. Zuerst strukturiert und integriert sich die Nation infolge zunehmender Interaktionen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern: Auf diese Weise erfahren zum Beispiel die Gesetzgebung (Verschwinden der Gewohnheitsrechte), die Sprache und die in der Gesellschaft üblichen Standards (Gewichte, Maßeinheiten, Steuern, Währung usw.) eine Vereinheitlichung. Dies sind bewusste Vereinheitlichungsprozesse, denen politische Entscheidungen zugrunde liegen. Es kann allerdings in diesem Stadium dazu kommen – und im 19. Jahrhundert ist genau das in Europa geschehen –, dass die Gesellschaftsmitglieder die historische Konstruktion der nationalen Einheit gewissermaßen vergessen und beginnen, die erworbenen kulturellen Eigenheiten als Ausdruck einer unvordenklichen Identität wahrzunehmen. Dadurch erfolgt eine Art »Naturalisierung« des Nationalen, und in Gestalt eines Kults um die Originalität und Reinheit einer bestimmten Kultur entsteht eine spezifische Form von Nationalismus. In diesem Zusammenhang kann eine Nation eine Form der Fetischisierung »ihre[r] Literatur, ihre[r] plastische[n] Kunst, ihre[r] Wissenschaft, ihre[r] Technik, ihre[r] Moral, ihre[r] Tradition, kurz: ihre[s] ganzen Charakter[s]« entwickeln.55 Die Verwendung des marxistischen Terminus des »Fetischismus« bringt den Irrtum sehr gut zum Ausdruck, den diese Auffassung enthält: Wie die Ware im Kapitalismus wird die Nationalität von ihren Angehörigen falsch, nämlich nicht als sozialer Prozess, sondern als unveränderliche Größe wahrgenommen. Die Nation vertuscht ihre eigenen Ursprünge vor sich selbst: Sie glaubt, dass »die Rasse die Nation erschafft«, wo doch »die Nation die Rasse erschafft«. Sie glaubt, dass die Sprache die Nation erschafft, wo es doch in einer ganzen Reihe von Fällen die Nationalitäten sind, die »sich […] Sprachen erschaffen.«56 Mauss charakterisiert diesen Fetischismus als »Krankheit[] des nationalen Bewusstseins«,57 der ein doppelter Irrtum innewohnt: (1) dass der historisch konstituierte Charakter der Nation als soziale Form in Vergessenheit gerät, was verhindert, dass ein Wandel der Gesellschaft, ein geistiger und moralischer Fortschritt in Erwägung gezogen wird; (2) dass die Nation als in sich geschlossene, von den anderen Nationen ganz und gar abgetrennte und mit ihnen konkurrierende Entität verstanden wird, was die politischen und ökonomischen Spannungen auf internationaler Ebene vergrößert. Den »Abzess zu entleeren«, den der nationale Fetischismus darstellt, betrachtet Mauss als »unaufschiebbare Aufgabe aller politischen Theorie«.58 Eines der Ziele, die Mauss mit Die Nation verfolgt, ist mit anderen Worten, die Nation vor dem Nationalismus zu bewahren (vgl. Karsenti 2010).

Die sozialistische Nation