Die neue Protestkultur - Tareq Sydiq - E-Book

Die neue Protestkultur E-Book

Tareq Sydiq

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Beschreibung

Der Druck der Straße wächst: Bauernproteste, Klimastreiks oder Proteste gegen unterdrückende Regimes – der Politikwissenschaftler Tareq Sydiq beleuchtet die neue Protestkultur

Sie haben Regime gestürzt, Grenzen geöffnet und Rechte erkämpft – Proteste haben in der Geschichte schon einige Steine ins Rollen gebracht.
In der Gegenwart scheinen sie präsenter denn je, und es hat sich verändert, wer wofür oder wogegen und in welcher Form protestiert: von Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen, über Bauern, die mit ihren Traktoren Straßen blockieren, oder Klimaaktivist:innen, die sich am Boden festkleben, bis hin zu Social-Media-Posts unter Hashtags wie GegenRechts, MeToo oder MutZurWahrheit.
Der Protestforscher Tareq Sydiq beleuchtet in seinem Buch die neue Protestkultur anhand zahlreicher Beispiele. Anschaulich und augenöffnend zeigt er, was diese Proteste ausmachen und wie sie die Politik und Gesellschaft beeinflussen.

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Das ist das Cover des Buches »Die neue Protestkultur« von Tareq Sydiq

Über das Buch

Der Druck der Straße wächst: Bauernproteste, Klimastreiks oder Proteste gegen unterdrückende Regimes — der Politikwissenschaftler Tareq Sydiq beleuchtet die neue ProtestkulturSie haben Regime gestürzt, Grenzen geöffnet und Rechte erkämpft — Proteste haben in der Geschichte schon einige Steine ins Rollen gebracht.In der Gegenwart scheinen sie präsenter denn je, und es hat sich verändert, wer wofür oder wogegen und in welcher Form protestiert: von Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen, über Bauern, die mit ihren Traktoren Straßen blockieren, oder Klimaaktivist:innen, die sich am Boden festkleben, bis hin zu Social-Media-Posts unter Hashtags wie GegenRechts, MeToo oder MutZurWahrheit.Der Protestforscher Tareq Sydiq beleuchtet in seinem Buch die neue Protestkultur anhand zahlreicher Beispiele. Anschaulich und augenöffnend zeigt er, was diese Proteste ausmachen und wie sie die Politik und Gesellschaft beeinflussen.

Tareq Sydiq

Die neue Protestkultur

Besetzen, kleben, streiken: Der Kampf um die Zukunft

hanserblau

1

Intro

Ein Protest, über den ich oft nachdenke, fand 2020 statt. Damals verabredeten sich K-Pop-Fans auf Twitter, um das Internet mit Konzertaufnahmen von koreanischer Popmusik zu fluten. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, die sogenannten Fancams waren schon lange ein zentraler Bestandteil der Fankultur. Dieses Mal sollte damit jedoch gezielt eine Website der Polizei überlastet werden, die während der Black-Lives-Matter-Proteste in den USA um Hinweise gebeten hatte und nun stattdessen so viele Aufnahmen von K-Pop-Konzerten erhielt, dass sie diese Website kurze Zeit später einstellen musste.1 An diese Protestform muss ich regelmäßig denken, weil sie nur wenige Jahre davor unmöglich gewesen wäre. Videos konnte man auf Twitter erst ab 2010 hochladen, und K-Pop schaffte den Sprung aus der Nische in den Mainstream auch erst in den 2010er-Jahren. Und selbst heute versteht bei Weitem nicht jeder, mit dem ich diese Beobachtung teile, was eine »Fancam« ist oder was genau der Algorithmus und die Hashtags sind, die die Fans hier nutzten, um der Polizei ein Schnippchen zu schlagen.

Protest hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder an die aktuellen sozialen und politischen Verhältnisse anpassen müssen. Einer der frühesten dokumentierten Streiks fand bereits vor drei Jahrtausenden statt, im 12. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Arbeiter, die ihre Rationen nicht rechtzeitig erhielten, legten die Arbeit nieder und marschierten zum Wesir, dem Vertreter des Pharaos, um ihre Rechte einzufordern — mit Erfolg, sie erhielten zumindest einen Teil der Bezahlung. Wir wissen davon, weil diese Geschichte auf Papyrus überliefert ist und weil sie vergleichbare Aktionen inspirierte. Das ist umso beeindruckender, weil die Arbeiterinnen hier demokratisch handelten, bevor es so etwas wie eine Demokratie gab. Denn es sollten noch Hunderte Jahre vergehen, bis auch die ersten Parlamente erfunden wurden, vor denen sie hätten protestieren können. Athen beispielsweise führte die Demokratie 700 Jahre später ein, und damit war es möglich, auch vor gewählten Repräsentanten zu protestieren.

Seitdem haben wir immer wieder technische und soziale Neuerungen erlebt, die auch Protest beeinflussen. Dieser wandelt sich stetig, erfindet sich neu und passt sich an. Gar nicht so einfach also, das Neue am Protest zu identifizieren.

Es gab und gibt immer Proteste, überall dort, wo es Menschen gibt, die unzufrieden sind. Er verändert sich aber genauso, wie die Gesellschaften sich verändern. Als Arbeiter nicht mehr Steine für Pyramiden schlugen, sondern in Fabriken am Fließband arbeiteten, streikten sie auch anders. Und mit Erfindungen wie dem Buchdruck oder der Demokratie veränderte sich auch, wie zu Protesten aufgerufen und über Protest gesprochen wurde. Zuletzt war es vor allem das Internet, das den Protest veränderte.

Wie protestieren Menschen heute, weltweit? Darum geht es in diesem Buch. Das ist auch wichtig, weil Proteste überall stattfinden, unsere Wahrnehmung diesbezüglich ist aber oft lokal statt global geprägt — Proteste im Westen nehmen wir eher wahr als Proteste im sogenannten Globalen Süden, egal, wie wichtig und interessant diese sind. Da ist beispielsweise der Bauernprotest in Indien 2020, der möglicherweise der größte Protest der Menschheitsgeschichte war und an dem Millionen Menschen teilnahmen2 — der aber außerhalb Indiens kaum wahrgenommen wurde. Der Occupy-Wall-Street-Protest in New York dagegen, an dem sich 2011 Zehntausende beteiligten, war auch in Deutschland medial sehr präsent. Protestiert wird auf der ganzen Welt, oft deutlich enthusiastischer, größer, kreativer als in westlichen Ländern. Und es lohnt sich, gerade dort hinzuschauen — nicht nur, weil der Blick auf diese Proteste dabei hilft, Menschen in diesen Ländern besser zu verstehen, sondern auch, weil sich von ihren Protesten das eine oder andere lernen lässt.

Ob Frankreich 2017, Hongkong 2018, Armenien 2018, Chile 2019 oder der Iran 2022: Immer wieder protestieren Menschen spontan, scheinbar überraschend und ohne große vorherige Absprache. Sie wehren sich gegen Steuererhöhungen und Polizeigewalt, treten ein für Demokratie und ein Leben in Würde. Manchmal sehen die Proteste spontaner aus, als sie es de facto sind — im Iran und in Hongkong beispielsweise gingen ihnen Protestwellen voraus, in denen die Unzufriedenheit der Bevölkerung und die Organisationsfähigkeit der Opposition immer wieder sichtbar wurden. Manchmal sind sie aber auch tatsächlich spontaner, ländlicher und informeller als früher. Zum einen, weil in Demokratien die Bindungskraft von politischen Gruppen und Verbänden nachgelassen hat, die traditionell zu Protesten aufgerufen haben und diese organisierten, zum anderen, weil in Autokratien gezielt Organisationen zerschlagen wurden, die Proteste organisieren könnten. Gleichzeitig kommen immer mehr Technologien dazu, die es möglich machen, sich dezentral zu organisieren, schnell zu kommunizieren und sich spontan zu versammeln.

Vier Beispiele in diesem Buch sollen illustrieren, welche Formen Protest annehmen kann und wie dieser organisiert wird. Mit dem Iran, Hongkong, Deutschland und dem Sudan greife ich vier Protestwellen aus den letzten Jahren auf, in denen scheinbar spontane Proteste ausgebrochen sind — denen aber in vielen Fällen jahre-, wenn nicht jahrzehntelange Community-Arbeit voranging. Sie zeigen auf, wie Protest auch unter widrigen Bedingungen gelingen kann und welche Erfolge Protestierende erzielen konnten.

Sie zeigen aber auch, welche Herausforderungen für Protestierende bestehen und wo Proteste an die Grenzen ihrer Wirksamkeit stoßen. Wer diskriminiert wird, an den Rand der Gesellschaft gedrängt ist oder sogar aktiv verfolgt wird, protestiert anders als jemand, der gute Kontakte zu politischen Eliten unterhält und bestens vernetzt ist.

Außerdem scheitert Protest. Und das auch nicht gerade selten. Denn er eignet sich nicht immer, nicht zu jedem Thema, und ist vor allem eins: kaum berechenbar. Ob mein Protest Erfolg hat, weiß ich immer erst im Nachhinein, zu unübersichtlich ist die Lage, während er stattfindet. Und damit er wirklich Erfolg hat, sind Protestierende immer auch auf die Handlungen der »anderen« angewiesen: auf die Regierung, die Behörde, die Medien. Dort entscheidet sich, wie erfolgreich der Protest wirklich ist.

Protest kann die Politik ergänzen, ein wichtiges Korrektiv zu etablierten Institutionen darstellen oder der Sand im Getriebe der Macht sein. Er kann sie aber nicht ersetzen. Wie auf den kommenden Seiten hoffentlich deutlich wird, braucht es immer auch die Politik jenseits des Protestes, das Engagement in Verbänden, in Parteien, in Parlamenten, um wirklich etwas zu bewegen. Protest, der wirklich nur auf der Straße bleibt, ist selten erfolgreich, irgendwie müssen seine Anliegen an die Schaltstellen der Macht getragen werden. Selbst der spontanste Protest trifft letztlich auf die Rahmenbedingungen, die jahrelang davor aufgebaut wurden. Und ob er wirklich Erfolg hat, lässt sich erst später sagen, wenn die Langzeiteffekte sichtbar werden.

Dieses Buch skizziert den Hintergrund, die Trends, die zu Demokratieprotesten in Hongkong und im Iran geführt haben, die die Revolution im Sudan ausgelöst haben und die Proteste gegen Rechtsextremismus hierzulande so groß werden ließen. Es beleuchtet die Taktiken, die Menschen verwendet haben, mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg. Und es hilft zu verstehen, wie es weitergehen könnte mit der chinesischen und iranischen Autokratie, mit dem sudanesischen Bürgerkrieg und dem zunehmenden Rechtsextremismus in Deutschland.

2

Was ist Protest? Von Revolutionen, sozialen Bewegungen und zivilem Ungehorsam

Die Gruppe, die am 17. Dezember 2010 vor dem Gouverneurssitz in Sidi Bousid in Tunesien demonstrierte, hatte vermutlich keine Revolution im Sinn. Der spontane Protest war eher Ausdruck ihrer Wut. Am selben Tag hatte sich Mohamed Bouazizi aus Verzweiflung selbst angezündet. Der verschuldete Straßenhändler stand vor dem Ruin, nachdem eine Kontrolleurin seine Waage konfisziert hatte und er so nicht länger sein Obst verkaufen konnte. Die Kontrolleure waren berüchtigt für ihre Korruption — denn der Straßenhandel war ebenso verbreitet wie illegal, was diese häufig nutzten, um Bestechungsgelder von den Händlerinnen zu erzwingen. Der Protest war weder der erste noch der größte im Tunesien der 2000-Jahre, breitete sich jedoch innerhalb weniger Wochen stark aus. Die Polizei reagierte mit Gewalt und stachelte so nur noch mehr Proteste an, die schnell auch die Hauptstadt Tunis erreichten, wo Gewerkschaften und die tunesische Zivilgesellschaft für Massenproteste sorgten. Auch eine Ausgangssperre und Verhaftungen konnten die Menschen nicht wieder von der Straße vertreiben. Das mündete schließlich darin, dass der Diktator Ben Ali am 14. Januar 2011 erst einen Notstand ausrief, aber die Bewegung nicht mehr aufhalten konnte und später am selben Tag das Land verließ.

Der Protest in der tunesischen Kleinstadt hatte die »Revolution der Würde« angestoßen, mit der Ben Alis 23-jährige Herrschaft innerhalb eines Monats beendet wurde. Die erfolgreichen Proteste fanden schnell Nachahmerinnen und beschäftigten 2011 die ganze Welt.1 Umstürze in Ägypten, im Jemen und Libyen, der bis heute andauernde Bürgerkrieg in Syrien und zahlreiche weitere Proteste, Regierungswechsel und Reformen hielten Regierungen in der ganzen Region auf Trab. Aber auch außerhalb der Region fand die Revolution der Würde Nachahmerinnen: In China riefen Aktivistinnen zu Demokratieprotesten nach tunesischem Vorbild auf. Und während Sozialprotesten in Tel Aviv bezogen sich Plakate auf den Tahrir-Platz in Ägypten, wo die Protestierenden sich wiederum auf die Revolutionäre in Tunesien beriefen. 2011 wurde zum Protestjahr, auch unabhängig von der tunesischen Revolution: Die Bewegungen in Nordafrika hatten das Potenzial von Protesten gezeigt, wovon die Anti-Austeritätsproteste in Südeuropa, die Occupy-Bewegung in Nordamerika und die Demokratieproteste in Russland profitierten, auch wenn ihre Ziele und Taktiken ganz andere waren.

Die Protestierenden überraschten mit ihrem Erfolg nicht nur sich selbst. Proteste gegen die Autokratien in Nordafrika und Westasien waren zwar gut erforscht, aber die wenigsten erwarteten damals eine so breite politische Bewegung. Viele erforschten vor allem die vermeintliche Stabilität arabischer Autokratien. Innerhalb kurzer Zeit entstanden nun neue Forschungsfelder zu Protest- und revolutionären Bewegungen in der Region. Auch mein Politikwissenschaftsstudium in München veränderte sich kurzfristig: Die Anzahl der Seminare zu politischen Bewegungen in Nordafrika und Westasien vervielfachte sich, wir diskutierten, schrieben Hausarbeiten dazu und beobachteten gebannt die Entwicklung. Was davor noch weit weg war, schien plötzlich ganz nah. Kairo und Tunis wurden uns in München sehr greifbar. Zahlreiche meiner damaligen Kommilitoninnen beschäftigen sich bis heute mit dem Thema.

Diese Nähe wich Empörung, je mehr wir uns mit der Region beschäftigten. Denn damals wie heute wird in Europa dieser und anderen Regionen der Welt herablassend unterstellt, unpolitisch zu sein. Das ließ sich damals besonders schnell widerlegen, und trotzdem kehrt diese Ignoranz regelmäßig zurück. Sie rührt häufig von Unwissen über Jahrzehnte politischer Mobilisierung her. Dass viele Länder von außen betrachtet ruhig wirken, wird so ausgelegt, dass die Bevölkerung sich mit den Machthabern abgefunden und arrangiert habe — ohne auf die Widerstandsgeschichten zu blicken, die es nicht in die Schlagzeilen geschafft haben.

Umso größer fällt die Überraschung aus, wenn dieser Unmut dann doch sichtbar wird und Regime stürzt. Dabei sind unerwartete Revolutionen gar nicht mal so selten. Der Soziologe Charles Kurzman schrieb 2004 beispielsweise von der »undenkbaren Revolution im Iran«2, die Protestierende genauso überraschte wie den Staat. Dafür gibt es viele Gründe: Es ist schwer, Revolutionen vorherzusehen. Ihre Dynamiken können häufig erst im Nachhinein wirklich eingeordnet werden. Manchmal wollen Protestierende auch gar nicht so viel darüber nachdenken, was sie gerade tun. Denn sonst fiele womöglich auf, dass es in vielen Fällen eigentlich keinen besonders guten Grund gibt, warum der aktuelle Protest etwas bewirken sollte. Warum sollte er dieses Mal erfolgreicher sein als beim letzten Versuch? In Tunesien wurde erst zwei Jahre vor der Revolution der Aufstand in Gafsa vom Regime brutal niedergeschlagen. Weil in den neu eröffneten Minen nur Anhänger des Regimes mit Arbeit versorgt wurden, protestierten Jugendliche, Arbeitslose und Gewerkschafterinnen monatelang, nahmen an Hungerstreiks und Sit-ins teil und blockierten wichtige Straßen. Der Staat reagierte brutal, mit Massenverhaftungen und Schüssen in Menschenmassen. Und zermürbte so die Protestierenden, bis diese schließlich nachgaben.32011 gab es zunächst keine Anzeichen, dass das Regime dieses Mal anders vorgehen würde. Dass es dieses Mal anders sein würde, wussten die Protestierenden erst nach der Revolution.

Auch in Demokratien haben Protestierende erst einmal wenig Anlass zu glauben, dass ihr Protest mehr sein wird als Selbstzweck. Ein politischer Protest besteht in der Regel aus einer Menschenansammlung, die weitgehend friedlich ein Anliegen formuliert und lautstark verkündet. Ein gutes Beispiel hierfür aus den letzten Jahren sind die hupenden Bauern, die Anfang 2024 nachts durch Berlin fuhren. Da gab es keine Ansammlung, Kundgebung oder Parolen, der Unmut wurde aber hörbar — was für einen Protest im Grunde ausreicht. Wenn das Ziel ist, laut zu ein, könnten die Beteiligten im Anschluss zufrieden nach Hause gehen. Wieso aber sollte der Protest eine langfristigere politische Veränderung oder einen konkreten politischen Prozess anstoßen? Laut sein allein führt schließlich nicht dazu, gehört zu werden — und gehört zu werden erst recht nicht dazu, auch erhört zu werden. Aus der Kommunikation, dass die Beteiligten mit etwas unzufrieden sind, entsteht nicht unmittelbar eine politische Veränderung, dafür müssen erst politische Akteurinnen überzeugt werden. Wenn der Protest mehr sein soll als Selbstzweck, geht es also auch um den Adressaten und darum, wie dieser auf den Protest reagiert.

Und dieser Adressat muss erst einmal gute Gründe haben, überhaupt zu reagieren. Solchen Menschenansammlungen steht in der Regel ein Monopolist politischer Prozesse gegenüber, der in den meisten heutigen Gesellschaften weite Teile der Politik bestimmt: der Staat. Und während die Menschenansammlung flüchtig ist (Wer kennt überhaupt jemanden hier? Wer muss bald heim, um Essen zu kochen, zu putzen, zu arbeiten? Wem wird bald kalt?), ist der Staat beharrlich. Um ihn aufzulösen, bedarf es großer Anstrengungen, selbst Revolutionen und Weltkriege überlebt er regelmäßig. Damit der Staat tatsächlich den Kurs wechselt, müssen zahlreiche Stellen gleichzeitig angeschoben werden. Selbst gewählte Regierungen können dieses behäbige Schiff nur sehr langsam neu ausrichten. Warum also sollte eine Gruppe, die in ihrem Protest zeitlich und räumlich begrenzt ist, Institutionen des Staates, die durch beinahe unbegrenzte Ressourcen und Zeit charakterisiert sind, beeindrucken?

Denn Fakt ist, auf den ersten Blick hat die Politik wenig Grund, sich von Protestierenden beeindrucken zu lassen. Dem Staat steht ein Vielfaches der Ressourcen zur Verfügung im Vergleich zu dem, was selbst gut organisierte Protestierende aufbringen können. Dazu gehören beispielsweise seine Sicherheitskräfte und ein finanzieller Haushalt, der in Deutschland knapp die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung ausmacht*1. Und in Notlagen kann er häufig beträchtliche zusätzliche Ressourcen mobilisieren, indem er sich beispielsweise an den internationalen Märkten verschuldet, kurzfristig Geld druckt oder externe Verbündete um Hilfe bittet. Den Druck der Straße muss er eigentlich nicht fürchten, solange er zusammenhält. Und selbst den hartnäckigsten Protestierenden geht irgendwann die Motivation verloren, oder sie müssen sich schlicht um ihr eigenes Überleben, um Lohnarbeit und Haushalt kümmern.

Dieser gigantische, langsame, häufig gesichtslose Staat wird von einer personell und zeitlich begrenzten Regierung mit klaren Zuständigkeiten gelenkt. Und diese wiederum kann sehr wohl direkt angesprochen und unter Druck gesetzt werden. Die (politische) Regierung wird also verantwortlich gemacht, unabhängig davon, was sie tatsächlich bewirken kann. Denn umgesetzt wird das Ganze von (technokratischen) Institutionen, deren genaue Arbeitsweise den wenigsten vertraut ist. Das kann eine Herausforderung für Aktivistinnen sein, die mit ihrem Anliegen eigentlich die richtige Ansprechperson ausfindig machen und ihre Beschwerdebriefe nicht versehentlich an die falsche Adresse schicken wollen. Wie viele Menschen wissen beispielsweise spontan, wer im Staatsapparat über ein Abschiebeverbot entscheidet? Das Aufenthaltsgesetz verbietet formal Abschiebungen in bestimmten Fällen, aber ob diese zutreffen, wird oft mühsam zwischen Anwälten, Behörden und Gerichten ausgehandelt. Dass der individuelle Beamte sich im Asylverfahren anders verhält, ist jedoch schwer zu fordern, denn wer diese Praxis konkret umsetzt, geht im Institutionenlabyrinth unter. Die zuständige Ministerin hingegen ist leicht identifizierbar. Diese trägt die politische Verantwortung über Entscheidungen — und kann von der Öffentlichkeit dafür verantwortlich gemacht werden. Protestierende können diese leichter in die Pflicht nehmen, weil sie nicht in mühsamer Kleinstarbeit jede involvierte Person in Behörden und Gerichten ausfindig machen und überzeugen müssen — sondern »nur« die Ministerin selbst.

Aber auch sie kann in größeren Zeiträumen arbeiten und kurzzeitige Proteste aussitzen. Selbst wenn die Regierung nicht autokratisch auf Lebenszeit gewählt ist, sind vier Jahre bis zur nächsten Wahl viel Zeit. Und Politikerinnen denken in der Regel nicht nur an den Protest von heute, sondern daran, wer in der Zukunft protestieren könnte, sie denken an gesamtgesellschaftliche Stimmungen, ihre eigene Karriere und ihre Regierungskoalition. Der einzelne Protest ist immer nur ein flüchtiges Bild, das sich schnell ändern kann. Wie wenig Regierungen selbst auf Proteste in Demokratien reagieren können, konnte man in den letzten Jahren eindrücklich am Beispiel Frankreich sehen. Emmanuel Macron, seit 2017 Präsident, führte zahlreiche unpopuläre Reformen durch. 2018 erhöhte seine Regierung die Treibstoffabgaben um mehrere Cent — nachdem diese bereits im Vorjahr gestiegen waren und die Marktpreise ebenfalls zunahmen. Diese Preiserhöhung und Unzufriedenheit mit der Reformagenda Macrons führten Ende 2018 zu den »Gelbwestenprotesten«, die sich schnell ausweiteten zu einer Protestbewegung gegen seine Präsidentschaft. Die Reaktion der Regierung: weitermachen. Zwar wurden die Reformen zeitweise ausgesetzt und leicht verändert, aber nicht grundsätzlich rückgängig gemacht. Die Proteste beantwortete Macron vielmehr mit Polizeieinsätzen, und als sie nachließen, griff er seine Reformen wieder auf. Der Wiederwahl schadete es nicht: 2022 wurde Macron erneut zum Präsidenten gewählt, bei der Parlamentswahl konnte er seine relative Mehrheit knapp verteidigen. Und als 2023 Massenproteste und Streiks gegen die geplante Rentenreform begannen, ignorierte er auch dieses Mal die Forderungen weitgehend. Wieder bestand seine Antwort in erster Linie aus Polizeieinsätzen, politisch wurde der Kurs gar verschärft: Mit Anwendung des Artikels 49.3 umging die Regierung Macrons das Parlament. Die Exekutive ignorierte den Protest nicht nur, sie setzte ihr politisches Programm sogar noch schneller durch. Und die Opposition, angeführt von der linken Koalition NUPES, konnte letztlich nur zuschauen. Ihr Versuch, die Reform über eine Beschwerde vor dem Verfassungsgericht zu stoppen, scheiterte. Und wenn Macron nach der Europawahl 2024 nicht die Nerven verloren hätte, hätte er auch noch eine Weile ungehindert weitermachen können. Auch wenn Macrons Umgang mit den Protesten seinen Beliebtheitswerten und dem Wahlergebnis seiner Partei sicher nicht geholfen hat: Entscheidend war, dass Macron selbst das Parlament auflöste. Kein Protest hätte ihn dazu zwingen können.

Staaten müssen sich nicht mit Protesten auseinandersetzen, denn es fehlt ein politischer Mechanismus, der sie dazu verpflichtet. Natürlich sollten Staaten auf ihre Bürger reagieren, und in Demokratien haben diese sogar ein Recht darauf, gehört zu werden — aber eben nicht unbedingt durch Protest. Bürgerinnen können sich beispielsweise mit Bitten oder Beschwerden an den Petitionsausschuss des Bundestags wenden, und dieser muss reagieren. Aufsehen erregte 2015 eine Petition, die ein Antidopinggesetz forderte und an den Bundestag weitergeleitet wurde. Denn kurze Zeit später wurde tatsächlich ein solches Gesetz verabschiedet. Ein solcher Erfolg ist nicht die Regel, aber Petenten können mit einer Antwort rechnen, manchmal auch mit direkter Hilfe bei ihrem Anliegen — und in manchen Fällen werden sie sogar in den Bundestag eingeladen, um ihr Anliegen direkt vorzutragen. Das ist ihr gutes Recht, denn das Petitionsrecht ist im Grundgesetz verankert und der Petitionsausschuss des Bundestags über ein Gesetz klar geregelt. Wer also eine Petition einreicht, nimmt damit direkt Einfluss auf den Staat, selbst wenn das Petitionsverfahren nicht erfolgreich ist. Außerdem üben Wählerinnen direkt Macht aus, indem sie durch ihren Gang zur Wahlurne die Mehrheitsverhältnisse in Parlamenten bestimmen. Das hat auch zwischen den Wahlen Wirkung auf die Politik, beispielsweise durch Umfragen. Wer wiedergewählt werden will, muss die Umfragewerte im Blick behalten, gerade während Wahlkämpfen. In Autokratien sind es oft Eliten, die auf die eine oder andere Art Einfluss nehmen können, oder auch Umfragen, die Machthabern andeuten, welche Themen für Unmut sorgen und zum Problem für sie werden könnten.

Politischer Protest aber steht zwischen all diesen Stühlen. Er beeinflusst keine Machtverhältnisse, wie es Wahlen oder Absprachen zwischen Eliten tun. Er vermittelt keine klare Vorstellung davon, wie Mehrheiten und Stimmungen im Land sich entwickeln, denn anders als in repräsentativen Umfragen kann es sich eben um eine sehr laute Minderheit handeln. Wenig spricht unter diesen Umständen dafür, dass Staaten ihr Handeln von Protesten beeinflussen lassen, und die meisten Regierungen können dies vermeiden, wenn sie es möchten, wie das Beispiel Macron zeigt.

Führt man sich also vor Augen, wie unwahrscheinlich der Erfolg von Protesten, sozialen Bewegungen und Revolutionen eigentlich ist, ist es umso beachtlicher, wie oft sie dennoch erfolgreich sind. Beispiele hierfür gibt es viele. 1963, auf dem Höhepunkt der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, marschierten Hunderttausende friedlich durch Washington und lauschten der »I have a dream«-Rede Martin Luther Kings. Sie waren aus allen Ecken des Landes angereist, meist in Bussen, und trugen mit dem Marsch erheblich dazu bei, dass politische Reformen durchgeführt wurden, die die Lage der Afroamerikaner verbesserten. Und nachdem die Nachricht die Runde machte, die Grenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik seien offen, versammelten sich 1989 Tausende Menschen an Grenzübergängen. Es kam zu tumultartigen Szenen, die Grenzkommandanten öffneten schließlich die Tore — und leiteten damit das Ende der DDR ein. Ähnliches spielte sich in der gesamten Sowjetunion ab, die innerhalb kurzer Zeit verschwand. Die Proteste, die zum Ende der Sowjetherrschaft geführt haben, veränderten schlagartig die gesamte Welt. Das führt zu der Frage:

Warum haben Proteste also trotz allem regelmäßig Erfolg?

Kaum eine Frage bewegt die Protestforschung so sehr wie die, aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen Protestbewegungen Erfolg haben. Eine einfache Antwort auf diese Fragen gibt es nicht, es müssen sehr unterschiedliche Faktoren und Konfliktlagen berücksichtigt werden. Was die meisten Antworten aus der Protestforschung gemeinsam haben: Erfolgreiche Proteste entstehen nicht im Vakuum, sie haben häufig weniger erfolgreiche, aber politisch wirksame Vorgänger. Protestierende lernen, organisieren und vernetzen sich bei Protesten, auch wenn diese nicht erfolgreich sind. Die Fähigkeiten, die sie so erwerben, können ihnen dabei helfen, den nächsten Protest erfolgreicher zu gestalten und bereit zu sein, sollte die Gelegenheit in Zukunft günstiger sein, ihr Anliegen durchzusetzen. Je geschickter sie protestieren, desto leichter fällt es ihnen, eingespielte Abläufe zu stören. Proteste können auf diese Weise der Sand im Getriebe des politischen Apparats sein, der Verantwortliche zum Umdenken bringt. Dazu müssen aber mehrere Dinge zusammenkommen, die oft schwer vorhersehbar sind.

Denn für den Erfolg von Protestbewegungen kommt es auf die politischen Rahmenbedingungen an, also darauf, wie demokratisch das Regierungssystem ist und wie groß die gesellschaftliche Unterstützung für Proteste allgemein und für einen konkreten Protest ist. Wenn die Revolution schon in der Luft liegt, sich weite Teile der Eliten mit dem politischen Wandel bereits abgefunden haben wie zum Beispiel in den Sowjetrepubliken 1989, dann sind Protestbewegungen plötzlich sehr effektiv. Auch kommt es auf die Zielsetzung an: Wie radikal sind Proteste? Wie sehr brechen sie politische Tabus? Wer Galgen von Spitzenpolitikerinnen aufstellt, wie einst bei den rechtsradikalen Pegida-Protesten, wird deutlich weniger Menschen von seinem Anliegen überzeugen als eine Bewegung, die von vornherein moderater auftritt. Zu diesen Zielen müssen die kurzfristigen Taktiken ebenso passen wie die langfristigen Strategien. Da stellen sich Fragen wie die nach der Dauer des Protestes — wer eine Subventionskürzung oder Pensionsreform verhindern will, hat vielleicht ein kurzfristiges Ziel und will schnell möglichst viel Druck aufbauen, wer eher den Klimaschutz als gesellschaftliches Projekt vorantreiben will, muss sich Gedanken machen, was nach der Anfangsphase von dem Protest bleibt und wie die Bewegung langfristig etwas bewirken kann. Das unterscheidet auch den Bauernprotest gegen eine kurz zuvor angekündigte Regierungsmaßnahme vom Klimaprotest für einen langfristigen Politikwechsel.

Weil der Protest nicht im luftleeren Raum stattfindet, ist häufig auch die Reaktion des Staates ausschlaggebend für den Erfolg der Bewegung: Werden Gesprächsangebote gemacht? Geht die Polizei mit Gewalt vor? Wenn die Politik Interesse an einem friedlichen Ende hat, sind plötzlich viele Kompromisse möglich, wenn die Polizei (absichtlich oder unabsichtlich) mit Gewalt vorgeht, reagieren Protestierende darauf auch und könnten eingeschüchtert werden oder sich radikalisieren. Auch wer protestiert, kann eine Rolle spielen; die soziale Struktur der Protestierenden macht einen Unterschied. Angehörige der vom Nationalisozialistischen Untergrund getöteten Enver Şimşek, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat demonstrierten 2006 in Kassel und Dortmund für Aufklärung. Sie warnten vor der rechtsextremen Mordserie, wurden aber weitgehend ignoriert — von Behörden und von der Mehrheitsgesellschaft. Erst 2011 enttarnte sich der NSU selbst. Besonders viel Erfolg haben Bewegungen, wenn sie es schaffen, heterogene Gruppen zu mobilisieren, weil sie damit unterschiedliche Milieus ansprechen und immer schwerer ignoriert werden können. Dazu sind ihre Bündnisse wichtig. Wie viele andere Akteure sich solidarisieren, beeinflusst den Erfolg von Protest.

Davon nicht ganz zu trennen ist der Protestort. Wer vor dem Parlament protestiert, wird allein durch die Nähe zur Politik schneller gesehen und gehört, wer dagegen im Banlieue oder im ländlichen Raum protestiert, wo weniger Journalistinnen leben, hat es deutlich schwerer. Unterstützer jenseits der Staatsgrenze können dabei helfen, die internationale Presse aufmerksam zu machen. Die Medienlandschaft spielt generell eine große Rolle für den Erfolg von Protesten. Eine freie Presse, die neutral oder sogar positiv über Protest berichtet, hilft ihrem Anliegen, während gleichgeschaltete Medien ihren Spielraum stark einschränken. Somit sind es sehr unterschiedliche Faktoren, die über Erfolg und Scheitern von Protest entscheiden können, und die genannte Liste ist auch nicht vollständig. Aktivistinnen können nur einen Teil davon selbst kontrollieren und müssen bei den restlichen auf eine günstige Lage hoffen oder beobachten, wie sich andere Akteure verhalten. Einen Protest am Reißbrett zu planen, wird deswegen sehr schwerfallen. Und selbst wenn eine Protestbewegung erfolgreich alle relevanten Faktoren berücksichtigen sollte, kann ihr jederzeit ein unvorhergesehenes Ereignis einen Strich durch die Rechnung machen und die Rahmenbedingungen dramatisch verändern. Wer hätte Ende 2019 die weltweite Covid-19-Pandemie oder 2022 den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Blick gehabt?

Entscheidend ist dabei oft nicht, was real passiert, sondern wie diese Dynamik wahrgenommen wird. Wenn Staat und Gesellschaft denken, dass eine Protestbewegung radikal ist, und sich entsprechend verhalten, also aus Prinzip nicht das Gespräch suchen und nur mit Polizeimaßnahmen reagieren, dann ist es auch egal, ob die Bewegung eine Revolution anstrebt oder eine vorsichtige Gesetzesänderung. Neben der realen Aktion spielt also die Diskussion um Proteste eine enorme Rolle. Wie über Protestbewegungen und wie