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1967 veröffentlichte Jorge Luis Borges sein «Buch der imaginären Wesen«, für das er vom Doppelgänger bis zum Kentauren eine Aufstellung der wichtigsten Fabelwesen aller Kulturkreise zusammentrug. Das Buch des universell belesenen Autors wurde sofort zu einem Meilenstein für die etwas in Vergessenheit geratene Wissenschaft der Parazoologie, also jenes Zweigs der imaginären Zoologie, der sich mit der Erforschung von Fabelwesen beschäftigt. Doch so vielseitig Borges’ Buch auch war, so konnte es bei leibe nicht alle relevanten imaginären Wesen berücksichtigen. Diese Lücke schließt nun das Periodikum »Die Neuen Fabelwesen«. Es versammelt Texte um jüngst entdeckte Wesen wie den Forentroll, den Klonkrieger, die Cyborg oder den Babelfisch. Dabei folgt es in seiner Auswahl dem Credo des unsterblichen Borges: »Wir kennen den Sinn des Drachens und des Einhorns ebenso wenig wie den des Universums, aber in seinem Bild ist etwas, das der menschlichen Vorstellungskraft entspricht.« Ein faszinierendes Bestiarium der Neuzeit Fabelwesen leben mitten unter uns. Achim Stanislawski erzählt uns alles über sie, auch Dinge, nach denen wir zu fragen uns nie getraut hätten. Sein Buch ist ein spannender Wegweiser durch die Mythen unseres Alltags. Alle Macht der Phantasie! »Das Phantastische erschien mir nie außergewöhnlich.« (Julio Cortázar)
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Seitenzahl: 210
1967 veröffentlichte Jorge Luis Borges sein »Buch der imaginären Wesen«, für das er vom Doppelgänger bis zum Kentauren eine Aufstellung der wichtigsten Fabelwesen aller Kulturkreise zusammentrug. Das Buch des universell belesenen Autors wurde sofort zu einem Meilenstein für die etwas in Vergessenheit geratene Wissenschaft der Parazoologie, also jenes Zweigs der imaginären Zoologie, der sich mit der Erforschung von Fabelwesen beschäftigt.
Doch so vielseitig Borges’ Buch auch war, so konnte es beileibe nicht alle relevanten imaginären Wesen berücksichtigen. Diese Lücke schließt nun das Periodikum »Die Neuen Fabelwesen«. Es versammelt Texte um jüngst entdeckte Wesen wie den Forentroll, den Klonkrieger, die Cyborg oder den Babelfisch. Dabei folgt es in seiner Auswahl dem Credo des unsterblichen Borges: »Wir kennen den Sinn des Drachens und des Einhorns ebenso wenig wie den des Universums, aber in seinem Bild ist etwas, das der menschlichen Vorstellungskraft entspricht.« Ein faszinierendes Bestiarium der Neuzeit.
»Das Phantastische erschien mir nie außergewöhnlich.« (Julio Cortázar)
Fabelwesen leben mitten unter uns. Achim Stanislawski erzählt uns alles über sie, auch Dinge, nach denen wir zu fragen uns nie getraut hätten. Sein Buch ist ein spannender Wegweiser durch die Mythen unseres Alltags. Alle Macht der Fantasie!
Achim Stanislawski
Die neuen Fabelwesen. Von Forentrollen, Sexpuppen und Klonkriegern
Ein modernes Parazoologikon
Digitales Original: © CulturBooks Verlag 2016
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: Oktober 2016
ISBN 9-783-95988-045-9
»denn lautlos naht sich das Niegeglaubte« Rainer Maria Rilke: Das Einhorn
Höchstwahrscheinlich haben Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, schon einmal von der Parazoologie gehört, ohne genau zu wissen, worum es sich bei dieser etwas eigentümlichen Wissenschaft genau handelt. Das ist keineswegs verwunderlich.
Die Parazoologie, also die Wissenschaft von der Erfassung und ethologischen Untersuchung von Lebewesen, die im imaginären Raum der Fabeln, Hirngespinste und Mythen existieren, gilt selbst unter Experten als ein Anachronismus, ein obskurer Wissenszweig in einer schon etwas eingestaubten Ecken am Baum der Erkenntnis. Manch einer hält sie gar für reine Scharlatanerie oder, was noch schlimmer ist, für spiritistischen und unzeitgemäßen Unsinn. Um gegen diese und andere Vorteile vorzugehen, soll diese Einführung einen kurzen Überblick über den Entwicklungsgang dieser faszinierenden, wenn auch kryptischen Wissenschaft geben. Das Erscheinen der ersten Ausgabe dieses digitalen Periodikums mit dem Titel »Die Neue Fabelwesen« gibt dazu den erfreulichen Anlass.
Vorweg möchte ich jedoch mit dem Vorurteil aufzuräumen, die Parazoologie sei keine Wissenschaft. Diese Anfeindungen von Kollegen aus benachbarten Disziplinen der Humanwissenschaften sind nicht neu, werden aber immer wieder gerne erhoben (wohl um der fehlenden Legitimation des eigenen Faches hinwegzutäuschen.) Hören Sie nicht auf die Eierköpfe! Der zugegebenermaßen etwas angekratzte Ruf der Parazoologie ist wohl weniger auf den für manchen etwas ungewöhnlich erscheinenden Forschungsbereich dieser Wissenschaft zurückzuführen, und auch nicht seiner axiomatischen Ausrichtung geschuldet. Den größten Schaden hat ihr Ansehen durch die Winkelzüge, Intrigen und Verleumdungen benachbarter Wissenschaften genommen, die seit den zarten Anfängen unserer Disziplin nichts unversucht gelassen haben, um sie in ein schlechtes Licht zu rücken.[1] Man tut gerne so, als sei die Idee, imaginärer Wesen zu erforschen, ein Sakrileg am empirischen Grundgerüst unseres Wissenschaftsverständnisses, ein Verrat am positivistischen Denken oder gleich ein Zeitvertreib für Geistkranke. Die Parazoologie, so ist immer wieder zu lesen gewesen, ist ein Hirngespinst, eine große Dummheit, die den fiebrigen Köpfen allzu schwärmerischer Geister und hysterischer Bücherwürmer entsprungen sei. Die Wissenschaftsgeschichte weigert sich rundweg, sich mit der immerhin bald 300 Jahre alten Tradition unseres Faches auch nur zu beschäftigen. Die Namen großer Gelehrter wie Professor Abronsius, A.S. Taratonga oder Lucy Diamond treffen in akademischen Kreise auf taube Ohren. Und wenn sie doch eine Reaktion hervorrufen, so ist es meist nur ein müdes Lächeln, mit dem man eine Wissenschaft abzutun möchte, in der sich Realität und Phantastik anscheinend allzu nah gekommen sind. Aber gerade das macht doch den Reiz dieser Wissenschaft aus: dass sie offen zugibt, direkt im Wolkenkuckucksheim ausgebrütet worden zu sein. Wer als ein Parazoologe würde ganz selbstverständlich einräumen, dass seine Forschung kaum einen Nutzen hat als den, zu erfreuen; dass sie zu dem großen Streben des Menschen nach Erkenntnis nur einige Dummheiten beisteuert; dass die von ihr produzierten Gewissheiten schon morgen nichts mehr gelten könnten; dass sie einen unendlich großen Aufwand betreibt und Forschungsgelder verbrennt, nur um zu erkennen, dass auch im Unsinn Sinn stecken kann. Tief drin werden solche Überlegungen keinem Philologen, Religionswissenschaftler oder Psychologen gänzlich fremd sein. Und doch ist es die Parazoologie, dieses ungeliebte, freie, merkwürdig anzuschauende Stiefkind der Aufklärung, die sich immer wieder für ihr Dasein rechtfertigen muss.
Ja, als ParazoologIn braucht man ein dickes Fell. Mit Verständnis oder gar Interesse vonseiten der geschätzten »Kollegen« ist da nicht zu rechnen. So ist es schon bezeichnend, dass der wackere Professor Abronsius, der Namensgeber und Gründungsvater der modernen Parazoologie, heute in akademischen Kreisen weniger für seine umfangreichen wissenschaftlichen Schriften bekannt ist als aufgrund einer etwas albern geratene Verfilmung eines seiner Bücher durch Roman Polanski.[2] Dabei wäre es doch an der Zeit diesen außergewöhnlichen Geist wieder neu zu entdecken, der seinerzeit in Königsberg als Kants schärfster Widersacher gehandelten wurde. Der Ideengeschichte geht damit ein nicht unwesentliches Kapitel des deutschen Geisteslebens im 18. und 19. Jahrhundert verloren.
Aber ich will die geneigten Leserinnen und Leser nicht weiter mit diesem Froschmäusekrieg vom Dachboden des Elfenbeinturms behelligen und verweise ersatzweise auf mein Buch »Einführung in Parazoologie. Von Plinius d. Ä. bis Iljon Tichy«, in dem ich die wichtigsten Debatten zusammengefasst und in einem Schlusskapitel ausführlich dem ewig schwelenden Streit um die Abgrenzung unserer Disziplin von benachbarten Fachrichtungen nachzeichne.
Die Wurzeln der Parazoologie reichen zurück bis zu den antiken Kulturen, die als erste den Ehrgeiz entwickelten, das gesamte verfügbare Wissen über alle Dinge zwischen Himmel und Erde zu erfassen und zu ordnen. In den Quellensammlungen und gelehrten Untersuchungen der Antike wurden Fabelwesen oft ganz selbstverständlich als Bestandteile der natürlichen Fauna behandelt. So lesen wir etwa in der »Naturkunde« des Plinius mitten unter den Beschreibungen von Landtieren wie Löwe, Schaf und Hase auch von fabelhaften Tieren wie dem Basilisken und einem 120 Ellen langen Drachen, der während des Punnischen Krieges von der Armee des Feldherrn Regulus am Fluss Bagrada »durch Wurfgeschosse und Belagerungsmaschinen« getötet wurde. (Plinius, Naturkunden, XII: 35) Unter der detaillierten Beschreibungen der Meeresfauna tauchen bei ihm auch Meerjungfrauen und ein Meermann (ein Triton) auf, der in einer Höhle nah der Stadt Olisipo gesichtet wurde, wo er eine kleines, auf einer Muschel gespieltes Blaskonzert gegeben haben soll. Weiter weiß er auch Erstaunliches vom Vögel Phönix zu berichtet, weist aber den »Mythos« von einem Vogel mit Pferdekopf (dem Pegasos) als bloßes Hirngespinst entrüstet von sich. (Plinius, Naturkunden, X: II, 3-5) Dieses umfangreiche Wissen hat Plinius beim Studium verschiedener Texte und Reiseberichte gewonnen, über deren Wahrhaftigkeit aus seiner Sicht kein Grund zu zweifeln bestand, schließlich stammten diese Angaben von namenhaften Autoren. Und was für ein Interesse könnte ein Aristoteles, Hippokrates oder Theophrastus wohl daran gehabt haben, Lügenmärchen zu verbreiten?
Doch Plinius beschränkte sich nicht nur auf die ungeprüfte Widergabe von griechischen Angaben zu gewissen phantastischen Tiere und eigentümlichen Wesen, sondern referiert auch höchst seltsame Geschichten über die »merkwürdigen Volksstämme« Indiens und Äthiopiens, die er aus dem Alexanderroman und den Reiseberichten der beiden griechischen Autoren Ktesias und Megasthenes entnommen hat – zwei Sammlungen von Lügengeschichten allererster Güte. In diesen exotischen Weltgegenden, so schreibt Plinius, lebten angeblich Menschen mit Hundeköpfen, »mit beiderlei Geschlecht«, mit doppelten Pupillen oder auch nur einem einzigen Auge auf der Stirn. Weiterhin berichtet er von den grotesken Skiapoden, Menschen mit nur einem Bein, welches aber in einen gewaltigen Fuß müde, unter dessen Schatten die Skiapoden (Schattenfüßler) sich ausruhten, indem sie sich auf den Rücken legten und die Sohl der Sonne entgegenreckten. Auch die Acephale, welche keinen Kopf haben und dafür das Gesicht auf der Brust tragen, werden von ihm erwähnt.[3]
Die »Naturkunde« des Plinius ist jedoch nicht der einzige (wenn auch wohl der meistzitiert) Fall, in dem die frühe Zoologie und die spekulative Parazoologie fast gleichberechtigt nebeneinander stehen. Der von einem anonymen Autor verfasste »Physiologus«, die »Etymologia« des Isidor von Sevilla und hunderte im Mittelalter verfasste Bestiarien verfuhren auf ähnliche Weise, indem sie nach Belieben vages Beobachtungswissen mit wüster Spekulation und alptraumhaftem Brimborium vermengten. So führt zum Beispiel Isidor in seiner »Etymologia« den Gryphus, ein im fabelhaften Indien lebendes Tier mit dem Körper eines Löwen und Kopf und Schwingen eines Adlers, auf, dessen zusammengeklöppelter Körperbau nur noch von den unmittelbar danach beschriebenen, noch viel unglaublicheren Tieren wie dem Chamäleon und der Giraffe übertroffen wird. (Isidor, Etymologia, XII, 17-19)
Erst die Neuzeit und vor allem das Zeitalter der Aufklärung machte Schluss mit dieser Einfältigkeit und bemühte sich die Zoologie als harte Wissenschaft zu etablieren, um sie von der antiken Naturkunde mit ihrem Hang zum haltlos Fabelhaften zu abzugrenzen.
Dieses Vorhaben, so folgerichtig es uns aus heutiger Sicht scheinen mag, war aber durchaus nicht so einfach umzusetzen. Gerade die frühen Empiristen müssten alsbald die Erfahrung machen, dass die Nachtseite der Vernunft mächtig nachwirkte. Nicht von ungefähr galten alle Wissenspioniere der frühen Neuzeit und noch der Aufklärung als Magier, Alchemisten oder Wunderheiler. So soll etwa Francis Bacon zusammen mit einem anderen Alchemisten einen sprechenden Kopf aus Metall gebaut haben. (Isaac Asimov, Roboter, 15) Galileo Galilei hielt in jungen Jahren einen Vortrag vor der Akademie zu Florenz, in dem er anhand der Angaben, die Dante in seiner »Göttlichen Komödie« gemacht hatte, die exakte Größe Luzifers und der Hölle ausrechnete. Sogar der als reiner Verstandesmenschen schlechthin verehrte Isaac Newton, der die Planetenbahnen in seinen eleganten Gleichungen einfasste, Mitgründer der Royal Academy war und als wichtigster Physiker vor Albert Einstein gilt, soll felsenfest an Geister geglaubt haben. Aus der Geschichte der Alchemie, Kabbala und noch der modernen Physik wissen wir, dass der Übergang zwischen exakter Wissenschaft und Geisterkunde schon immer ein fließender war, und nie so unverrückbar und strikt, wie er gerne von phantasielosen Gestalten und einfältigen Wissenschaftshistorikern dargestellt wird. (vgl. C.G. Jung, Studien über alchemistische Vorstellungen)
Und genau in diese Periode des zauberischen Wissens und der obskuren Naturwissenschaften fällt dann auch die eigentliche Gründung der Parazoologie, unserer Wissenschaft.
Alles begann mit einem Streit zwischen zwei Professoren an der ehrwürdigen Universität zu Königsberg. Im Winter 1786 lud Friedrich Wilhelm II. von Preußen die Honoratioren und Professoren der Stadt zu einer Besichtigung der neu restaurierten königlichen Wunderkammer zu Königsberg. Der Kurator Ludwig Säckel führte einen Nachmittag lang seine Majestät und die erlauchten Gäste durch die neu tapezierte und um einige Hundert Neuerwerbungen erweitere Sammlung der »natürlichen Kuriositäten und wundersamen Absonderlichkeiten«, wie er in seiner Eröffnungsrede sagt, die zu diesem Zeitpunkt bereits drei großzügige Räume umfasste, deren Böden, Borte, ja selbst Decken von den Exponaten förmlich überquollen. Hier sah man ausgestopfte Alligatoren, Bergkristalle, versteinerte Pflanzen, Hexenkessel, mumifizierte Meerjungfrauen und als großer Höhepunkt des Ganzen, das in Ringerlösung eingemachte, immer noch in einem langsamen Rhythmus schlagende Herz eines Blauwals, effektvoll positioniert in der Mitte des dritten Saals.
Seine Majestät war sichtlich begeistert von der wimmelnden Vielfalt dieser aus allen Ecken der Welt zusammengetragenen Sammlung und lauschte voller Entzücken dem artigen Disput der gelehrten Herren, die sich schon bald über die chemischen Eigenschaften des Moschus und den Gebrauch stimulierender Gifte bei den »Kirchweihen der eingebornen Indianer Amerikas« zu streiten begannen.
Nur eine kleine Gruppe um den alten Philosophieprofessor Immanuel Kant ließ sich bereits kurz nach Beginn der blumig ausgeschmückten, mit vielen Lachern und auch verhaltenen Entsetzensschreien kommentierten Führung Doktor Säckels zurückfallen und blieb so der um die Aufmerksamkeit des Königs buhlenden Auseinandersetzung fern. Erst zwei Jahre zuvor hatte Kant seine programmatische Schrift »Was ist Aufklärung?« veröffentlicht, nun stand der in ganz Europa geachtete Philosoph und Meisterdenker in einem Raum voller alchemistischer Spektakel und spöttelte mit leiser Stimme über den hier versammelten »Phantasieplunder«. Doch einer aus der Gruppe um Kant fiel nicht in das herablassende Gekicher mit ein, sondern begann nun selbst, ein kleines Plädoyer für die Institution Wunderkammer zu halten.
Bei diesem Mann, der es wagte dem großen Kant vor seinen Schülern die Stirn zu bieten, handelte es sich um den bereits erwähnten Professor Abronsius, damals Honorarkraft an der Universität zu Königsberg. Abronsius hatte selbst einige der an diesem Ort ausgestellten Gegenstände im Auftrag Säckels gesammelt und zu diesem Behuf ausgedehnte Reisen in den Osten Europas und sogar bis nach Indien unternommen.
Dort hatte er, wie er »dem hochgeschätzten Kollegen« versicherte, im Reich der Türken eine Ausgrabung von Drachenknochen geleitet, mehrere Nächte lang eine Gemeinschaft von Ghoulen auf ihrem heimischen Friedhof beobachtet[4] und in Transsylvanien ein interessantes Gespräch mit einem untoten Grafen geführt, der das Sonnenlicht meide und sich ausschließlich von den Körpersäften von Tieren und Menschen ernähre. Die unwiderleglichen Zeugnisse dieser Abenteuer, so Abronsius, seien in dieser Wunderkammer aufgebart und harrten nun einer weiteren Untersuchung durch die Wissenschaft.
Dieses Plädoyer, das uns fast im vollen Wortlaut durch die Aufzeichnungen von Kants treuem Diener Martin Lampe erhalten geblieben ist, weil dieser wohl im Gegensatz zu seinem Herrn Gefallen an diesen Ausführungen gefunden hatte, machte allerdings wenig Eindruck auf die versammelten Professoren von Königsberg. Vielmehr steigerte sich das bisher aus Rücksicht auf die im Nebenzimmer weilende Person des Königs nur verhalten erklungene Gekicher nun zu einem spöttischen Lachen, das sich zu einem wahren Orkan steigerte, als Kant seinem Gesprächspartner entgegenschleuderte, dass seine »Zauberreisen ins Märchenland« der reinste Unsinn seien und er, Kant, ihm dringend rate, an solch »gelehrten Dummheiten nicht ihre und nicht meine Lebenszeit zu verschwenden«.
Dieser herbe Schlag traf unseren lieben Professor Abronsius schwer, war er doch vor allen Mitgliedern der Universität von dem wichtigsten Philosophen seiner Zeit durch den Kakao gezogen worden. Seine wissenschaftliche Reputation war nach dem sogenannten »Wunderkammer-Vorfall« zwar unheilbar beschädigt, er bedeutet aber auch einen Wendepunkt im Leben dieses Mannes, der ihn mit dem Mute der Verzweifelung zu immer gefährlicheren Reisen und immer waghalsigeren Thesen antrieb, in dem irrwitzigen Bestreben, seinen Namen reinzuwaschen und den Ruf einer wissenschaftlichen Autorität zurückzugewinnen.
Abronsius blieb kein anderer Ausweg, als die Kritik an seinen zu übersinnlichen und wunderbaren Eskapaden neigenden Studien als schicksalhaft zu begreifen und sich wie besessen vom Teufel der Verkehrtheit und des mephistolischen Widerspruchsgeists noch tiefer in gerade solche Themen zu ergehen. Nun entstanden in schneller Folge seine drei Hauptwerke: Des Gevatter Paracelsus Abrichtung eines Homunculus. Briefroman über die sittliche Erziehung künstlicher Wesen und solcher im Naturzustand (1787), Chymische Untersuchung über gewisse Essenzen, die Doctor Faustus levitieren ließen (1789) und das Standartwerk: Von den para-zoologischen Studien: Kritische Kritik des Glaubens von der Aufklärung natürlicher und himmlischer Mysterien (1790). In diesem definierte er die Parazoologie bündig als »methodische Erforschung verborgener Wesenheiten, deren tatsächliche Existence allgemein verleugnet wird«.
Allein, im Klima der triumphierenden Aufklärung war ein solches Beginnen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aus diesen Irrlichtereien des Professor Abronsius, die das Leben und die Karriere eines Mannes ruinierten, entstand ein Werk, das der Nachwelt die Tür zu einer neuen Wissenschaft aufgestoßen hat: eine Wissenschaft des ignis fatuus, die sich der Erforschung imaginärer Wesen mit exakten Mitteln widmete.
In seinem gemeinhin als Kritische Kritik bekannten Gründungsmanifest der Parazoologie formulierte Abronsius den berühmten Leitsatz unserer Disziplin, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gäbe, als die rationalen Wissenschaften mit ihrem »phantasieblinden Maulwurfsaugen« wahrnehmen könnten.[5] Dort beschrieb er als Erster die Phantasie als ein eigenes psycho-dynamisches Habitat, dessen Bewohner den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind wie diejenigen Kreaturen, von deren Existenz wir gesichertes Wissen haben. »Der Übergang aus dem Reich der Naturgesetze zu denen der Einbildungskraft ist fließend. Eine unmerkliche Schwelle trennt das, von dem wir nur Weniges wissen, von dem, was sich zwar untersuchen lässt, uns aber seine innersten Geheimnisse weiterhin vorenthält. Wenn uns die Philosophie lehrt, dass der Verstand uns nur sehen lässt, was seinen inwendigen Kategorien entspricht, dann folgt daraus zwingend eine Pflicht, den Verstand umzuwenden, um auch das erkennen zu können, was ihm ansonsten entgehen muss.«[6] Auf dieser Feststellung gründet sich bis heute die Parazoologie: Die Wissenschaft der »gelehrten Dummheiten«, Zoologie phantastischer Wesen, die sich selbst als Ergänzung und nicht als Antithese zum Geist der Aufklärung und der modernen Biologie verstand und dies bis heute tut.
Das missverstandene Erbe des Abronsius
Armer, schusseliger Abronsius, was hast du gelitten zu Lebzeiten unter den Schmähungen eines Zeitgeistes, der dich nicht verstehen konnte und sich damit auch keine sonderliche Mühe gab. Gerade in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens war Abronsius regelmäßig Zielscheibe öffentlichen Spotts. Das wohl berühmteste Beispiel für den Hohn, der sich über Abronsius ausgoss, findet sich in dem einige Jahre nach dessen Tod uraufgeführten Stück »Faust I« von Johann Wolfgang Goethe. Goethe hatte bekanntlich die ganzen 1790er Jahre an seinem Meisterwerk gearbeitet und ihm werden wohl selbst in Weimar nicht die Gerüchte entgangen sein, die zu jener Zeit über den »spinnerten Proffessoren [sic!] von Königsberg« kursierten. Goethe, selbst im Besitz einer spitzen, wenn auch selten hämischen Zunge, lässt Professor Abronsius in der Walpurgisnachtszene seines Stückes auftreten. Während des zwischen Grauen und Komik schwankenden Hexensabbat auf dem Brocken, in der sich allerlei Untiere, Geister und Teufel tummeln, tauchen auch vielerlei stereotype Charaktermasken auf, die der Reihe nach vortreten und ihre Anwesenheit bei diesem wüsten Treiben in Reimform erklären: der Fidler, der Idealist, der Realist, der Gewandte, die Unbehülfliche, die Matrone, das Weltkind usw. Und eine dieser Figuren, die von Goethe der »Supranaturalist« genannt wird, ist (für die Zeitgenossen ganz unverkennbar) nach dem zumindest in deutschen Landen mittlerweile zu trauriger Berühmtheit gelangten Professor Abronsius gestaltet. Über die Teufel und Hexen, in deren Gesellschaft er sich hier bewegt, erklärt dieser Supernaturalist:
»Mit viel Vergnügen bin ich da
Und freue mich mit diesen;
Denn von den Teufeln kann ich ja
Auf gute Geister schließen.«
(Faust I, Z. 4335-8)
Das ist von dem großen Goethe sehr genau beobachtet – denn wenn Abronsius an einer Walpurgisnacht teilgenommen hätte, dann ganz bestimmt mit dem streng wissenschaftlichen Vorhaben, die Riten der Teufel und Hexen genau zu studieren und aus ihren Verhaltensweisen vielleicht Rückschlüsse auf andere parazoologische Wesen zu machen, die mit ihnen verwandt sind. Dennoch überwog in den Augen der Theaterbesucher natürlich der Spott, womit Goethes unsterblicher »Faust« leider, leider nicht unwesentlich zum schlechten öffentlichen Ansehen des Vaters der Parazoologie beigetragen haben dürfte.
Als Abronsius 1799 verstarb, hinterließ er einer scheinbar tauben Welt zwölf große Monographien, ein parazoologisches Wörterbuch und über 300 Artikel und Essays. Doch auch bei ihm wiederholte sich das altbekannte Drama des verkannten Genies, dessen Werke erst nach seinem Tod Berühmtheit erlangen, und dem Toten damit sowohl die Früchte seiner Arbeit sowie auch jegliches Einspruchsrecht über ihren Gebrauch vorenthalten.
In den Jahrzehnten nach seinem Tod bemächtigte sich die immer mehr an Stärke gewinnende Bewegung der Romantik der Schriften unseres Gelehrten, wenn auch freilich mit einer gänzlich anders gearteten Intention. Es scheint im Rückblick paradox, dass die durchaus reiselustigen Frühromantiker um die beiden Schlegels und Novalis nicht schon viel früher die Gelegenheit ergriffen haben, um nach Königsberg zu reisen und den Greisen Abronsius zu besuchen. Andererseits wäre eine solche Reise ziemlich beschwerlich gewesen und eine persönliche Begegnung hätte wohl mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten in der Weltsicht beider Parteien zutage gefördert. Und dennoch, vieles, was Friedrich Schlegel in seinen Athenäums-Fragmenten schreibt, scheint einem gewissen inneren Drang, der sich auf den Seiten des Abronsischen Werkes findet, durchaus zu entsprechen: die Begeisterung für eine »Neue Mythologie« und die obskuren Ecken unseres Wissens, der leise Zweifel an der universellen Qualität der menschlichen Verstandesleistungen und auch die Bemühungen um eine poetische Dimension der Wahrheit, hätten Abronsius wohl zugesagt. Die Mythenforschung und Sagensammlungen der Romantiker können durchaus als parazoologische Beiträge gelesen werden.
Aber diesen Gemeinsamkeiten stehen doch einige Hindernisse im Weg. Schließlich traf hier eine künstlerische Bewegung, die die Welt umspannen und aufheben wollte, auf eine aus dem Ungeist der Aufklärung geborene wissenschaftliche Disziplin. So ist zum Beispiel das Konzept des Idealismus jedem wahren Parazoologen ein einziger Graus. Gar nicht zu reden von der eigentümlich entrückten Sprache der Romantiker. Der Enthusiasmus und die hohen Ansprüche an die »Universalpoesie« vertragen sich nur schlecht mit dem genauen, ja pedantischen Forschergeist eines wahren Wissenschaftlers, ohne den er sich nur schwerlich durch die Berge an alten, stauben Folianten wird hindurchkämpfen können, die er für seine Studien konsultieren muss. Auch wird ein Forscher wohl nur schwerlich einen Waldgeist oder eine Quellennixe auf offener Flur genau beobachten können, wenn er sich zu sehr durch die Majestät des Sonnenaufgangs oder eine blaue Blume am Ufer erregen lässt. Schwärmerei ist Gift für die Wissenschaft, weil sie die Aufmerksamkeit ablenkt und zu Beobachtungsfehlleistungen führt. Kurzum, eine poetische Ader ist geradezu ein Ausschlusskriterium für einen Parazoologen, denn diese Wissenschaft fordert von seinen Adepten einen zutiefst prosaischen Charakter.
Es ist daher sowohl ein Glück aber auch tragisch, dass ausgerechnet die Romantik die Arbeiten des Abronsius’ popularisiert hat. So sind aus Sicht unserer Disziplin die Haus- und Kindermärchen der Brüder Grimm zwar als philologisches Bravourstück zu loben, denn sie haben das Interesse auf die Mannigfaltigkeit der phantastischen Fauna Mitteleuropas gelenkt. Aber das nationale Interesse, das die Grimms mit der Sammlung selbst verbanden, und vor allem die heftige sprachliche Überarbeitung (»stream-lining«) der von ihnen gesammelten Märchen machen diese Quellentexte für eine streng parazoologische Auswertung unbrauchbar.
So werden zum Beispiel in den Märchen der Brüder Grimm die doch recht gravierenden Unterschiede in Aussehen, Verhalten und Charakteristik von verschiedenen Haus- und Waldgeistern nahezu unbeachtet gelassen.[7] Richtig ärgerlich wird es aber, wenn wie etwa in der Geschichte »Vom Froschkönig« für den billigen Effekt eines pädagogisch wertvollen guten Endes die Figuren völlig umgestaltet werden, um zeitgemäße Klischees zu bedienen. Unter PrarazoologInnen besteht mittlerweile darüber Einigkeit, dass es sich bei dem »Froschkönig« keineswegs um einen »verzauberten Prinzen«, sondern tatsächlich um den König der Kröten handelt! Eine äußerst interessante Tierfamilie aus dem Umfeld der Hexenküchen (nicht zu verwechseln mit den Feuersalamandern), von denen es zu Recht schon in den frühsten Alchemiebüchern heißt, sie wären bei der Umwandlung gewisser Feststoffe und beim Auffinden seltener Metalle behilflich und könnten darüber hinaus nicht sterben.[8]
Bei anderen Gelegenheiten wiederum hat sich die Verschränkung von romantischer Literatur und ihren Protagonisten mit der frühen Parazoologie als äußerst fruchtbar erwiesen. So gilt Jacob Grimms heute fast vergessenes, mehrbändiges Meisterwerk Deutsche Mythologie, aus der sich Künstler wie Richard Wagner und fast der gesamte deutsche Expressionismus bedienten, als Pflichtlektüre. Ein weiteres Beispiel sind die deutschen Gespenstergeschichten der Fantasmagoriana, die in ihrer französischen Übersetzung durch den Abronsius-Schüler Jean-Baptiste Benoît nachweislich die englischen Romantiker um Lord Byron und die Eheleute Shelley beeinflussten. Das berühmte Buch »Frankenstein« von Mary Shelley – die von vielen als die erste Parazoologin avant la lettre bezeichnet wird – ist erst auf diese Anregung hin entstanden und gilt gleichzeitig als erster ausführlich dokumentierter Fall der Erschaffung eines Neuen Fabelwesens (auch im Sinne der »neuen Mythologie«, von der Friedrich Schlegel geträumt hatte). Seither ist der künstliche Mensch, das »Monster von Frankenstein« zu einer der weitverbreitetsten Figuren der europäischen Imaginationslandschaft geworden, der heute in unzähligen Büchern, Verfilmungen, Comics, TV-Serien und sogar als Werbefigur auftritt und so zu einem allgegenwärtigen Bestandteil unserer Vorstellungskraft geworden ist.
Trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) dieser etwas ambivalenten Verbindung der frühen Parazoologie mit der Romantischen Schule kam es in der Folge zur ersten Blüte unserer oft missverstandenen Wissenschaft. Langsam und abseits der disputierenden Herrenkränze in und um die Elfenbeintürme der Universitäten begannen sich erste konkrete Richtlinien und Methodiken herauszubilden. Die Zahl der ernstzunehmenden Beiträge, die einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten konnten, wuchs. Dies war auch bitter nötig, wollte man sich von den Quacksalbern, Esoterikern und Tischerückern absetzten, die die Studien des Unbekannten nicht aus rein wissenschaftlichem Interesse und aus Freude an der Forschung selbst, sondern vielfach aus niederen Antrieben und als bloße Scharlatanerie betrieben. (Zur Klarstellung: Erkenntnisse, die mittels eines »sechsten Sinns« empfangen werden, entziehen sich jeglicher wissenschaftlichen Überprüfung und Grundlage, während zum Beispiel eine Wünschelrute durchaus beim Aufspüren von Phänomenen behilflich sein kann, die für manche Messinstrumente einfach nicht detektierbar sind.)
Bald traten überall in Europa und zunehmend auch in Asien, Afrika und Lateinamerika erste zunächst noch sehr lose organisierte Forschungskolloquien zusammen. Der erste IVM – der Kongress der Internationalen Vergleichenden Monstrenkunde (zugegeben, ein schlechter Titel) – trat 1871 in Bogota und ein paar Jahre darauf in Tanger und Yokohama zusammen.
Das lange 19. Jahrhundert gebar eine nie dagewesene Vielzahl an historischen Arbeiten über sogenannte »subsistente Wesenheit«[9] aus allen Kulturkreisen: über den Golem, Kappa, Dschins, Lemuren, den Myrmekoleon, Chumbaba und die Brownies.
Besonders eindrucksvoll ist der Familienbaum der isländischen Feen und Zwerge von Hans Bjelke, den dieser nach seiner Rückkehr vom Mittelpunkt der Erde (vgl. Jules Verne, Die Reise nach dem Mittelpunkt der Erde