Die Nichtswürdigen - Agustina Bazterrica - E-Book

Die Nichtswürdigen E-Book

Agustina Bazterrica

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Beschreibung

Agustina Bazterrica erzählt sprachgewaltig von der Dunkelheit nach der Klimakatastrophe, sie entwirft eine gewaltvolle Gemeinschaft, in der Rettung ein Verhängnis ist, und Liebe Rebellion bedeutet. Die Nichtswürdigen wird so zu einem herausragenden Roman über die Menschlichkeit, über Schmerz und Hoffnung nach dem Weltenbrand.

Nach der großen Katastrophe, nach dem Kollaps der Welt findet sie Zuflucht in einem ehemaligen Kloster: eine junge Frau, wie alle anderen hier, der Kontamination und dem sicheren Tod entkommen. Aber der Schutz an diesem Ort hat seinen Preis. Denn in der archaischen Gemeinschaft, die hier aus der Asche erstanden ist, gelten strenge Regeln, feste Plätze, eine Ordnung aus Ritus und Gewalt. Für sie als eine der Nichtswürdigen bedeutet das Gehorsam oder das Ende. Doch als eine neue Schwester vor den Toren des Klosters auftaucht, stellt sie ihre Gefolgschaft endgültig in Frage. Und nun folgt sie im Geheimen plötzlich neuen Regeln, drängen Fürsorge und Zärtlichkeit ins Leben, genau wie die Notwendigkeit zu schreiben, mit dramatischen Folgen.

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Seitenzahl: 205

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Cover

Titel

Agustina Bazterrica

Die Nichtswürdigen

Roman

Aus dem Spanischen von Matthias Strobel

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5436.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen AusgabeSuhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© 2023, Agustina Bazterrica

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung und Foto: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

eISBN 978-3-518-78072-5

www.suhrkamp.de

Motto

In diesem Dorf gab es weder Spiegel / noch Fenster /wir betrachteten uns in den Wänden / die schmutzig waren von den Desastern ohne Ursprung / mit Wurzeln verfangen in Peitschen.

Gabriela Clara Pignataro

… und hörte das dunkle Land in seiner stummen Sprache sprechen.

William Faulkner

Kann man die Form des Lichts vergessen?

Ximena Santaolalla

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Motto

Widmungen und Danksagungen

Informationen zum Buch

Die Nichtswürdigen

Jemand schreit im Dunkeln. Ich hoffe, es ist Lourdes.

Ich habe ihr Kakerlaken ins Kopfkissen gesteckt und den Bezug vernäht, damit sie nicht so leicht herauskönnen, damit sie unter ihrem Kopf krabbeln oder über ihr Gesicht (hoffentlich kriechen sie ihr in die Ohren und nisten auf ihren Trommelfellen, hoffentlich spürt sie, wie die Brut ihr ins Gehirn dringt). Ich habe winzige Schlupflöcher gelassen, damit sie nach und nach entkommen können, unter Mühen, so wie sie sich auch abmühen, wenn ich sie mit Händen fange (einsperre). Einige beißen. Sie haben ein biegsames Skelett, machen sich flach, um durch kleine Lücken zu passen, überleben tagelang ohne Kopf, können sich ewig unter Wasser halten. Es sind faszinierende Geschöpfe. Ich stelle gern Experimente mit ihnen an. Ich schneide ihnen die Fühler ab. Die Beinchen. Ich steche Nadeln in sie. Ich zerquetsche sie mit einem Glas und betrachte in aller Ruhe ihre primitive, brutale Struktur.

Ich siede sie.

Ich verbrenne sie.

Ich töte sie.

Ich schreibe mit der kleinen, spitzen Feder, die ich im Saum meines weißen Nachthemds verstecke, und mit der Tinte, die ich unter den Dielen aufbewahre. Auf den Blättern, verborgen zwischen meiner Haut und einem Mieder, das ich extra dafür genäht habe, um sie, falls nötig, bei mir zu haben, an meinem Herzen, unter der grauen Tunika, dieser Tunika, die einst die hier lebenden Männer getragen haben. Wir glauben, dass es Priester waren, Mönche, Geistliche. Bedürfnislose Männer, die ein Leben wie im Mittelalter gewählt hatten. Männer, die nun tot sind und die man, wie einige behaupten, im Dunkeln aus den Augenwinkeln sehen kann. Es heißt, weder Er noch die Schwester Oberin hätten, als sie aus dem verwüsteten Land gekommen seien, aus der kollabierten Welt, Handys oder Computer vorgefunden.

Eine Gruppe von Auserwählten betrat die Erhöhungskapelle. Es waren drei Niedere Heilige, die zum Altar geführt wurden. Die Hände hatten sie auf die Schultern der Dienerinnen gelegt, die ihnen voranschritten. Sie waren so schön, wie nur schön ist, wer von Gott berührt wurde. Die Luft tränkte sich mit einem süßen, frischen Duft. Dem Duft der Mystik.

Die Fenster leuchteten, und die Kapelle war übersät mit kleinen, durchsichtigen Juwelen, die ein vergängliches Mosaik bildeten.

Eine Wolke schob sich vor die Sonne, die schimmernden Farben lösten sich auf, und doch sahen wir in aller Deutlichkeit, dass einer der Niederen Heiligen Blut über die Wange lief und auf ihre weiße Tunika tropfte. Wir wussten, wer ihr vor der Zeremonie die Augenlider so schlecht vernäht hatte. Mariel. Die nichtsnutzige Mariel, die sich nun die Hände an der grauen Tunika abwischte und mit glasigen Augen zu uns herübersah. Ich frage mich, wie Mariel früher geheißen hat.

Die Schwester Oberin stand im Dunkeln, neben dem Altar. Unmerklich stampfte sie auf das helle Holz des Bodens mit ihren schwarzen Stiefeln. Kriegsbeute, so wie auch die Hose, die sie trug, die schwarze Militärhose, die Hose eines Soldaten. Ob sie die Peitsche hielt, an ihrem Bein, dem Bein, das im Dunkeln war, konnten wir nicht erkennen. Wir wussten, dass auch Er am Altar stand, hinter dem Lettner, einem Wandschirm aus Holz, der uns die Sicht auf Ihn versperrt. (Das Vorrecht, Ihn sehen zu dürfen, genießen nur die Auserwählten und die Erleuchteten.) Er sprach. Wenn wir Erleuchtete werden wollten, sagte er, müssten wir unserer Herkunft abschwören, dem irrtümlichen Gott, dem falschen Sohn und der negativen Mutter, den trivialen Gedanken, dem nächtlichen Schmutz, der sich langsam und unmerklich durch unser Blut wälze.

Ich sah zu den Venen an meinem Handgelenk und legte einen Finger auf eine blaue Linie.

Läutern.

Er nannte uns die Nichtswürdigen, so wie immer, wenn wir uns alle drei oder neun Tage in der Erhöhungskapelle versammeln (wir wissen nie genau, wann wir zusammengerufen werden), sagte noch einmal »die Nichtswürdigen«, und das Wort hallte von den steinernen Wänden wider, als hätte seine Stimme die Macht, das Unbelebte zum Leben zu erwecken.

Die Niederen Heiligen sangen die Primärhymne, die Urhymne, eine der wichtigsten Hymnen überhaupt, die Hymne, mit der sie bestätigen, dass sie von Gott berührt worden sind. Wir verstehen nicht, was sie singen, es ist eine Sprache, die nur die Auserwählten beherrschen. Einmal mehr erklärte Er uns, die Hymne handle davon, wie unser Gott uns durch die Erleuchteten davor schütze, verseucht zu werden. »Ohne Glauben kein Schutz«, verkündete er.

Nach einer dramatischen Pause stimmten die Niederen Heiligen erneut ihren Gesang an. Weiße Blütenblätter schwebten aus ihrem Mund, Tausende weiße Blütenblätter, Lilienblüten, sie erfüllten die Luft, blitzten auf und erloschen. Mit ihren Stimmen können die Niederen Heiligen die universellen Töne erklingen lassen, mit dem Licht der Sterne vibrieren (deswegen näht man ihnen die Augen zu, damit sie nicht von weltlichen Dingen abgelenkt werden, damit sie die Schwingungen einfangen können, die unser Gott aussendet). Die Heiligen Kristalle hingen an ihrem Hals wie der symbolische Beweis für ihre Heiligkeit. Die durchsichtigen Quarze der Reinheit. Die Niederen Heiligen trugen Tuniken von strahlendem Weiß, ohne den kleinsten Fleck. Still und verzückt lauschten wir ihnen, erleichtert, weil der A-cappella-Gesang uns vom Lärm der Grillen ablenkte, diesem Geräusch wie von einer Furie, die einen einlullt.

Sie sangen weiter die Primärhymne, bis alle drei gleichzeitig zu bluten begannen. Mariel erstickte einen Schrei und riss sich eine Haarsträhne aus. Wir starrten sie an, starrten auf ihren fast kahlen Kopf. Als sie hierherkam, hatte sie noch volles Haar, war sie noch nicht verseucht, deshalb hatte man sie nicht den Dienerinnen zugeteilt. Wir begriffen nicht, warum sie so hartnäckig sich selbst entstellte. Einige lächelten voller Genugtuung darüber, dass an Mariel ein Exempel statuiert werden würde. Andere vergruben ihr Gesicht zwischen den Händen und taten so, als würden sie beten, damit man ihnen die Wonne nicht anmerkte.

Die Niederen Heiligen sangen weiterhin am Altar, während wir spekulierten, wer von uns auserwählt werden würde, das Blut vom Boden zu wischen, wer von uns die ganze Nacht über die Augen der Niederen Heiligen würde pflegen und wieder vernähen müssen und wer von uns Mariel bestrafen durfte. Seit längerem schon hatte ich mir eine exemplarische Strafe ausgedacht. Ich verschränkte die Hände und flehte, dass ich diejenige sein würde.

Eine der Niederen Heiligen wurde ohnmächtig. Die Dienerinnen packten sie an den Armen und schleppten sie in die Gemächer der Auserwählten. Die Schwester Oberin trat in die Mitte des Altars und gab uns ein Zeichen, dass wir uns zurückziehen sollten. Er blieb hinter der Trennwand stehen, so glaubten wir zumindest, denn wir können nie sehen, wann Er geht. Wir wissen nicht, wie Er ist. Einige sagen, Er sei so schön, dass sein Anblick wehtue; andere, Er habe Augen wie Spiralen, die einen in die Tiefe ziehen, die Augen eines Gestörten. Aber das sind alles nur Vermutungen, wir Nichtswürdigen bekommen Ihn nie zu Gesicht.

Wir erheben uns schweigend, unterdrücken den Zorn, überspielen die Wut, denn wir haben so selten die Gelegenheit, die Niederen Heiligen singen zu hören. Sie sind zerbrechlich, erliegen der Last der Worte, die sie singen (dieser Worte, die dafür sorgen, dass wir die Verbindung zu unserem Gott nicht verlieren), sie ertragen es nicht, den heiligen Blitz in der Dunkelheit zu sehen.

Ich musste den Boden aufwischen, und so entging mir die Gelegenheit, auswählen zu dürfen, welches Exempel an Mariel statuiert werden soll. Es wird gemunkelt, dass sie sich nackt wird ausziehen müssen und Lourdes ihr irgendwo eine Nadel in den Körper stecken wird. Das ist eine gute Strafe. Einfach und elegant. Ich wollte, sie wäre mir eingefallen, aber Lourdes denkt sich immer die besten Strafen aus. Immer erhalten ihre Strafen den Vorzug.

Das Blut der Auserwählten aufzuwischen war das Opfer, das die Schwester Oberin von mir verlangte.

Es war duster in der Erhöhungskapelle, trotz der Kerzen, die ich entzündet hatte, um die roten Flecken auf dem Boden zu erkennen. Die Flammen flackerten, ihr Licht warf Formen auf den Stein, Zeichnungen, die im Dunkeln tanzten.

Das Blut der Niederen Heiligen ist (wie das von allen Auserwählten) reiner, deshalb dürfen die Dienerinnen es nicht aufwischen. Ich berührte es behutsam und versuchte, dem frivolen Gefühl nachzuspüren, den Überresten ungebührlicher Gedanken, den letzten Spuren einer Heimat, die sich auflöste, und dem Entzücken, Teil unserer Heiligen Schwesternschaft zu sein. Ich legte mir den blutverschmierten Finger auf die Zunge und schmeckte die geflügelten Insekten, hörte die Schreie in der Nacht. Da wusste ich, dass eine der Niederen Heiligen sterben würde, und freute mich darüber, denn wenn eine Auserwählte stirbt, werden die schönsten Beerdigungen abgehalten. Diesmal muss ich dafür sorgen, dass man mich auswählt.

Während ich saubermachte, kam eine der Reinen Auren herein, fast schwebend, und setzte sich in eine Bank. Sie sah mich nicht auf dem Boden knien. Obwohl ich wusste, dass sie mich nicht hören konnte, verharrte ich still, reglos, weil ich noch nie eine Reine Aura gesehen hatte. Ich erkannte sie an den Malen an Händen und Füßen, an dem durchsichtigen Quarz, der ihr auf der Brust hing (dem Quarz der Auserwählten) und an der weißen, durchscheinenden Tunika. Die langen Haare verdeckten ihre nutzlosen Ohren, ihre durchbohrten Trommelfelle. Geräusche können sie nicht ablenken. Es gibt nur wenige von ihnen, hat man mir gesagt. Sie bewegte die Hände und berührte etwas in der Luft.

Die Reinen Auren können die göttlichen Zeichen lesen, die verschlüsselten Botschaften, die Er uns in der Erhöhungskapelle überbringt. Deshalb sind sie gezeichnet, weil die göttlichen Botschaften Spuren auf ihrem Körper hinterlassen (Risse in der zarten Haut, nie verheilende Wunden), damit sie seine Existenz nie vergessen. Es war, als strahlte die Reine Aura ein Licht aus, mit dem man Engel herbeirufen kann. Ich kniff die Augen zusammen und sah im Halbdunkel die Aura, die sie umgab. Es war ein perfekter Glanz, eine Krone aus lodernden Lanzen, die ein Eigenleben zu führen schienen. Verzückt schloss ich die Augen und spürte, dass sie in einer makellosen Zeit lebte, in einer Zeit ohne Schmerz.

Sie begann zu deklamieren. Ihre Stimme klang wie zerspringendes Glas. Ich konnte ihre verstörende, zersplitterte Sprache nicht verstehen. Da eilte die Schwester Oberin zu ihr, mit Schritten, die wie Schläge waren, nahm sie am Arm und führte sie hinaus. Die Auserwählten (die Verstümmelten) wohnen hinter der Erhöhungskapelle, in Gemächern, zu denen wir keinen Zutritt haben. Die Einzigen, die sie betreten dürfen, sind Er, die Schwester Oberin und die Dienerinnen, die sie umsorgen. Offenbar hat jemand die Tür aufgelassen, und die Reine Aura ist entschlüpft. Die Schwester Oberin ging sehr behutsam mit ihr um, weil man eine Reine Aura, die deklamiert, nicht wecken darf. Der Faden, der sie mit unserer Wirklichkeit verbindet, kann reißen, und dann sind sie in der Ungreifbaren Dimension gefangen, diesem Ort hinter der Luft. Bisher ist dies bloß zwei Auserwählten passiert, die wir nie wiedergesehen haben.

Irgendeine Dienerin wird dafür bestraft werden, dass sie die Tür aufgelassen hat. Die Schwester Oberin persönlich wird sie zum Schreien bringen.

Die Schwester Oberin sah mich wütend an, doch ich senkte den Kopf, so wie man es von uns erwartet, wenn wir vor ihr stehen, vor ihrer Größe. Ich scheute diesen Blick, in dem ein Eissturm lauert.

Ich putzte zu Ende und ging zu meiner Zelle, machte einen Umweg zur schwarzen Tür mit den geschnitzten Verzierungen. Es war niemand da, also trat ich näher und klopfte. Hinter der Tür liegt das Refugium der Erleuchteten. Sie wohnen nicht mit den Auserwählten zusammen, weil sie der kostbarste Schatz der Heiligen Schwesternschaft sind (deshalb werden sie auch nicht verstümmelt wie die Niederen Heiligen, die Durchgeistigten und die Reinen Auren). Der Gang zu ihren Gemächern ist lang und liegt weit abseits der Zellen, in denen wir Nichtswürdigen schlafen. Beleuchtet wird er von Kerzen, die die Dienerinnen jede Nacht austauschen. Von diesem Gang gehen leere Zellen ab, und in der Mitte ist die Tür, zu der nur die Erleuchteten Zutritt haben.

Ich wusste, dass ich wenig Zeit hatte, dass ich ein Risiko einging, aber ich streichelte die Flügel des Engels, der den Kelch trug, die Lilienblüten, die Federn der Nachtigall. Während ich mir vorstellte, wie ich zur Erleuchteten geweiht wurde (nicht zur Auserwählten, ich will keine Auserwählte sein), wie mir der Heilige Kristall überreicht und diese Tür für mich geöffnet wird, hörte ich ein Weinen, das wie ein Miauen war, dann einen gedämpften Schrei, einen Schrei wie ein Knurren, ein Knurren wie das Klagen eines lauernden Tiers. Ich wich von der Tür zurück und rannte weg.

Ich darf niemandem erzählen, dass ich eine Reine Aura gesehen habe. Sollte ich es dennoch tun, werden die Nichtswürdigen mich Dingen beschuldigen, die ich nicht getan habe, nur weil sie nicht selbst Zeuge des Wunders geworden sind, nur weil ich so dreist war, ihnen von dem Wunder zu berichten. Die Schwester Oberin wird mich in den Schweigeturm sperren, der gleich neben dem Kreuzgang der Läuterung liegt. Der Schweigeturm (dieser Ort, den wir alle fürchten), aus Stein erbaut und nahtlos in die Mauer eingefügt (wir glauben, dass er den Mönchen als Wachtposten diente), mit kleinen scheibenlosen Fenstern, ist rund und hoch, so hoch, dass man den Kopf in den Nacken legen muss, um zu sehen, wo er endet, und seine Wendeltreppe hat achtundachtzig Stufen.

Man würde mich dort zurücklassen, ohne Wasser und ohne Essen, allein, der Witterung ausgesetzt, dem Zirpen der Grillen, diesem so ätherischen wie erschreckenden Geräusch, das einen hypnotisiert. Weit weg vom Haus der Heiligen Schwesternschaft.

Allein mit Knochen, die im Dunkeln schimmern.

Ich schreibe in meiner fensterlosen Zelle, im Licht von Kerzen, die allzu schnell herunterbrennen. Mit einem Messer, das ich in der Küche gestohlen habe, kratze ich nach und nach einen kleinen Spalt in die Wand, damit Luft hereinkommt, Licht.

Ich verstecke diese Seiten zwischen den Laken, unter den Dielen. Wenn ich die Tinte sparen will, die die Mönche zurückgelassen haben, steche ich mich mit einer Nadel und verwende mein Blut. Deshalb sind auf dem Papier auch dunklere Flecken, ein mineralisches Rot. Manchmal stelle ich Tinte aus Kohle her oder aus gepflückten Pflanzen und Blumen, aber das ist gefährlich. So wie es gefährlich ist, dies hier zu schreiben, jetzt, an diesem Ort, doch ich tue es trotzdem, um nicht zu vergessen, wer ich war, bevor ich ins Haus der Heiligen Schwesternschaft gekommen bin. Was habe ich getan? Woher stamme ich? Wie habe ich überlebt? Ich weiß es nicht, etwas an meinem Gedächtnis ist so sehr gestört, dass ich mich nicht mehr erinnern kann.

Viele Seiten habe ich verbrannt, die verbotenen Seiten, in denen ich von ihr erzählt habe, von ihr, die in der Zone der Aufständischen begraben ist, der Zone der Ungehorsamen: Helena.

Der Nebel kam aus dem verwüsteten Land, aus der vernichteten Welt. Er ist kalt, hat die klebrige Konsistenz eines Spinnennetzes, löst sich auf zwischen unseren Fingern, wenn wir ihn berühren. Einige haben Ausschläge bekommen, juckende Haut, starke Schmerzen. Bei einer Dienerin hat sich sogar die Hautfarbe verändert. Wir haben sie nie wiedergesehen.

Das Atmen fällt uns schwer.

Seit Tagen bringen wir mehr Opfer dar als sonst, weil die Auserwählten die Zeichen unseres Gottes gedeutet und die Erleuchteten ihr »Ohne Glauben kein Schutz« verkündet haben. Die Erleuchteten sagen Katastrophen voraus. Sie allein können den Namen Gottes kennen. Für den Rest ist er unaussprechbar, weil man dafür die geheime Sprache lernen muss, und die geheime Sprache versteckt sich wie eine weiße Schlange, die sich selbst frisst. Wer sie spricht, dem ist, als würde es ihn zerreißen, eine Musik aus Splittern, als hätte man Skorpione im Mund.

Jede Bewegung kostet uns Kraft, und dennoch bieten wir die Opfer dar, um den Schaden durch den Nebel zu lindern. Einige von uns quälen sich mit Fasten, andere gehen auf Knien. Lourdes hat sich zur Selbstkasteiung auf Glasscherben gesetzt.

Die Sonne ist wie verfinstert. Ihr Licht ist matt, sie strahlt nur schwach und wärmt uns nicht. Es ist, als lebten wir in einer ewigen Nacht.

Ohne Glauben kein Schutz.

Die Erleuchteten haben gesagt, wir müssten weitere Opfer darbringen, sonst werde die Luft versteinern und wir mit ihr. Wir vertrauen den Botschaften der Erleuchteten, denn sie besitzen alle Tugenden der Auserwählten. Sie sind Abgesandte des Lichts, haben die ätherische Stimme der Niederen Heiligen, die prophetische Vision der Reinen Auren und das perfekte Gehör der Durchgeistigten. Sie sind die Mittlerinnen zwischen uns und der uralten Gottheit, dem geheimen Gott, der schon immer existiert hat, der älter ist als die von Menschen geschaffenen Götter.

Die Schwester Oberin schreit über die Flure: »Ohne Glauben kein Schutz.« Wir husten. Wir spucken weißen Speichel aus und zittern vor Kälte. Die Temperatur ist noch weiter gesunken. Wir fürchten um das Gemüse in unserem Garten, mit dem wir die Auserwählten und die Erleuchteten ernähren.

Ich schreibe eingehüllt in eine Decke, herangerückt an das bisschen Wärme meiner Kerze. Ich schreibe mit meinem Blut, das noch warm ist, das noch fließt. Die Finger tun mir weh vor Kälte. Unser Opfer ist wichtig. Unsere Entsagung trägt dazu bei, das Haus der Heiligen Schwesternschaft zu schützen. Wir sind junge Frauen, sind noch nicht gezeichnet von der Verseuchung, nicht vorzeitig gealtert wie die Dienerinnen, unser Körper ist nicht mit Flecken übersät, wir haben noch volles Haar und alle Zähne, keine Geschwülste an den Armen, keinen schwarzen Schorf auf der Haut. Einige Nichtswürdige haben sich dem Martyrium unterzogen, die Pusteln der Dienerinnen zu säubern. Sie können ihren Ekel nicht verhehlen, ihre Verachtung, sie opfern sich stumm.

Seit drei Tagen schon atmen wir den Nebel ein.

Einige bezweifeln bereits, ob die Opfer etwas bewirken. Die Schwester Oberin hat sie zum Schreien gebracht.

Wir schlafen im Speisesaal, weil die Decke dort niedrig ist und die Fenster klein sind und sich die Wärme deswegen länger hält. Die Dienerinnen haben mitten im Saal ein Lagerfeuer entzündet, auf den roten Fliesen, damit wir nicht erfrieren. Wir haben die Tische verschoben, die normalerweise einander gegenüberstehen, und wir schlafen auf den Matratzen, die wir aus den Zellen geholt haben.

Wir lassen die Dienerinnen bei uns schlafen, sie sollen nicht erfrieren, wir brauchen sie noch. Wie die Auserwählten und die Erleuchteten schlafen, weiß ich nicht, aber sie sind unser kostbarstes Gut, daher habe ich keinen Zweifel daran, dass man gut für sie sorgt.

Ich durfte neben Mariel schlafen. Sie lächelte, weil der Nebel die Strafe, die Lourdes an ihr vollziehen würde, hinausgezögert hatte. Flüsternd sagte sie mir, was María de las Soledades ihr gesagt hatte, nämlich dass Lourdes ihr erzählt habe, den Erleuchteten würden die Zähne und die Zunge herausgerissen, weil das Aussprechen von Gottes Namen einer Leere bedürfe. Andere hätten ihr außerdem erzählt, dass sie hinter der schwarzen Tür Schreie gehört hätten, aus dem Refugium der Erleuchteten. Auch ich glaubte, diese Schreie gehört zu haben. Ein spitzes Aufheulen, ein unterdrücktes Klagen. Mariel hat aber auch das Gegenteil behauptet, nämlich dass die Erleuchteten in Nägel bissen oder Glasscherben kauten. Ich glaube, dass nichts davon stimmt, oder vielleicht doch, aber dass wir es nicht wissen können (sobald eine zur Erleuchteten geworden ist, sehen wir sie nicht wieder). Wir wissen nur, dass es sehr wenige Erleuchtete gibt, dass es das Höchste ist, eine Erleuchtete zu sein, dass es die größte Verantwortung bedeutet. Den Erleuchteten haben wir es zu verdanken, dass das Gift, das in den unterirdischen Flüssen fließt, das Gift, das im Gewebe der Pflanzen steckt, das Gift, das der Wind von einem Ort zum anderen trägt, nicht unsere kleine Welt verseucht.

Sie sind hinter der schwarzen Tür, geschützt, und nur Er darf sie berühren.

Der Nebel wird immer dichter. Die Schwester Oberin hat uns dazu aufgerufen, Blutbuße zu tun. Wir werden gegeißelt, geritzt und ausgepeitscht, damit unser Gott uns beschützt, damit der Nebel uns nicht tötet, damit die Naturkatastrophen nicht mehr das Haus der Heiligen Schwesternschaft heimsuchen.

Nach einer Woche löste sich der Nebel auf. Die Temperatur stieg. Wir kehrten in unsere Zellen zurück. In der Mitte des Speisesaals hatte das Lagerfeuer einen schwarzen Fleck hinterlassen, den die Dienerinnen nicht entfernen konnten.

Es heißt, von dem Gemüse im Garten sei einiges verloren. Auch seien Grillen gestorben, aber nicht alle.

Mein Rücken ist noch gezeichnet von den Peitschenhieben, die Lourdes mir versetzt hat, weil die Schwester Oberin mit anderen Nichtswürdigen beschäftigt war.

Ich weiß, dass Lourdes jeden Moment genossen hat. Sie hat versucht, es zu verbergen, aber ich habe den Glanz in ihren Augen gesehen. Auch Mariel hat sie geschlagen mit einer Peitsche, die ihr die Schwester Oberin gegeben hat. Während sie sie schlug, sagte sie zu ihr, dies sei gar nicht ihre Strafe, ihre Strafe komme erst noch. Sehr bald.

Meine Opfer haben nicht genügt. Lourdes musste auch mich auspeitschen.

Ohne Glauben kein Schutz.

Jetzt, da der Nebel keine Bedrohung mehr war, inspizierte ich die Tierfallen, die wir zwischen den Bäumen aufstellen, dem Bereich, der dort anfängt, wo der Garten aufhört. Vielleicht ist die Bezeichnung Wald etwas überzogen, aber so wird er im Haus der Heiligen Schwesternschaft nun mal genannt.

Um die wenigen Tiere zu schonen, die uns geblieben sind (ohne dass ich sie je gesehen hätte), essen die Erleuchteten und die Auserwählten manchmal das karge Fleisch eines Hasen, das von einer Dienerin vorgekostet wird für den Fall, dass das Tier verseucht sein sollte. Es gibt nur noch wenige Exemplare, und die sind meistens schadhaft. Zum Beispiel fehlt ihnen ein Ohr, als hätte die Natur nicht genügend Kraft gehabt, um sie vollständig hervorzubringen. Oder es fehlt ihnen eine Pfote. Oder ein Auge. Die Fallen waren leer. Wir wissen, dass wir mit den Grillen, die die Schwester Oberin züchtet, über genügend Proteine verfügen. Zwar haben wir diese knusprigen Tierchen allmählich satt, aber immerhin sind sie sauber und nicht vergiftet, was wir den Erleuchteten zu verdanken haben. Ohne Glauben kein Schutz. Während sie Äpfel, Karotten, Kohl, also frische Lebensmittel essen, essen wir Grillensuppe, Grillenbrot, Grillenbrötchen, Grillen mit Kurkuma, pikante Grillen, Grillen, verfeinert mit all den Gewürzen, die einst von den Mönchen aufbewahrt wurden. Ihre Beinchen spüre ich schon nicht mehr auf der Zunge, ihre Fühler auch nicht, aber das Geräusch, das sie in meinem Mund erzeugen, das höre ich sehr wohl. Es ist rau, gefährlich.

Ich glaubte eine menschliche Gestalt zu sehen, einen Schatten zwischen den Bäumen. Etwas oder jemand versteckte sich dort. Vielleicht war es eine Streunerin, die sich unter der Mauer hindurchgegraben hatte, aber ich blieb nicht da, um es herauszufinden, weil ich keine Verseuchung riskieren darf.

Einmal, wann genau, weiß ich nicht mehr, war eine Streunerin auf die Mauer geklettert, ohne abzustürzen. Aber sie wusste nicht, wie sie wieder herunterkommen sollte. Wir brachten ihr eine Leiter und sahen zu, wie sie vorsichtig herunterstieg. Als sie den Fuß auf den Boden setzte, zogen wir uns zurück, und die Schwester Oberin sagte zu ihr, sie müsse zum Kreuzgang der Läuterung, sie solle ihr folgen. Die Streunerin wirkte ausgehungert und schwach. Sie blickte uns verständnislos an, mit einem Gesichtsausdruck, der Angst oder Abscheu bedeuten konnte, denn offenbar sprach sie eine andere Sprache, auch wenn sie nichts sagte. Auf den ersten Blick schien sie unversehrt, hatte kräftige Haare und nirgendwo Male. Wir gingen über den Friedhof mit den alten Grabsteinen, den Grabsteinen, auf denen die Namen der Mönche stehen. Sie hatte Mühe beim Gehen, stolperte. Niemand wollte ihr aufhelfen.