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Endlich Ordnung am nordischen Götterhimmel Über die nordischen Göttermythen weiß man hierzulande meist deutlich weniger als über die griechischen und römischen. Dabei tummeln sich dort gewaltige Riesen, Zwerge, Schlangen, Walküren, achtbeinige Pferde. Gar nicht zu reden von Odin, dem Göttervater, vom hammerschwingenden Thor oder dem gütigen Balder. Und was ist eigentlich mit Loki, der charmanten Kanaille, dem Zerstörer und seinen drei furchtbaren Kindern: dem Fenriswolf, der Midgardschlange und Hel? Wie hängen Niflheim und Asgard zusammen, und was ist mit Midgard? Fragen über Fragen! Katharina Neuschaefer erzählt die Geschichte all dieser Wesen und Götter, damit Klein und Groß es jetzt endlich mal ganz genau wissen.
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Seitenzahl: 283
Trolle, Riesen, Walküren – Odin, Thor und Freyja: Katharina Neuschaefer erzählt die Geschichte all dieser Wesen und Götter aus der nordischen Mythologie. Sie ordnet den nördlichen Götterhimmel, damit Klein und Groß wissen, was sich zwischen Asgard und Niflheim zugetragen hat. Ein Schatz an Geschichten, die nicht nur Richard Wagner zu seinen monumentalen Opern inspiriert hat, sondern auch Eingang fand in zahlreiche Fantasy-Epen, nicht zuletzt in Tolkiens ‹Herr der Ringe›.
DIE NORDISCHEN SAGEN
THOR, ODIN, LOKI UND DERKAMPF DER WELTEN
Neu erzählt von Katharina Neuschaefer
Mit Bildern von Dieter Wiesmüller
Ragnarök, das Schicksal, ist unabwendbar. Wenn die Zeit sich dem Ende neigt, bricht der Fimbulwinter an. Drei Jahre lang wird sich die Kälte durch alle Tage ziehen. Es sind die Jahre des Wolfs. Ein Wolf so groß, dass sein Kiefer Himmel und Erde berührt, an seiner Seite eine Schlange, deren Leib ganz Midgard umschlingt, und Hel, die Totengöttin selbst.
Yaggdrasil, der Weltenbaum, wird welken , und das Licht wird erlöschen.
Die Weltenfeinde werden kommen und den Göttern das Ende bereiten auf dem Wigridfeld, denn sie sind vom selben Blut.
Gellend heult Garm vor Gnipahellir,
es reißt die Fessel, es rennt der Wolf.
Dann beginnt eine neue Zeit.
Es gab eine Zeit vor der Zeit, da herrschte das Nichts. Es gab nicht Sand noch See noch kalte Woge oder Himmel. Die Leere war endlos, und es gab nur Stille und Dunkelheit. Es gab weder Götter noch Menschen, keine Zwerge und keine Riesen. Nicht ein einziges lebendes Geschöpf. Es gab nur das Nichts, die gähnende Leere: Ginnungagap.
So war es lange. Dann aber erwärmte sich das Nichts im Süden. Am Anfang nur ganz wenig, dann wurde es immer wärmer, dann heiß, und schließlich schlugen sogar Funken in die Leere, und es qualmte und schwelte. Aus diesen Flammen formte sich das Land des ewigen Feuers, das Land Muspellheim.
Es gibt keinen Ort, der mit Muspellheim vergleichbar wäre. Eine Insel aus Feuer mitten in der schwarzen Nacht der Vorzeit. So hell und glühend, dass nichts dort existieren konnte außer dem, was das Feuer selbst hervorbrachte. Zunächst gebaren die Flammen immer nur weiteres Feuer. Muspellheim wuchs und wucherte in die Dunkelheit hinein wie ein Geschwür, das sich andauernd veränderte. Das sich ausdehnte und größer wurde. Es hatte weder Grenzen noch Konturen, ein lodernder Organismus, pulsierend und furchterregend. Dort, wo das Feuer sich zurückzog, ließ es eine Landschaft aus schwarzem Lavagestein zurück. Endlose Geröll-Steppen, über denen die Hitze flimmerte. Wüsten aus schwarzem Sand, aus Asche und Staub, die von heißen Windstößen aufgewirbelt wurden und die Luft verdunkelten. Und dann auch wieder Gebirgszüge aus aufgetürmter Magma, die in den Himmel wuchsen und sich gegen den orangeroten Horizont abhoben wie schwarze Städte. Glühende Lava brach in Fontainen aus den Berggipfeln hervor und durchzog das Land als brennende Ströme. Ja, Muspellheim brannte. Und sein Schein leuchtete hinaus in die Leere Ginnungagap und erhellte sie.
So geschah es im Süden.
Im Norden jedoch wurde das Nichts kalt. Die Dunkelheit zog sich zu einem Ort der Finsternis zusammen und gebar das Land Niflheim, das Reich der Nebel. Niflheim war riesig, es wuchs zu einer gewaltigen Fläche heran, vielfach so groß wie das benachbarte Feuerland. Über dem Boden lagen weißgraue Nebelschwaden wie schwere Wolken. Dann kamen Stürme auf. Orkanböen trieben Sand und Schneekristalle vor sich her und schufen aus dem Nichts eine Landschaft. Weite Schneefelder, schwarze Gebirge voller Schluchten und Spalten und in ihrem Schatten Eis. Überall Eis. Höhlen aus Eis, Grotten, gigantische Dome und bizarre Säulen.
Hätte Muspellheim die Leere Ginnungagap nicht erhellt wie eine Sonne aus Feuer, wäre all diese böse Schönheit wohl für immer im Dunkeln geblieben. So aber fiel ein matter Schein auch auf das kalte Land. Das Zwielicht ließ die Eismassive Niflheims türkisgrün leuchten, und die Schneefelder glühten wie hellblaue Dünen vor dem schwarzen Himmel.
Hier im Lande Niflheim, zwischen Eis und Schnee, gab es einen Brunnen. Einen Schacht im Fels, der so tief war, dass nicht einmal die Götter, wenn es sie schon gegeben hätte, bis auf seinen Grund hätten blicken können. Aber das Murmeln der Quelle tief unten drang hinauf bis an die Oberfläche, und so trug sie den Namen Hvergelmir, der brausende Kessel.
Das Wasser dieser verborgenen Quelle war pechschwarz und so giftig, dass es sich durch den Felsen fraß und ins Freie drängte. Schäumend und gurgelnd ergoss es sich in elf schwarze Flüsse, die von nun an die Ödnis Niflheims durchzogen wie hässliche Adern, bevor sie sich in einem donnernden Wasserfall sammelten und hinabstürzten ins Nichts. Aus den Flüssen stieg übel riechender Nebel auf, und auf dem Wasser trieb ätzender Schaum, der zu Eis erstarrte und bald ganz Niflheim bedeckte. Der Nebel gefror zu Reif, und im Norden der Leere Ginnungagap herrschte nun ewiger Winter.
Mit der Zeit jedoch wuchsen die Elemente aufeinander zu, und der Wind trug die Funken aus dem brennenden Land Muspellheim hinüber in das Reich der Kälte. Dort, wo sich Feuer und Eis berührten, zischte und dampfte es, und es bildeten sich Tautropfen. Diese Tautropfen waren der Anfang des Lebens. Aus ihnen entstand das erste atmende Wesen: der Urriese Ymir, was so viel heißt wie: Zwitter oder der gewaltig Rauschende.
Ymir war ein sehr eigenartiges Geschöpf. Er war zugleich Mann und Frau, war groß wie ein Berg und hatte langes zotteliges Haar. Weil Ymir ziemlich dumm war und weil es um ihn herum nichts zu sehen gab, das ihn interessierte, schlief er die meiste Zeit. Er ließ sich einfach in den Schnee fallen, und kaum hatte sein riesiger Schädel den Boden berührt, da schnarchte er auch schon so laut, dass selbst die Leere Ginnungagap davon widerhallte.
Ymir bemerkte nicht, dass es wärmer wurde. Die heißen Winde von Muspellheim erwärmten nach und nach die Luft, und es begann zu tauen. Ymir aber störte sich nicht am Knacken und Plätschern um ihn herum. Er schlief auch weiter, als ganze Eisberge donnernd auseinanderbrachen, und er grunzte nur, als er bereits in einem See aus Schmelzwasser lag. Dann endlich öffnete er ein Auge, aber auch nur eine Handbreit und sagte mit gewaltiger Stimme die ersten Worte, die je gesprochen wurden:
»Äh … nass … äh … schlafen …«
Schon war das Auge wieder zu, und Ymir löste mit seinem Schnarchen eine Lawine aus.
Die Temperaturen in Niflheim stiegen weiter, und der schlafende Ymir schwitzte. In der linken Achsel war es besonders schlimm, und während ein kleiner Schweißbach seinen Arm hinunterlief, entstanden in der Achselhöhle ein Mann und eine Frau.
Ein derartiges Wunder ist nur mit Riesenschweiß möglich, aber Ymir bemerkte auch davon nichts.
»Äh…. kitzelt …«, sagte er und schlief weiter.
Seine Beine hingegen schliefen nicht. Sie fanden Gefallen aneinander und bekamen bald einen gemeinsamen Sohn, einen Riesen mit sechs hässlichen Köpfen. Thrudgelmir, der vor Kraft Schreiende.
Etwas Vergleichbares ist später nie wieder passiert, aber in jenen Tagen geschahen die merkwürdigsten Dinge. So ist es überliefert, seit Tausenden und Abertausenden von Jahren.
Aus dem Urriesen Ymir gingen die ersten Lebewesen hervor, und alle Riesen sind seine Nachkommen, auch die Reifriesen, die Sturmriesen und die gewalttätigen Bergriesen. Das Geschlecht der Riesen ist das älteste Geschlecht überhaupt und sogar noch älter als die Götter selbst. Auch wenn das im Götterreich Asgard niemand zugeben würde.
Die Hitze Muspellheims schickte weiter warme Luftströme in die weiße Wüste des Nebelreichs. Und als das Gewimmel aus neugeborenen Lebewesen um den schlafenden Riesen zunahm, erwachte Ymir.
»Äh … Hunger!«
Ohne seine Nachkommen auch nur anzusehen oder sich über ihre Existenz zu wundern, richtete er sich auf und stieg über den Mann, die Frau und Thrudgelmir, seinen sechsköpfigen Sohn, hinweg. Er stapfte durch den sulzigen Schnee und hob witternd die Nase.
»Äh … Essen …«
Und tatsächlich, vor Ymirs Augen entstand aus dem Schmelzwasser eines gigantischen Eisbergs eine Kuh. Ihr Fell war so glänzend weiß wie der Schnee, und ihre großen blauen Augen blickten den Urriesen sanft an. Langsam ging Ymir auf die Kuh zu und streichelte ihren hornlosen Kopf.
»Äh … Milch …«
Dann legte er sich unter die Kuh, und aus ihrem Euter flossen vier fette Milchströme in den Mund des Riesen. Die Milch war so nahrhaft, dass Ymir zu noch gewaltigerer Größe heranwuchs und bald so groß war wie ein Gebirge. Als er satt war, stand er auf, streichelte die riesige Kuh nochmals und gab ihr einen Namen: »Audumla.«
Die Kuh Audumla war von nun an Ymirs Gefährtin. Sie nährte ihn und blieb bei ihm, wenn er schlief. Ymir dagegen schleppte salzige Eisblöcke als Futter heran, die Audumla gierig ableckte.
Als sie den ersten Eisblock schon zu einem Drittel verzehrt hatte, kamen plötzlich die Haare eines Mannes zum Vorschein. Audumla leckte weiter, und am zweiten Tag erschien sein ganzes Haupt. Die Kuh störte sich an seinem Erscheinen genauso wenig wie Ymir, der alles gleichgültig beobachtete, Audumla knabberte weiter, bis der Mann am dritten Tag schließlich ganz vom Eis befreit war. Sein Name war Buri, was so viel heißt wie Vater, und es ist überliefert, dass er schön war und groß und stark, ganz so, wie man es von den Göttern weiß.
Buri, der Mann aus dem Eis, gebar sich selbst einen Sohn und nannte ihn Bur. Auch Bur war so schön wie ein Gott, wenn es die Götter schon gegeben hätte. Selbst im Zwielicht Niflheims schimmerte sein Haar wie flüssiges Gold. Und seine Augen überstrahlten sogar die türkisfarbenen Eisberge in ihrem Glanz.
Der Urriese Ymir glotzte, zuckte die Achseln und legte sich neben seiner Kuh schlafen.
Bur, der Sohn des Eismannes, aber machte sich auf die Reise und durchquerte die Wüsten Niflheims. Eis und Schnee schmolzen auf seiner glatten Haut, und sein lockiges Haar wehte in der milden Luft, die von Muspellheim herüberströmte. Tag und Nacht wanderte er, bis er zum Lager der Nachkommen Ymirs gelangte. Die Riesenkinder hatten sich inzwischen vermehrt, waren viele geworden und hatten sich bequeme Höhlen in den Schnee gegraben. Als sich der schöne Bur näherte, ging ihm eine junge Riesin entgegen, um ihn zu begrüßen.
»Willkommen bei Ymirs Kindern, Fremder. Mein Name ist Bestla, Tochter des Bölthorn.«
Bur verliebte sich sofort in Bestla, denn auch sie hätte eine Göttin sein können, wenn es die Götter schon gegeben hätte. Ihr Haar glänzte. Es war so hellblond, dass es fast weiß aussah. Überhaupt wirkte sie, als sei sie ganz und gar aus Milch gemacht, so zart und weich war ihre Haut. Freudig folgte Bur Bestla zu den Eishöhlen.
In jenen frühen Zeiten aber war es nicht anders, als es später war. Die Riesen waren wild und grob, und als sie den fremden jungen Mann sahen, wollten sie ihn erschlagen und fressen. Sie warfen ihn in eine Eishöhle und wälzten einen riesigen Felsbrocken vor die Öffnung. Dann feierten sie das bevorstehende Festessen. Die Riesen grölten hässliche Lieder, schrien und tanzten, und in dem ganzen Lärm fiel niemandem auf, dass Bestla den Felsbrocken heimlich zur Seite wälzte und den Gefangenen befreite.
»Wenn sie bemerken, dass ich dir geholfen habe, werden sie mich töten«, sagte die Riesin und führte Bur an den Tanzenden vorbei zum Ausgang des Lagers. »Nimm mich mit, ich möchte nicht länger eine von ihnen sein.«
Bur schloss sie in die Arme, und gemeinsam flüchteten sie an den entlegensten Winkel des Nebelreiches. So streifte ein einziges Mal die Liebe Niflheim.
Bestla und Bur bauten sich ein Haus und bekamen drei Söhne, die am selben Tag, zur selben Stunde geboren wurden. Die Drillinge waren anders als alle Lebewesen, die bisher existiert hatten. Sie waren schöner und klüger als jedes andere Geschöpf. Den Erstgeborenen nannten die Eltern Odin, der Hohe, seine Brüder Vili, der Wille, und Ve, der Heilige. In jenen Tagen und mit ihnen begann die Zeit der Götter.
Der junge Gott Odin und seine Brüder Vili und Ve wuchsen heran. Immer noch glichen sie sich äußerlich wie eine Schneeflocke der anderen. Alle drei waren ungewöhnlich groß und stark, hatten helles Haar und die eisblauen Augen, die so typisch sind für die Bewohner Niflheims. Mit den Jahren aber drängte es Odin, sich von seinen Geschwistern abzusetzen. Es begann damit, dass Vili und Ve graue Fellumhänge trugen, Odin aber stets in einen weißen Pelz gekleidet war. Später trug er das Haar nicht offen, sondern zu einem Zopf gebunden und ließ sich einen langen Bart wachsen. Und da er tatsächlich sogar noch klüger war als seine ohnehin schon göttlich klugen Brüder, veränderte sich auch sein Gesichtsausdruck. Es lag etwas Überhebliches in seinen Zügen, manchmal sogar etwas Berechnendes. Die Gesichter von Vili und Ve aber blieben lange Zeit die Gesichter unschuldiger Kinder.
Als die Brüder heranwuchsen, reichte ihnen die eisige Einöde, in der sie lebten, nicht mehr. Die endlosen Schneefelder, die nur zu immer neuen Schneefeldern führten, das ewige Eis, das sich meterhoch auftürmte und den Blick verstellte, und die Kälte: Das alles erdrückte sie. Besonders Odin wollte sich damit nicht zufriedengeben, er wollte etwas verändern. Schon von Geburt an besaß er Zauberkräfte und eine große Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens, denn in ihm glühte der göttliche Funke besonders hell.
»Es ist nun mal so, dass ich ein Gott bin, übrigens der erstgeborene Gott«, sprach er zu seinen Brüdern, »und für einen Gott ist es unpassend, in einer Eishöhle zu leben. Ich werde etwas erschaffen. Was ist mit euch? Ihr könntet meine Untergötter sein.«
Vili und Ve wollten sich Odin natürlich zunächst nicht unterordnen, aber da er der Weiseste von ihnen war und deshalb auch die besten Ideen hatte, willigten sie schließlich ein. Sie nahmen Abschied von ihren Eltern und zogen aus, um die Umgebung nach ihrem Willen zu gestalten.
Sie wanderten viele Tage. Immer nach Norden. Ließen Bergketten, Nebeltäler und froststarre Ebenen hinter sich, bis sie schließlich ein weites Plateau im Schatten einer Felswand erreichten, wo auch ein kleiner Fluss entsprang.
»Als Erstes brauche ich einen Palast«, sagte Odin und begann, Schneeblöcke aufeinanderzuschichten. »Hier ist ein guter Ort, denn dieser Fluss ist nicht giftig, und außerdem ist er so warm, dass er nicht andauernd zufriert.« Vili und Ve kamen ihrem Bruder sofort zu Hilfe, und mit riesenhaften Götterkräften legten sie das Fundament zu einer gewaltigen Burg.
Dann aber kam Vili ein Gedanke. »Wieso bauen wir eigentlich nur ein Heim für dich, Odin? Wir sind doch auch Götter.«
»Das mag ja sein, aber ich bin der oberste Gott. Los, los, weitermachen.«
Durch die überirdischen Kräfte der jungen Götter ging der Bau schnell voran, und Odin durchschritt einen Saal nach dem anderen und glaubte schon, sein neues Heim noch vor dem Abend beziehen zu können, als der Boden bebte und sich Risse durch die Wände des Eispalastes zogen.
Odin eilte nach draußen, um zu sehen, was geschehen war, und erschrak: Vor ihm stand ein ganzes Heer bewaffneter Reifriesen. Furcht einflößend sahen sie aus, mit ihrer bläulich weißen Haut und dem grauen Haargestrüpp auf ihren Köpfen. Manche von ihnen waren auch sonst ganz mit Fell bedeckt oder besaßen mehrere Köpfe, zusätzliche Arme und Beine oder lange Stoßzähne. Odin sah, wie sie die Fäuste ballten, und er konnte das Knirschen ihrer riesigen Kiefer hören.
»Was wollt ihr? Wieso stört ihr uns?«
Odin blickte sie der Reihe nach an und überlegte, wie er Zeit gewinnen könnte.
»Ährgr … kämpfen. Ährg … töten.«
Der größte der Reifriesen ging drohend auf den jungen Gott zu. Sein Gesicht war grob und kantig wie ein Eisberg. In seinen kalten blauen Augen spiegelte sich Hass. Die anderen Reifriesen feuerten ihren Anführer an und stampften kampfeslustig mit den Füßen auf, dass der gefrorene Boden bebte.
»Keinen Schritt weiter, Riese!« Odin trat dem Reifriesen entgegen. »Du stehst vor einem Gott. Also hüte deine Zunge, oder ich werde sie dir herausreißen.«
Es dauerte eine Weile, bis der Riese verstand, was Odin gesagt hatte, und Odin nutzte die Zeit, um die Anzahl seiner Gegner zu schätzen. Sie waren in der Überzahl, und Odin musste einsehen, dass sie keine Chance hatten, selbst wenn er und seine Brüder jeweils mit mehreren Reifriesen gleichzeitig fertig werden konnten. Unauffällig winkte er Vili herbei.
»Es sind zu viele. Wir müssen sie irgendwie überlisten.«
Vili starrte Odin fassungslos an.
»Du bist ein Gott. Du bist ihnen geistig überlegen. Es wäre ungerecht, wenn du sie einfach reinlegst.«
Odin verdrehte die Augen.
»Vili, sie können es nicht ertragen, dass sie sich uns unterordnen müssen. Also haben wir die Wahl: Entweder sie herrschen oder wir.«
Bevor jedoch Vili seinem älteren Bruder antworten konnte, hatte der Anführer der Reifriesen verstanden, was Odin zu Vili gesagt hatte, und gab seinen Gefährten das Zeichen zum Angriff. Zwei der Riesen, ein alter, sehr faltiger und ein dickbäuchiger, holten tief Luft, und als sie ausatmeten, brach ein gewaltiger Schneesturm los.
Odin und seine Brüder konnten einander nicht mehr sehen.
»Vili, schnapp dir die beiden!«
Odin stemmte sich gegen den Orkan und versuchte, im Schneegestöber seine Brüder auszumachen. »Ve, wir müssen ihren Anführer besiegen.«
Doch er konnte sie weder sehen noch hören, denn der Sturm fauchte wütend wie ein riesenhaftes Ungeheuer, das direkt auf ihn zuflog. Es drohte, ihn zu Boden zu reißen, und leckte mit eisigen Zungen alle Wärme und alle Lebensenergie aus ihm heraus. Die Schneeflocken peitschten auf ihn ein wie weißes Gefieder, und Odin spürte den starken Wunsch, sich einfach hinzulegen und zu warten, bis diese eisigen Federn ihn bedeckt haben würden.
Genau in diesem Augenblick hörte er die Stimme seines Bruders Ve wie von weit entfernt zu ihm herüberwehen.
»Riesenzauber. Odin, brich ihn!«
Und Odin schloss die Augen. Er fühlte in sich hinein, fühlte das Göttliche in sich, wie es wuchs, wie es leuchtete, wie es durch seine Adern strömte und ihn wärmte. Er richtete sich auf, und mit einer einzigen Handbewegung brachte er den Schneesturm zum Erliegen. Nicht weit entfernt von ihm standen immer noch die beiden Reifriesen, der dicke und der faltige, und gafften verwundert und mit aufgeblasenen Backen zu ihm herüber. Auch als Odin langsam auf sie zuging, pusteten sie immer weiter. Erst als er genau vor ihnen stand, erkannten sie endlich, dass Odin das Sturmungeheuer gebannt hatte. Die Riesen wollten fliehen, doch es war zu spät. Odin schleuderte zwei Blitze und fällte sie.
Inzwischen waren noch mehr Reifriesen zum Kampfplatz gekommen. Odin blickte sich nach seinen Brüdern um und entdeckte sie eingekreist von einer ganzen Horde johlender Riesen. Bis auf einige Fellfetzen waren die Reifriesen unbekleidet. Ihre verfilzten Haare standen von ihren Köpfen ab, und mit ihrer blassblauen Haut schimmerten sie im Dämmerlicht Niflheims wie gigantische Eisklumpen.
Immer enger schlossen sie den Kreis um Vili und Ve. Odin aber, der seine göttliche Kraft stärker fühlte als je zuvor, warf lodernde Feuerkugeln in die Menge der Riesen und sprengte sie auseinander. Und jetzt erwachten auch seine Brüder aus ihrer Starre und taten es ihm gleich.
Einen Moment schien es, als ob die Götter nun endlich die Oberhand gewinnen würden, da beschworen die Riesen meterhohe Eiswände aus dem Boden herauf, die die Götter einzuschließen drohten. Doch Odin, Vili und Ve sandten glühende Strahlen aus ihren Händen, die das Eis schmolzen. Nach und nach lernten die Götter, immer besser mit ihren eigenen Kräften umzugehen, bald gelang es ihnen ebenso gut wie den Riesen, Stürme zu entfesseln, Hagelflüche zu sprechen und die Elemente zu beherrschen. Egal, was ihre Gegner taten, die Götterbrüder fanden eine Erwiderung.
Lange tobte der Kampf, und der Lärm der Schlacht zwischen Riesen und Göttern wurde immer lauter. Schließlich drang er sogar bis zum Ohr des schlafenden Ymir.
»Äh… laut … äh… Ymir kann nicht schlafen …«
Mit einem Geräusch, als risse die Erde auf, erhob sich der Urriese und stapfte zum Schlachtfeld.
Die Reifriesen triumphierten, als sie ihren Urvater sahen. Drohend wie eine Gewitterfront überschattete er die Kämpfenden.
»Ymir, leg dich wieder schlafen, das hier geht dich nichts an.« Odin winkte den Giganten wie ein lästiges Kind zur Seite. »Mach schon, dummer Riese, verschwinde. Du brauchst zu viel Platz.«
Und schon stürzte Odin sich wieder auf seinen Gegner.
Ymir aber bewegte sich nicht von der Stelle. Langsam dachte er über Odins Worte nach. Riesen mögen zwar langsam denken, aber beleidigen lassen sie sich genauso ungern wie Götter. Und während Ymir nachdachte und immer mehr verstand, wie sehr er beleidigt worden war, wuchs sein Zorn und damit auch er selbst. Immer größer, immer höher und breiter wurde der Urriese, und Odin, Vili und Ve rannten um ihr Leben, um nicht von seinem gigantischen Körper zerquetscht zu werden.
»Wenn der so weiterwächst, dann können wir den Bauplatz vergessen«, sagte Odin, nachdem sie auf den höchsten Berg Niflheims hinaufgestiegen waren, um das Aufquellen des Riesen aus sicherer Entfernung zu beobachten.
»Er muss verschwinden.« Odin legte beide Hände wie einen Trichter an seinen Mund und rief: »Zieh dich wieder zusammen und geh, dann soll es zwischen Göttern und Riesen Frieden geben. Tust du es nicht, wirst du meinen Zorn spüren. Denn ich bin ein Gott. Übrigens der weiseste.«
Ymir legte seinen riesigen Kopf zur Seite und lachte, dass ganz Niflheim davon widerhallte.
»Hahahahaha… äh … Du … Ymir … drohst? Haha … Ymir … bleibt!«
Und der Riese wuchs weiter.
Odin kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste und hielt plötzlich einen Eiszapfen in der Hand, der so lang und so spitz war wie ein Speer. Diesen Eiszapfen warf er so geschickt, dass er den Urriesen mitten ins Herz traf. Ymir sah den jungen Gott einen Moment erstaunt an, dann schloss er die Augen und fiel krachend zu Boden, dass die Erde bebte.
Aus Ymirs Wunde stürzte blaues, kaltes Blut und floss über das Eis. So viel Blut quoll aus dem toten Riesen, dass sich kleine Bäche bildeten, dann Flüsse und schließlich eine Flutwelle, die ganz Niflheim überschwemmte. Höhlen liefen voller Blut, Berge wurden unterspült und brachen zusammen. Ymirs Blut schwoll an zu einem tosenden Strom, der alles mit sich riss und sich schließlich in einer Senke wie in einem gewaltigen Becken sammelte.
Das Becken lief über, und bald war Niflheim zu einem Meer geworden, aus dem nur noch eine einzige Erhebung hervorragte, der Gipfel des ehemals höchsten Berges. Der Gipfel, von welchem aus Odin den Urriesen Ymir getötet hatte. Hier stand er immer noch mit seinen Brüdern und sah zu, wie die Welt versank, aus der er kam, und wie die letzten Reifriesen um ihr Leben schwammen.
Einem jungen Riesen, den der Schwall von Ymirs Blut mit sich riss, gelang es, am kantigen Stein des Berggipfels Halt zu finden. Verzweifelt klammerte er sich mit Armen und Beinen an eine Felsnase und versuchte sich hinaufzuziehen. Als Odin ihn entdeckte, eilte er dem Riesen entgegen und streckte seine Hand aus. Der Riese sah den Gott an, und einen Herzschlag lang rangen Hoffnung und Zweifel miteinander. Dann aber löste der Riese seine rechte Pranke vom Fels und griff nach Odins Hand. Odin aber nutzte die Gelegenheit und trat dem Riesen, der sich nunmehr nur noch mit einer Hand festhielt, ins Gesicht. Der junge Riese schwankte unter der Wucht des göttlichen Tritts, konnte sich allein mit der linken Hand nicht mehr am Fels halten und rutschte ab. Ymirs kaltes Blut riss ihn mit sich, und er kam nicht wieder an die Oberfläche.
Vili und Ve, die den Schrei des Stürzenden gehört hatten, sahen Odin fragend an, als er wieder zurückkehrte. Odin aber zuckte nur die Achseln und sagte: »Er hätte dasselbe für mich getan.«
Von ihrem Gipfelplatz aus beobachteten die Götterbrüder, wie nach und nach alle Reifriesen ertranken. Noch zwei- oder dreimal versuchten einige von ihnen, den Bergrücken hinaufzuklettern und sich in Sicherheit zu bringen, aber Odin erschlug sie, noch bevor sie einen sicheren Stand gefunden hatten. Manche trieben, an Eisblöcke geklammert, auf den Wellen vorbei, doch nicht einmal sie fanden Gnade. Odin machte ein Spiel daraus, ihre Eisblöcke mit besonders gekonnten Blitzwürfen zum Schmelzen zu bringen, sodass sie in die Flut zurücksanken und untergingen.
Mit der Zeit jedoch wurden Odin und seine Brüder müde. Sie achteten nicht mehr auf die verwüstete Landschaft oder die Toten, die der Blutstrom an ihrem Hochsitz vorbeiführte, und nach einer Weile schliefen sie ein. So kam es, dass ihnen der ausgehöhlte Baumstamm entging, der auf dem Blutstrom trieb. Zwei Gestalten saßen darin: eine Riesin mit langen blonden Zöpfen und ein hässlicher Kerl, dessen Körper über und über mit Fell bedeckt war. Sein Name war Bergelmir, der wie ein Bär Brüllende. Bergelmir war anders als die anderen Riesen, er war schlau und geschickt. Als Einziger hatte er erkannt, dass die Zeit der Reifriesen abgelaufen war. Und während die anderen noch versuchten, vor dem Blutstrom aus Ymirs Wunde davonzulaufen, höhlte er einen gewaltigen Baumstamm aus, setzte sich mit seinem Weib hinein wie in ein Boot und schwamm auf der Flut davon. Und niemand bemerkte ihn. Er aber, Bergelmir, der letzte Überlebende der Reifriesen, er würde es sein, der eines Tages ein neues Riesengeschlecht zeugen würde. Eines Tages.
Es dauerte lange, bis Ymirs Blut versiegte, bis die Flut zurückging und das versunkene Land wieder freigab. Die Ebenen gefroren wieder zu Eiswüsten, die Berge trockneten ab, und alles war wie zuvor, nur dass im Norden Niflheims nun ein See lag. Ein See so unendlich groß und tief, dass selbst die Götter seine Ausmaße nicht benennen konnten. Ein See, der eigentlich ein Meer war. Odin sah sich erschöpft um. Die Götter hatten über die Riesen gesiegt und waren nun frei zu tun, was sie wollten.
»Das Palastbauen verschieben wir auf später. Zuerst müssen wir etwas Größeres in Angriff nehmen.«
Er deutete auf Ymirs Leichnam und wies Vili und Ve an, ihm zu folgen.
»Was willst du denn damit?«, fragte Vili verwundert, als Odin begann, am toten Körper des Urriesen herumzuzerren.
»Frag nicht. Fass an. Ich will nicht, dass er hier liegen bleibt.« Mit einer ungeduldigen Handbewegung forderte Odin seine beiden Brüder auf, ihm zu helfen.
Ve aber blieb stehen und blickte Odin verständnislos an.
»Warum werfen wir ihn nicht einfach in die Ginnungagap? Dann ist er weg, und wir haben keinen Ärger mehr.«
»Weil wir ihn noch brauchen«, stieß Odin zwischen den Zähnen hervor, während er einen Arm des Riesen packte und versuchte, Ymir hinter sich herzuschleifen. »Wir bringen ihn zum Ufer des Blutmeeres. Dort nehmen wir, was wir brauchen, und den Rest könnt ihr dann in die Ginnungagap werfen.«
Noch immer verstanden Vili und Ve nicht, was Odin vorhatte, aber sie wagten nicht noch einmal zu widersprechen und taten, was Odin von ihnen verlangte.
Am Strand des eisigen Meeres begann Odin, den toten Urriesen zu zerlegen, um aus dem Stoff seines Körpers neue Welten zu formen.
Ymirs Blut war von selbst zu Meeren und Flüssen geworden, sein Fleisch wurde in Odins Händen zu Erde. Dann hoben die Brüder die Schädeldecke des Riesen hoch über das Land und schufen daraus den Himmel. Natürlich schwebte Ymirs Schädeldach nicht einfach so über der Erde. Wenn die Götter losgelassen hätten, wäre es sofort heruntergefallen.
»Wir brauchen Säulen, die das Himmelsdach an allen vier Enden tragen«, schlug Ve vor. »Das sieht bestimmt auch sehr schön aus.«
»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Odin und lächelte seinen Brüdern verschwörerisch zu. »Warum nehmen wir zum Himmeltragen nicht einfach ein paar Zwerge?«
Den Brüdern gefiel Odins Vorschlag, und so schufen sie die ersten vier Zwerge: Nordri, Sudri, Vestri und Austri. Sie legten das Himmelszelt auf ihre Schultern und wiesen sie an, immer starr ins Nichts zu blicken, jeder in seine Richtung. Von nun an war der Himmel behütet vor allen Gefahren, die da kommen könnten: aus dem Norden, dem Süden, dem Westen oder dem Osten. Aus Ymirs Gehirn aber formte Odin die Wolken und setzte sie an den Himmel.
Als das getan war, betrachtete Odin ihre bisherige Arbeit.
»Wir haben ein bisschen Erde, ziemlich viel Meer, einen ordentlichen Himmel und dann noch die Zwerge. Aber irgendwie habe ich mir das Ganze doch anders gedacht. Nicht so chaotisch.«
Vili und Ve blickten sich um und zuckten die Achseln. Odin aber ließ sich nicht beirren.
»Los, fasst mit an, wir heben die Erde noch etwas weiter aus dem Meer, sodass das Wasser nur noch wie ein Ring um das Land herumliegt.«
Die Götterbrüder hoben also die Erde aus dem Meer, und kaum setzten sie ihre Füße darauf, begann das erste Gras zu wachsen.
»Jetzt können wir uns ins Gras legen und den Himmel betrachten«, sagte Vili und wollte sich schon ausruhen, aber Odin scheuchte ihn auf.
»Nichts da. Soll dieser öde Ort als das Werk der ersten Götter bekannt werden? Hier ist es nicht besser als in Niflheim. Alles sieht gleich aus.« Und schon eilte Odin davon, um aus dem Urstoff des toten Ymir eine wirkliche Landschaft zu formen. Aus Ymirs Gebeinen ließ Odin Gebirge entstehen, seine Zähne und Knochen verwandelte er in Steine und Felsen, die er über den Boden verstreute. Seinen beiden Brüdern, die immer noch faul auf dem Boden lagen, warf Odin wütend Ymirs zotteliges Haar hin und befahl ihnen, daraus Bäume und Sträucher zu flechten und alle Pflanzen, die es seither in der Welt gibt.
So verging die Zeit. Immer neue Ideen setzte Odin um und verschönerte Himmel und Erde nach seinem Geschmack. Plötzlich aber wehte ein gewaltiger Windstoß heiße Luft und glühende Funken von Muspellheim herüber. Odin begutachtete gerade die Pflanzen und Blumen, die seine Brüder geflochten hatten, und er bemerkte nicht, wie sich einige der Funken in seinen Haaren verfingen. Natürlich brennen Götterhaare nicht, aber Vili und Ve bogen sich dennoch vor Lachen.
»Oh, wie du heute strahlst, göttlicher Bruder«, riefen sie, »es geht so ein Leuchten von dir aus.«
Zunächst fühlte Odin sich geschmeichelt, als er aber erkannte, dass seine jüngeren Brüder ihn verspotteten, beugte er sich über eine Wasserpfütze und betrachtete sein Spiegelbild.
»Ihr könnt nur lachen wie dumme Riesen.« Odin blickte seine Brüder mitleidig an. »Ich aber mache daraus ein Gotteswerk.«
Er löste die Funken aus seinen Haaren, drehte sie einmal in seinen Fingern und warf sie dann an den Himmel und nach Ginnungagap. Dort stehen sie nun und leuchten, und je nachdem mit wie viel Schwung Odin geworfen hatte, bleiben manche der Himmelslichter still an ihrem Platz, andere dagegen drehen sich und ziehen große Kreise. Doch die Sterne kannten ihren Platz noch nicht, wussten nicht, welchen Weg sie nehmen sollten durch die Dunkelheit. Da nannte Odin ihnen bestimmte Routen und die Stunden, in denen sie das Firmament durchwandern sollten. Und seither gibt es die Zeit.
Als Odin betrachtete, was er und seine Brüder aus dem Urstoff des Riesen Ymir im Nichts erschaffen hatten, war er sehr zufrieden.
»Ich muss sagen, ich habe meine Erwartungen bei Weitem übertroffen. Und auch ihr, Vili und Ve, habt eure Sache gut gemacht. Es ist nur schade, dass niemand da ist, um unser Werk zu bewundern.«
Odin blickte ungeduldig von einem Bruder zum anderen.
»Also, was meint ihr?«
»Wir könnten unsere Spiegelbilder zu Leben erwecken«, schlug Vili vor, »dann wäre die neue Welt bevölkert mit unseren Doppelgängern.«
Entsetzt schüttelte Odin den Kopf.
»Was für ein unsinniger Einfall, im Augenblick reichen zwei Unter- und ein Obergott vollkommen aus. Was denkst du, Ve?«
»Wie wäre es mit unseren Schatten?«, antwortete Ve. »Sie würden uns nur entfernt gleichen und wären dazu verdammt, immer über den Boden zu kriechen.«
Aber auch diesen Vorschlag lehnte Odin kopfschüttelnd ab.
»Nein, das ist alles nichts. Es muss verschiedene Wesen geben. Solche, die den Göttern ähneln, und ganz andere. Hässliche und schöne. Große und kleine. Kreaturen des Lichts und solche, die das Dunkel brauchen. Aber, da ich … äh … ich meine wir nun mal die Herren dieser Welt sind, sollten wir zunächst verschiedene Reiche erschaffen, die wir dann bevölkern. Das Land, auf dem wir stehen, heißt von heute an Midgard, die mittlere Welt. Denn unter uns liegt das Land Niflheim und über beiden Welten wird das Reich der Götter sein.«
Midgard gefiel den Göttern sehr, und voller Sorgfalt statteten sie es mit Pflanzen und Tieren aus und freuten sich an allem, was lebte. Odin, Vili und Ve wetteiferten mit ihren Einfällen und schufen das Wetter und die Jahreszeiten. Bald jagten sie die Wolken über den Himmel, wühlten das Meer auf und ließen die Stürme frei. In ihrer Freude über das tosende Unwetter bemerkten die Götter nicht, dass Bergelmir, der letzte Überlebende des Riesengeschlechts, sein Boot auf die Küste zusteuerte und mit seinem Weib an Land ging.
Als Bergelmir sah, dass die Götter sich als die Herren der neuen Welt fühlten, flammte sein Hass auf. Seine Blicke krochen wie Ungeziefer über die Brüder hin, und er flüsterte: »Ich werde das Geschlecht der Reifriesen rächen. Besonders du, Odin, wirst für Ymirs Tod mit deinem Blut bezahlen.«
Langsam schlich Bergelmir an die ausgelassenen Götter heran. Bald verbarg ihn ein großer Baum, bald ein riesiger Felsbrocken. Der Riese ballte die Fäuste, und die Kälte in ihm schlug sich auf seiner blassen Haut als Reifschicht nieder. Immer näher kam Bergelmir. Näher und näher.
Odin aber ahnte nichts von der drohenden Gefahr und spazierte sorglos umher. Er ging durch die Natur und wunderte sich über die plötzliche Kälte. Eine Kälte, die alle Bäche und Flüsse zufrieren ließ und die Bäume mit Reif überzog.
»Vili, Ve, jetzt reicht es aber mit dem Wettermachen. Es ist hier fast so kalt wie in Niflheim …«
Aber bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte, hatte der Reifriese ihm schon seine eisigen Hände um den Hals gelegt und versuchte, ihn zu erwürgen.
Zum Glück kann man einen jungen Gott nicht einfach erwürgen, nicht einmal ein Riese schafft das. Und ehe sich Bergelmir versah, hatte Odin ihn schon in die Knie gezwungen.
»Reifriese, du hast versucht, mich heimtückisch zu ermorden, dafür sollst du mit deinem Leben bezahlen.«
Odin hob die rechte Faust und wollte schon einen Blitz auf den zähnefletschenden Riesen herabschleudern, da fiel ihm sein Bruder Ve in den Arm.
»Tu das nicht, Odin. Sei ein nachsichtiger Herrscher und schenke ihm das Leben. Immerhin haben wir diese Welt auf dem Tod seines Urvaters gebaut.«
Odin blickte in das hasserfüllte Gesicht des Riesen, der sich nur mühsam beherrschen konnte, und ließ langsam die Faust sinken.