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Endlich Ordnung am nordischen Götterhimmel Über die nordischen Göttermythen weiß man hierzulande meist deutlich weniger als über die griechischen und römischen. Dabei tummeln sich dort gewaltige Riesen, Zwerge, Schlangen, Walküren, achtbeinige Pferde. Gar nicht zu reden von Odin, dem Göttervater, vom hammerschwingenden Thor oder dem gütigen Balder. Und was ist eigentlich mit Loki, der charmanten Kanaille, dem Zerstörer und seinen drei furchtbaren Kindern: dem Fenriswolf, der Midgardschlange und Hel? Wie hängen Niflheim und Asgard zusammen, und was ist mit Midgard? Fragen über Fragen! Katharina Neuschaefer erzählt die Geschichte all dieser Wesen und Götter, damit Klein und Groß es jetzt endlich mal ganz genau wissen.
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Seitenzahl: 70
Die Nordischen Sagen
Loki – Im Bannkreis der Götter
Neu erzählt von Katharina Neuschaefer
Mit Bildern von Dieter Wiesmüller
Ragnarök, das Schicksal, ist unabwendbar. Wenn die Zeit sich dem Ende neigt, bricht der Fimbulwinter an. Drei Jahre lang wird sich die Kälte durch alle Tage ziehen. Es sind die Jahre des Wolfs. Ein Wolf so groß, dass sein Kiefer Himmel und Erde berührt, an seiner Seite eine Schlange, deren Leib ganz Midgard umschlingt, und Hel, die Totengöttin selbst.
Yaggdrasil, der Weltenbaum, wird welken , und das Licht wird erlöschen.
Die Weltenfeinde werden kommen und den Göttern das Ende bereiten auf dem Wigridfeld, denn sie sind vom selben Blut.
Gellend heult Garm vor Gnipahellir,
es reißt die Fessel, es rennt der Wolf.
Dann beginnt eine neue Zeit.
Weit entfernt, am Rande der mittleren Welt, im Osten der Wildnis Utgard stand Jarnwidr, der Eisenwald. Er bedeckte weite Flächen des Riesenlandes, und er war so dicht und düster, dass nicht einmal die Götter es wagten, ihn zu betreten. Denn zwischen den kalten grauen Stämmen, so schien es, hatte das Leben nichts zu suchen.
Der Eisenwald bewegte sich nicht. Nie. Kein Blatt beugte sich im Regen, der Schnee brach kein Zweiglein, und es gab keinen Sturm, der dem alten Holz etwas anhaben konnte. Denn der Eisenwald war tot. Ein verfluchter Ort, den nur der schadlos betreten konnte, der selbst ein hartes Herz hatte.
Angrboda hatte ein Herz aus Eisen.
Es gab wenige Geschöpfe in den drei Welten, die Angrboda jemals gesehen hatten. Es hieß aber, dass sie ihre Höhle hatte, wo der Wald am dichtesten war. Seit Anbeginn der Zeit hauste sie dort und war so alt wie das Erzholz selbst.
Manche sagten, ihr Gesicht sei voller Falten und das Haar verfilzt. Andere erzählten von einer Frau mit jungem Leib und altem Gesicht. Eines aber wussten alle Wesen in allen Welten: Angrboda, die Alte vom Eisenwald, war die Unheilsbringerin.
Eines Tages saß Odin in seinem Thronsaal und langweilte sich. Eine Wolkendecke verschleierte den Blick auf die Welten, und der Göttervater konnte nichts anderes tun, als auf die Rückkehr seiner beiden Raben Hugin und Munin zu warten. Er wartete den ganzen Tag, und erst als es Abend wurde, rauschte es in der Luft, und die beiden Raben flatterten zum Fenster herein und ließen sich auf Odins Schulter nieder.
»Nun, was habt ihr gesehen?«, fragte der Göttervater ungeduldig. »Gibt es Zauberformeln, die ich noch nicht kenne, Wissen, das mir verborgen ist, oder Kräfte, die ich mir aneignen könnte? Welche Geheimnisse sind euch begegnet in den drei Welten?«
»Höre, Göttervater«, krächzte Hugin, »aus dem Götterreich Asgard gibt es nichts Neues zu berichten, es wird gestritten, gelogen und gekämpft, wie an allen Tagen, von neuen Zaubern aber weiß ich nichts.«
»Und du, Munin«, fragte der Gott, »wo warst du?«
»Bis in die Weiten Utgards bin ich geflogen, um nach den Riesen zu sehen. Ich habe sie gesehen, aber sie waren anders als sonst. Sie schienen auf etwas zu warten, denn sie blickten immerzu nach Westen, hinüber zum Eisernen Wald. Etwas Dunkles geht vor sich, Odin. Asgards Feinde ruhen nicht. Mag sein, dass sie einen Krieg vorbereiten.«
Wütend schleuderte der Göttervater die beiden Raben in die Luft, dass die Federn nur so stoben, und brüllte: »Einen Krieg gegen mich? Die Riesen? Was planen sie? Was versteckt sich im Wald, und wieso wisst ihr es nicht?«
»Niemand übertritt die Grenze des Eisenwalds«, schnarrte Hugin, »auch wir nicht. Und überhaupt: Wieso tust du es nicht selbst?«
Odin wirbelte auf der Stelle herum und schnappte mit seinen großen Händen nach den Raben, die sich auf einer Stuhllehne niedergelassen hatten. Krächzend und schreiend flogen sie auf und flatterten hinauf zu den Dachbalken.
Zornig blickte Odin ihnen nach.
»Ich bin der oberste Gott. Meine Macht wächst mit jedem Atemzug, und ihr seid ein Teil davon. Dafür verlange ich Opfer!«
Mit großen Schritten stolzierte Munin auf dem Dachbalken entlang und blickte mit schräg gelegtem Kopf auf Odin hinab.
»Um wirklich mächtig und wissend zu werden, musst du vor allem selbst Opfer bringen …«
»Wovon redest du! Sprich nicht in Rätseln mit dem Herrscher der Welten!« Odin griff nach einem riesigen Trinkhorn, leerte es in einem Zug und schleuderte es auf den Boden.
»Im Osten, ganz am Rande der Mittelwelt, liegt das Land der Riesen«, fuhr Hugin fort, »dort wächst der Baum Yggdrasil. Er entspringt in der Düsternis Niflheims, doch er ist so mächtig und groß, dass seine Zweige und Wurzeln sich durch alle drei Welten erstrecken und sie miteinander verbinden.«
»Ich kenne die Weltesche«, sagte Odin, »ist das alles, was du zu berichten hast, Rabenbraten?«
»Höre weiter«, antwortete jetzt Munin, »drei Wurzeln hat der Baum, in jeder Welt eine, und an jeder von ihnen entspringt ein Quell. In Niflheim die Quelle Hvergelmir, in Asgards die Urd-Quelle, in der mittleren Welt aber sprudelt die Quelle des ewigen Wissens.«
Kaum hatte der Rabe geendet, warf sich Odin schon seinen blauen Mantel um, setzte den Kriegshelm auf und eilte mit wehendem Bart aus dem Saal, um sofort nach Midgard hinabzusteigen.
»Warte, Allvater«, rief Munin, der Verständige, »den Quell bewacht ein Riese, Mimir ist sein Name, und furchtbar ist er anzuschauen. Wer von der Weisheit trinken will, muss Mimir das Kostbarste geben, das er besitzt.«
»Was immer es sein mag, ich werde aus dem Quell des Wissens trinken und wenn ich den Riesen dafür erschlagen muss.«
Und damit stürmte Odin davon, verwandelte sich in einen Adler und flog hinab in die mittlere Welt. Der Wind trug ihn über das Reich der Menschen hinaus bis in die Wildnis Utgard. Er landete zwischen den haushohen Wurzeln des Baumes Yggdrasil und nahm seine göttliche Gestalt wieder an. Tiefe Nacht lag über dem Tal, als Odin sich umsah, aber es dauerte nicht lange, bis er das Murmeln der Quelle hörte und dem Geräusch folgte. Dann, plötzlich, aus dem Rascheln der Zweige über ihm glaubte Odin ein qualvolles Stöhnen zu vernehmen. Angespannt lauschte er in die Dunkelheit. Er musste sich getäuscht haben, denn außer dem Murmeln der Quelle und dem Geräusch des Windes in den Zweigen war nichts zu hören. Vorsichtig schlich er weiter, seine Sinne waren geschärft, wie die eines Raubtieres. Nach wenigen Schritten war es wieder da. Ein Ächzen und Seufzen wie unter großen Schmerzen, aber niemand war zu sehen. Odin war allein zwischen den Wurzeln der Weltesche. Lauernd blickte er um sich. Nichts. Das Gurgeln wurde lauter, und schließlich sah er die Quelle: Ein heller blauer Schein ging von dem sprudelnden Wasser aus und erleuchtete die Nacht. Unwiderstehlich fühlte sich Odin zu dem Quell hingezogen, getrieben von dem drängenden Wunsch zu trinken. Gerade als er seine Hand ins Wasser tauchen wollte, trat ein schrecklicher Riese aus dem Schatten des Baumes Yggdrasil hervor.
Er war das hässlichste Wesen, das Odin je gesehen hatte, und Odin hatte vieles gesehen von seinem Wolkensitz aus. Der Riese war so groß wie ein Baum, hatte rot glühende Augen und lange gelbe Zähne.
»Trink, wenn es dich nach Wissen dürstet«, sagte Mimir, der Wächter der Quelle, und Odin musste sich die Ohren zuhalten, so laut war seine Stimme, »aber sei gewarnt, ich fordere einen hohen Preis.«
»Wenn du der weise Mimir bist, für den ich dich halte«, sagte Odin, »und von dem es heißt, er sei allwissend, dann weißt du sicher auch, wer vor dir steht.«
»Gewiss«, antwortete der Riese, und der Boden bebte, »du bist der Allvater und gierst nach unendlicher Weisheit. Was aber gibst du mir für den Trunk?«
»Ich kann dir Gold geben, so viel du willst, denn mein Reichtum ist unerschöpflich«, schlug Odin vor.
»Dein Gold will ich nicht. Wissen ist weit kostbarer.«
»Wie wäre es dann mit Macht oder Land. Oder sage du mir, was du verlangst, ich kann dir alles geben.«
»Was soll ich mit Macht oder Land, wo ich alles habe und nichts begehre? Nein«, sagte der Riese und lächelte verschlagen, »was du mir gibst, muss dir wertvoll sein und teuer.«
Odin spürte, dass der Riese etwas im Schilde führte und tastete nach seinem Speer, bevor er antwortete. »Also, Mimir, Wächter der Quelle, mach’s kurz. Was willst du?«
»Gib mir dein linkes Auge, dann darfst du trinken.«
Odin schluckte. »Mein linkes Auge? Ich brauche beide Augen in der Schlacht und beide, um auf die Welten hinabzublicken. Ich kann dir mein Auge nicht geben.«