Die noumenale Republik - Rainer Forst - E-Book

Die noumenale Republik E-Book

Rainer Forst

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Beschreibung

Alle Menschen werden mit gleicher Würde und gleichen Rechten geboren. Diese Aussage erscheint normativ ebenso unumstößlich wie empirisch unzutreffend; die Realität widerlegt sie mit jedem Tag aufs Neue – und bestätigt damit ihre Bedeutung. Die Wahrheit dieses Prinzips ist philosophisch im Rückgang auf Kants Idee einer »noumenalen Republik« aufzuklären, in der jede Person dem allgemeinen Gesetz unterworfen ist, das sie zugleich als Gesetzgeber mitkonstruiert. Inwiefern die Wirklichkeit dem Hohn spricht, muss eine kritische Analyse von Gesellschaft und Politik zeigen. Damit diese Perspektiven nicht auseinanderfallen in ein weltfernes Ideal und eine Diagnose der Ausweglosigkeit, bedarf es einer kritischen Theorie nach Kant, wie sie Rainer Forst in diesem Band entwirft.

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Titel

3Rainer Forst

Die noumenale Republik

Kritischer Konstruktivismus nach Kant

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2362.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2021© Rainer Forst 2021Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77025-2

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Zwischen den Welten. Kritischer Konstruktivismus nach Kant

I

. Selbstbestimmung mit und gegenüber anderen: Grundfragen der Sozialphilosophie

1. Noumenale Entfremdung. Die Dialektik der Selbstbestimmung bei Rousseau, Kant und Marx

2. Die Rechtfertigung des Fortschritts und der Fortschritt der Rechtfertigung

3. Konzept, Konzeptionen und Kontexte der Solidarität

4. Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Zur Analyse eines sperrigen Begriffs

5. Die Autonomie der Autonomie. Zu Jürgen Habermas’

Auch eine Geschichte der Philosophie

II

. Gerechtigkeit und Freiheit von Beherrschung: Kritische Politische Theorie

6. Normativität und Wirklichkeit. Zu einer kritisch-realistischen Theorie der Politik

7. Der Sinn und der Grund der Menschenrechte. Die Perspektive des kantischen Konstruktivismus

8. Eine kritische Theorie transnationaler (Un-)Gerechtigkeit. Zur Vermeidung positivistisch halbierter Realismen oder Normativismen

9. Strukturelle Ungerechtigkeit mit Namen, strukturelle Beherrschung ohne Gesicht?

10. Die Pointe der Gerechtigkeit. Zur paradigmatischen Unvereinbarkeit von Rawls’ »Gerechtigkeit als Fairness« mit der Theorie des Glücksegalitarismus

11. Die neorepublikanische Maschine. Zur Unabdingbarkeit des kantischen Republikanismus

III

. Krise der Demokratie

12. Zwei schlechte Hälften ergeben kein Ganzes. Zur Krise der Demokratie

13. Wahrheit. Demokratische Macht und »alternative Fakten«

14. Die Verwahrlosung der Demokratie. Thomas Mann zu Ehren

15. Demokratie als Lernprozess. 30 Jahre Deutsche Einheit

16. Die Demokratie in der Krise. An der Grenze zwischen Fortschritt und Regression

Literaturverzeichnis

Nachweise

Namenregister

Fußnoten

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7Vorwort

Menschen sind Wesen, die über das Vermögen verfügen, ihre Wirklichkeit zu transzendieren. Es gehört für sie zum normalen Verlauf ihres Lebens und Handelns, diesen daraufhin zu befragen, ob er verbessert werden kann und generell in die richtige Richtung geht. Dasselbe gilt für die Ordnungen, denen sie angehören. Wo immer Menschen nach Orientierung suchen, Kritik üben oder Fortschritte anzielen, taucht im Faktischen das Kontrafaktische auf, im Sein das Sollen. In diesem Buch versuche ich zu erklären, wie diese Transzendierung zu verstehen ist; ich vertrete dabei von Kant ausgehend die These, dass wir als vernunftbegabte, rechtfertigende Wesen die eingewöhnte Normativität der Räume der Rechtfertigung, in denen wir uns bewegen, mit Bezug auf eine kritische Normativität übersteigen können, die in ihrem radikalen Kern auf den Grundsatz der Selbstgesetzgebung verweist, im individuellen wie auch im kollektiven Sinne. Dann stellt sich für eine kritisch-konstruktivistische Theorie in praktischer Absicht die Frage, wie wir real das werden können, was wir im »noumenalen« Sinne schon sind: autonome Autoritäten in Bezug auf die Normen, die für uns Geltung beanspruchen.

Niemand denkt für sich allein, erst recht kein Rechtfertigungstheoretiker. So gilt es an dieser Stelle, für die vielen Impulse, die ich durch Gespräche, Vorträge, Konferenzen und Rückmeldungen erhalten habe (nicht zuletzt durch das Privileg zahlreicher Workshops, die meiner Theorie gewidmet waren), Dank zu sagen. Alle zu nennen, die dabei zu bedenken wären, würde zu einer unabschließbaren Liste führen. Daher erwähne ich hier die wichtigsten Institutionen und Personen, die meine Arbeit rahmen; weitere zähle ich in der Einleitung und zu Beginn der jeweiligen Kapitel auf. An erster Stelle danke ich den Mitgliedern meines Forschungskolloquiums, das seit 2004 besteht und das ich seit einigen Jahren gemeinsam mit Darrel Moellendorf leite. Von den Diskussionen dort mit international etablierten wie auch jüngeren Kolleg*innen lerne ich unablässig. Den Kontext dafür bilden seit vielen Jahren der interdisziplinäre Forschungsverbund »Normative Ordnungen«, die Kollegforschungsgruppe »Justitia Amplificata« (und das Folge8programm »Justitia«) und die Forschungsgruppe »Transnationale Gerechtigkeit« aus dem Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, aber auch neuere Verbünde wie das »Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt« sowie die Initiative »ConTrust – Vertrauen im Konflikt«. Dafür sei nicht nur den Förderinstitutionen der DFG, der Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, dem Land Hessen und der Johann Wolfgang Goethe-Universität gedankt, sondern auch den KollegInnen, mit denen ich diese großen Unternehmen leite und geleitet habe, Nicole Deitelhoff, Klaus Günther und Stefan Gosepath.

Zusätzlich profitierte ich von zahlreichen Diskussionen am Wissenschaftszentrum Berlin, wo ich eine Forschungsprofessur bekleide; in diesem Zusammenhang sei Michael Zürn besonders gedankt. Im Herbst 2019 hatte ich die Ehre, als Thomas E. Sunderland Faculty Fellow and Visiting Professor Teil der Law School der University of Michigan zu sein, wo ich viele produktive Begegnungen hatte; dafür gilt Daniel Halberstam mein besonderer Dank. Dasselbe gilt für kurzzeitige Gastprofessuren an der Rice University in Houston und an der University of Washington in Seattle, wofür ich Christian Emden und Bill Talbott danke.

Bei der Erstellung des Manuskripts hat mir Sonja Sickert wie stets großartige Hilfe geleistet, und ohne die hervorragende Mitarbeit von Tobias Albrecht, Paul Kindermann, Greta Kolbe, Felix Kämper und Amadeus Ulrich hätte ich es nicht geschafft; besonders die beiden Letztgenannten waren mit vielen wertvollen Hinweisen und unermüdlichem Einsatz eine starke Unterstützung. Eva Gilmer und Jan-Erik Strasser vom Suhrkamp Verlag sowie Gesa Steinbrink danke ich für die bewährte vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Es ist mir ein Anliegen, an der Stelle, an der ich für die glücklichen Momente der Zusammenarbeit danke, die die eigenen Anstrengungen tragen, jenen ein Wort nachzurufen, die ich dabei vermisse. Der frühe Tod von zwei langjährigen Freunden und herausragenden Kollegen, Glen Newey (1961-2017) und Rainer Schmalz-Bruns (1954-2020), mit denen ich leidenschaftlich debattieren konnte, riss ein Loch in die mir wichtigen Netzwerke des Diskurses, das nicht zu füllen ist. Mit Karl-Otto Apel (1922-2017) ist einer meiner hochverehrten Lehrer von frühen Studientagen an verstorben; ich gedenke seiner in großer Dankbarkeit dafür, wie er 9den Enthusiasmus für die »letzten« Fragen der Philosophie verkörperte und weitergab.

Der größte Dank gilt wie stets meiner Familie, Mechthild, Sophie und Jonathan, für Inspiration, Rückhalt und vieles mehr.

Frankfurt am Main, im Juli 2021 Rainer Forst

10Einleitung: Zwischen den Welten. Kritischer Konstruktivismus nach Kant

»Die Vernunft bezieht also jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden anderen Willen […] und dies zwar nicht um irgend eines andern praktischen Beweggrundes oder künftigen Vortheils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst giebt.«[1] 

»Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als ein Reich der Zwecke möglich und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder.«[2] 

»Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen, welches, ihr gemäß durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (respublica noumenon), ist nicht ein leeres Hirngespinnst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt und entfernt allen Krieg.«[3] 

1. Der Grundgedanke des kantischen Konstruktivismus

Kants Worte scheinen uns in die Tiefen (oder Untiefen) seiner Metaphysik von zwei Welten, einer geistig-noumenalen und einer empirischen, zu führen und damit zu all den Problemen, die mit diesem Dualismus einhergehen. Diese will ich keineswegs klein11reden, aber eine andere Perspektive auf diese Fragen nach Kant vorschlagen, oder besser zwei: Der ersten zufolge können wir solchen Dualismen in unserer moralischen und politischen Praxis in gewisser Weise nicht entkommen, und der zweiten zufolge löst sich dieser Dualismus als scheinbar aporetisches metaphysisches Problem auf, wenn wir die Welt, in der wir leben, im pragmatistischen Sinne richtig, also vernünftig, verstehen.

Zum Ersten. Wer die Aussagen aus diversen Menschenrechtserklärungen, dass »[a]lle Menschen […] frei und gleich an Würde und Rechten geboren« werden (Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948) und dass diese Würde »unantastbar« (Artikel 1[1] des Grundgesetzes) ist, ernst nimmt und sie nicht als ideologische oder utopistische Floskeln abtut, muss erklären können, in welchem Sinne diese Sätze wahr sind. Denn die empirische Wirklichkeit beschreiben sie nicht, da dort gerade nicht alle Menschen in gleicher, unantastbarer Würde und mit gleichen Rechten geboren werden – sie wachsen unter extrem ungleichen, abhängigen und würdeverletzenden Umständen auf und entrinnen diesen kaum. Auch diese Analyse ist wahr. Aber können beide Wahrheiten zusammen bestehen – die der normativen Aussage und die der sozialen Wirklichkeit? Sie müssen es, denn anders hätten wir keine begründete Möglichkeit, die Realität kritisch zu betrachten; und vielleicht begingen wir sogar einen Verrat an denen, deren Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Nun ist die philosophische Diskussion darüber, wie solche kontrafaktischen Wertaussagen begründet werden können, endlos, aber dass es einer Begründung bedarf, scheint unstrittig. Meine Deutung und Weiterentwicklung von Kant setzt hier an: Wenn wir nach einer Begründung für den normativen Status der Würde fragen, kann eine Reflexion auf uns als die Wesen, die diese Frage stellen und einander eine Antwort darauf schulden, helfen. Denn wir sind nicht nur nach Gründen fragende, sondern Gründe nutzende, bewertende und rechtfertigende Wesen. Und dort, wo wir einsehen müssen, dass es keine guten Gründe dafür gibt, anderen den gleichen Respekt zu verweigern, achten wir uns und sie als rechtfertigende Wesen, als gleichgestellte normative Autoritäten, die einander gute Gründe dafür schulden, wie sie einander behandeln und welcher normativen Ordnung sie unterworfen werden. Dann erfolgt die Begründung des Status gleicher Würde nicht auf 12der Basis eines empirischen Beweises oder einer göttlichen Norm, was ohnehin vergeblich ist, sondern aus dem vernunftgeleiteten Anerkennen unserer selbst und anderer als rechtfertigende Wesen: als Autoritäten im Raum der Rechtfertigungen, die eine Gemeinschaft der Rechtfertigung bilden.[4]  Mit Kant gesprochen, impliziert dies die wechselseitige Achtung von Personen als selbstbestimmt zwecksetzende Zwecke an sich selbst, als gesetzgebende Mitglieder im »Reich der Zwecke«, worin ihre »Würdigkeit«[5]  besteht. Gibt es eine bessere Begründung dieser Würde, als autonomes Mitglied der »Gesetzgebung« in Bezug auf die Normen zu sein, die für alle gelten sollen?[6]  Dass dies insbesondere durch die Betonung der gleichen Stellung, gesetzgebendes Mitglied im Raum der Rechtfertigungen zu sein, unabdingbar eine moralische Reflexion ist, erklärt Kant damit, dass wir uns als rechtfertigende Wesen, die die praktische Frage »Was soll ich tun?« stellen, bereits im Raum der praktischen, sich verantwortenden Vernunft bewegen. Es gibt hier kein Entkommen, denn unsere Welt ist die Welt der Rechtfertigungen. Wir sind ihr aber nicht einfach unterworfen, sondern sollten uns dort, und darin besteht Kants revolutionäre Einsicht, kontrafaktisch als gesetzgebende Autoritäten verstehen.[7] 

Zum Zweiten. Was für eine Welt aber ist das: die Welt der Rechtfertigungen? Nehmen wir im realistischen, pragmatischen Geiste an, dass unsere Welt des Handelns tatsächlich eine Welt der Rechtfertigungen ist, die unser Denken und Handeln leiten. Dann sind dies zunächst faktisch geltende Rechtfertigungen, die ganz unterschiedlicher Natur sein können: konventionell, instrumentell, religiös, rechtlich, gut oder schlecht überlegt, ideologisch verblendet und so weiter. In der Tat ist das der sozusagen empirisch-noumenale Stoff, aus dem wir unser Rechtfertigungsmaterial für unser Handeln beziehen; die normativen Ordnungen, innerhalb derer wir uns bewegen, sind in diesem faktischen Sinne »Rechtfertigungsordnungen«. Aber wenn wir uns als Wesen mit praktischer Vernunft begreifen, können wir uns nicht nur rational und klug 13in diesen bereits eingerichteten Rechtfertigungsräumen bewegen. Wir können auch fragen, ob sie vernünftig sind, und dazu gehört die Frage, ob sie moralisch vernünftig sind – also mit moralischen Gründen rechtfertigbar. In jeder menschlichen Handlungspraxis, sei sie noch so ideologisch verklebt (wobei Ideologie heißt: das nicht zu Rechtfertigende rechtfertigen), bleibt die Möglichkeit, und sei sie auch klein, dieser Frage präsent: Sind diese Normen, Sitten und Gebräuche, diese Gesetze und Verordnungen, diese Ordnung der Herrschaft insgesamt, gerechtfertigt? Nach welchen Kriterien wäre dies zu bewerten?

Wo diese kritische Frage auftaucht, kann sie faktisch, im Raum noumenaler Macht, auch wieder erstickt werden. Aber sie kann immer wieder neu gestellt werden, und im moralischen Sinne muss dies geschehen, um der Rechtfertigbarkeit unseres Handelns und der Strukturen willen, die uns leiten und binden. Sich über den gegebenen Rechtfertigungsraum zu erheben, vielleicht erst ein Stück weit und dann mehr, ist Teil der menschlichen Praxis der Rechtfertigung, wenn diese nicht vollkommen verstopft ist; und das bedeutet, dass Menschen potenziell, als Teilnehmer*innen an dieser Praxis, die gegebene Realität transzendierende, noumenale Wesen sind. Kants Reflexion auf uns als gesetzgebende Wesen, die im Reich der Zwecke einander gleichgestellt sind und sich wechselseitig Gründe schulden, die ohne Ausnahme verallgemeinerungsfähig sind, ist die in meinen Augen passende Reflexion auf unsere Situation als in solchem Sinne rechtfertigende, transzendierende Wesen. Wir gehören der faktischen Welt der Rechtfertigungen an, aber wir sind auch Mitglieder eines Reichs der kritischen Infragestellung und des gegenseitigen Respekts, der uns hier und jetzt bindet und uns die Pflicht zur Rechtfertigung in moralischen beziehungsweise politischen Kontexten auferlegt. Das Reich der Zwecke ist von dieser Welt – wenn wir sie richtig betrachten. Wir dürfen uns nicht als Mitglieder zweier strikt getrennter Welten missverstehen, nicht in einen ontologischen oder metaphysischen Dualismus verfallen, sondern müssen sehen, dass wir uns in dieser einen Welt nicht vernünftig zurechtfänden, wenn wir die gegebenen Rechtfertigungen nicht transzendieren könnten. Anders gesagt: Die kontrafaktische Frage nach besseren Rechtfertigungen ist Teil der Faktizität unserer normativen Welt der Rechtfertigung. Die genannten Welten, die noumenale und die empirische, sind somit nicht wirklich zwei Wel14ten, sondern zwei unterschiedliche Perspektiven auf uns als Rechtfertigungswesen. So erscheint inmitten der faktischen Normativität unserer empirisch-noumenalen Rechtfertigungsräume die kontrafaktische, transzendierend-noumenale Normativität der selbstbestimmten Gesetzgebung – als Vorschein wahrer individueller und kollektiver Autonomie.

Was gehört zu diesem transzendierenden Fragen nach Gründen dazu, und wie können Antworten darauf gültig sein? Hier kommt das ins Spiel, was ich »kritischen Konstruktivismus nach Kant« nenne, und da ich in bisherigen Arbeiten[8]  und den Kapiteln in diesem Band vielfach darauf eingehe, beschränke ich mich im Folgenden auf die Hauptlinien der Argumentation. Drücken wir die Frage der begründenden Transzendierung gegebener Rechtfertigungen in transzendentaler Form aus, so ist dies die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Rechtfertigung gültiger Normen des verantwortlichen Handelns (oder politischen Herrschens). Wie ersichtlich, ist auch diese transzendentale Reflexion keine, die sich aus menschlicher Praxis so herausdrehte, dass diese verloren ginge; sie ist vielmehr eine ebenso immanente wie transzendierende Frage. Sie verweist auf das Vermögen, das allein das Vermögen des kritischen Rechtfertigens ist – das der Vernunft. In praktischen Kontexten des Handelns ist damit die praktische Vernunft gemeint, und im kantischen Verständnis ist dies nicht nur ein Vermögen, das darüber Kenntnis hat, wie sich moralische Normen rechtfertigen lassen, sondern auch erkennt und anerkennt, dass sich verantwortliche Personen in moralischen Kontexten mit angemessenen Gründen rechtfertigen müssen. Deshalb besteht in moralischen Kontexten ein Imperativ der Rechtfertigung, den die praktische Vernunft wahrnimmt, und ich drücke dies in Begriffen einer moralischen Pflicht beziehungsweise eines moralischen Rechts auf Rechtfertigung in denjenigen Kontexten aus, in denen es um allgemein und wechselseitig bindende Normen geht.

Um zu bestimmen, worin eine angemessene Rechtfertigung solcher Normen besteht, rekonstruieren wir die Geltungsansprüche der Normen und fragen, was es hieße, diese Geltung einzulösen.[9] 15In moralischen Kontexten beanspruchen Normen, wechselseitig und allgemein im strikten Sinne zu gelten, was heißt, dass sie sich in Rechtfertigungsdiskursen einlösen lassen müssen, in denen die Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit in Bezug auf das Verfahren selbst (wer darf teilnehmen, wie sind die Kriterien der Geltung anzuwenden?) sowie die Qualität der gerechtfertigten Normen (sind sie reziprok-allgemein zurückweisbar?) leitend sind. In politischen Kontexten, in denen es etwa um grundlegende Normen der Gerechtigkeit geht, gelten dieselben Kriterien, wobei allerdings zwischen einem moralischen Kerngehalt und einer spezifischen Form der Einrichtung einer Rechtfertigungsordnung zu unterscheiden ist sowie zwischen Grundnormen der Gerechtigkeit und legitimen weiteren Normen auf dieser Basis. In beiden Kontexten, dem moralischen sowie dem politisch-sozialer Gerechtigkeit, ist die Unterscheidung zwischen faktischen und kontrafaktischen Diskursen zu berücksichtigen und zugleich ihre immanente, dialektische Verbindung zu sehen: Während die kontrafaktische Frage, ob eine Norm wirklich gerechtfertigt ist, in beiden Kontexten stets gegenwärtig bleiben muss, geht es in beiden auch darum, reale Rechtfertigungsdiskurse zu führen. In moralischen Kontexten deshalb, weil es der Respekt für andere als gleichgestellte normative Autoritäten erforderlich macht, ihre Perspektive ernst zu nehmen, und in politischen Kontexten deshalb, weil die Praxis der reziprok-allgemeinen Rechtfertigung die Praxis der Gerechtigkeit ist. Alle weiteren relevanten normativen Begriffe von Freiheit, Gleichheit, Demokratie oder Menschenrechten sind von dort aus zu begründen, wie ich in den Kapiteln in Teil II dieses Buches zu zeigen versuche.

Wieso ist in diesem Zusammenhang von »Konstruktivismus« die Rede? Hier sollten wir uns von einigen vorschnellen Festlegungen metaethischer und metaphysischer Art etwa freimachen. Denn die Vorstellung, dass sich gültige Normen einem Rechtfertigungsverfahren verdanken, das bestimmte Kriterien der Vernunft beherzigt, und so Normen »konstruiert« werden, ist im Sinne eines praktischen, nicht eines metaphysischen Konstruktivismus zu verstehen, dem zufolge es keine übergeordnete Realität von Werten beziehungsweise normativen Gründen gibt, sondern diese erst 16praktisch konstruiert und so erschaffen werden. Ob moralische Normen beziehungsweise die Gründe für sie in reziprok-allgemeinen Rechtfertigungsverfahren gemeinsam entdeckt oder geschaffen werden, ist eine philosophisch interessante,[10]  für die Geltung des Verfahrens aber zweitrangige Frage. Wichtiger hingegen ist die Frage, auf welcher Basis wer dabei was konstruiert und wie die Geltung dieser Normen begründet wird, nämlich im konstruktivistischen Sinne durch das Verfahren allein.[11]  Halten wir den Grundgedanken des kantischen Konstruktivismus auf diese Weise fest: Die Normen sind gültig, die einem rechtfertigenden Konstruktionsverfahren entspringen, das die entscheidenden normativen Bedingungen der Normengenerierung auf angemessene Weise enthält.[12] 

Diese Formulierung verdeutlicht, was in Theorien oder auch Kritiken des Konstruktivismus oft übersehen wird.[13]  Denn auch die diskursiv-faktische, nicht nur die kontrafaktisch-hypothetische, Normengenerierung kann nur gelingen, wenn in dem Verfahren, das den konstruierten Normen Geltung verleihen soll, schon die maßgebliche, grundlegende Normativität steckt. So liegt einer jeden Normenkonstruktion eine Basis zugrunde, die nicht ebenso konstruiert sein kann wie die konstruierten Normen, weil das Verfahren sicherstellen muss, dass sie auf die richtige Weise konstruiert worden sind. Deshalb gibt es bei Kant einen Kategorischen Imperativ der praktischen Vernunft, der dazu dient, moralische Imperative zu begründen, die kategorisch gelten, und deshalb gibt es in der Diskursethik Prinzipien, aus denen sich die Formalia des 17Diskurses ergeben, oder bei Rawls eine »original position«, in der Gerechtigkeitsprinzipien konstruiert werden. In meinem Ansatz bedeutet das, dass das Rechtfertigungsprinzip, das je nach Kontext spezifiziert, welche Normen auf welche Weise konstruktiv zu rechtfertigen sind, nicht nur selbst (wie bei Kant, bei der Diskursethik[14]  hingegen ambivalent) normativ bindend sein muss, sondern auch, dass es nicht selbst konstruiert sein kann, sondern einen rekonstruktiven Charakter hat. Die basale Normativität dieses Prinzips begründet die Normativität der auf dieser Grundlage konstruierten (gerechtfertigten) Normen.

Dies hat besonders Rawls in seiner wegweisenden Deutung des kantischen Konstruktivismus deutlich gemacht. Ihm zufolge wird bei Kant der Kategorische Imperativ als Verfahren dargelegt (laid out)[15]  und nicht konstruiert, und zwar auf der Basis einer Reflexion der praktischen Vernunft, wie sie sich im moralischen Überlegen und Urteilen zeigt. Das ist der Grund dafür, weshalb Kant es ablehnt, das Prinzip der Moral selbst noch einmal aus einem anderen zu deduzieren; es bedarf, so Kant, »selbst keiner rechtfertigenden Gründe«,[16]  wohl aber einer Reflexion auf die Vernunft als begründendes, Verantwortung tragendes Vermögen. Zudem liegt nach Rawls dem Kant’schen Ansatz eine bestimmte Vorstellung von Personen, die praktische Vernunft gebrauchen können, und zwar in der Gemeinschaft mit anderen, zugrunde, die weder konstruiert noch dargelegt ist, sondern unserer moralischen Reflexion »entnommen« wurde (elicited),[17]  in meinen Worten: rekonstruiert. Rawls drückt dies so aus, und zwar sowohl in Bezug auf Kant wie auch in Bezug auf seine »nichtmetaphysische« Version des »politischen« Konstruktivismus, dass das Konstruktionsverfahren auf »Grundsätzen der praktischen Vernunft in Verbindung mit den 18Konzeptionen der Gesellschaft und der Person« beruht, die ihrerseits »Ideen der praktischen Vernunft« sind.[18] 

Meine eigene Konzeption geht entsprechend von folgender Ordnung der Argumentation aus. Zunächst gilt es, das allgemeine Prinzip der Rechtfertigung als Grundsatz der praktischen Vernunft zu rekonstruieren. Es besagt, dass Normen ihre Geltung auf eine Weise »verdienen« müssen, die ihrem Geltungsanspruch entspricht – also dass moralische Normen, die strikt reziprok und allgemein zu gelten beanspruchen, in Rechtfertigungsdiskursen zu begründen sind, die die Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit prozedural und inhaltlich widerspiegeln. Sie sind Kriterien der praktischen Vernunft. Reziprozität heißt dabei, dass niemand Ansprüche erheben darf, die anderen verweigert werden (Reziprozität der Inhalte), und dass niemand anderen die eigenen Werte, Interessen oder Bedürfnisse einfachhin unterstellen darf, selbst im wohlmeinenden Sinne, sondern eine Sprache der Begründung suchen muss, die (im normativen Sinne) teilbar ist (Reziprozität der Gründe). Allgemeinheit bedeutet, dass niemand aus der Rechtfertigungsgemeinschaft der Gleichen ausgeschlossen werden darf, für die die jeweiligen Normen gleichermaßen Geltung beanspruchen. Rechtfertigungsdiskurse, die sich an diesen Kriterien orientieren – wohlgemerkt im faktischen wie auch im kontrafaktischen Verständnis –, sind Verfahren der praktischen Vernunft.

Auf dieser Basis erschließt sich, dass die Autoritäten dieser konstruktiven Rechtfertigung die Personen sind, die in der Pflicht stehen, einander auf solche Weise zu antworten und ihr Handeln (beziehungsweise ihre normative Ordnung) so zu verantworten. Diese Konzeption der Person als oberste normative Autorität, die weiß und anerkennt, dass sie eine Pflicht zur und ein Recht auf Rechtfertigung hat, ist eine Konzeption der praktischen Vernunft. Alle diese Begriffe verdanken sich einer konsequenten, rekursiven[19]  Reflexion darauf, was es heißt, ein moralisch beziehungsweise politisch verantwortliches Rechtfertigungswesen zu sein. Hier ist keine geheime Metaphysik im Spiel, sondern eine grundsätzliche Überlegung da19rüber, was es bedeutet, im Raum normativer Rechtfertigungen zu »stehen«, also einen Status als Autor*in und Adressat*in von Normen zu haben.[20] 

Um hier auf einige umfangreiche moralphilosophische Diskussionen nur kurz einzugehen, unterscheidet sich diese Konzeption von einem »Konstitutivismus«, der die Pflicht zur kategorischen moralischen Rechtfertigung in den Bedingungen autonomer Handlungsfähigkeit selbst verankert,[21]  dadurch, dass es um die Bedingungen moralisch verantwortlichen Handelns geht, nicht des selbstbestimmten Handelns insgesamt. Denn auch nicht moralisch autonom handelnde Personen handeln, und sie handeln überlegt, gegebenenfalls auf der Basis ethischer oder religiöser Gründe, die nicht verallgemeinerbar sind. Aber sie handeln nicht moralisch verantwortlich, sofern sie in moralischen Kontexten nicht reziprok-allgemeine Gründe suchen.[22] 

Es gehört zu den Besonderheiten des rechtfertigungstheoretischen Ansatzes, dass er die Pflicht zur Rechtfertigung so in der sozialen Welt verortet, dass die moralische Reflexion nicht in einem subjektivistischen oder monologischen Verallgemeinerungsdenken aufgeht, sondern das Individuum von vornherein als Gemeinschaftswesen betrachtet wird. Die moralische Person ist stets Mitglied einer Rechtfertigungsgemeinschaft, die im moralischen Kontext alle moralischen Personen allgemein umfasst, zugleich aber die Verantwortung vor und auch für konkrete Einzelne betont.[23]  Die Objektivität der konstruktivistischen Moral wird intersubjektiv geleistet, über Diskurse der Rechtfertigung innerhalb einer Verantwortungsgemeinschaft; auf sie bezogen verstehen sich moralische Personen. Das Band der praktischen Vernunft ist ein moralisches 20Band, und die moralische Autorität der Einzelnen kann nur gemeinsam mit allen anderen ausgeübt werden.[24] 

Wie bereits betont, geht die Version des Konstruktivismus, die ich vertrete, nicht davon aus, dass es keine anderen als auf diese Weise konstruierte Werte gibt. Es gibt verschiedene Quellen der Normativität, die spezifischer Natur (bestimmte Wertegemeinschaften) oder auch allgemein sind (eine universalistische Religion etwa). Und auch in der Sphäre der Moral ist es nicht nötig, die Realität bestimmter Werte oder Gründe grundsätzlich zu bestreiten.[25]  Bezüglich dieser Fragen bleibt mein Ansatz agnostisch; entscheidend ist, dass die Prinzipien und Kriterien der praktischen Vernunft im Kontext der Moral (und nicht des Guten generell) als transzendental und pragmatisch rekonstruierte Prinzipien und Kriterien verstanden werden, die für praktisch vernünftige Wesen schlechterdings gelten, solange sie nicht mit Hilfe ebenjener Vernunft zu besseren Rekonstruktionen dieser Grundbegriffe kommen. Es gibt kein reflexives Vermögen der Werteerkenntnis, das die Reflexion der Vernunft noch einmal transzendieren oder übertrumpfen könnte. Sie erzeugt moralische Wahrheit »für uns«; die Frage bezüglich weiterer Dimensionen der Wahrheit beziehungsweise Wirklichkeit, die sich über Gründe erschließen, bleibt dabei offen.

Die Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit erlauben eine Bestimmung der Gründe, die »vernünftigerweise zurückweisbar« sind, um Scanlons Formulierung aufzunehmen, auf inhaltliche Weise, seine abstrakte Formulierung spezifizierend.[26]  Dies hat im Unterschied zu einer Konsenstheorie zwei Vorteile: Erstens kann angesichts bestehender, realer Dissense näher bestimmt werden, welche Normen reziprok-allgemein zurückweisbar sind und welche nicht, und zweitens kann im Falle von realen Konsensen gezeigt werden, dass sie gegebenenfalls nicht gut begründet sind oder aber 21weit über das hinausgehen, was reziprok-allgemein gefordert wäre (im Sinne des Supererogatorischen, was Scanlon meinte, als er die negative Formulierung vorschlug). Für eine kritische Theorie der Rechtfertigung sind diese Punkte unerlässlich.[27] 

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass wir innerhalb des kantischen Konstruktivismus verschiedene Ebenen der Normativität unterscheiden müssen. Basal ist die Verbindlichkeit des Rechtfertigungsprinzips als Prinzip der praktischen, rechtfertigenden Vernunft. Es besagt nicht nur, wie in praktischen Kontexten moralischer Relevanz reziprok-allgemeine Normen zu rechtfertigen sind, sondern dass dazu eine Pflicht und ein entsprechendes Recht besteht. Dieses Recht auf Rechtfertigung, welches aus dem Rechtfertigungsprinzip selbst folgt, ist das moralisch grundlegende Recht, und in politischen Kontexten ist es das einzige, wie man mit Kant sagen könnte, »angeborene« Recht, so wie er von einem »ursprünglichen« Menschenrecht auf Freiheit von der Willkür anderer in einem Rechtszustand spricht, in dem allgemeine Gesetze herrschen.[28] 

Eine zweite Ebene der Normativität ist die moralischer Normen, die sich einer strikt reziprok-allgemeinen Rechtfertigung verdanken – einem Verfahren des moralischen Konstruktivismus. Dabei sind, wie bereits bemerkt, Formen faktischer Rechtfertigung und Formen kontrafaktischer Rechtfertigung zu verbinden, also die größtmögliche Diskursivität gegenüber Betroffenen und die Reflexion auf die Rechtfertigbarkeit in einer umfassenden moralischen Gemeinschaft aller Menschen, die Teil der moralischen Rechtfertigungsgemeinschaft sind.

Auf der politisch-rechtlichen Ebene des politischen Konstruktivismus (innerhalb einer politischen Rechtfertigungsgemeinschaft) sind weitere Normativitäten zu unterscheiden. Auf einer basalen Ebene sind Menschenrechte und Grundprinzipien der Gerechtigkeit so zu begründen, dass sie eine Grundstruktur der Rechtfertigung bilden, in der die einer normativen Ordnung unterworfenen Subjekte Teil der allgemeinen Autorität werden, die über diese Ordnung befindet – und sie zugleich als rechtlich, politisch und sozial nicht-dominierte Gleiche geschützt werden, etwa durch 22Grundrechte.[29]  In Bezug auf Menschenrechte ist dabei zudem zwischen der Rechtfertigung einer allgemeinen Liste dieser Rechte und konkreten Formen davon zu unterscheiden. Jenseits der Ebene der Grundrechte und -prinzipien sind politisch-rechtliche Normen zu rechtfertigen, die einer Grundstruktur der Rechtfertigung entspringen und durch deren Verfahren, die fundamentale Gerechtigkeit realisieren, legitimiert sind. Sie bleiben aber, gerade dann, wenn sie Mehrheitsmeinungen entstammen, auf ihre grundsätzliche Rechtfertigbarkeit hin befragbar – hier haben diejenigen, deren reziprok-allgemein nicht zurückweisbare Ansprüche übergangen wurden, ein diskursives Vetorecht.

Auch auf der Ebene des politischen Konstruktivismus greifen faktische und kontrafaktische Rechtfertigung ineinander. So wichtig es ist, innerhalb einer Grundstruktur der Rechtfertigung (was ich fundamentale Gerechtigkeit nenne) demokratische und rechtesichernde Praktiken der Rechtfertigung zu installieren, so unabdingbar bleibt es, diese Verfahren wie auch ihre Ergebnisse auf ihre Rechtfertigbarkeit hin zu befragen und diese Befragung in einer kritischen, nach Kant »räsonierenden« Öffentlichkeit zu ermöglichen und auch selbst zu institutionalisieren – beispielsweise über bestimmte Formate wie Einspruchsrechte von Minderheiten oder deliberative Foren neben Formen des judicial review. Dies sind wichtige Schritte hin zu einer gerechtfertigten Grundstruktur (was ich vollständige Gerechtigkeit nenne), die eine regulative Idee im Kant’schen Sinne darstellt. Normative Ordnungen sind, im normativen Sinne gesprochen, Ordnungen, die das Ideal der noumenalen Republik, von dem Kant spricht, dadurch zu realisieren versuchen, dass die Stellung der Unterworfenen, die zugleich gesetzgebend sein sollen, immer weiter verbessert wird. Darin liegt politisch-moralischer Fortschritt.

Dabei darf dieses Ideal, das Kant »platonisch« nennt, nicht mit einem feststehenden, substanziellen Ideal wie in Platons Politeia verwechselt werden. Denn es handelt sich hier nur um ein formales Ideal, dessen reale Gestalt, entsprechend der kantischen Pointe, autonom entwickelt werden muss. Hier gibt es keine »ideale Theorie«, die nur »angewandt« werden müsste, sondern Prinzipien der 23Autonomie, die autonom zu entwickeln sind. Diese Entwicklung ist Teil kreativer kollektiver Selbstbestimmung.

Die Praxis der Rechtfertigung, ob moralisch oder politisch, ist somit stets zwischen den Welten angesiedelt – der Welt des faktisch Gerechtfertigten wie auch der des Rechtfertigbaren, welches immer weiter befragt werden kann. Hypothetische und reale Rechtfertigung bilden eine dialektische Einheit, die nach immer besseren Verwirklichungen der Praxis reziprok-allgemeiner Begründung verlangt, dabei aber jede solche Verwirklichung auf ihre Verfahren und ihre Ergebnisse hin mit denselben Kriterien befragt. Innerhalb einer normativen Ordnung, die eine Ordnung der Rechtfertigung und des Rechtfertigens ist und sein sollte, müssen Institutionen geschaffen werden, die solche Hinterfragung und die Möglichkeit echter Autor*innenschaft vorsehen.

Der kantische Konstruktivismus, so verstanden, macht im Kontext der Moral wie auch der Politik mit der Forderung nach autonomer Gesetzgebung Ernst. Insofern ist er ein kritischer Konstruktivismus, der selbst auf dem Grundsatz der kritischen Vernunft beruht, im Raum reziprok-allgemeiner Normen keine anderen Autoritäten anzuerkennen als die diskursive Gemeinschaft aller gemeinsam, gebunden allein an das Rechtfertigungsprinzip. So ist Autonomie eine Eigenschaft der Einzelnen und auch aller zusammen, und die praktische Vernunft ist eine individuell und gemeinsam ausgeübte – im wechselseitigen Geben und Nehmen von Gründen. Die Antwort auf die Frage nach der Begründung von Normen liegt in der Reflexion auf uns als begründende Wesen. So wird Autonomie möglich und die Einsicht leitend, dass es keine Begründung der Normativität aus nicht-normativen Tatsachen oder aus unhinterfragten Werten gibt. Ein empirischer Begriff des Wohlergehens etwa würde erst dadurch Teil einer moralischen Begründung, wenn aus ihm reziprok-allgemeine Gründe folgten, solches Wohlergehen zu fördern oder zu berücksichtigen, und die Rede »absoluter« Werte bekäme erst ihren moralischen Sinn, wenn das, was normativ aus ihnen folgte, reziprok-allgemein zu rechtfertigen wäre. Dies aber verweist darauf, dass der Status einzelner und aller, gleichberechtigte normative Autoritäten der Rechtfertigung zu sein, kategorisch gilt, wenn wir recht verstehen, was es heißt, Teil der Praxis der Rechtfertigung zu sein. Dies zu verstehen, heißt, zu sehen, dass in moralischen Kontexten, in denen wir uns unweigerlich vorfinden, 24die praktische Vernunft uns zu einer bestimmten Form der Rechtfertigung verpflichtet.

Wie Kant und viele andere[30]  argumentiert haben, führt keine nicht-moralische Überlegung in den Raum der Moral hinein, weder in Bezug auf die Begründung der Pflicht zur Rechtfertigung noch in Bezug auf moralische Motivation. Wer die Moral aus nicht-moralischen »Interessen« etwa heraus begründen will, wird nicht zu ihr gelangen; und wer sie aus nicht-moralischen Motiven verfolgt, handelt moralkonform, nicht aber moralisch. Der moralischen Autonomie entspricht die Autonomie der Moral. Diese aber erschließt kein eigenes Reich der Gründe oder Zwecke, das so etwas wie die wahre Wirklichkeit bildet, sondern sie folgt aus einer Reflexion auf das, was wir als praktische Wesen sind: einander verantwortlich. Die Form praktisch zu verantwortender Antworten steht uns in vielen Hinsichten, wenn es um das gute Leben geht, frei. Doch wenn es um das geht, was wir anderen moralisch schulden, sind wir bezüglich dieser Form nicht frei, denn die autonome Übernahme der Verantwortung ist an das Antwortenkönnen nach Maßgabe der praktischen Vernunft gebunden.

Die Moral insgesamt wie auch die Gerechtigkeit als Haupttugend politischer und sozialer Institutionen hat die Aufgabe, die Herrschaft der Willkür aus den menschlichen Beziehungen so weit zu verbannen, dass daraus keine Verletzung des Respekts resultiert beziehungsweise Formen von sozialer und politischer Beherrschung (domination: die Unterwerfung unter eine Ordnung ohne Rechtfertigung) entstehen. Autonomes Handeln steht gegen willkürliches, heteronomes Handeln; gerechte Ordnungen vermeiden die willkürliche Herrschaft der einen über die anderen. Willkür heißt dabei, ohne rechtfertigende Gründe zu handeln beziehungsweise zu herrschen. Der Gegenbegriff ist der der Würde; an ihr bricht sich die Willkür des Ungerechtfertigtseins und der Ungerechtigkeit. Dabei ist der Status der Würde kein reifizierter Status sozialer »Würdigkeit«, sondern materialisiert sich überall dort, wo Menschen ein Recht auf Rechtfertigung haben oder sich erkämpfen. Im idealen Fall einer noumenalen Republik wäre die gesamte normative Ordnung eine der Autonomie und der Realisierung des Rechts auf Rechtfertigung; in der Realität machen wir, wenn es gut geht, 25Schritte dorthin. Dies bedeutet nicht, dass innerhalb des gerechtfertigten Rahmens des Rechts Personen nicht ihrem willkürlichen Belieben nach handeln können – aber eben innerhalb dieses Rahmens, den sie als Teil der Gesetzgebung mitbestimmen.

Der kantische Konstruktivismus bringt eine kritische Theorie der Normativität zum Ausdruck, die die Autonomie Einzelner gemeinsam mit anderen betont und nicht verwendet werden kann, um Werte- oder Herrschaftsordnungen zu rechtfertigen, die diese Autonomie einschränken können. Alles, was zwischen Personen gilt, muss diese Geltung verdienen – hier gilt, was Kant über die reine Vernunft sagt, dass sie sich »in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen« muss und der Freiheit der Kritik »durch kein Verbot Abbruch thun« darf, »ohne sich selbst zu schaden«.[31]  Die Vernunft hat »kein dictatorisches Ansehen«, sondern ihr »Ausspruch [ist] jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger […], deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto, ohne Zurückhalten muß äußern können«.[32] 

Es gehört zum Wesen einer solchen kritischen Theorie der Normativität, dass sie sich auf ihre eigenen Begrenzungen hin selbstkritisch befragen muss. Was Kants Theorie selbst betrifft, dient sie dazu, die moralisch willkürlichen und diskriminierenden Abstufungen und Ausschließungen in Bezug auf politische Mitbestimmung aufgrund des Geschlechts und der wirtschaftlichen Stellung beziehungsweise den Wert bestimmter Kulturen und »Rassen«, die sich in seinem Werk finden, offenzulegen und zurückzuweisen.[33]  Und sie dient dazu, in der Erinnerung an die noumenale und kontrafaktische Auffassung von der gleichen Würdigkeit aller Menschen als Mitglieder der moralischen Verantwortungsgemeinschaft die moralisch willkürliche Festlegung dieser Mitgliedschaft auf Wesen zurückzuweisen, die aktuell im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind.[34]  Diese Festlegung verwechselt eine noumenale Bestimmung der vernunftbegabten menschlichen Natur mit einer empirischen Bestimmung der Wesen, die über das Vermögen der Vernunft aktiv 26verfügen können.[35]  An solche wird in einer kantischen Auffassung der Anspruch gestellt, moralisch verantwortlich zu handeln – dieser Imperativ gilt aber auch und gerade gegenüber denen, die noch nicht oder nicht mehr über solche Vernunft verfügen, etwa aufgrund von Alter oder Krankheit oder Zufällen der Geburt. Sie aus der moralischen Gemeinschaft hinauszudefinieren, ist in hohem Grade moralisch willkürlich.

Der Grundgedanke des kantischen Konstruktivismus ist ebenso einfach wie komplex: In Kontexten der Moral und der Politik sollten wir uns als noumenale, moralisch Gleiche verstehen, die gemeinsam die Autorität der Gesetzgebung nach Maßgabe der praktischen Vernunft als Vermögen der verantwortlichen Rechtfertigung bilden. Und dass wir solche Autoritäten, die wir im normativen Sinne immer schon sind, in Wirklichkeit auch werden, ist der Imperativ des kritischen kantischen Konstruktivismus.

2. Diskussionskontexte und Gang der Argumentation

Die folgenden Kapitel reihen sich, so zumindest meine Hoffnung, als Argumentationsschritte hin zu einer umfassenden Philosophie der Rechtfertigung ein, die moralphilosophische, sozialphilosophische und Themen der politischen Philosophie systematisch aufgreift und verbindet. Im dritten Teil wende ich diese Erkenntnisse auf aktuelle Krisenanalysen an, von denen ich denke, dass sie über den Tag hinausreichen.

Zugleich aber verdankt sich jedes Kapitel spezifischen Diskussionskontexten, die auch dann, wenn sie klassische Fragen aufgreifen, eine aktuelle Gestalt haben, einen Verlauf, in den ich eingreife. Das ist das Prinzip philosophischer und grundlagentheoretischer Forschung, und so schicke ich an dieser Stelle meinen Dank an die vielen Kolleg*innen summarisch voraus, die in den einzelnen Kapiteln jeweils genannt werden. Das Denken verläuft dialogisch, und jeder Text ist ein Gespräch mit bestimmten Anderen und eine 27Einladung an viele unbekannte andere, an ihm teilzunehmen. Das gilt nicht nur für eine Philosophie der Rechtfertigung.

Dass ich die ersten beiden Teile des Buches in »Grundfragen der Sozialphilosophie« und in »Kritische Politische Theorie« einteile, bedeutet nicht, dass ich mich der Unterscheidung zwischen Sozialphilosophie und politischer Philosophie gänzlich anschließen will, der zufolge Erstere es mit sozialen Fragen des »gelingenden Lebens« zu tun hat und Letztere primär mit Fragen der Gerechtigkeit innerhalb einer politischen Ordnung.[36]  Die Unterscheidung zwischen Fragen des Guten und des Gerechten ist wichtig, aber die moralphilosophischen Weichenstellungen, von denen ich ausgehe, haben zu klassischen Fragen der Sozialphilosophie, etwa der Bedeutung von Selbstbestimmung als sozialer Praxis, viel zu sagen, ohne dabei auf Begriffe des Guten rekurrieren zu müssen.

Das versuche ich bereits in Kapitel 1 zu zeigen, in dem ich im Anschluss an Rousseau, Kant und Marx eine wichtige Tradition kritischer Theorien der Entfremdung rekonstruiere, die diese nicht als Verfehlen des gelingenden Lebens verstehen, sondern als gebrochene Beziehung zu anderen und zu sich selbst als »eigentlich« gleichgestellten normativen Autoritäten im Bereich der Moral und des politisch-sozialen Lebens. Ich analysiere die fehlende Anerkennung durch andere und von anderen als moralisch beziehungsweise politisch Gleiche als Entfremdung erster Ordnung, während eine extreme Form der Entfremdung zweiter Ordnung in dem Fehlen des Bewusstseins seiner selbst als normative Autorität besteht. Autonomie im kantischen Verständnis dient als Schlüssel für die Überwindung solcher Formen der Entfremdung.

Nicht erst im postkolonialen Zeitalter, aber in diesem Zusammenhang besonders ist der traditionelle Fortschrittsbegriff der Aufklärung ins Zentrum der Kritik geraten, und es bedarf einer Rückversicherung der Kriterien gesellschaftlichen und moralischen Fortschritts. Dies ist das Thema von Kapitel 2. Wer nach der Rechtfertigung des Fortschritts fragt, sollte reflexiv nach den Fortschritten der Rechtfertigung fragen, also nach den Prozessen, in denen Personen (und Kollektive) Selbstbestimmung als normative Autoritäten erlangen, im sozialen und im politischen Leben. Wo dies 28gelingt, ist Fortschritt erkennbar, im Einklang mit Theoremen der Aufklärung wie auch postkolonialer Kritik. Dabei zeigt sich auch, dass der Gegensatz zwischen immanenter und transzendierender Kritik beziehungsweise zwischen historischen und universalistischen Begründungen von Normativität entschärft werden kann. Die Frage der Rechtfertigung entsteht in konkreten historischen Kontexten und weist zugleich über sie hinaus.

Der Begriff der Solidarität gehört zum Inventar normativer Grundbegriffe des sozialen und politischen Denkens, ist aber notorisch umstritten. In Kapitel 3 versuche ich zu erklären, weshalb das so ist. Ich zähle Solidarität zu den »normativ abhängigen« Begriffen, die einen konzeptuellen Kern haben, der sich erst durch die Kombination mit anderen normativen Quellen in bestimmten Kontexten zu Konzeptionen der Solidarität herausbildet, die zu unterscheiden sind. Dann wird der Streit um die »richtige« Bestimmung der Solidarität durchsichtiger, weil er ein Streit um anders gelagerte normative Betrachtungen des sozialen und politischen Lebens ist, die kollidieren können, wie etwa der solidarische Einsatz für emanzipatorische Gerechtigkeit mit einem nationalistischen Solidaritätsverständnis.

Ähnlich verhält es sich mit dem in Kapitel 4 diskutierten, schillernden Begriff des sozialen Zusammenhalts. Auch hier gilt es, sich nicht vorschnell auf ein bestimmtes normatives Verständnis desselben festzulegen, sondern zunächst deskriptiv die dabei relevanten Dimensionen zu analysieren, um anschließend mögliche normative Verwendungsweisen zu klären. Dann kann die Aufgabe der Ausarbeitung eines kritischen Verständnisses von Zusammenhalt aufgenommen werden, das auf die Problematik hinweist, dass soziale Exklusionen zuweilen als Maßnahmen der Befestigung von »Zusammenhalt« gerechtfertigt werden. Dies wird zu einem Gegenstand der Ideologiekritik.

In Kapitel 5 setze ich einen philosophischen Dialog mit Jürgen Habermas fort, der mein Denken seit Jahrzehnten begleitet und geformt hat. Die Frage, die ich in Form einer Interpretation seines zweibändigen Werkes Auch eine Geschichte der Philosophie hier weiterverfolge, geht, wie könnte es anders sein, auf Kant und Habermas’ Interpretation desselben zurück. Sie betrifft Grundfragen des Verhältnisses von Geschichte und Normativität und der Autonomie der Moral gegenüber »sittlichen« beziehungsweise ethischen und re29ligiösen Begründungen und Motivationen. Bleibt, so meine Frage, diese Autonomie im Lichte von Habermas’ Genealogie der Moderne intakt? In welcher Weise muss und darf sich das diskurstheoretische Verständnis kommunikativer Vernunft von einem kantischen Verständnis praktischer Vernunft unterscheiden?[37] 

Die Kapitel des zweiten Teils beginnen mit einem programmatischen Text zum rechtfertigungstheoretischen Verständnis von Wirklichkeit, wie es oben bereits angeklungen ist. Kapitel 6 geht von dem Gegensatz zwischen einer platonischen Vorstellung der Welt der Werte und einem in den Sozialwissenschaften, aber auch verstärkt in der politischen Theorie verbreiteten Verständnis von Realismus aus, das wenig Raum für normative Fragen und Überlegungen lässt, geschweige denn für die Autonomie der Moral. Ich versuche zu zeigen, dass die empirische Analyse der Rechtfertigungsordnungen, in denen wir uns faktisch bewegen, einerseits den Schlüssel für ein realistisches, aber eben noumenales Verständnis von Macht liefert – und dass andererseits die Frage der Rechtfertigung als normative Frage in solchen Analysen nicht ignoriert werden kann. Wir sind als Beobachter*innen normativer Ordnungen stets auch Teilnehmer*innen an ihnen, und besonders als solche können wir die Rechtfertigungsfrage als politisch-moralische Aufforderung nicht vermeiden. Aus dem empirischen Programm entwickelt sich so ein Programm kritischer Theorie als Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse.

In Kapitel 7 greife ich in die diversen Debatten um moralische, rechtliche und politische Verständnisse von Menschenrechten dergestalt ein, dass ich an ihre historische Entwicklung und ihren Sinn erinnere, Menschen einen Status als nicht-dominierte Gleiche zu sichern, die nicht nur durch das Recht geschützt sind, sondern es auch als politisch autonome Subjekte mitgestalten können. Von dort aus entwickle ich eine kantisch-konstruktivistische Theorie der Menschenrechte und ihrer diversen normativen Dimensionen auf der Basis des Rechts auf Rechtfertigung. Dieses Recht ist der Grund der Menschenrechte.

Die Diskussion über Fragen transnationaler Gerechtigkeit, die ich (wie auch die über Menschenrechte) schon länger aus der Perspektive kritischer Theorie in der Auseinandersetzung mit alternativen 30Theorieansätzen führe, setze ich in Kapitel 8 fort. Ich plädiere dabei für die Überwindung schlechter Gegensätze zwischen »idealen« und »realistischen« Ansätzen und zeige, wie eine kritisch-sozialwissenschaftliche Betrachtung von multiplen Kontexten der Beherrschung mit einer Reflexion auf Prinzipien der Rechtfertigung und Nicht-Beherrschung zusammengeführt werden muss. Eine Diskussion »praxisabhängiger« und alternativer, nicht-relationaler Ansätze öffnet den Raum für eine dritte Position, die von einem kritischen Verständnis politischer und sozialer Praxis ausgeht und verzerrte Darstellungen der strukturellen Ungerechtigkeit vermeidet, die transnationale Kontexte kennzeichnen.

In der Fortsetzung meiner Arbeiten zum Begriff »noumenaler Macht« und in Antwort auf einige Kritiken wende ich mich in Kapitel 9 dem Rätsel zu, wie es zusammenpassen kann, dass strukturelle Beherrschung in vielen Analysen als anonym und »gesichtslos« präsentiert, zugleich aber als Ungerechtigkeit kritisiert wird, die mit bestimmten Verantwortlichkeiten sozialer Akteure verbunden ist. Ich schlage zur Lösung dieses Rätsels ein Verständnis struktureller Macht und Beherrschung vor, das Strukturen als Ermächtigung beziehungsweise Entmächtigung von Gruppen und Akteuren betrachtet, die als Strukturen der Ungerechtigkeit zu analysieren sind, sodass Verantwortlichkeiten benannt werden können, ohne diese Strukturen in ihrer Komplexität zu reduzieren. Anders bliebe die Frage der Emanzipation ortlos.

Daran anschließend greife ich in Kapitel 10 eine prominente Debatte in der Gerechtigkeitstheorie auf, die nach der Vereinbarkeit zwischen einem kantischen Gerechtigkeitsverständnis wie dem von Rawls und der konsequenzialistischen Theorie des Glücks- oder Schicksalsegalitarismus fragt. Ich argumentiere sowohl im Rückgang auf Rawls als auch aus prinzipiellen Erwägungen der Gerechtigkeit heraus für eine paradigmatische Unvereinbarkeit der Ansätze – nicht zuletzt deshalb, weil der luck egalitarianism, der die Unterscheidung zwischen zurechenbaren Entscheidungen und nicht zu verantwortenden Umständen starkmacht, in den Widerspruch gerät, soziale moralische Willkür durch den Gebrauch einer moralisch äußerst willkürlichen Unterscheidung zu überwinden zu suchen.

In der neueren politischen Theorie des Neorepublikanismus haben insbesondere Quentin Skinner und Philip Pettit ein Ver31ständnis von Nicht-Beherrschung (non-domination) verteidigt, das diese als Schutz vor möglicher Willkür durch andere versteht. Im Rückgang auf Kant (und zentrale Gedanken des deutschen Idealismus, wie sie auch in Axel Honneths Anerkennungstheorie zu finden sind) entwickle ich ein alternatives republikanisches Verständnis von Nicht-Beherrschung, das die Bedeutung politischer Autonomie gegenüber dem Schutz von persönlicher Wahlfreiheit hervorhebt. Anhand des Gedankenexperiments einer neorepublikanischen Maschine, die sichere Freiheitsräume von Individuen ausrechnet, ohne politische Autonomie zu ermöglichen, zeige ich, wieso ein kantisches Verständnis von Autor*innenschaft innerhalb einer normativen Ordnung für den Republikanismus unabdingbar ist.

Die Texte des dritten Teils stellen politische Interventionen dar, in denen ich meine Überlegungen zu Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit und Macht zur Analyse von gesellschaftlichen Entwicklungen nutze, die eine umfassende Perspektive nötig machen. Denn die Theoriebildung, die in den ersten beiden Teilen des Buches dokumentiert ist, vollzieht sich nicht im luftleeren Raum; sie bleibt auch hier im Gespräch mit zeitgenössischen Analysen und insbesondere Krisendiagnosen, vor oder in der Coronapandemie, die einen Einschnitt in der Geschichte der politischen Entwicklung hin zu dem markieren könnte, was man eine »Weltungewissheitsgesellschaft« nennen kann.

In Kapitel 12 stelle ich eine Diagnose der Krise der Demokratie vor, die diese in zwei Hälften zerfallen sieht, die nicht mehr zueinander und zu den Herausforderungen der Zeit passen. Auf der einen Seite entwickeln sich autoritäre Populismen, die regressive, nationalistische Vorstellungen der Herrschaft des »Volkes« und der Rückgewinnung von »Kontrolle« propagieren, während auf der anderen Seite Alternativen stehen, die keine hinreichenden demokratischen Antworten auf die Herausforderungen transnationaler ökonomischer und ökologischer Realitäten und Gefahren entwickeln können. So kommt zu einer Strukturkrise der nationalstaatlichen Demokratie eine Rechtfertigungskrise derart hinzu, dass ihr ihr eigener Begriff verrutscht und die politische Vorstellungskraft über die Rückgewinnung demokratischer Macht verloren geht.

Das Verhältnis von Wahrheit und Macht steht im Zentrum von Kapitel 13, nicht erst seit der Pandemie ein viel diskutiertes The32ma, sondern im Zeitalter digitaler (Fehl-)Kommunikation und »alternativer Fakten« ein zentraler Topos der gesellschaftlichen Selbstverständigung und Besorgnis. Ich unterscheide verschiedene Kategorien von Wahrheit, die in einer normativen Ordnung der Rechtfertigung berücksichtigt werden müssen, aber auch die übergeordnete Wahrheit der Demokratie, dass sie nur als Praxis der an Wahrheit orientierten politischen Rechtfertigung normativ gedacht werden kann. Deshalb ist eine machtkritische Theorie der Demokratie vonnöten.

Es folgen zwei Reden, die ich in der für die deutsche Demokratiegeschichte so wichtigen Frankfurter Paulskirche halten durfte. In der Erinnerung an Thomas Mann, den Exil und Krieg zu einem Weltbürger machten, diskutiere ich verschiedene Aspekte dessen, was ich die »Verwahrlosung der Demokratie« (Kapitel 14) nenne, insbesondere neuere Versionen dessen, was Mann als »völkische Rüpel-Demokratie« bezeichnete. Die Demokratie darf nicht zum Instrument der rücksichtslosen Selbstermächtigung von Mehrheiten zu Lasten von Minderheiten oder Machtlosen verkommen.

Anlässlich des 30. Jahrestages der Deutschen Einheit trug ich einige Überlegungen dazu vor, was angesichts der komplexen historischen Umstände seit 1990 eigentlich mit »demokratischer Einheit« gemeint sein kann und wie es sich von dem abhebt, was viele darunter verstanden haben (Kapitel 15). Eine solche Einheit muss eine reflexive sein, die in sich den Konflikt austrägt, was ihre Ziele und Mittel sind, und sie muss als Lernprozess gedacht werden, der Fehler eingesteht und künftig zu vermeiden sucht. Vor allem bewährt er sich in der Auseinandersetzung, die stereotype Polarisierungen vermeidet und die sozialen Kräfte klar benennt, die demokratischer Entwicklung entgegenstehen, ob sie nun ökonomischer, politischer oder kultureller Art sind.

Ob die gesellschaftliche Krise, die die Pandemie in allen Gesellschaften der Welt darstellt, zu einer Krise der Demokratie werden kann, hängt von vielen Faktoren ab, die ich in Kapitel 16 diskutiere. Krisen, die mit umfassenden solidarischen kollektiven Leistungen beantwortet werden, können künftige Möglichkeiten aufzeigen, aber die strukturellen Bedingungen und kulturellen Selbstverständnisse, die dafür den Rahmen bilden, zeitigen die Gefahr der Regression. Dies offenbart sich in einem autoritären Verständnis politischer Maßnahmen, in einer nationalistischen Engführung 33von Solidarität und der ungenügenden Reflexion auf die globale Tragweite dieser Problematik. Die Frage der Entwicklung der politischen Imagination und institutioneller Formen transnationaler Politik erweist sich einmal mehr als die Zukunftsfrage der Demokratie.

Ich habe die dialogische Struktur des Denkens betont, zumindest des meinigen. Dazu gehören auch weitere, oben teilweise bereits zitierte wichtige Diskussionen, die ich hier nicht mit aufgenommen habe, etwa eine neuere Analyse von John Rawls’ Kantianismus,[38]  eine Auseinandersetzung mit Thomas Scanlons Kontraktualismus[39]  oder mit Arthur Ripsteins neuester Kantinterpretation.[40]  Ich verweise hier auf sie, ebenso wie auf meine Beiträge zu Festschriften für Nancy Fraser[41]  und Christoph Menke[42]  oder meine Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie von Allen Buchanan.[43]  Die Genannten und viele mehr waren und sind unentbehrliche Gesprächspartner*innen. So bewegt sich das Denken – wenn es gut geht, nach vorne.

Seit dem Erscheinen von Normativität und Macht hatte ich das große Privileg, über eine Reihe kritischer Essays hochgeschätzter Kolleg*innen zu meinen Arbeiten nachdenken und auf sie antworten zu dürfen.[44]  Diese Beiträge sind jeweils gebündelt in Symposien von Zeitschriften oder eigenen Bänden erschienen.[45]  Meine 34jeweiligen Repliken habe ich ebenfalls nicht mit in den Band aufgenommen, aber sie stellen wichtige Meilensteine für die Klärung und Weiterentwicklung meines Denkens dar. In meiner Erwiderung auf Simone Chambers, Lea Ypi und Stephen White stelle ich zentrale Aspekte einer kritischen Theorie der Politik dar, wie ich sie verstehe.[46]  In der Antwort auf Seyla Benhabib, Jeff Flynn und Matthias Fritsch gehe ich insbesondere auf die Fragen der Geschichtlichkeit der Begründung des Rechts auf Rechtfertigung und auf diverse demokratietheoretische und moralphilosophische Aspekte meines Ansatzes ein.[47]  In den Repliken auf Kritiken eines Texts über Grundrechte, der eine ausführliche Diskussion diverser Rechtetheorien, inklusive der von Habermas, enthält,[48]  erläutere ich im Dialog mit Laura Valentini, Glen Newey, Marcus Düwell und Stefan Rummens meine Konzeption von Rechten und führe sie fort.[49] 

Die Theorie noumenaler Macht hat ebenfalls eine Reihe von ausführlichen und herausfordernden Kritiken auf sich gezogen, unter anderem von Albena Azmanova, Clarissa Hayward, Steven Lukes, Simon Susen, Pablo Gilabert, Mark Haugaard und Matthias Kettner, auf die ich in einer Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen dieser Theorie reagiert habe.[50]  Einige dieser Gedanken sind in Kapitel 9 eingeflossen. Meine Konzeption von Macht, aber auch von Rechtfertigung, Respekt, Entfremdung und Ungerechtigkeit war der Gegenstand von Kritiken durch Amy Allen, Sarah Clark Miller, Melissa Yates, Catherine Lu, John McCormick, Mattias Iser und John Christman, die mich ebenfalls zu einer umfassenden Replik motivierten.[51] 

Grundfragen des Rechts auf Rechtfertigung an der Schnittstelle zur Rechtsphilosophie und zum Verfassungsrecht, aber auch Fragen der Macht spielten eine wichtige Rolle in den Kritiken von Ar35thur Ripstein, Andrea Sangiovanni, Claudio Corradetti, Christian Hiebaum, Bernhard Schlink, Sameer Bajaj und Enzo Rossi, Lois McNay, Matthias Klatt, Eoin Daly, Alon Harel, Christian Rostbøll und Ester Herlin-Karnell, auf die ich in einer größer angelegten Antwort einging.[52]  Schließlich forderten Teresa Bejan, Chandran Kukathas, John Horton, Daniel Weinstock, Melissa Williams, Patchen Markell und David Owen meine Theorien der Toleranz, der Rechtfertigung und der Macht mit ihren Texten auf eine so pointierte Weise heraus, auf die ich wiederum nur mit einer detaillierten Erwiderung antworten konnte.[53] 

Wenn ich bei alldem Fortschritte gemacht habe, die in diesen Repliken und in den hier versammelten Überlegungen sichtbar sind, dann aufgrund solch herausragender Kolleg*innen, die mich im Sinne des Zwangs zum besseren Argument dazu brachten. Ihnen und künftigen Kritiker*innen sei Dank.

37I. Selbstbestimmung mit und gegenüber anderen: Grundfragen der Sozialphilosophie

391. Noumenale Entfremdung. Die Dialektik der Selbstbestimmung bei Rousseau, Kant und Marx* 

Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird.

(MdS, 6: 437)[1] 

1. Entfremdung und das Unveräußerliche

Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, Entfremdung als eine bestimmte Form individueller und sozialer Heteronomie aufzufassen, die nur durch ein dialektisches Zusammenspiel von individueller und kollektiver Autonomie überwunden werden kann: indem Personen den in einem deontologischen Sinne zu verstehenden Status erlangen, der ihnen gebührt, nämlich gleichgestellte normative Autoritäten innerhalb normativer Ordnungen zu sein. Dabei verwende ich den Begriff Entfremdung nicht in seiner Bedeutung als »Veräußerung« oder »Entäußerung«. Damit bezeichnen Kant, Hegel und Marx bestimmte Formen von Externalisierung, etwa die Übertragung von Eigentum oder die Vergegenständlichung der eigenen Arbeitskraft als Ware. Im Anschluss an Rousseau betonen sie, dass einige dieser Varianten der Externalisierung zu Entfremdung 40führen, da sie moderne Formen der Sklaverei mit sich bringen, die ein, vielleicht sogar der paradigmatische Fall sozialer Entfremdung ist. Dies stützt meine These, Entfremdung als Verlust oder Verneinung von Autonomie zu verstehen; eine These, die nicht, wie es in den meisten Theorien der Entfremdung der Fall ist, auf einer bestimmten Vorstellung von Authentizität beruht.

Der Entfremdungsbegriff ist für hegelianische und marxistische Varianten der Gesellschaftskritik zentral,[2]  wobei Rousseaus Philosophie zu Recht als wichtige Quelle dieses Diskurses betrachtet wird. Dagegen wird die bedeutende Rolle von Kant weitgehend ignoriert, was zu einem einseitigen Verständnis von Entfremdung führt, das Gefahr läuft, die moralische und politische Pointe des Begriffs zu vernachlässigen.[3]  Übersieht man die in meinen Augen wesentlichen deontologischen moralischen und politischen Elemente, wird Entfremdung primär als Sichselbstfremdwerden, gekoppelt mit sozialer Distanz, verstanden, oder in den Worten von Rahel Jaeggi: als eine Form der Beziehungslosigkeit zu sich selbst und zu anderen, im Sinne einer gescheiterten »Aneignung« des eigenen Selbst und der eigenen sozialen Umwelt.[4]  Der Fokus liegt dabei auf bestimmten qualitativen Aspekten eines unauthentischen Selbstverhältnisses und der Beziehung zu Anderen – sowie auf dem »Selbstverlust« oder »Sinnverlust«, der in ihnen begründet liegt, und dem Mangel an sozialer »Resonanz«, wie man mit Hartmut Rosa sagen könnte.[5]  Man ist nicht, wer man »eigentlich« ist (oder sein will oder sein sollte). Die entsprechenden sozialen »Pathologien«, in Axel Honneths Terminologie, werden im ethischen Sinne als Mangel an Selbstidentifikation oder Selbstverwirklichung analysiert und letztlich als Verlust gewisser notwendiger Bedingungen des guten Lebens bestimmt. Honneth zufolge markiert Rousseaus Kritik der Entfremdung den Beginn der modernen Sozialphilosophie, die »nicht länger nach den Bedingungen einer richtigen oder gerechten Gesellschaftsordnung« fragt, sondern die »Beschränkun41gen [erkundet], die die neue Lebensform der Selbstverwirklichung des Menschen auferlegt.«[6] 

Um die Bedeutung eines nicht-entfremdeten Lebens philosophisch auf den Begriff zu bringen, wird nach dieser Theorietradition ein (zumeist anthropologisch begründetes) Verständnis des authentischen und guten Lebens als wahre Verwirklichung eines eigentlichen Selbst benötigt. Doch bevor wir diesem Weg folgen und substanzielle Begriffe des Guten – oder ethische Konzeptionen nicht-entfremdeter personaler Identität[7]  – formulieren, um die normativen Grundlagen für die Analyse sozialer Entfremdung zu bestimmen, lohnt es sich, Kants Rolle in der Entwicklung des Entfremdungskonzepts in Betracht zu ziehen. Obwohl Kant nicht explizit über »Entfremdung« gesprochen hat, lehrt uns seine moralische und politische Philosophie etwas sehr Wichtiges für jede kritische Gesellschaftsanalyse der Entfremdung, das auch für unser Verständnis von Marx höchst relevant ist. Mehr noch, so gelangen wir zu einer gänzlich anderen Sichtweise auf Fragen der Entfremdung.

Wenn wir in kantischen Begriffen über Entfremdung nachdenken, liegt ihre Hauptquelle im Aberkennen beziehungsweise Verweigern des Status oder, im Extremfall, im Verlust des Selbstverständnisses als gleichberechtigte, rationale – im kantischen Sinne »noumenale« – normative Autorität, anders gesagt als Mitglied eines »Reichs der Zwecke«. Die erstgenannte Art der Entfremdung, bei der Personen ihr gleichberechtigter Status als normative Autorität – oder als »Zweck an sich selbst« – in moralischen oder politischen Kontexten abgesprochen wird, nenne ich noumenale Entfremdung erster Ordnung, da in dieser sozialen Situation kein angemessenes wechselseitiges Erkennen und Anerkennen voneinander als Gleiche gegeben ist. Den zweiten Typ der Entfremdung, bei dem ein Subjekt sich selbst nicht als gleichberechtigte normative Autorität versteht, nenne ich noumenale Entfremdung zweiter Ordnung (die wie die erste auch in einer moralischen und politischen Form vorkommt). Im Anschluss an Rousseau und Hegel wurde vielfach gezeigt, wie die erste Art der Entfremdung zur zweiten führen kann. Viele in dieser Tradition – die hauptsächlich auf Hegel zurückgeht 42und Kojèves und Sartres einflussreichen Theorien folgt[8]  – nehmen an, dass soziale Entfremdung zu Selbstentfremdung und einem Verlust von Selbstachtung führt.[9]  Eine notwendige kausale Beziehung kann hier allerdings nicht bestehen, da sonst der Kampf um Anerkennung derer, die sich in ihrer Würde als normative Autoritäten verletzt sehen, nicht in Gang käme.[10] 

Aus kantischer Perspektive müssen moralische und politische Formen noumenaler Entfremdung als Formen der Heteronomie analysiert werden: Ein entfremdetes Leben zu führen, bedeutet demnach, dass eine Person keinen Status, keine soziale Stellung als gleiche moralische und politische, normative Autorität hat – gegenüber anderen als auch (möglicherweise) gegenüber sich selbst. Sie wird entsprechend fremdbestimmt. Formen der Entfremdung politisch und moralisch zu kritisieren und zu überwinden, setzt folglich bestimmte Ideen und Praktiken individueller und kollektiver Selbstbestimmung, als Ausübung normativer Autorität und Autorschaft, voraus. Dies schließt qualitative Aspekte des Selbst- und Fremdverhältnisses ein, die ich unter der Rubrik Autorisierung analysiere, die allerdings nicht in ethischen Begriffen des guten Lebens fundiert sind. Vielmehr sind sie in einer Reflexion darauf begründet, was es bedeutet, ein autonomes, vernunftbestimmt handelndes Wesen und ein aktives Rechtfertigungssubjekt zu sein: eine gleichberechtigte normative Autorität im noumenalen Raum der Gründe, der im gesellschaftlichen und politischen Leben der Raum der Rechtfertigungen ist. Noumenale Entfremdung entsteht aus einem Mangel an Anerkennung (erste Ordnung) oder einem Mangel an Achtung seiner selbst (zweite Ordnung) als gleichberechtigte Autorität der Rechtfertigung, die ein gleiches Recht auf Rechtfertigung besitzt.[11]  In diesem Sinne verletzt Entfremdung die Würde von Menschen als moralische und politische Gesetzgeber – eine Würde, die Rousseau, Kant und Marx als unveräußerlich (inaliénable) gilt: Sie mag abgesprochen oder verletzt, aber sie kann im moralischen Sinne nicht verloren werden. Hier liegt die moralische Bedeutung 43der Rede von etwas Unverlierbarem, von dem, was wir »eigentlich« sind beziehungsweise was uns zusteht. Die ethische Deutung des Begriffs der Entfremdung (auf die ich zurückkomme) unterschlägt diese zentrale Bedeutung, die die Brücke zu historischen Emanzipationsbestrebungen und zu den Menschenrechtserklärungen schlägt.