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Die Oderberger Straße war zu DDR-Zeiten ein Biotop für Künstler und Unangepasste. Auch die Bürgerrechtlerin Freya Klier und ihre Tochter Nadja lebten hier zehn Jahre lang. In diesem Buch begeben sie sich auf Spurensuche in die wechselvolle Geschichte der Straße und ihrer Bewohner – von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis in die Zeit nach dem Mauerfall, als plötzlich überall Galerien, Kneipen und Kulturprojekte in die alten Häuser einzogen.
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Seitenzahl: 144
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Nadja & Freya Klier
Die Oderberger Straße
Berliner Orte
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ebook im be.bra verlag, 2017
© der Originalausgabe:
be.bra verlag GmbH
Berlin-Brandenburg, 2017
KulturBrauerei Haus 2
Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
Lektorat: Marijke Topp, Berlin
Umschlag und Titelfoto: Manja Hellpap, Berlin
ISBN 978-3-8393-6159-7 (epub)
ISBN 978-3-89809-140-4 (print)
www.bebraverlag.de
Vorwort
1873: Eine Straße wird gebaut
1883: Die Feuerwache
1902: Stadtbad Oderberger Straße
Der Erste Weltkrieg
1923–1945: Krise, Licht und Dunkelheit
1945–1961: Irmgard Grätz
1961: Der Mauerbau
1961: Kanalflucht im Oktober
1963: Der Tunnel
1963/64: Bewegung über und unter der Erde
1968: Wenn Thälmann das wüsste …
1975: Das obere Ende der Straße
1978: Wir ziehen in die Oderberger Straße
1978: Makaber. Absurd. Schizophren.
1979: Ein Spielplatz muss her!
1985: Rahman Satti und die Bronx
1985: Der Hirschhof
Späte achtziger Jahre: Zeitgenossen, unangenehm
1986: Den Himmel sehen!
1987: Es wird eng
1988: Unfreiwilliger Abschied
25. Januar bis 2. Februar 1988
November 1989: Spaziergang in die Freiheit
1989: Von West nach Ost
Nachwende- & Zwischenzeit
Anfang der 2000er: Kiezkantine, Krause, Klier
Anfang der Neunziger: Indians in der Oderberger
2016: Schwimmen in Erinnerungen
Die Autorinnen
Nadja
Zwei Autorinnen – Ein Buch
Wenn ich große Schritte mache, dann brauche ich fünfundsechzig davon, um von der Hauswand unserer Nummer 45 zur schräg gegenüberliegenden Hauswand der Nummer 20 zu laufen. Direkt gegenüber steht kein Haus; es klafft eine Lücke in der Fassade. Einen großen Hof, auf den LKWs rein- und rausfahren, und eine Autowerkstatt kann man sehen. Ich entdecke das Gelände als heimliche Abkürzung zu meinem Kindergarten, der in der Eberswalder Straße liegt.
Meine Schritte sind die einer Fünfjährigen und demzufolge brauche ich einige mehr als ein Erwachsener. Die Schritte vom Beginn der Oderberger Straße 1 an der Ecke zur Schönhauser Allee, vorbei am Stadtbad auf der gegenüberliegenden Seite, über die Kastanienallee und vorbei an der Feuerwehr bis zur Mauer, hab ich dann nicht mehr gezählt. So weit kann ich mit fünf Jahren auch noch nicht zählen. Bis ganz ran an die Mauer darf man sowieso nicht, dort stehen Polizisten, die streng gucken. Ich hätte die Schritte also schätzen müssen und das wäre ungenau gewesen. Abgelenkt von den vielen Eindrücken, die mir diese Straße bei unserem Einzug mit meiner Mutter Freya 1978 bietet, ist es wohl auch nicht so wichtig, wie viele Schritte ich gebraucht hätte.
Die Oderberger ist nicht so lang wie andere Straßen, dafür aber doppelt so breit. Ein wunderbar weitläufiger Spielplatz. Ein schönes Schwimmbad gibt es auch, in dem ich später viel Zeit verbringe und schwimmen lerne. Und eine Feuerwehr mit imposanten Fahrzeugen. Meine Mutter ist Schauspielerin, wir haben vorher in Senftenberg gewohnt und sie will hier Regie studieren. Wir ziehen also nach Berlin. In die Oderberger Straße.
Bevor ich schon im Vorwort alles erzähle, will ich sagen, dass meine Mutter und ich zehn Jahre in dieser Straße gelebt und vieles erlebt haben. Wir versuchen, mit diesem schönen kleinen Buch, also gemeinsam, jede aus ihrer Perspektive, unsere ganz persönlichen Erinnerungen zu erzählen und einen Bogen zu spannen: Vom historischen Teil der Straße und ihrer Entstehung im vorletzten Jahrhundert über zwei barbarische Kriege, zwischen denen die Weimarer Republik »eingeparkt« war, über die Wirtschaftskrise und den Nationalsozialismus. Dann geht der Bogen weiter vom Wiederaufbau in der sowjetisch besetzten Zone und der Gründung der DDR zum Bau der Berliner Mauer im August 1961, dem Moment, in dem die Oderberger Straße zur Sackgasse wurde und die Menschen für achtundzwanzig Jahre in der DDR eingeschlossen waren.
Wie lebt es sich in der Straße, an deren Ende ein Podest hinter der Mauer steht, von dem aus die restliche Welt in die Straße schauen kann wie in ein Aquarium? Wie hält man den Sozialismus aus, ohne kaputtzugehen? Viele Künstler, die in der Straße wohnen, beleben sie mit ihrer Kunst und ihrer kleinen Sturheit, an ihren Ideen festzuhalten und nicht vor dem System einzuknicken. Wie Wolfgang Krause mit seinen Installationen oder die Hirschhof-Leute, Mitglieder einer der ersten Bürgerbewegungen der DDR überhaupt, die mit ihrer Initiative die Straße letztendlich vorm Abriss retten.
Der Hirschhof ist ein beliebtes Ziel bei Alt und Jung. Meine Mutter spielt mit ihrem Mann Stephan Krawczyk im Hirschhof Theater, ich spiele mit den Jungs Verstecken.
Er wird allerdings auch ein beliebtes Ziel beim Ministerium für Staatssicherheit. Bald gibt es eine Akte zum Hirschhof, in der jede Aktivität peinlich genau festgehalten wird, was auf die hohe Anzahl von Spitzeln allein in der Oderberger Straße schließen lässt.
Meine Mutter und Stephan bekommen Berufsverbot und werden, als es politisch ganz eng wird, verhaftet und müssen die DDR verlassen. Ich mittendrin.
Die DDR existiert danach noch knappe zwei Jahre, dann bricht das System zusammen.
Oft gehe ich in den Jahren nach dem Mauerfall zurück in die Straße, die sich allmählich wieder aus dem Sackgassenstatus herausschiebt. Zu lange verharrte sie in diesem Zustand. Ich versuche, mich zu erinnern, Revue passieren zu lassen. Freya inszeniert 1991 ein Stück über deutsche Männerbünde mit Schauspielern aus beiden Teilen Deutschlands im benachbarten Prater, ein letzter Akt in Sachen Theater.
Ich bin öfter dort, erlebe, wie sich die Straße im Jahresrhythmus wandelt, und werde Zeuge von intelligenten Zwischennutzungen, jahrelangen Modernisierungen mit den dazu gehörigen Rechtsstreits um die Grundstücke, auch beim Hirschhof und dem Austausch der Bevölkerung in dieser Straße.
Bis heute ist unheimlich viel passiert. Und für ein wirklich rundes Bild dieser Straße haben wir nochmal mit vielen ehemaligen Bewohnern gesprochen, die sich für das Buch an ihre Zeit in der Oderberger erinnert haben, und auch die umfangreichen Recherchen zu unserem Dokumentarfilm über die Oderberger Straße sind mit eingeflossen. Menschen, die das Leben in der Straße gut kennen, kommen hier zu Wort. Aber nun eins nach dem anderen. Springen wir hundertfünf Jahre zurück.
Nadja
Interessanterweise zeigt die Oderberger Straße gar nicht in Richtung Oderberg, der kleinen Stadt an der Oder kurz vor der Grenze zum heutigen Polen. Betrachtet man die Namen der umgebenden Straßen, so zeigt sich, dass sich die Städteplaner Ende des 19. Jahrhunderts, während eines beispiellosen Baubooms, zur Benennung der Straßen in diesem Viertel einen geografischen Abschnitt nordöstlich von Berlin ausgesucht haben. Anklamer, Bernauer, Choriner, Eberswalder, Kremmener, Schwedter, Stettiner und Swinemünder Straße – alle sind nach Dörfern oder kleinen Städten benannt, die zwischen Berlin und der Ostsee, zwischen Spree und Oder liegen. Nur zufällig zeigt die Anklamer Straße in die Richtung ihrer Namensgeberin. Die einzigen Ausnahmen sind die Kastanienallee und die Zionskirchstraße.
An dem Ende der Oderberger Straße, wo sich heute der Mauerpark mit all seinem Gewächs und Gewühle ausbreitet, steht 1873 ein Güterbahnhof. Kein durchgehender wie der Stettiner Bahnhof an der Invalidenstraße, sondern ein Kopfbahnhof. Davon hat Berlin einige zu dieser Zeit. Von Gesundbrunnen her fährt die Nordbahn ein und transportiert alles Mögliche in die stetig wachsende und pulsierende Metropole: Baumaterial, Tiere, Waren des täglichen Bedarfs, Lebensmittel und permanent neue Menschen, viele von ihnen aus Oberschlesien und Pommern.
Das kurze Stück der Oderberger Straße mit Stadtbad, um 1900.
So wird die Oderberger Straße von 1871 bis 1873 unter der preußischen Regierungskommission im Zuge des Stadterweiterungsplans als Verbindungsstück zwischen Schönhauser Allee und Bernauer Straße angelegt. Die Oderberger weicht, wie auch die schwesterliche Schwedter Straße, leicht sternförmig von diesem zu jener Zeit immer noch im Bau befindlichen Bahnhof in südöstlicher Richtung ab.
Einen signifikanten Unterschied zwischen den Straßen, die beide an nicht weit entfernten Stellen auf die Schönhauser Allee stoßen, gibt es jedoch: Die Oderberger ist nämlich die dicke kleine Schwester der zehn Jahre älteren Schwedter Straße. Nur knappe sechshundert Meter lang, dafür aber anderthalb mal so breit wie die Schwedter. Bequem passen hier die Pferdefuhrwerke zum Be- und Entladen der Güterzüge aneinander vorbei. Gemütlich kann man flanieren, anders als auf den sonst so engen Straßen mit dem anwachsenden Verkehr. Und weil so viele Menschen allerorts in die Hauptstadt quellen, schießen die Mietskasernen aus dem Boden wie Champignons nach einem warmen Sommergewitter. Der Prenzlauer Berg ist sehr bald der am dichtesten besiedelte Bezirk Berlins. Die Grundstücksbreite beträgt meist achtzehn Meter, die Traufhöhe der Häuser zweiundzwanzig Meter vom Boden bis zur Regenrinne. Dazwischen vier, manchmal auch fünf Geschosse mit jeweils zwei bis vier Wohnungen von fünfzehn bis neunzig Quadratmetern, je nachdem, ob Vorderhaus oder Hinterhaus, in denen jeweils drei- bis siebenköpfige Arbeiterfamilien in einfachsten Verhältnissen leben. Außentoiletten, Kohleöfen, eine Waschküche für alle im Erdgeschoss sind normal. Die größeren Wohnungen der ersten beiden Etagen der Vorderhäuser mit Dienstmädcheneingang hinter dem Berliner Zimmer im Seitenflügel sind den Privilegierten und Besserbetuchten vorbehalten. Meist reihen sich drei Hinterhöfe aneinander und oft gibt es kleine Remisen im hintersten Hof, in denen verschiedenste Handwerker ihre Arbeiten ausführen. Kerzenlicht und Gas erhellen die dunklen Treppenhäuser und Höfe – elektrischer Strom wird erst knappe vierzig Jahre später in die Häuser Einzug nehmen. Gaslaternen säumen auch den Rinnstein, in den die Bewohner Ausgüsse aller Art versenken. So auch in der Oderberger Straße.
Nadja
Enger und enger leben nun bald Millionen Menschen aufeinander. Die dicht beieinanderliegenden Dörfer oder Kleinstädte sind noch keine Bezirke von Berlin. Sie werden nach und nach integriert. Charlottenburg ist bis 1880 noch eine eigene kleine Stadt, ebenso Schöneberg.
Das Gebiet um die Oderberger Straße ist Teil der zur Stadt Berlin gehörenden Feldmark und wird erst 1920 zu Berlin eingemeindet. Doch die Struktur der Straßenbauplanung sieht ein kontinuierliches Flächennetz vor, welches sich Richtung Nord-Nordost ausbreitet und Straßen, Plätze und Betriebe zur städtischen Versorgung beinhaltet.
Der Bauboom startet gerade erst und noch ist nicht die ganze Straße mit Mietskasernen zugebaut, auch die Fassaden sind noch nicht einheitlich geschlossen. Vereinzelt stehen dreigeschossige Häuser mit flachem Dach oder niedrigem Dachstuhl in den Straßen, doch der akute Platzmangel und der steigende Wohnungsbedarf fordern, dass angebaut und aufgestockt wird. Und nach oben ist noch Luft … Selbst aus den Kellern werden bald Wohnungen. Die geschlossene Blockbauweise fünfgeschossiger Mietskasernen etabliert sich in der gesamten Innenstadt. Berlin wird 1871 zur Reichshauptstadt ernannt und vollgepumpt mit Geldern, die hauptsächlich aus der Kriegsentschädigung für den Deutsch-Französischen Krieg stammen.
Die »Weiße Abteilung« der Oderberger Straße, die Feuerwehr.
Wo so viele Menschen dicht aufeinander leben und so viel Gas und Kerzenlicht gebraucht wird, entstehen leicht Brände. Eine Feuerwache wird gebaut, auf dem Doppelgrundstück am Ende der Oderberger Richtung Mauerpark mit den Hausnummern 24/25. Sie entsteht 1883, in bisher bekannter Bauweise, ein sehr hübsch anzusehender Zweigeschosser aus sandfarbenem Klinker, mit fünf großen Toreinfahrten für die Spritzenwagen. Diese werden von Schimmeln gezogen, die der Feuerwehr gehören, was zu dieser Zeit eine Seltenheit ist. Die Wache in der Oderberger heißt »Weiße Abteilung«, wegen ihrer weißen Pferde und den weißen Lederriemen an den Helmen sowie dem weiß gekennzeichneten Löschgerät.
Das Gebäude wird in der Gründerzeit errichtet, die Fassade ist schlicht und ohne Schnörkel. Ein dezenter Dachsims und eine dekorative Mustersetzung durch andersfarbige Klinker über den Tor- und Fensterbögen sowie eine Zierleiste aus konträr gemauertem Muster zwischen Erdgeschoss und erstem Stock sind die einzigen auffälligen Elemente. Pompöse Ornamente, Figuren und Gesichter sind inzwischen passé für Dienstgebäude, eine moderne Zweckmäßigkeit hat sich durchgesetzt. Das Grundstück, das die Nummer 26 tragen würde, ist der Hof der Feuerwache und beherbergt weitere Gebäude: Einen Stall für die Pferde, eine Schmiede sowie einen Stellmacher für die Pferdewagen.
Meistens werden die Feuerwehrleute mit ihren Spritzenwagen zu Wohnungs- und Dachstuhlbränden gerufen, gibt es doch nur Kohleheizungen in den Mietshäusern. Die Bewohner des Prenzlauer Bergs haben eine gute Chance, bei einem Brand im Dach oder in der Wohnung das restliche Haus zu retten, da die Feuerwache gleich ums Eck liegt, was zu dieser Zeit gar nicht selbstverständlich ist.
Mehr als ein Jahrhundert wird diese am 25. November 1883 eröffnete Feuerwache der Stolz der Bewohner der Oderberger Straße sein. 2013 feiert sie als älteste sich noch in Betrieb befindende Wache der Berufsfeuerwehr von ganz Deutschland ihr hundertdreißigjähriges Bestehen.
Nadja
Ein junger Architekt, der gemeinsam mit seinem besten Freund ein Studium an der Kunstakademie Kassel beginnt und später an der Berliner Bauakademie abschließt, hat ein begnadetes Gefühl für Formen und Relationen. Sein erstes großes Projekt – ein gewonnener Wettbewerb – steht in Leipzig: das Anfang 1880 gebaute Reichsgerichtsgebäude. Seitdem rennen ihm die Investoren die Bude ein und wollen ihre Gebäude mit seinen Ideen und Entwürfen umsetzen lassen. Sein Name ist Ludwig Hoffmann, geboren 1852 in Darmstadt. Hoffmann wird 1896 zum Stadtbaurat von Berlin berufen und behält diesen Posten bis 1924. Seine architektonischen Ideen zeichnen und prägen bald Berlins Straßenbild und Silhouette, wie kein anderer Architekt dieser Zeit es vermag.
Sein beruflicher Gefährte heißt Alfred Messel und ist ihm auf dem Weg vom Entwerfen zum Umsetzen unentbehrlich. Ludwig Hoffmann ist verantwortlich für viele besonders schöne und architektonisch einzigartige Gebäude in ganz Berlin: Märchenbrunnen, Märkisches Museum, Möckernbrücke und Pergamonmuseum (hier war Messel der Architekt und Hoffmann sein Ausführer), um nur einige zu nennen, tragen seine Handschrift. Über dreihundert Gebäude entwirft und baut der Mann in seinem Leben, darunter viele Schulen und Krankenhäuser. Und eben auch das Oderberger Stadtbad.
Als Hoffmann um die Jahrhundertwende (1897–1902) die Volksbadeanstalt Baerwaldstraße in Kreuzberg baut, ist es das erste einer Reihe von Bädern in verschiedenen Stadtbezirken Berlins. Wie eingangs erwähnt, füllt sich Berlin stetig mit Neubewohnern und ist Anfang des 20. Jahrhunderts nach Los Angeles und London die drittgrößte Stadt der Welt mit knapp vier Millionen Einwohnern. Insbesondere die großen Arbeiterviertel wie Kreuzberg und Prenzlauer Berg erhalten eine soziale und hygienische Infrastruktur, die bitter nötig ist. Es soll allen Menschen gleichermaßen möglich sein, sich den Gestank der Straße und den Dreck der Arbeit vom Körper zu waschen. Außerdem soll es den vielen Kindern in den engen Mietskasernen ermöglicht werden, schwimmen zu lernen, sich zu entspannen und Spaß zu haben. Hoffmann ist kinderlieb und offen für diese Sichtweise und seine Architektur hat immer ein Bestreben, das einzubinden. Oft finden sich in den Bädern Elemente aus verschiedenen Epochen, verspielt, detailverliebt, sich immer wieder ausprobierend mit unterschiedlichen Materialen, Ornamenten, Figuren und Anordnungen. Ich erinnere mich an die handgeschmiedeten Geländer mit kleinen Fischen aus schwarzem Eisen, an die Kacheln im Boden mit schönem Muster, die auf die getrennten Duschen hinweisen … Details, für die es heute bei einem Neubau kaum Budget gibt. Damals, und das setzt Hoffmann eben auch durch, wird nach Ästhetik gebaut und nicht nur nach Geldbeutel. Deshalb sind seine Gebäude oft großzügig und luftig, orientieren sich an architektonischen Größen in Rom und Paris.
1899 wird das Stadtbad in der Oderberger Straße gebaut, welches dem Kreuzberger Baerwaldbad in Größe und Baustil folgt. Die geschmiedeten Fische in den Geländern wohnen auch hier. Die Besonderheit des Bades im Stil der Neorenaissance ist das vierteilige Kreuzgratgewölbe, welches an eine gotische Kathedrale erinnert und viel Luft zum Atmen lässt – ein weiterer Gegensatz zur engen Mietbaupolitik der Stadt.
Ein elementarer Unterschied zwischen beiden Bädern ist, dass das Bad in Kreuzberg an einer Ecke liegt. Das Oderberger Stadtbad hingegen fügt sich harmonisch in die Fassaden der umliegenden Mietskasernen ein. Stattlich sieht es aus mit seinen dreiundvierzig Metern, die die Breite von fast drei Mietskasernen einnehmen. Auch die Höhe entspricht den vier Stockwerken eines Mietshauses.
Unten wird geschwommen und sich gewaschen, oben wird gewohnt. Lehrer und Rektoren der dahinter liegenden Gemeindedoppelschule, ebenfalls von Hoffman gebaut, haben hier ihre Herberge. Die Torbögen rechts und links des Stadtbades führen Mädchen und Jungen getrennt zu ihren jeweiligen Schulen, die sich direkt hinter dem Stadtbad befinden.
Im Erdgeschoss und im ersten Stock gibt es nun endlich zahlreiche Duschen und Wannenbäder für die Bevölkerung des Bezirks und die werden reichlich genutzt. Bei der Bevölkerung besteht Bedarf nach Sauberkeit, da nur die Wohnungen der Beletage im Vorderhaus über ein Badezimmer verfügen. Vor allem am Wochenende bilden sich lange Schlangen vor dem Bad. Das Duschen und Wannenbaden ist zeitlich begrenzt, damit möglichst viele die Chance auf Körperhygiene bekommen.
Der Architekt Ludwig Hoffmann hat es wieder einmal geschafft, Architektur und Nutzen eines Gebäudes sinnvoll zu vereinen. Er weiß natürlich nicht, was mit seinem Stadtbad im Laufe des nächsten Jahrhunderts alles noch geschehen wird …
Nadja
1910 hat Berlin sich wie ein Moloch aus Mietskasernen, Fabriken am Stadtrand und Bevölkerungsmassen, die hier leben und überleben, ausgebreitet. Es hört nicht auf.
Die Bevölkerungsdichte und die Anzahl der potentiellen Arbeitsplätze bedingen sich gegenseitig. Die Industrialisierung läuft auf Hochtouren. Zu dieser Zeit ist Deutschland der mächtigste Industriestaat Europas. Bahnbrechende Erfindungen auf naturwissenschaftlicher und medizinischer Ebene werden gemacht: Ein rasanter Aufschwung der Wissenschaft findet statt.