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Begleiten wir unsere Helden auf ihren Reisen durch Raum und Zeit. Alles aber beginnt im Hier und Heute in einer kleinen Großstadt im Westen Eurasiens. Manfred, der eines Nachts magische Kräfte erhält und sich ganz ohne Zauberstab und -sprüche in Tiere und Pflanzen verwandeln kann, kämpft sich nicht nur allein, sondern auch mit Hilfe der bekanntesten Schwertkämpfer Japans bis nach Tibet durch. Auch in Afrika, Amerika und Australien hält er sich auf, der einsam und allein auf der Suche nach seiner großen Liebe ist. Nairra ist ihr Name. Und er besucht die junge Massai Moyo, die nach Norden zu den Pyramiden unterwegs ist. Und dann ist da noch Drefman, ER, der Schwarze, männlicher Teil von ES, Manfreds Gegenspieler aus einem anderen Universum, der allmächtig scheint und tut, was er will. Wer von beiden wird am Ende, das kein Ende ist, im Kampf siegen? Wer wird überleben? Biofantasy, Spannende Fantasy der besonderen Art, in der der Held zahlreichen Wesen aus Natur und Mythologie begegnet und sich in einige von ihnen verwandelt. Nicht verwunderlich, wo doch der Autor Zoologe und Fantasyfan ist und sich für Mythologie interessiert. Kurzum: Fantastische Fantasy, zoologisch fundiert, meditativ und religiös. LeserInnen-Meinungen zum Leuchtenden Pfad des Magiers: »Obgleich in Prosa gehalten, empfinde ich dieses Werk als eine einzige Poesie, ein Poem. In seinem sprachlichen Duktus liegt sein Zauber.« Leser aus Kaiserslautern. »Dieser Wald wird wie durch einen Nebelschleier unscharf, es ist ein Traumland, ein bunter Mix aus religiösen Mythen, skurrilen und grotesken Szenen und meditativen Selbstbetrachtungen.« alien contact. » (...) bin fasziniert von dieser magischen Vielfalt von Phantasie. (...) Hier ist nichts unmöglich auf dieser ungewöhnlichen Reise in eine ungewöhnliche Dimension ... Wie außen so innen, oder der alte Mystikerspruch, wie oben so unten, alles ist Eines. Ein wahrhaft faszinierendes Buch, um der Gegenwart zu entfliehen bzw. sie in Frage zu stellen.« Peter Würl.
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Seitenzahl: 834
Der Autor Dr. Rainar Nitzsche, geboren 1955 in Berlin, Schulzeit im Saarland, lebt seit Ende 1974 in Kaiserslautern. Er fotografiert von Jugend an begeistert Tiere, inzwischen auch Bäume, Blüten und Strukturen menschlicher Bautätigkeit, verfremdet sie und veröffentlicht Fotokunstbücher mit oder ohne eigene Texte. Seit 1975 schreibt er Gedichte, Kurzgeschichten, Romane und Sachbücher über Spinnen. 1998 erschien der erste Band der Pfadwelten: Der Leuchtende Pfad des Magiers.
Zum Inhalt Begleiten wir unsere Helden auf ihren Reisen durch Raum und Zeit. Alles aber beginnt im Hier und Heute in einer kleinen Großstadt im Westen Eurasiens. Manfred, der eines Nachts magische Kräfte erhält und sich ganz ohne Zauberstab und -sprüche in Tiere und Pflanzen verwandeln kann, kämpft sich nicht nur allein, sondern auch mit Hilfe der bekanntesten Schwertkämpfer Japans bis nach Tibet durch. Auch in Afrika, Amerika und Australien hält er sich auf, einsam und allein auf der Suche nach seiner großen Liebe. Nairra ist ihr Name. Und er besucht die junge Massai Moyo, die nach Norden zu den Pyramiden unterwegs ist. Und dann ist da noch Drefman, ER, der Schwarze, männlicher Teil von ES, Manfreds Gegenspieler aus einem anderen Universum, der allmächtig scheint und tut, was er will. Wer von beiden wird am Ende, das kein Ende ist, im Kampf siegen? Wer wird überleben?
Biofantasy Spannende Fantasy der besonderen Art, in der der Held zahlreichen Wesen aus Natur und Mythologie begegnet und sich in einige von ihnen verwandelt. Wen wundert’s, wo doch der Autor Zoologe und Fantasyfan ist und sich für Mythologie interessiert. Kurzum: Fantastische Fantasy, zoologisch fundiert, meditativ und religiös.
LeserInnen-Meinungen zum Leuchtenden Pfad des Magiers: »Obgleich in Prosa gehalten, empfinde ich dieses Werk als eine einzige Poesie, ein Poem. In seinem sprachlichen Duktus liegt sein Zauber.« Leser aus Kaiserslautern. »Dieser Wald wird wie durch einen Nebelschleier unscharf, es ist ein Traumland, ein bunter Mix aus religiösen Mythen, skurrilen und grotesken Szenen und meditativen Selbstbetrachtungen.« alien contact. »... bin fasziniert von dieser magischen Vielfalt von Phantasie ... Hier ist nichts unmöglich auf dieser ungewöhnlichen Reise in eine ungewöhnliche Dimension ... Wie außen so innen, oder der alte Mystikerspruch, wie oben so unten, alles ist Eines. Ein wahrhaft faszinierendes Buch, um der Gegenwart zu entfliehen bzw. sie in Frage zu stellen.« Peter Würl.
Wie schnell doch die Zeit vergeht, die Älteren unter uns werden mir zustimmen. Mein erstes Buch mit dem Titel Der Leuchtende Pfad des Magiers, das ursprünglich einfach nur Der Leuchtende Pfad heißen sollte, einem Namen, der bereits für eine kommunistische Partei und Guerillaorganisation in Peru vergeben war, erschien 1998, also vor 24 Jahren. Und alles beginnt mit dem Aufbruch des Helden aus der Enge seiner Stadt. Eines nachts erhebt er sich, folgt dem Ruf, schwebt auf einem leuchtenden Band empor, wirft alles alte ab, verwandelt sich in Manfred den Magier, und auf geht‘s in den umliegenden Wald und andere Wälder weltweit in Gegenwart, Vergangenheit und andernorts zu anderer Zeit. Weitere Texte hatte ich bereits geschrieben, zwei Bücher sollten in den folgenden Jahren erscheinen. In ihnen geht Manfreds Reise nach Osten weiter durch das Nebelland, wo Drachen leben, durch Steppen und Wüsten, auch in die Meerestiefen, hin zu den höchsten Bergen, dem Himalaya (in Wandlungen der Drei und Wüsten-Berges-Himmels-Welten). Doch es sollte zehn Jahre nach dem ersten noch ein vierter Band (in Teil 2 dieser Ausgabe enthalten) mit dem Titel Ins All - Im Eins folgen, einer Seelenreise der Protagonisten nach ihrem Tod auf Erden und weiterer Geschöpfe aus anderen Welten. Sieben sind es: die drei Menschen Manfred, Nairra und Moyo sowie ER von T-her, der zunächst auf Erden den Namen Drefman trägt, der Schneckenkönig, die Spinnenkönigin und ein Cyborg, deren Seelen schließlich zum Einen, der Acht, verschmelzen. Gegenüber den Originalausgaben leicht korrigierte Taschenbücher und E-Books erschienen erst viele Jahre später, so auch der Schneckenkönig meiner Freundin Elke Bouché. Und nun wünsche ich eine entspannte spannende Lektüre.
Rainar Nitzsche Kaiserslautern, November 2022 i
Der Leuchtende Pfad des Magiers
(
K)ein Traum!?
1 Stadt
Etwas und alles und ...
Ein Traum wird wahr
Tränen, Wege und Wunder
2 Wald
In den Wald hinein und niemals allein
Mein Schwert
Sieben Samurai
Drefman
Nairra
Tod, Trauer und Traum
Traum im Traum im ...
Wandlungen der Drei
Längst bist du abgerückt
3 Nebelland
Chinesische Landschaft
Im Tal
Drachenträume
Der gar nicht mehr so alte Alte
4 Gräserne Meere
Drei Geier sehen drei Wesen in drei Welten
Ein neues Leben
ER, der niemals stirbt
Manfreds Weg nach Osten
Einen Kräutertee trinkt der Alte
5 Wasserwelten
ES von T-her
So wenig Land und so viel Meer
In tiefste Tiefen hinab und wieder empor
Wüsten-Berges-Himmels-Weiten
Dreißig Jahre alt
6 Wüstenweite
Drei Wesen in den Wüsten
Manfred verbrennt
Moyo bei den Pyramiden
Katzenmagie im Alten Ägypten
Wüsten, in denen ER weilte
Nanuk der Bär
Zwanzig Jahre alt
7 Berge in den Himmel
Vom Aufstieg und Fall eines Magiers
Nachtsee und Höhle
Von Bären, Bienen und Birken
Die Todesspirale
Rückkehr nach T-her
Drachen-Menschen-Panther-Mütter
Wiedergeburt
Teil 1 der Geschichten um Manfred den Magier auf seinem weiten Weg durch acht Welten
Für Lucy, Minka und Nora
die mir die Liebe wiederbrachten denn ewig währt der Augenblick
und für all die anderen Katzen dieser Erde und aller Welten
Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng
und der Weg dahin ist schmal
und nur wenige finden ihn
Matthäus 7, 14
Nach innen
geht der geheimnisvolle Weg
In uns oder nirgends
ist die Ewigkeit mit ihren Welten
die Vergangenheit und die Zukunft
Novalis
Pfad
Mystische Bezeichnung
für den Weg zur Erleuchtung
Hörst du das Rauschen des Flusses?
Das ist der Weg!
Zen-Koan
Einst träumte ich einen seltsamen Traum. Aber ich träumte ihn nicht in einer Nacht, sondern über Jahre, ja, ich träume ihn noch immer. Und während ich ihn niederschreibe, verändert er sich, weil ich so vieles vergaß, weil anderes entstand, weil es so viele Versionen gibt, weil ... Noch immer wandelt sich alles und wächst. Manches fügte ich seither hinzu, das ich irgendwo las und sah. Andere Träume mischten sich ein. Im Januar eines anderen Jahres arrangierte ich die Teile neu. Dann in Sommer und Herbst überarbeitete ich alles und ließ es Freunde lesen. Winter-, Frühlings-, Sommerkorrekturen folgten. Und nun endlich hältst du den Leuchtenden Pfad in deinen Händen, den ersten Teil eines mehrbändigen Werkes. In jedem Band gibt es einen Anhang zu Personen und Begriffen, die aus verschiedenen Kulturen stammen (z.B. Altägypten, Massai, Samurai, Tibet, Tuareg, Vampire). Nun aber wieder zum ersten Band, dem Leuchtenden Pfad. Ob es jemals wirklich geschehen könnte, in unserer Welt, zu unserer Zeit?, fragst du dich vielleicht. Und die Antwort lautet: Ich habe es gedacht, gefühlt, erlebt. Also ist es! Du aber, der du dies liest, lässt alles wieder in dir auferstehen. Dann träumst auch du deinen eigenen Traum. Wir alle träumen von unserer großen und ewigen Liebe.
Traum ist Lüge. Wirklichkeit ist anders, vielfältiger, bunter, schöner, brutaler. Nun ja, wir wissen es ja alle: »Dichter lügen«, sagte einst Friedrich Nietzsche. Also lügt auch er, also auch ich. Aber manche Lügen sind wunderbar, einfach nur fantastisch. Und während sie sich entwickeln, werden neue Welten geboren. Sie existieren, in ihnen ist alles wirklich und wahr, wie in der Welt, in der unsere Körper leben. Und wer weiß, wer/was sich unseren Kosmos erträumt!? Ist es GOTT? Wenn es IHN/SIE/ES gibt, dann wird es so sein.
Schau nur: Dort liegt der Träumer. Er träumt von einem Abend in seiner Stadt. Er träumt, er wäre mit Freunden in einer Kneipe. Er träumt, er ginge auf die Straße hinaus ... Und du willst wissen, wie es weitergeht? Nun gut, nimm dir ein wenig Zeit, genügend Licht und vielleicht noch eine Kanne Tee. Beginne einfach zu lesen!
Dann irgendwann hörte ich den Ruf.
In der Nacht erwacht setzte ich mich auf.
Staunend sah ich den Leuchtenden Pfad vor mir.
»Ich komme!«, rief ich, stand auf, brach auf.
Weinend und lachend vor Glück schritt ich weiter
auf meinem ewigen Weg.
Worte des Magiers
Also war am Anfang der Träumer, von dem wir schon hörten? Zuerst also sein Traum und dann die Realität?
Nein!
Vor allem steht die Geburt des alten Mannes. Dann folgt sein Erinnern.
Etwas taucht auf - aus den Tiefen des Alls. Etwas fällt aus der Schwärze. Etwas steigt auf aus den leeren Räumen in den Atomen. Von innen, von außen naht Schwärze, naht Licht, naht Ton, naht Stille. Etwas und alles - ist immer schon da, wandelt sich dennoch vor deinen Augen in Menschengestalt.
So wird ein uralter Mann mit runzliger Haut, grauem Bart und weißem Haar geboren. Ja, er sieht aus wie 80. Seine Lippen bewegen sich. Er lächelt. Seine rechte Hand winkt dich zitternd heran:
»Komm näher und lausche! Komm! Ich erzähle dir, wie alles begann.«
Jetzt, wo du ihm so nahe bist, sein Mund dicht an deinem Ohr, vernimmst du seine geflüsterten Worte. Zugleich siehst du die Bilder, die er dir zeigt. Du lauschst seinen Worten, fühlst alles mit ihm. Er spricht zu dir, in dir: »Einst war ich ein junger Mann und träumte, über den Dächern einer Stadt zu fliegen.«
»In einem Flugzeug? Ballon? Als Drachenflieger? Mit Flügeln aus Federn und Wachs wie Daidalos und Ikaros gar?«, fragst du, gebannt von seinen Worten.
»Nein! Auch nicht als Vogel! Jetzt fällt mein Traum mir wieder ein: mein Traum vom Fliegen.
Auf dem Bauch liegend schwebe ich über den Häusern meiner Stadt und schaue hinab. Winzig klein scheint mir der Rathausturm dort unten, den ich einst für einen Wolkenkratzer hielt, der er also noch immer ist? Längst schon sehe ich den Platz nicht mehr, wo ich einst auf einer Bank unter Platanen saß. Sitzt mein zweites Ich noch immer dort, lauscht dem Ruf der Mondin und träumt in ihrem Licht?
Jetzt schwebe ich dem untergehenden Sonn entgegen und immer weiter hinauf und hinaus in die Nacht und in ein neues Morgen, hinein in eine andere Welt mit Namen Wald, eine Welt aus Bäumen aller Art, der sich endlos nach allen Seiten erstreckt. Ins Gestern führt mich der Leuchtende Pfad, den ich vor meinen Augen sehe, träumend auf meinem Bett bei mir zuhause.
»Ein Pfad?« fragst du.
Ja, ein Weg, ein schmaler Weg, der alles verbindet, den meine Füße beschreiten, den mein Körper durchfliegt. Ein Pfad in mir, dem meine Seele folgt, der mich hin zu ihr führt, die ich schon immer liebe, zu den anderen hin, die so sind wie ich, und hin zur Einheit, aus der wir alle kommen.
»Wach auf! Das ist ja nur ein Traum!«, ruft irgendwer hinein in meinen Traum.
So werde ich geweckt, stehe auf und gehe die gewohnten Wege, tagein, tagaus, nicht weniger, nicht mehr. Zeit vergeht. So rasen die Jahre dahin. Ich werde alt und älter, um eines Tages, nachts zu sterben. Nun ja, noch nicht, doch irgendwann mit Sicherheit.
»Und das soll schon alles gewesen sein? Nicht mehr als ein kurzer Ausstieg aus dem Alltagstrott? Dann ist ja alles vorbei, noch ehe es begann. Am Anfang kann doch nicht schon das Ende sein?«
Und weiter fragst du dich und mich: »Wenn alles Wirklichkeit wäre, also keine Illusion, was ist überhaupt so toll daran, über den Dächern einer Stadt dahin zu fliegen? Und dann auch noch bei Nacht in eisiger Kälte.«
Das fragst du, der du drinnen in deiner beheizten warmen Stube vor dem Flimmerkasten sitzt und »wahre« Begebenheiten schaust?
Ja, alles war nur ein Traum, eine Vorschau auf das, was noch kommen sollte, und doch war es der Beginn einer Reise, ein Neuanfang.
Damals dachte ich, es würde bald geschehen.
Doch Jahre vergingen, und nichts geschah.
Wann würde ich aufbrechen? Würde ich es tatsächlich irgendwann tun? Noch in diesem, meinem jetzigen oder einzigen Leben? Noch in meinem Zimmer unter dem Dach innerhalb einer Wohngemeinschaft mit Nachbar Rilke und einem indonesischen Studenten, kurz WG genannt?
Damals geschah noch nichts.
Zunächst waren da also nur der Traum und das Warten auf seine Erfüllung. Wie oft schaute ich gebannt auf zu den dahinrasenden Mauerseglern, die mancheiner noch immer für Schwalben hält. Zahlreich aber kamen auch sie jedes Jahr aus dem Süden nach K, und also war es Sommer. Mein Gott, fliegen, dachte ich immer wieder voller Sehnsucht.
Dann geschah es doch, plötzlich und unerwartet. Es war ein kalter, verregneter Oktobertag, als alles begann, wirklich begann, hier draußen, nicht nur in meinen Träumen.
Sagte ich eben »Tag«?
Der war bereits vorüber. Nacht herrschte dort, wohin ich ging, denn ich ging in tiefer Dunkelheit hinaus in den Sturm.
»Bleib!«, riefen meine Freunde vom Stammtisch. »Geh noch nicht! Trink noch einen Wein! Geh nicht! Diese Böen könnten dich erschlagen!« Sie taten es, obwohl sie wussten, wie sehr ich die Nacht liebte, und dass es nutzlos war, mich aufhalten zu wollen, wenn ich ihren Ruf vernommen hatte.
Ich antwortete ihnen nicht, ging, schaute im Türrahmen verharrend noch einmal zurück - als ob ich wüsste, dass ich nie mehr wiederkommen würde - und verschwand aus ihren Augen.
Das ist die Nacht der Nächte. In mir ertönt der Ruf.
Ich gehe hinaus auf die Straße und schaue auf. Noch ahne ich nur die Sterne hinter dahinfegenden Wolkenschleiern.
Noch immer blicke ich empor. Die Himmel öffnen sich über mir, und die rasenden Wolken halten inne in ihrem Lauf. Dort oben bildet sich ein kreisender Raum, in dem Volle Mondin und Sterne leuchten.
»Komm!«, singt das Sternenlied in mir.
Ich höre den Ruf und weiß: Jetzt ist die Zeit gekommen, die Zeit des Aufbruchs.
Noch einmal aber kehre ich für einen Augenblick in meine alte Welt zurück, betrete ein letztes Mal die Kneipe.
Aha, wieder da, denkt einer dort vorne am Tresen.
Ich aber nehme meine Jacke von meinem Stuhl, die ich dort vergaß, ziehe sie über und sage leise: »Tschüss!«
»Du gehst schon? Schon wieder? Als Erster?«, fragen meine Stammtischfreunde - wie seltsam! - alle zugleich, wie aus einem Munde.
Auch diesmal antworte ich ihnen nicht. Ich antworte ihnen nie mehr!
O ja, ich gehe, denke ich. Warum gehe ich? Weil ich muss!
Bilder aus einem Film steigen vor meinem innerem Auge auf: Da ist ein Land im Süden damals am Beginn einer großen Religion, die die Nächstenliebe lehrte und den Sklaven Hoffnung brachte. Seine Jünger fragten ihn, als sie ihn nach seinem Tod noch einmal trafen: »Quo vadis, domine? Wohin gehst du, Herr?«
Ich erinnere mich an meine Tränen bei diesen, seinen Worten. Doch ich bin nicht der Herr und nicht ihr Herr. Dennoch weine auch ich jetzt leise bei meinem Abschied. Ich gehe stumm hinaus.
Drinnen sehen sich die Freunde verwundert an.
»Warum geht er?«
»Sollte unter Menschen bleiben. Is’ nicht gut, allein zu sein.«
»So lasst ihn doch!«
So sprechen die Stammtischfreunde: die ältere, so jung und munter gebliebene Autorin, die natürlich nicht vom Schreiben lebt, die junge Lehrerin, der Rechtsanwalt und seine Mitarbeiterin, der fitte Paddler und Krankenpfleger in Rente und die drei Generationen: Mutter, Tochter und Enkelin.
Dann werden wieder andere Themen wichtig: die ewigen Baustellen in der Stadt - Straße auf, Straße zu, Straße auf, die leer stehenden Läden in der Fußgängerzone - Wahnsinnsmiete und minimaler Umsatz, wen wundert da noch dieses überall zu findende Schild: Laden zu vermieten - immer wieder neu, jetzt auch massenhaft, nebeneinander im Viererpack, ja, die Fußgängerzone, die vielleicht doch noch so nach und nach ein neues pfützenloses Pflaster erhält, private Dinge und Probleme, Geschichten, die das Leben schreibt. Auch diese nicht jugendfreien Witze, sexuelle Anspielungen und Jugenderlebnisse, als Mann noch jung und fit war. Natürlich auch Fußball, unbedingt! Die Roten Teufel vom Betze, ihr Wiederaufstieg in die erste Liga - sie werden wieder Deutscher Meister sein, das ist klar, hurra, es lebe der FCK! Dann das liebe Geld und der kommende Euro und ... viele Probleme hier wie überall auf der Welt im Jahre 1998 A.D.
Ich stehe nur wenige Meter von allem und doch Meilen von allem entfernt draußen auf der Straße und breite meine Arme aus, werde Ruhe und warte. Ich schaue mit in den Nacken geneigtem Kopf empor. Ich bin es schon, also spreche ich auch die Worte nicht aus: »Sei still!«
Was seltsam war, Manfred fiel es gar nicht auf, die Straße war men-
schenleer. Alles schien ausgestorben.
Und niemand sah, was dann mit ihm geschah?
Kein Mensch, das ist gewiss.
Und niemand sonst?
Leuchtend grüne Augen schauen den Menschen von unten verwundert an. Hinter einem Rad unter dem Auto versteckt sitzt die Katze mit dem rotbraunen Fell. Sie ist es, die alles sieht und - nichts verrät.
Während ich noch immer auf der Straße stehe und auf die Erfüllung meines Traumes warte, erinnere ich mich an einen anderen, den ich vor langer Zeit träumte: Einen Menschen sehe ich darin aufstehen und alle Krankheiten hinter sich lassen. Dort unten auf der Erde bleibt seine graue Hülle zurück. Denn er erhebt sich, steigt gleich einem schlüpfenden Schmetterling auf, eben noch fressende, wachsende Raupe, ein Kind, dann träumende Puppe, jetzt ...
Bin ich wie er?, frage ich mich und atme Nacht und Sterne.
Etwas wächst in mir.
Ich knie mit noch immer ausgebreiteten Armen auf der mit grauen Steinen neu bepflasterten Straße, fühle mich frisch und stark, wie neugeboren, doch ohne den Schock der Geburt und die Hilflosigkeit des Säuglings, bin ein neugeborener Erwachsener.
Jetzt könnte alles geschehen, könnte mich aufrichten, mit ausgebreiteten Armen erheben und in die Nacht hinaufschweben, denke ich und spüre nicht, wie es bereits geschieht, wie ich aufrecht stehend emporsteige, sehe nicht meine alte Menschenhülle dort unten auf den Steinen verdampfen, nehme nicht wahr, wie Kleidung, Krankheit, Alter und Alltagssorgen im Gestern zurückbleiben.
Gate, gate, paragate ...
Gegangen, gegangen, darüber hinaus gegangen ...
Aber noch lange nicht erleuchtet.
Aufrecht geht der Mensch. Aufrecht steige ich auf, schreite schlafwandelnd über den Dächern dahin.
Hoch oben erwache ich und schaue hinab. Unter mir leuchtet die Stadt. Dort irgendwo unten ist eine Kneipe, eine von vielen. Dort sitzen meine Freun... Menschen, deren Abbilder nun verschwimmen. Sie wissen nicht, wo ich bin. Sie wissen so wenig von mir, werden niemals mehr über mich erfahren.
Und ich? Was ist mit mir?
Staunend rufe ich aus: »Mein Gott, wer bin ich? Ich habe meinen Namen verloren!«
Dann vergesse ich auch dies und gehe weiter meiner Zukunft entgegen. Sie leuchtet vor mir auf, funkelt bisweilen wie Kristall, spiegelt sich in einem Band aus Licht in meinem Leuchtenden Pfad.
Alles wird sein wie ein Traum.
Aber es ist kein Traum, fällt mir ein.
Es war kein Traum.
Und wäre es so gewesen, sind nicht auch Träume Wirklichkeit?
Was haben all unsere Wahrnehmungen mit der äußeren Realität gemein?
Was sind Erinnerungen?
Sind sie nicht lediglich nur verschwommene Abbilder von dem, was einmal war?
Du, liebe(r) LeserIn, der du dies alles gerade liest, möchtest mehr wissen. »Erzähl, wie es kam!«, forderst du mich auf. »Was war vor dem Fliegen und dem Stammtisch? Erzähl ein wenig aus deinem Leben! Damit ich erfahre, wie es geschehen konnte, damit auch ich so werden kann wie du. Erzähl! Beginne vielleicht mit dem Ort, der Umgebung. Verrate mir, wo das alles geschah.«
In einem der zahlreichen Universen.
»Sehr lustig. Geht’s nicht ein wenig genauer?«
Nun gut, 30 000 Lichtjahre vom Zentrum entfernt am Rande einer Galaxie, auf dem dritten Planeten eines gelben Sterns, von den Eingeborenen Erde genannt. Dort gab es im Westen eines großen Kontinents eine Stadt namens K-town, zu Deutsch: Kaiserslautern. In einem kleinen Zimmer unter dem Dach à la Spitzwegs Der arme Poet, aber wasserdicht, mit Gasofen, Gemeinschaftsküche mit Dusche und dem Klo eine halbe Treppe tiefer, o ja, dort, wo der indonesische Student abends immer Hühnchen mit Reis kochte oder - Reis mit Hühnchen, dort ...
Halt! Vergiss die Sache mit dem Zimmer in der WG! Das war ja vorher. Da wohnte ich ja schon lange nicht mehr, als es geschah. Also die andere Wohnung um die Ecke – ebenfalls eine Altbauwohnung, doch mit zwei Zimmern und einer Küche mit Elektrodusche für mich ganz allein - dort war es, wo diese Reise begann, dort. Jeden Tag träumte ich von dem Pfad. So war ich nicht so geschockt, wie man glauben könnte, eher verwundert, als ich ihn eines Nachts tatsächlich vor mir sah. Ich rieb mir die Augen, zwickte mich ... das Band aus Licht war noch immer da. Also zögerte ich nicht, stand auf und folgte dem leuchtenden Band vor meinen Füßen. Ich öffnete die Zimmertür, durchquerte die Küche, ließ die Wohnungstür hinter mir, ging die Treppe hinab und hinaus auf die Straße, die menschenleer war. Dann zum Stadtzentrum hin begegnete ich endlich Menschen. Doch niemand sah auf, kein Staunen, kein »Ooh« wie beim Kerwe-Feuerwerk. Keiner außer mir schien meinen Leuchtenden Pfad wahrzunehmen, der sich nun pulsierend in allen Farben vor mir fand und wand: gelb und rot, grün und blau, dann violett und strahlend weiß. So gelangte ich in die Fußgängerzone und in die Kneipe. Das war der Beginn, mein Weg!
Halt! Mein Weg begann natürlich ganz woanders, mit meiner Geburt in einer anderen, viel größeren Stadt. Wie fern ist doch die Kindergartenzeit.
Oder begann alles viel früher, in einem anderen Leben, an anderem Ort, als ein anderes Wesen? Begann alles mit dem ersten Leben auf dieser Erde?
Denn alle meine Väter und Mütter überlebten in mir.
Und was war vor der Erde und vor diesem Universum?
Fragen über Fragen und keine einzige Antwort.
Kehren wir also wieder zurück in klarere Gefilde, dorthin, wohin mein Erinnern reicht. Ich lag also auf meinem Bett, von Lautsprecherboxen umgeben, und lauschte elektronischen Klängen: Kitaro, Schulze, Vangelis und - Nitzsche. Das war die Musik, die mich umgab und schon manches Mal hinweggefegt hatte. Ich schloss die Augen und sah den Leuchtenden Pfad vor mir. Ich öffnete die Augen und sah ihn noch immer und stand auf, zog mir die schwarzen Wildlederschuhe an und die schwarze Jeansjacke, passend zu den schwarzen Jeans, über, folgte dem Leuchten bis in die Kneipe, wo ich ihn im Zigarettenqualm und Alkoholdunst verlor. Ich sah mich um und - erblickte sie.
Nun sitze ich an einem runden Tisch, mir gegenüber die Stamm... Oh! Wieso sitze ich schon? Stand ich nicht gerade noch an der Tür?
Auch hier innen sieht alles so anders aus als sonst.
Oder liegt es an der Zeit?
Die ist ja auch verkehrt! Schon spät ist es in der Nacht. Und doch, all die Stammtischfreunde sind da, und ich bin mitten unter ihnen. Da kommt auch schon mein Dornfelder, nicht bestellt und schon serviert von der schlanken jungen Frau. Also ist alles wie immer. Der Wirt weiß Bescheid. Ich nehme einen großen Schluck.
Sonst tat sich weiter nichts. Oder doch oder ja oder nein? Halt! Eins bleibt noch zu erwähnen, eine Sache störte mich wie immer, wenn auch immer weniger - dieser für einen Nichtraucher wie mich nicht sonderlich attraktive und gesunde Zigarettenqualm, zumal er jetzt auch noch meine Vision ver...
Aber da ist ja wieder mein Leuchtender Pfad, taucht auf aus dem Rauch - Dunst - Nebel. Mystischer Nebel, aus dem Bilder aufsteigen und Wesen ... Die Nebel des Drachenlandes, an dessen Grenzen schwarze Raben ewig wachen ...
Ja, so begann alles. Das sind meine eigenen Erinnerungen an den Beginn eines anderen Lebens.
Die anderen aber - das weiß ich nun - erinnern sich - wen wundert es - ein wenig anders.
»Die anderen?«, fragst du.
Die Freunde vom Stammtisch natürlich! Hören wir einfach einmal, was uns die Dichterin zu sagen hat:
Doch, ich erinnere mich. War da nicht ein Wüten dort draußen? Noch brausten die Stürme frei. Die letzten Bäume schrieen und ihre Äste brachen. Wir saßen wie jeden Mittwoch bei Kerzenlicht im warmen Zimmer einer kleinen Kneipe gemütlich beisammen, unterhielten uns, tranken und aßen. Also war drinnen alles wie immer.
Nein! Denn er stand plötzlich auf.
»Wohin gehst du, Dok?, fragte ihn einer von uns.
Er zeigte nach draußen.
»Nachhause, jetzt schon?«
Er schüttelte nur den Kopf, deutete nach oben und lächelte. Seine Augen leuchteten. Er sprach kein Wort, öffnete die Tür und ging hinaus. So verschwand er aus unserem Leben. Wir sahen ihn nie wieder.
Karin meinte noch: »Nächste Woche ist er wieder da.«
Ich aber dachte, ja, das ist wirklich seltsam, wenn ich mir das jetzt so überlege: Viele Menschen steigen aus, verschwinden plötzlich, einfach so, manche sterben, andere wieder beginnen ein neues Leben andernorts und unerkannt.
Wer also weiß, wie es wirklich war? Es gibt so viele »wahre« Versionen von der Wirklichkeit, wie es Menschen gibt. Und alle sind sie richtig, und alle sind sie falsch. Rashomon heißt der japanische Film, in der jeder der Befragten eine andere Tat schilderte, und alle sprachen sie über denselben Mord. Du erinnerst dich? So viele Täter, und doch nur ein Opfer, einer nur tat die eine Tat. Und jede Version schien wirklich glaubhaft zu sein.
»Aber hier in unserem Fall geht es doch nicht um Mord«, wendest du, aufmerksame(r) LeserIn, ein und - hast Recht.
»Und die Unterschiede, wo sind denn die?«, fragst du weiter.
»Ob er noch einmal zurückkehrte oder nicht, nach oben zeigte oder nicht, was spielt denn das für eine Rolle?«
Nun ja, jedenfalls in einem Punkt stimmen alle überein: Es war Herbst, draußen stürmte es, und er war ziemlich sprachlos!
Warum so viele Details, die doch völlig unwichtig sind? Immer versuchen wir uns, wenn wir etwas erzählen, so genau wie möglich zu erinnern, an Einzelheiten, die wirklich niemanden außer uns interessieren, die gänzlich ohne Belang für das Wesentliche sind. Aber so ist es nun einmal, das wirkliche Leben. In einem Buch oder Film käme so etwas niemals vor. Denn das interessiert ja wirklich keinen. Wichtig könnten Details aber dennoch sein! Wenn jemand nachforschte und versuchte, mein Verschwinden aufzuklären. Eine kriminalistische Untersuchung mit Verdacht auf ein Gewaltverbrechen - Entführung, Totschlag, Mord? Dann, ja dann wäre eine Befragung aller Beteiligten sinnvoll gewesen, weil man so manches dabei erfährt, so ganz nebenbei, das einen weiterbringt, immer weiter und hin zur Auflösung der Tat. Dann hätten die Stammtischfreunde die Schilderung der Autorin etwa mit diesen Worten ergänzt: »Er war schon immer ein wenig seltsam und sehr still. Nur selten taute er auf, und dann erst nach einem Glas Wein. Dann redete er und redete, lachte sogar.«
»Der träumt ja schon wieder, dachte ich. ‘Wach auf!‘« (Dazu der Schlag auf den Rücken, vom Anwalt persönlich.)
»Nein, danach sahen wir ihn nie mehr wieder!«
Aber es geschah ja kein Mord, wie wir wissen! Also gab es auch keine Untersuchung!
»Trotz des mysteriösen Verschwindens?«, wendest du, liebe(r) LeserIn, ein. »Das glaube ich aber nicht.«
Also waren da doch die Kripo, die eingehende Befragung und- kein Resultat!?
Wie auch immer. Ich sehe es nicht, ich weiß es nicht, denn ich bin nicht allwissend. Es spielte auch keine Rolle bei dem, was kommen sollte. Was zählt, ist nur das eine: Damals verließ ich meine alte Welt und durchwanderte zahlreiche neue, bis ... Jetzt bin ich hier, noch einmal zurückgekehrt, erinnere mich und erzähle dir alles. Und all die Menschen der Welt Stadt, Familie, Freunde, Bekannte, Nachbarn, Kommilitonen und alle anderen, gehören einem fernen Leben an, das ich damals endgültig und unwiederbringlich hinter mir ließ, als ich träumend in die Nacht aufstieg und begann zu schweben.
Dachfenster fliegen vorbei. Die Fußgängerzone. Und über Häuserdächer hinweg schwebe ich aufrecht auf den Wolkenkratzer zu, der erstaunlicherweise weder Bank noch Versicherungsgebäude ist, sondern das Rathaus mit seiner leuchtenden Lichterkette von Fenstern ganz oben. Einige Kreise ziehe ich noch über Kaiserslautern. Dann nähere ich mich den Wolken.
Dieses Bild ist neu für mich. Da ist ja doch noch ein Mensch, der letzte, der mich nach meinem Aufbruch aus der Kneipe sah.
Träumender Blick aus dem Fenster des Rathausrestaurants ganz oben im 21. Stock. Ein Mädchen von sieben Jahren - und das so spät in der Nacht! - sieht nach draußen: »Mami, da fliegt ein nackter Mann!«
Mutti aber, voll gestresst von Bruder Olivers Aktionen, schaut nicht hinaus: »Jaja, Meike! Und jetzt trink aus! Es ist schon spät, wir müssen nachhause!«
Ich merke von all dem nichts, schwebe weiter durch die Nacht. Längst verblasst sind die Lichter hinter mir. Schaue jetzt wieder hinab. Meine Reise hat begonnen, denke ich, und wie es aussieht, gibt es keine Rückfahrkarte. Denn nur vor mir sehe ich das Band aus weißem, gleißenden Licht, meinen Leuchtenden Pfad. Hinter mir aber ist Dunkelheit. Jetzt beginnt er, in allen Farben zu funkeln. Wie ein Regenbogen! Ich sehe, wie er sich in weiter Ferne empor zu den Sternen wölbt. Ich aber bewege mich auf ihm, in ihm. Also bin ich der erste und einzige Leuchtpfadsurfer, Lichtbandscater, Lichtwellenreiter, bin ohnegleichen.
Dann irgendwann kann, will ich einfach nicht mehr stehen. Also setze ich mich nieder, sitze nun bequem wie auf einem fliegenden Teppich aus Tausendundeiner Nacht. Doch da ist kein Teppich, nur ein rot leuchtender Streifen aus Licht. Über mir funkeln die Sterne, und unter mir ziehen Wolken dahin. Weit darunter und hinter mir liegt mein bisheriges Erdenleben. Berauscht will ich mein Glück mit allen teilen, rufe hinaus in die Weite: »Ich lebe!« Ich tue es, so intensiv wie nie zuvor. Tief atme ich die Nachtluft ein. Tief!
Ich verspüre keinen Hunger. Glück gehabt, denke ich und schaue mich um. Habe nichts dabei und brauche auch nichts. Denn hier oben gibt es für einen Menschen wirklich nicht viel, was essbar wäre. Winzige Algen, Wolkenplankton: wenige Mücken, Fliegen und an Fäden segelnde Spinnen. Sie alle wären Beute für die Mauersegler über den Dächern der Stadt, die längst wieder nach Süden zogen. Habe seltsamerweise auch keinen Durst.
Klar, wenn das nur ein Traum wäre, dann wäre nichts verwunderlich an allem.
Träume ich also all diese Dinge: Pfad, Kneipengang, Stammtisch, Freunde und selbst mich als fliegenden Helden?
Könnte nicht alles diese Dinge nur in meinem Geist geschehen?
Schlafe ich also noch immer? Wie lange schon? Wann wache ich auf und wo?
Aber was ist schon Zeit?
So relativ, so vielfach anders empfunden, so dehnbar und gedehnt, gestaucht, so ...
Hier, in diesen schwarzen und doch leuchtenden, endlosen Räumen, in dieser Schwärze - in dieser, meiner Seele?
Alles, was vor Kurzem begann und noch nicht lange währt, all dies könnte nur eine einzige Sekunde dauern, eine Sekunde eines Traumes?
»Bin ich also nicht mehr als eine Traumgestalt?«, frage ich mich verwundert und schaue, noch immer schwebend in der Weite der Nacht, weinend hoch ins Nichts.
Nichts?
Irgendwer oder irgendetwas ist dort oben. Ich ahne es. Ich weiß es. ETWAS sieht herab.
Also träume ich mich nicht! Also bin ich wirklich! Also existiert dort ein gewaltiges Wesen. Manche nennen es GOTT. Und ich Winzling Mensch habe IHN gesehen. Mein Gott, GOTT schaut mir zu!
Doch da sind noch andere Veränderungen. Etwas ist mit der Mondin passiert. Gewaltig in ihrer Größe steht sie dort über mir. Mondin? Hieß sie nicht irgendwann einmal »Mond«, war männlichen Geschlechts? War nicht Wandel in ihm: Zunehmen und Abnehmen, Neumond und Vollmond? Hier aber leuchtet sie in der Nacht, unveränderbar, ewig, wie gestern, so heute, so morgen: eine gigantische, helle Scheibe, die Volle Mondin.
Und auch hier bei mir gibt es weitere Veränderungen. Während meines Fluges über den Dächern der Stadt schreitet die Verwandlung unmerklich fort. Zunächst ist da ein Zittern, denn kalt ist es hier oben im Herbst für einen nackten Mann. Jetzt aber spüre ich nur noch Wärme, die meinen neugeborenen Körper umhüllt, denn eine zweite Haut, lebende Kleidung, die sich in der Farbe der Umgebung anpasst, hüllt mich ein. Hier und heute ist sie schwarz wie die Nacht mit Sternen darin. Ich trage den Sternennachtmantel und atme die frische kühle Luft. Jetzt fühle ich mich, bin ich wieder jung und zudem noch stark wie nie zuvor. Welch strahlend schöner Held doch vor mir stünde, wäre hier ein Spiegel und sähe ich mich darin an.
Da fehlen nur noch Rüstung, Schwert und ein prächtiges Ross, fällt mir ein. Dann irgendwo dort unten hinter den Bergen werde ich dem Drachen, der die Prinzessin, meine große Liebe, bewacht, begegnen, ich ihm und er seinem Tod.
Ja, so oder so ähnlich oder aber auch ganz anders wird all das geschehen, doch hier und heute zählt nur das Eine – und das ist die Gegenwart.
Welch eine Nacht!, denke ich, diese Zeit der Wandlung, was für ein Abenteuer! Wie glücklich ich bin zu leben.
Schon fegt ein wirbelndes Licht meine Brille hinweg, streichelt etwas sanft meine Augen, berührt zärtlich meine Stirn.
Mein Gott, die Liebe!
Schlafendes erwacht, und meine Augen sehen die Welt schärfer als je zuvor. Eine hohe liebliche Stimme streift mein Herz mit ihrem Gesang. Also leuchtet es auf in der Nacht. Brennendes Blut pulst durch meine Adern. Und mein Hirn ist ein Meer aus kosmischer Schwärze. Sterne schweben in meinen Nervenbahnen.
So werde ich mit neuem Namen wiedergeboren.
»Sie werden dich Manfred nennen, Manfred den Magier«, singt eine Frauenstimme in mir.
Manfred, denke ich glücklich, ich bin Manfred der Magier!
»Und wer bist du? Meine große Liebe?«, frage ich flüsternd dich und lausche, warte vergebens auf deine Anwort.
Leuchtend schwebe ich durch Wolken, Wasser, Nebel.
Lautlos gleite ich dahin. Und es ist noch immer Nacht, warme Sommerna... War nicht eben noch Herbst? Kann das sein, dass so plötzlich eine klare Sommernacht, vielleicht sogar aus den Zeiten von Jugend und Liebe, hier erscheint?
Gedanken kommen und gehen.
Fühle mich so frei, gelöst von allen Sorgen und bin es auch, denn flügellos fliege ich, gleite still dahin.
Doch Nebel hier oben? Die passen doch eher auf die Erde dort unten, über feuchtes Land, in den Morgen und in den Herbst.
Wolken!
Die Wolkennebel werden immer dichter. Sie bewegen sich, drehen sich im Kreis, und ich bin mitten unter ihnen. Sie tanzen vor meinen Augen und summen, dröhnen, brüllen in meinen Ohren. Alles zuckt rasend. Ich falle … drehe mich ...
Ja, hier enden meine Erinnerungen an die Menschenwelt mit Namen Stadt.
Und wie seltsam es doch ist, jetzt, wo ich dir davon erzählte, fühle ich mich, als wäre ich zehn Jahre jünger geworden.
Ach, da ist ja ein Spiegel, tatsächlich, das ist ja fast kein Tattergreis mehr, der mich da lächelnd betrachtet.
Nun, da ich noch einmal aus dem EINEN zurückgekehrt bin, lösen sich die Nebel immer mehr auf, hinter denen damals alles verschwamm. Ich sehe mich die »zweite« Welt mit Namen Wald betreten.
Wieder Mensch geworden, weine ich, wie auch früher so oft, Tränen über die Vergänglichkeit der Dinge. Denn alles, was war, ist für Menschen vergangen, so fern. Nie mehr kehrt es zurück, nie mehr - außer in den Erinnerungen und Geschichten, die Menschen Menschen erzählen.
Damals, als mir mein Leuchtender Pfad erschien, mich rief, als meine Wanderung begann, wusste ich noch nicht, dass es ein einsamer Weg werden würde, aber auch ein Weg mit neuen Freunden, ein Weg in Liebe, ein Weg ohne Hunger, ohne Durst, ohne Krankheit, und doch ein Weg voller Schmerzen, Leid und Tod.
Jetzt erinnere ich mich an mehr. Worte fallen mir ein, wahrhaft magische Menschenworte. Einst schrieb sie ein unbekannter Dichter, ein gewisser Rainar Nitzsche auf:
Seltsam sind die Wege
die das Leben schreibt
gewunden wie die Adern in dir
und voller Wunder
Tag für Tag
und Jahr für Jahr
Der Tausend-Meilen-Weg
beginnt mit einem Schritt
Miyamoto Musashi
Das Wort für Welt
ist Wald
Ursula LeGuin
Nein, wir rühren keine dampfenden Tränke
Es ist unsere Seele, die singend erwacht
Worte des Magiers
A new moon leads me
to woods of dreams
and I follow
A new world waits for me
my dream, my way
Roma Ryan, Enya
Ich öffne meine Augen. Dreht sich da noch immer die Welt? Nur die Ruhe bewahren, erst einmal tief durchatmen, die Augen schließen, die Augen öffnen. Gut. Hier bin ich also, wo immer das sein mag, gelandet. Also stehe ich auf, schaue mich um, nach rechts, nach links. Wie sieht es hinter mir aus? Drehe mich nach hinten und wieder nach vorne, also einmal im Kreis. Ich blicke hinab, ich blicke empor. Kein Wesen nirgendwo, abgesehen von mir. Kalt und grau im bleichen Licht der Vollen Mondin schläft traumlos hier, döst nur dahin: ein weites leeres Land.
Ich sehe. Denn hell scheint mir die Nacht wie nie zuvor.
Ich lebe!, denke ich und lache.
Über mir leuchten still die Sterne.
Und Stille ist - bis auf ...
Ich höre ein leises Plätschern, sehe neben mir einen klaren Bach funkelnd fließen. Der war doch eben noch nicht da. Doch was soll’s, jetzt mache ich meinen ersten Schritt in eine neue Welt. Wohin?, frage ich mich noch, während meine Füße schon ihren Weg wählen und mir etwas Wichtiges fürs Überleben einfällt. Es ist ein Tipp für Absturzopfer im Regenwald. »Geht, bis ihr an einen Flusslauf kommt! Dort folgt dem Ufer! So trefft ihr immer auf Menschen und seid gerettet!«
Nun gut, so mag es sein in einer anderen Welt, doch hier gibt es ja gar keinen Regenwald, auch keinen Fluss, doch immerhin einen Bach. Ist doch schon einmal was.
Ob es hier irgendwo auch andere Menschen gibt?
Ich weiß es nicht und zögere, erinnere mich vage. Da war doch etwas, dem ich folgen muss.
Schon taucht er vor mir leuchtend wieder auf, mein Pfad, schlängelt sich am Bach entlang und verschwindet dann fern im Dunkel.
Ich folge seinem Licht, gehe weiter und immer weiter.
Dann ist er plötzlich verschwunden, es ist, als hätte jemand eine Lampe ausgeknipst, erinnere ich mich. Und auch das Land ringsum versinkt in tiefste Nacht.
Schwärze?
Ich schaue empor. Schwarze Wolken verhüllen die Mondin.
Also bin ich nun allein und verlassen, fern aller Menschenwelten. Verharre, denn ich bin blind, habe weder die tastenden Fühler einer Grille noch die kleinste Luftschwingungen messenden Becherhaare der Spinne und auch nicht Mund, Nase und Ohren einer Fledermaus.Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Wolken vorüberziehen zu lassen und auf ein wenig Licht zu warten.
Jetzt taucht die Mondin wieder über mir auf, gewaltig und hell, als wäre sie ein brennender Stern. Dankbar schaue ich sie an und so voller Sehnsucht: Werde ich ihr irgendwann einmal nahe sein, sie gar betreten?
Der Traum ist aus. Ich gehe weiter am Bachlauf entlang, der immer lauter plätschert. Und doch bin ich allein auf weiter Flur. Diese weite, in magisches Mondinlicht getauchte Ebene erinnert mich an andere Weiten, die ich nie betreten habe, die kein Mensch jemals erreichen kann, und von denen ich dennoch weiß. Seltsam, seltsam sollte mir dies scheinen und – tut es nicht.
T-HER ist der Name der Wüstenwelt, die ich meine.
Ich erinnere mich aber auch an ferne Regionen auf dieser Erde, die ich ewig durchwandern könnte, ohne jemals an ein Ende zu gelangen. Ich denke an Wiesen, so weit, so groß, so grenzenlos, mit seltsamen Namen aus anderen Sprachen: Tundra, Prärie.
Ich denke an endlose Steppen, die irgendwo in den Sand von Wüsten übergehen. Irgendwann werde auch ich in euch sein - Erinnerungen an meine Zukunft?
Und ihr werdet in mir sein. Ihr seid es ja.
Ich schaue auf aus meinen Träumen. Zur rechten Zeit!
Ich stehe an neuen Ufern. Dort, so dicht vor mir, ist - nichts!
Schwindel. Ich knie nieder. Vorsichtig robbe ich auf dem Bauch voran. Auf allen Vieren nähere ich mich der Grenze zum Nichts? Ich spähe hinab in die Tiefe. Habe ich also das Ende der Ebene erreicht, denke ich und erhebe mich wieder. Ich stehe am Rande des Hochplateaus und schaue auf ihn hinab, der sich dort unten so weit erstreckt, wie mein Auge reicht, schwarz und weit und ohne Ende. Oh ja, dort ist Leben, Leben ist in ihm, er selbst ist Leben, Pflanzenleben. Und sein Name lautet Wald.
Plötzlich ist auch der Ton wieder da. War eben noch hier oben wirklich alles still? Oder war ich taub? Nach schweigendem Staunen höre ich jetzt ein lärmendes Brausen, drehe meinen Kopf nach rechts. Hier so dicht neben mir stürzt der Bach hinab. Silbern schimmern die Wasserfluten im Mondinlicht. Mein Gott, denke ich, welch fantastisch schönes magisches Bild. Und schon ist der andere Gedanke da, der in mir flüstert: Was für ein Fall im Wasserfall, die Felsen hinab in tiefste Tiefen stürzen! Und jetzt sehe ich ihn ja auch, dort mitten drin im brodelnden Wasser leuchtet mein Pfad. Dorthin führt er mich also, dorthin geht mein Weg, dorthin stürze ich mich: hinab.
Noch zögere ich, stehe nur staunend da. Aber das Verlangen, der Zwang, der Sog, die Lust in mir werden immer stärker.
Weine ich? Lache ich? Träume ich? Was werde ich tun?
Ich betrete das Bachbett, durchwate es bis zum Klippenrand, breite meine Arme zur Seite aus, hebe sie hoch. Dann springe ich vor.
STURZ
HIN
AB!
Und während ich senkrecht falle - hui! - von Wasser umflutet falle, noch immer falle, fällt mir ein: Ja, so ist es immer: je höher, desto tiefer - Aufstieg - Schweben - Fall.
Ich öffne meine Augen ein zweites Mal in dieser neuen Welt. Ich öffne meine Augen am Ufer eines kleinen Sees, in den ein Bach - ich schaue empor - aus höchsten Höhen ohrenbetäubend niederfällt. Jetzt fällt mir mein Sturz wieder ein. Mehr nicht. Irgendwie und irgendwann bin ich ans Ufer gelangt.
»Ich lebe!«, rufe ich hinaus in die Welt. Dann stehe ich auf. Und da ist er, so nah wie nie zuvor, so fern zugleich, jetzt in diesem Augenblick und dann nie mehr: der Wald.
Noch verborgen hinter seinen Ufern warten - nein - leben wunderbare Wesen, die sind wie ich. Von Zeit zu Zeit ein unheimlicher heulender Laut. Der Kauz des Waldes ruft in der Nacht: »Huuu...u-uuuuu!«
Und noch immer brennt die Sehnsucht in mir, die mich aus der Stadt fortriss, in den Nachthimmel empor über eine weite Ebene hin an seine lockenden Ufer. Still stehe ich nun da, still und staunend in der Nacht. Dort hinter säuselnden Blättern verborgen, doch nicht mehr begraben, liegt - meine Zukunft.
Und ich, der ich dem Rufen gefolgt bin, das mich weckte aus meinen Träumen, dem Rufen aus fernen Räumen und Zeiten, das mich hierher lockte, was soll ich nun tun?
Ich stehe noch immer still.
Wie viel Zeit ist vergangen? Seit wann? Welche Zeit? Was ist Zeit?
Tief atme ich sie ein, die frische klare Luft des dämmernden Morgens am Ufer dieses Sees, am Rande dieses einen Waldes.
Und überall ist rauschendes Laub, rings um die winzige Lichtung aus Gräsern und Sträuchern und See, in meinem Rücken der rote Fels, der sich nun verfärbt unter dem Licht von Vater Sonn. Mein erster Morgen in dieser neuen Welt.
Hier, wo ich warte (worauf?), ist Licht, ist Tag.
Und dort die Nacht?
In der Tiefe ist der Nachtwald Schweigen. Doch ist er nicht tot. Denn in den Kronen ist Leben. Dort wimmelt es. Dort krabbelt es und springt und fliegt von Baum zu Baum. Selbst Spinnen gleiten dort auf lang behaarten Beinen gleich fliegenden Teppichen von Ast zu Ast ...
So gelangte ich also von einer Welt in eine andere, von der Gegenwart in die Vergangenheit, die meine Zukunft war. Damals wusste ich nicht, wo ich mich befand. Und auch die Erinnerungen an die alte Welt Stadt verblassten mehr und mehr. Heute, wo ich alles wieder klar vor Augen sehe, heute weiß ich um die Zusammenhänge. Heute weiß ich, dass ich aus der Stadt hinaus immer Richtung Westen schwebte, der Drehung der Erde entgegen und der Nacht und gegen den Wind und zurück in der Zeit. Deshalb also dieser gigantische Wald. Deshalb also diese klare sauerstoffreiche Luft, »oxygène«, Lebensstoff, den ich einsog in vollen Zügen. Und diese Stille voller Stimmen der Natur. Ja, damals war es, geschah es, als ich die Welt Wald betrat.
Endlich gehe ich doch einen schmalen Weg - war er schon immer da? -, der führt mich aus dem hellem heißen Mittagssonn heraus und hinein in ein Spiel von Licht und Schatten: Wald. Nun bei Tag ist der Weg dunkel, keine Spur, nicht ein winziges Schimmern von einem Leuchtenden Pfad, den ich mir wohl einst zu anderer Zeit in einer anderen, jetzt schon so fernen Welt erträumte.
Ich bin hineingegangen.
Ob ich ihn jemals wieder verlassen werde?
Was soll’s. Jetzt ist hier, und jetzt heißt Wald.
Schon hüllen mich seine Lieder ein.
Einmal noch schaue ich zurück. Hell leuchtet zwischen den Stämmen der Bäume die rote Wand aus Fels mit glitzerndem Wasserfall. Alles andere sehe ich schon nicht mehr: nicht das Ufergebüsch, nicht den See, nicht den Bach und nicht das Hochplateau. Noch weiter in der Ferne, weit hinter mir und weit im Osten, so verschwommen schon hinter Nebeln tief in mir, dort liegt und lebt eine andere Welt mit Namen Stadt. Dort komme ich her?, denke ich verwundert, und dann verstehe ich, was Erinnern ist: weniges so wunderbar klar, dazwischen weite Leere, so fern das Alte, alles, was vergangen, aus dem ich kam, in das ich nie mehr wiederkehren werde.
Urwüchsiger Wald. Das sind Riesen unter den Bäumen, uralt, Eichen und Buchen, mit Kronen weit oben, fern für Menschen, die schon seit Jahrmillionen die Äste nicht mehr bewohnen.
Wald: Das ist Laub, so grün, so hell im Licht von Vater Sonn.
Wald: Das sind die kleineren, jüngeren Bäume.
Wald: Das sind Sträucher und Kräuter über dem Laub, das ist auch Moos an dunkleren Orten.
Dies alles aber lebt oberhalb des unterirdischen Meeres der Wurzeln, wo Pilzfäden das Wurzelhaar umgarnen und Bäume mit Bäumen verbinden, sich so ein von Nahrung durchströmtes Netz bildet, Vielfalt und Einheit zugleich, neu und mehr als alle Teile: Wald. Darüber, über dem Boden, dort in den Schattenwelten, wo Pilzkörper emporwachsen und auch die Pfade der wilden Tiere verlaufen, dort auf dem Boden ist die Farbe der Tarnung braun, oben in den Gipfeln aber, zwischen den Blättern, ist alles Grün, fällt mir ein - denn ich denke schon wieder an einen anderen Wald, der ist voller Wasser und Wärme. Wie viele Arten von Wäldern es wohl geben mag?
Hier aber, heute und jetzt pulst der Strom in den Blättern, höre ich noch nicht das Singen des Chlorophylls und das Wachsen der Wurzeln unter der Oberfläche der Erde - ein sanftes Gleiten durch Zeit. Doch lausche ich bei Tag dem Gesang der Vögel, dem Hämmern der Spechte, dem Huschen und Springen der Eichhörnchen. Da und dort das leise Rascheln einer Maus am Boden. Und erst das Insektenheer dicht unter und über der Erde, in den Kräutern und Sträuchern, oben in den Wipfeln der Bäume und summend in den Lüften. Waldschmetterlinge gaukeln vor meinen Augen vorbei. Spinnennetze, gigantisch zwischen den Bäumen, überqueren meinen Pfad. Und ich weiche ihnen aus, umgehe sie, verlasse für einen Augenblick nur den Weg des großen Wildes, schaue hinab, bleibe stehen, schließe meine Augen und »sehe« hinein in das Nachtreich der Regenwürmer unter meinen Füßen, schaue die Lebensströme dort unten, die da in Stämmen, Ästen, Zweigen und Blättern empor- und hinabfließen. Alles ist mit allem verbunden. Dann höre ich das Rauschen meines Blutes in mir, sehe Pulse von Energie auf Nervenbahnen bis an Synapsen rasen und darüber hinaus und begreife ohne das Tasten einer Hand, verstehe ein wenig von allem: wie unten, so oben - wie außen, so innen - so Viele(s), alles ist eins!
Das alles geschieht bei Tag im Frühling eines von niemandem gezählten Jahres, so fern den Menschenwelten. Das alles atme ich ein, staunend und immer mehr eins mit dieser Welt werdend und all ihren Wesen, die sind wie ich.
Ja, es war überwältigend, da war keine Spur mehr von Einsamkeit in mir zurückgeblieben. Auch sollte es nicht mehr lange dauern, bis ich einen der größeren Waldbewohner aus Fleisch und Blut - und Federn traf. Es war (k)ein seltsamer Kauz.
Tropfen fallen aus dem Laub. Rinnende Bäche aus höchsten Höhen an flechtenbewachsenen Stämmen. Und mein Weg in das Dunkel ist ein schillernder Pfad. Und doch ein Sommerta… Halt! Rasend schnell wird es dunkel. Da bleibt kein Platz für den Abend, schon ist die Nacht hereingebrochen, denke ich vollkommen durchnässt. Doch die Luft bleibt warm. Wärme und Feuchtigkeit. Neben mir und um mich herum ist alles schwarz.
Bisweilen wird es heller, dann leuchtet über allem die bleiche Mondin durch das Blätterdach. Sie sah die Riten in steinernen Kreisen. Sie hörte die Schreie der Opfer. Sie wand sich unter dem magischen Wort.
In mir lässt sie Hoffnung aufglühen. So gehe ich weiter hinein in den endlos scheinenden Wald.
Irgendwann versiegt der Regen aus ungesehenen Himmeln. Und während ich immer weiter und weiter gehe, lerne ich die Schreie der Nacht zu lieben. Denn sie sind Leben. Denn sie sind geboren aus der Zelle, der auch ich entsprungen bin. Denn all die Wesen, die sie singen, sind meine Schwestern und Brüder. Gedankenversunken, träumend vielleicht, blicke ich auf und ...
Da dreht sich ein großer runder Kopf um 180 Grad auf den Rücken herum zu mir, als wandle sich auf magische Weise Rinde zum Tier. So dicht vor meinem Gesicht vom Ast einer Eiche aus schaut sie mich aus schwarzbraunen Augen an: Käuzin des Waldes und nicht Kauz, weiß ich sogleich - woher? Staunend stehe ich da mit offenem Mund und sage kein Wort. »Was verbirgt sich hinter der Schwärze deiner Augen?«, flüstere ich ihr zu.
Sie aber antwortet nicht.
In diesen Augen versinken, denke ich, schwarz wie das All, schwärzer noch, denn ohne Sternenlichter und ohne Mondin, Dunkle Materie, verloren, verloren ...
Während ich so zu träumen beginne und noch immer nichts weiß, erklingt in mir ein Gruß. »Hallo Manfred!«, spricht die Käuzin, ohne dabei ihren Schnabel auch nur ein einziges Mal zu bewegen.
»Du!?«, rufe ich erstaunt. Und schon wirbeln meine/deine/unsere Gedanken zusammen, schwingen synchron in einem Strom und ... lautlos durchgleite ich in dir die Nacht, während mein Menschenkörper fern auf Moosen ruht. Die Jagd hat begonnen. Sehen und hören so intensiv wie nie zuvor! Überall ist Rascheln. Ich stürze hinab und greife mit den spitzen Krallen zu. Dann nehme ich die Waldmaus in meinen kräftigen Schnabel und schlinge sie hinunter. Und weiter geht mein lautloser Flug. Schlafende Vögel überraschen, aufschrecken und im Fluge fangen. Jetzt töte ich einen durch den Griff meiner scharfen Fänge. Dann schlinge ich auch ihn, Kopf voran, hinab. Und wieder steige ich auf. Ich fliege in dir.
Alles aber, was immer es sein mag, wann immer es begann und wie fantastisch, grandios, überwältigend es war, alles endet irgendwann und irgendwo irgendwie, also auch diese Nacht, in der Mann und Frau, Mensch und Eule eins geworden sind. So bricht ein neuer Tag an, und ich kehre wieder zurück in meinen menschlichen Körper, schlafe ein, nehme nicht mehr wahr, was nun geschieht: Denn die Waldkäuzin fliegt vom Ast eines Baumes auf. Dreimal umkreist sie den Menschen, den wir Manfred den Magier nennen, dreimal ruft sie ihm ein lautes schrilles »kiuwitt« zu.
Ich aber träume von Verwandlung, von einem Menschen, der die Gestalt einer Eule annimmt. Es ist ein schwarzer Mann vom Stamm der Yártatgurk an einem fernen Ort. Ich höre ihn in einer fremden Sprache reden. Ich verstehe seine Worte: »Meine Brüder sind Fledermäuse. Eulen aber sind die Schwestern unserer Frauen.« Dann träume ich von dir, und du bist eine Eule, ich aber bin ein Mensch. Und beide sind wir voller Sehnsucht und Liebe. Ich verwandle mich in eine Fledermaus, die du jagst und niemals fängst, denn ich höre, sehe dich von einem schwarzen Schatten gepackt sterbend zur Erde fallen, tiefer und tiefer hinab in endlose Höllenschlünde. »Nein!«, schreie ich und wache schreiend auf.
Setze mich auf, reibe mir verwundert nicht nur den Schlaf, sondern auch meine Tränen aus den Augen, verstehe nichts und - vergesse diesen Alb. Es muss schon später Nachmittag sein. Also stehe ich auf und gehe weiter, folge meinem Pfad in die Tiefen des Waldes und frage mich immer wieder: Traf ich dich wirklich als Käuzin oder träumte ich nur von dir und davon, dass meine Seele vereint mit dir in einem Eulenkörper durch die Nacht flog? Oder war alles ganz anders? Verwandelte ich mich gar selbst in einen Waldkauzmann, der war wie du, »Huuh-huchuuuu?« Flogen wir also zu zweit auf die Jagd, erlauschten wir beide das Rascheln der Mäuse, die wir fingen und verschlangen mit Haut und Haar, und überraschten wir die Buchfinken mitten im Schlaf? Ich erinnere mich an unsere Schreie im Dunkel der Nacht oder aber an deinen Schrei, der auch der meine war, wenn ich flog mit dir in dir. Wo bist du jetzt? In deiner Schlafhöhle irgendwo in einem Baum? Im Laub der Krone versteckt? Verborgen für Magieraugen? Und wer überhaupt bist du? Und wer bin ich?
Wie wenig wusste ich damals von meinen eigenen Fähigkeiten! Hätte ich die Käuzin gesucht, ich hätte sie gefunden. Aber ich tat es nicht, denn noch folgte ich nur meinem Leuchtenden Pfad, noch sollte ich allein, aber nicht einsam, durch den Wald wandern.
Obwohl ... Ich begegnete auch anderen Menschen. Ja, jetzt erinnere ich mich. Nein, eine Begegnung war es nicht. Ich sah ihnen nur zu, den Gestalten, die einem Roman entsprungen sein könnten, ach, einfach entsprungen sein müssen. Es waren vier Jungs und ein Eremit.
Und eigentlich begann alles viel früher, lange vor unserer Zeit. Es begann irgendwo im Nirgendwo zu keiner Zeit. Ein Blitz schlug in die endlosen Wälder ein. So wurde das Feuer geboren. Die ersten Menschen sammelten und hüteten es.
Hier aber, an diesem Ort zu einer anderen Zeit, war es frei und wuchs gewaltig und mähte den Wald gleich einer Sense nieder. So entstand die Lichtung, wuchs zur Wiese mit Sträuchern und jungen Bäumen. Ja, die Lichtungen sind es, wo das Leben im Wald wimmelt, nur dort, an den Außengrenzen und oben in den Kronen und Wipfeln. Lichtungen, das sind von Feuer und Sturm geschaffene Inseln in der großen Welt Wald.
Diese eine Lichtung erreiche ich am Abend. Dort ersteige ich einen alten Baum. Ich steige? Nein! Die Eiche neigt ihre Äste und nimmt mich auf. Oben liege ich in einem Bett aus Zweigen vom Blättermantel umhüllt, und meine zweite Haut färbt sich wie Eichenstamm, -ast und - laub. So verschmelze ich mit meiner Umgebung und dem Hintergrund, und kein Mensch kann mich sehen, noch ein Tier mich riechen oder irgendwer mich atmen hören, denn Pflanze, Baum, Eiche sind eins mit mir. Schlafe ich nun ein in ihr und träume?
Ich richte mich auf und sehe - die Lichtung im Wald, die Wiese im Abendlicht, den untergehenden Sonn. Der Weise sitzt auf der Erde im Lotossitz, ein Eremit. Nicht weit entfernt, am anderen Ende der Lichtung liegt sein Heim, im Felsenhang das Höhlenloch. Lächelnd schauen seine Augen ins Nichts. Denn sein Geist schweigt, schwingt und klingt in allem.
Vier Halbstarke springen aus den Büschen, brüllen, lachen.
Die sehn doch aus wie die Jungs aus Burgess’ /Kubricks Uhrwerk Orange, aber ohne Ludwig van, denkt der Leser und hat Recht. Jawohl, sie sind es: Alex und seine drei Droogs: Georgie, Peter und Dim.
»Hey, du da, alter Tattergreis!«
»Faule Sau! Was sitz’ de denn da so rum?«
»Der hockt da und grinst! Hey, Jungs, ich glaub’, der lacht uns aus!«
»Mann, der lacht uns aus! Dem Arsch wird das Grinsen gleich vergehen. Damit ist jetzt Sense. Ausgelacht, ausgelebt. Auf, auf, es lebe die Ultrabrutale!«
Ich sehe dies alles, schaue ihnen von oben aus der Eiche heraus zu, mit der ich verschmolzen bin: viel Pflanze und wenig Mensch. Nichts als wache Augen im Laub würde die Käuzin vielleicht erblicken, wäre sie hier, doch niemals die Jungs, sähen sie sich um. Aber das tun sie ja nicht, denn sie sind beschäftigt mit dem Alten.
Und der?
Der kehrt zurück aus der Versenkung.
»Kommt, Männer!«, brüllt Anführer Alex - ein Mann der großen Worte, aber auch der Tat - hebt seinen Stock, lässt ihn durch die Luft und runter auf den Hinterkopf des Alten sausen. Der Stock zerbricht an unsichtbarer Wand, und nicht nur der, sondern auch die Knochen des Schlägers: Hand und Unterarm. Knacks! Schon wälzt sich Alex vor Schmerzen auf der Erde. Schreiend hält er sich den Arm: »Du Schwein! Helft mir Leute, helft mir doch!«
Keine Chance.
Denn wir kundigen Kinogänger, Fernsehgucker und Leser wissen es längst: Die haben ja noch eine Rechnung mit ihrem Boss Alex offen.
Georgie, Peter und Dim machen sich also aus dem Staub.
Alex hingegen ist gar nicht begeistert, brüllt noch immer vor Schmerzen: »Scheiße, Mann! Mein Arm ...«
Sein Arm fängt Feuer, dann sein Torso, seine Beine und schließlich auch sein Kopf. Brennend und schreiend rennt er - denn noch lebt er - in den Wald, der seltsamerweise nirgendwo Feuer fängt.
Armer Alex. Nicht nur dort in jenem Buch, in jenem Film, auch hier ist er immer der leidende Täter. Armer Alex. Glücklicher Eremit.
Still liegt die Lichtung wieder vor meinen Augen, die ich mir verwundert reibe - aha, habe ich also doch noch Hände, die aussehen wie Äste voller Blätter, aber immerhin, alle Finger sind noch da- Ich schaue wieder in die Ferne. Alle sind fort, auch der Alte ist verschwunden. So entblättere ich mich wieder, denn es ist Morgen und die Eiche erwacht aus ihren nächtlichen Träumen. Ich aber gehe weiter meinen Weg, nur wenige Schritte zunächst, und finde mich wieder mitten auf der Lichtung.
Ein alter Mann, denke ich. Wer er wohl war? Könnten wir uns kennen? Haben wir uns irgendwann getroffen? Werden wir uns noch kennen lernen? Kennen wir uns etwa in den Tiefen unserer Seelen seit Ewigkeiten - schon immer?
So war es. Wir kannten uns. Denn ich und er und alles um uns herum in dieser Welt - die Tiere, die wenigen Menschen, die Bäume und alle anderen Pflanzen und Pilze, Bakterien und auch Steine und Erde- alles in diesem Wald war voller Magie und miteinander verflochten, verbunden, eins. Es war und ist in Ewigkeit ein magischer Wald.
Ich setze mich ins Zentrum dieser einen Lichtung. Sonn ist Wärme in kühler Luft, Blätter beginnen zu segeln. Endlos, so scheint es mir, traumhaft und ohne Laut schweben sie hinab im Zeitlupenfall ihrer Mutter Erde entgegen.
War es nicht eben noch Frühling? Ist jetzt schon Herbst? Wie rasend schnell die Zeit doch vergeht.
Nun höre ich auch die Bäume flüstern und singen.
Dann wieder nur das Rauschen des Laubes im Wind.
Dem Rauschen lauschen. Ja.
Denn ich bin Magier im magischen Wald einer magischen Welt.
Sieh an, Rauschen gebärt den Flügelschlag. Und wieder ist da der alte bärtige Mann, den die Jungs nicht vertreiben konnten. Lächelnd schaut er mich an.
»Oh«, seufzt meine Seele. Denn es sind meine blaugrauen Augen mit einem gelblich-grünen Kranz rings um die Pupillen. Sie zwinkern mir zu, ein Gruß aus seinem/meinem alten Gesicht.
Schon ist er wieder verschwunden, der andere, dem ich nie mehr begegnen werde, es sei denn im Spiegel des klaren Wassers, irgendwo und irgendwann. Da ist nur noch Laub, das rauscht im hellen Grün unter den Frühlingsstrahlen des Sonns.
So verlasse ich dann also doch noch die Lichtung, folge weiter meinem Leuchtenden Pfad hinein in die Tiefen des Waldes, immer weiter, immer tiefer hinein. Da ist kein Fragen, was kommen wird, kein Erinnern. Da ist nur Wald, da bin nur ich. Und während ich raste und ruhe, begreife ich, was anders an diesem Wald ist, anders als in all den anderen Wäldern einer anderen fernen Zeit. Hier leben nur wenige Menschen, hier scheint nachts immer und ewig eine Volle Mondin, hier wechseln die Jahreszeiten so plötzlich von einem zum anderen Augenblick. Und auch die Tageszeiten: Ehe man sich versieht, und schon ist Nacht aus den Sternen gefallen, wo eben noch hell und flimmernd Licht und Schatten waren.
Oder aber es sind die Erinnerungen, die mich täuschen, jetzt, wo ich dir alles erzähle. So viel Vergessen! Nur die wahrhaft phantastischen Abenteuer meines Lebens, die Dinge, die nur einmal geschahen, fallen mir wieder ein. Deutlich erinnere ich mich noch an die für Menschen und Magier so winzigen Wesen der Nacht. Ihr Tag ist unsere Nacht. Und ein seltsames Wort fällt mir ein, das da lautet: Streichelzeit.
»Wach auf! Wachwach auf!«, hallt der Ruf in mir, »wach auf, die Nacht erwacht!«
Überall kriechen heraus, klettern und huschen empor die Wesen der Dunkelheit.