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»Du kennst diese Welt nicht, Rachel. Bilde dir nicht ein, etwas über ihre Monster zu wissen.« Ein echtes Abenteuer auf Bali erleben, davon träumt Rachel schon lange. Doch als sie endlich auf der Insel ankommt, reißt sie eine mysteriöse Begegnung mit einem Affen aus ihrer Realität. Unbeabsichtigt betritt sie ein geheimes Portal und findet sich in der magischen Welt Lopahr wieder. Dieses fremde Reich wird beherrscht von Flüchen, uralten Geheimnissen und Ungeheuern. Rachel spürt schnell, dass sie hier ohne Hilfe keine Überlebenschancen hat. In ihrer Not schließt sie einen Pakt mit einer zwielichtigen Kreatur. Als ihr klar wird, dass sie dadurch weit mehr als ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hat, verschärft sich ihre Lage: Sie muss nicht nur ein Tor zurück zur Erde finden, sondern auch eine Möglichkeit, den Pakt aufzulösen. Für Rachel beginnt ein Kampf gegen die Zeit, die Monster Lopahrs und ihr eigenes Herz, denn inmitten all der Gefahren droht sie, einem Mann zu verfallen, den sie nicht lieben darf. Magisch. Spannend. Romantisch. Der Auftakt der sechsbändigen High-Fantasy-Romance-Saga.
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Seitenzahl: 496
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cornelia Schulz
Die Pforten von Lopahr
Tore und Wächter
Band 1
Content Notes
Die Content-Notes zur Lopahr-Serie
finden Sie auf der Website der Autorin:
www.corneliaschulz.com
Impressum
© Cornelia Schulz, 2025
Alle Rechte vorbehalten
Deutsche Erstausgabe 2025
Verlag: LAUSCH medien, Hamburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München | www.ava-international.de
Lektorat: Philipp Bobrowski | lektor.philippbobrowski.de
Korrektorat: Melissa Preßler | lillypressler.de
Cover: Alexander Kopainski| kopainski.com
Gestaltung der Landkarte: Cornelia Schulz
Illustrationen in Rachels Notizen: Vessela Kolibarova | instagram.com/jessybllu
Gestaltung von Rachels Notizen: Erika Markkinen | merlausch.de
Ausführliche Informationen über die Autorin und ihre Bücher finden Sie unter www.corneliaschulz.com
Instagram: @cornelia_schulz_autorin
TikTok: @cornelia_schulz_autorin
Facebook: Fantasywelten von Cornelia Schulz
Für Christian.
Weil ich dich lieb hab.
»Chetter!«
Kapitel 1
Mai, 2010, nach irdischer Zeitrechnung
Vorsicht vor den Affen« stand auf einem blutroten Schild am Ausgang des Flughafens in Denpasar, aber außer Rachel schien es niemandem aufzufallen.
Sie hätte gelacht und es als einen Witz der Einheimischen abgetan, wären ihr nicht hinter dem Glas der Schiebetüren ein Dutzend Makaken aufgefallen, die auf Geländern, Mülleimern und sogar auf Gepäckwagen saßen. Die Tiere pflegten sich nicht gegenseitig ihr Fell oder durchwühlten Mülltüten nach etwas Essbarem, sondern hockten unheimlich still da und starrten mit ihren goldbraunen Augen Rachel an, so als hätten sie auf ihre Ankunft gewartet.
Rachels Puls stieg an, ihre Schritte stockten. Wieder flog ihr Blick zu dem blutroten Schild. Niemand im Flughafen nahm Notiz von der Warnung. Und niemand außerhalb schien sich an dem seltsamen Verhalten der Affen zu stören. Die Taxifahrer buhlten um Gäste, und wichtig aussehende Leute in Anzügen rauchten seelenruhig Zigaretten, während der Rest zu einem eifrigen Gewimmel aus leuchtenden Sarongs verschwamm.
Rachel schimpfte sich eine Närrin und zwang sich, weiterzulaufen. Es waren bloß Affen.
Sie umklammerte den Griff ihres kleinen Rollkoffers fester, verlagerte das Gewicht des Tagesrucksacks auf der linken Schulter, ging durch die Schiebetür nach draußen und hielt auf den Parkplatz zu. Die drückende Nachmittagshitze hüllte sie ein wie eine feuchtwarme Decke gewoben aus Dunst und den Duftnoten von Sandelholz und Müll am Straßenrand.
Tief atmete Rachel den Gestank und die Schwüle ein, krempelte rasch ihre Hosenbeine hoch und band sich das lange schwarze Haar zu einem Zopf zusammen. In Bali herrschte wahrhaftig eine ungewohnt hohe Luftfeuchtigkeit. Das hatte sie bisher nur in Gewächshäusern erlebt, die Tropenpflanzen beherbergten. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Haut und sie wusste jetzt bereits, dass sie die kommenden zwei Wochen auf der Insel lieben würde.
Die Räder des Rollkoffers holperten durch ein Loch im Bürgersteig, rissen Rachels Aufmerksamkeit auf das wohl sonderlichste Gepäckstück, das sie in ihren siebzehn Lebensjahren auf eine Urlaubsreise mitgenommen hatte. Es war ein Handgepäck-Trolley aus Titan, den man nur öffnen konnte, wenn man den endlos langen Zahlencode am elektronischen Schloss eintippte und darüber hinaus die Handschelle öffnete, die den Koffer mit Rachels rechtem Handgelenk verband.
Rachel stellte öfter Briefe, Zeitungen oder Werbebroschüren zu, um Geld zu verdienen. Eine streng geheime Rezeptur allerdings hatte sie noch nie ausgeliefert. Schon gleich gar keine, die sich in einem Titankoffer befand. Zumindest bis heute.
Sie hatte es sich verboten, auch nur einen Blick in den Koffer zu werfen. Sie kannte den Zahlencode und sie besaß die Schlüssel, um die Handschelle zu öffnen, aber nur weil man etwas tun konnte, bedeutete das nicht, dass man es tun sollte.
Ein einziges Mal war sie bisher kurz davor gewesen, den Koffer zu öffnen. Und zwar vor ihrem Abflug, als gleich drei Diebe am Flughafen in Frankfurt versucht hatten, das Titanteil zu stehlen.
Die Langfinger waren nicht auf Rachels Pfefferspray vorbereitet gewesen, und Rachel hatte zu dem Zeitpunkt ernsthaft erwogen, den auffälligen Koffer in der Flughafentoilette zu lassen und die Rezeptur in ihrem ausgefransten Rucksack zu verstecken, in dem mit Sicherheit niemand eine vielversprechende Formel für Anti-Aging-Creme vermuten würde. Sie verstand einfach nicht, wie ihr Auftraggeber davon ausging, dass der Koffer keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Selbst der Affe auf der Bank weiter vorn am Gehweg schien das Titanteil kritisch zu beäugen.
Rachel reckte den Hals, hielt Ausschau nach ihrem Onkel. Er hatte angeboten, sie abzuholen und – ein Ruck ging durch ihren rechten Arm hindurch.
Jemand zog an dem Koffer. Es war der Affe von der Bank. Mit beiden Händen riss er an dem Titanteil.
»Hey!« Rachel zerrte an Handschelle und Teleskopgriff. »Lass das!«
Der Affe bleckte die Zähne, kreischte aufgebracht und zog stärker an dem Koffer.
Durch das Gerangel mit dem Tier taumelte Rachel quer über den Parkplatz. Ein Auto hupte. »Ich sagte, du sollst das lassen!« Sie fischte in der Hosentasche nach dem Pfefferspray, nur um sich daran zu erinnern, dass sie es vor dem Security-Check weggeworfen hatte.
In einem verzweifelten Versuch, den Affen loszuwerden, schleuderte sie ihren Rucksack nach ihm. Ein Fehler, wie sie nur einen Herzschlag später feststellte. Denn der Affe duckte sich unter dem fliegenden Rucksack hindurch. Ließ den Titankoffer los. Stürzte sich auf sie. Und versenkte seine Zähne in ihrer Wade.
Glühend heißer Schmerz fraß sich durch ihr Bein. Rachel schrie auf, neben ihr kamen Reifen quietschend zum Stehen. Sie packte den Affen am Kopf, eine Autotür wurde aufgerissen. Hasserfüllt starrte das Tier aus seinen goldbraunen Augen zu ihr auf, bevor es ruckartig von ihr abließ und bei der Flucht beinahe von einem Motorrad überfahren wurde.
Mit einem heiseren Zischen betastete sie die Bisswunde, da fiel ein Schatten über sie. Hände packten ihre Schultern, zwangen sie, in das vertraute Gesicht ihres Onkels aufzuschauen.
»Rachel, bist du okay?« Sorge verzerrte die Narbe über seinem linken Wangenknochen. Richard war erst achtunddreißig, wirkte an den meisten Tagen jedoch wie sechzig mit seinem grauen Haar und dem ernsthaften Zug um den Mund. Er hatte ihr nie erzählt, welches Ereignis die Farbe in seinen Strähnen gestohlen hatte. »Verdammt, du blutest!« Er rannte zu seinem Auto – ein Jeep, wie sie nun bemerkte – und kam mit einem Verbandskasten zurück.
»War das ein Affe?«, fragte er ungläubig und sprühte Desinfektionsmittel auf den Biss. »Sobald wir daheim sind, geben wir dir eine Tollwutimpfung.«
Es überraschte sie, dass er den Impfstoff zu Hause hatte. »Ich hätte das Schild ernst nehmen sollen«, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch.
»Welches Schild?«
Sie deutete auf das blutrote Stahlschild neben einem Taxistand. »So eines hängt auch am Ausgang des Flughafens.«
Stirnrunzelnd studierte er den Hinweis über die Affen, bevor er ihre Wade mit Mull umwickelte. »Das ist mir noch nie aufgefallen.«
Rachel ignorierte das Pochen am Bein und stieg irritiert ins Auto ein. Ihr Onkel war doch nicht das erste Mal am Flughafen. So oft, wie er in der Vergangenheit ihre Mutter von hier abgeholt hatte, musste er das Gelände in- und auswendig kennen. Wahrscheinlich waren die Schilder neu.
Während sie vom Parkplatz fuhren und sich in den regen Abendverkehr einfädelten, hielt Rachel Ausschau nach dem Affen. »Glaubst du, der Affe wollte den Koffer stehlen?«
Richard bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. Sofort bereute sie ihre Worte. Was, bitte schön, sollte ein Affe auch mit einem Koffer anstellen? Auf Shoppingtour gehen? Das blinkende Display daran musste ihn angezogen haben. »Entschuldige, das sind meine Nerven.«
»Du hättest dich nicht auf diesen Deal einlassen sollen«, meinte er sanft. »Anstelle deiner Mutter den Kurier für die geheime Rezeptur zu spielen.«
Sie grub in ihrem Rucksack nach dem Schlüssel für die Handschelle und öffnete sie. »Das darfst du mit meinem Geldbeutel ausdiskutieren, die Idee stammt nämlich von ihm. Vom Zeitungsaustragen kann ich mir einen Flug auf deine Insel nicht leisten.«
»Hm. Davon hat deine Mutter aber nichts gesagt. Sie hat mir erzählt, es wäre an der Zeit, deine Angst vor dem Fliegen zu bekämpfen.«
Rachel lachte trocken. »Unnötig zu erwähnen, wie gut das mit der Flugangst geklappt hat.« Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die als Botin alle zwei Wochen auf Kosten ihrer Firma mit dem Flugzeug verreiste, war Rachel noch nie zuvor geflogen. Wenn es nach ihr ging, würde sie das auch nicht wiederholen. Ihre Knie zitterten beim bloßen Gedanken an den Rückflug. »Ich wollte dich sehen«, murmelte sie und kurbelte das Fenster herunter. »Dein Zuhause. Mutter schwärmt so oft von deiner Kokosnussplantage.«
»Und da hast du gedacht, sobald ihre Firma wieder eine Lieferung nach Bali hat, schlägst du ihr einen Tausch vor? Sie bleibt in Deutschland, du spielst den Kurier?« Richard steuerte den Jeep aus der Stadt hinaus und folgte einer schmalen Landstraße, die sich durch sanfte Hügel schlängelte. Wie smaragdgrüne Wellen breiteten sich zu beiden Seiten Reisterrassen aus, auf denen Kokospalmen im Wind wiegten. »Hast du im Flieger wenigstens etwas essen können?«, fragte er mitfühlend.
»Ich habe vier Brechtüten gebraucht.« Sie streckte den Arm in den lauen Fahrtwind, der den Geruch von blühenden, cremig süßen Frangipani ins Auto trieb. »Und als ich dachte, ich könnte es keine Sekunde länger an Bord aushalten, habe ich eine Schlaftablette genommen. Sie hat nicht gewirkt.« Auf dem gesamten Achtzehn-Stunden-Flug von Frankfurt nach Denpasar hatte sich der Schlaf nicht eingestellt. Aber das war ihre Schuld gewesen. Sie hätte Tabletten aus der Apotheke kaufen sollen, statt die einzunehmen, die ihr bester Freund ihr geschenkt hatte. Er war zwar Arzt, doch er stellte seine Medikamente überwiegend aus natürlichen Zutaten her, und die erzielten nicht immer die gewünschte Wirkung. Zumindest wenn man Rachel fragte.
Das schwindende Licht der Sonne glitzerte auf dem Wasser der Reisfelder, und als sich der Himmel in leuchtendes Lila färbte, durchquerte der Jeep einen Torbogen in einem hüfthohen, aus dunkelroten Backsteinen gemauerten Zaun, der einen weiten Garten umfasste. Inmitten der gepflegten Pracht stand ein – für Bali untypisches – doppelstöckiges Herrenhaus nebst einer alten Scheune, deren Holz Wind und Wetter dunkel verfärbt hatten.
»Geh schon mal rein.« Ihr Onkel parkte den Wagen direkt vor dem Haus und stellte Titankoffer und Rucksack neben der Eingangstür ab. »Zarah müsste in der Küche sein, ich komme gleich nach.«
Sie wusste, dass er hier mit seiner Frau Zarah sowie seinem Stiefsohn lebte, allerdings kannte sie die beiden nur von alten Fotos, die ihr ihre Mutter gezeigt hatte.
Trotz ihrer Müdigkeit hatte Rachel das Gefühl, sich nach dem langen Flug dringend bewegen zu müssen, darum wandte sie sich vom Haus ab und schlenderte in dem weiten Garten zwischen Zuckerpalmen hindurch. Gleich hinter dem Zaun begann der Dschungel, der ein Lied flocht aus Vogelgezwitscher und dem Rascheln der Blätter. Überall im Dickicht bewegten sich Zweige und Farne. Fast meinte sie, ein Schatten würde von einem Ast zum nächsten springen, würde sie begleiten, sie aus der Ferne beobachten. Es war ihr nicht möglich, zu bestimmen, ob es sich um ein Tier handelte oder um etwas ganz anderes.
Rasch warf sie einen prüfenden Blick zu dem Rollkoffer neben der Haustür. Verfluchtes Ding! Ein paar Tage mehr mit dem Titanteil und sie würde eine handfeste Paranoia entwickeln.
Entnervt von sich selbst schlug sie den Weg zurück ein und … vernahm eine tiefe Stimme.
»Wie konntest du zulassen, dass Rachel den Titankoffer hierherbringt?«
Die Stimme kam aus Richtung der alten Scheune, deren geöffnetes zweiflügliges Tor wie ein gähnender Schlund in die angebrochene Nacht starrte. Auf dem mit Alang-Alang gedeckten Grasdach saß einer der hochgefährdeten schneeweißen Balistar-Vögel und schien den Sprecher zu beobachten, den Rachel nicht sah.
Vorsichtig schlich sie näher, presste sich an die Scheunenwand und linste um die Ecke. Das faserige Holz kratzte unter den Fingern, doch das tiefe Knurren, das durch die Luft schwang, löste Gänsehaut auf ihrem Rücken aus.
Hinter der Scheune stand ihr Onkel, ihm gegenüber ein Mann mit kurzem schwarzen Haar und knielangen Hosen. Sie erkannte ihn sofort. Es war Cayl Ferrow, der aufgebracht die Hände in die schlanken Hüften stemmte.
Warum hatte ihr niemand gesagt, dass ihr Stiefcousin zu einem Unterwäschemodel mutiert war? Alles an ihm wirkte durchtrainiert. Die nackte Brust, die breiten Schultern, selbst seine verdammten Zehen! So hatte er auf dem alten Foto noch nicht ausgesehen.
»Seit wann bist du so weichherzig?«, fragte Cayl ihren Onkel. »Ist dir nicht klar, was alles hätte schieflaufen können?«
Mit Mühe hielt Rachel ein empörtes Keuchen zurück. Das Foto hatte nicht nur vergessen, Cayls ausgeprägte Muskeln darzustellen, sondern auch, welch ein Idiot er war. Stand da und zweifelte ihre Fähigkeiten an, einen Koffer zuzustellen.
Ihr Onkel stöhnte frustriert. »Cayl, du klingst wie ein alter Tempeldiener, der ständig vom Weltuntergang predigt und sinnlos Münzen einsammelt. Nicht wie vierundzwanzig und bereit, meine Kokosnussplantage zu übernehmen.«
Herausfordernd streckte Cayl das Kinn vor. »Ich will diese Kokosnussplantage nicht. Und lenk nicht vom Thema ab. Deine Nichte ist erst siebzehn! Wieso lasst ihr sie allein mit dem Koffer reisen? Hat sie dir erzählt, dass man schon versucht hat, ihn zu stehlen?«
Woher wusste er das? Rachel stieß sich von der Scheunenwand ab und humpelte um die Ecke. »Ich brauche keinen Babysitter.«
Falls sie die beiden Männer überraschte, ließen sie es sich nicht anmerken. Der Blick aus Cayls dunkelgrauen, fast schwarzen Augen wanderte ausdruckslos von ihrem weißen T-Shirt mit Lissabon-Aufdruck über die luftigen ockergelben Hosen aus Barcelona zu den Salzburger Wanderschuhen.
»Nimm ihm sein Verhalten nicht übel«, meinte ihr Onkel. »Immerhin konnte ich nicht verhindern, dass du heute beinahe Affenfutter geworden wärst. Was mich zu dem Schluss bringt …« Er legte eine Hand auf ihre Schulter und fixierte Cayl mit einem Schmunzeln. »Du hast recht, es ist keine gute Idee, Rachel allein zu lassen. Schon gleich gar nicht bei einer Inselerkundung. So, wie ich meine Nichte kenne, will sie sich direkt bei Sonnenaufgang in das nächste Abenteuer stürzen. Warum also begleitest du sie nicht auf ihren Ausflügen? Nur für alle Fälle. Sie ist ja erst siebzehn.«
Rachel sah Cayl sofort an, was er von der Idee hielt. Sein ganzer Körper versteifte sich, und als ihr Onkel ihm lachend den Rücken zukehrte, schnitt er eine Grimasse.
Rachel schnaubte. »Das hast du davon, dass du deine netten Vorurteile nicht für dich behalten kannst, Cousin.«
»Bist du keine siebzehn?«, schoss er zurück. »Hat man nicht versucht, dir den Koffer zu stehlen?«
»Woher weißt du davon?«
»Das verrate ich dir, wenn du mir meine Fragen beantwortest.«
»Wie zuvorkommend. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass es selbst bei Tatsachenberichten nicht allein auf die Wahl der Worte ankommt, sondern auch darauf, wie sie ausgesprochen werden?«
»Worte, die nicht für deine Ohren bestimmt waren.«
»Ja, sehr einnehmend, wie du hinter meinem Rücken über mich redest. Nur damit das klar ist: Ich brauche keinen Aufpasser. Schon gar nicht dich.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust und neigte sich ein Stück vor. »Als hätte ich jemals zugestimmt, dich zu beschützen.«
Rachel fischte nach einem Argument, das ihn aus dem Gleichgewicht brachte, so wie seine Präsenz es bei ihr tat. Seine Nähe löste einen leichten Schwindel in ihr aus. Womöglich war das aber auch der fehlende Schlaf, der sich jetzt mit aller Kraft bemerkbar machte.
Sie schüttelte den Kopf, um den Schwindel zu vertreiben, was ihn jedoch nur verschlimmerte. »Lassen wir den Quatsch, ich will nicht zwei Wochen lang mit dir streiten.« Versöhnlich hielt sie ihm die Hand hin. »Hallo, Cayl.«
Misstrauisch kniff er die Augen zusammen, und das war der Moment, in dem sich der Schwindel so verstärkte, dass sie glaubte, der grasbewachsene Boden unter ihren Füßen würde sich wölben. In Rachels Gehirn drehte sich alles. Sie stolperte einen Schritt nach vorn. Anstatt Cayls Hand zu ergreifen, landete die ihre auf seiner Brust.
Cayl legte den Kopf schräg. »Hallo, kleine Rachel.«
Sämtliche Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Wer hatte dem Kerl eine solch tiefe Stimme verpasst? Und was war das da auf seiner Haut? Vorsichtig zeichnete sie das V auf seinem Oberkörper nach. »Was ist das da an deiner Brust?«
»Ich nenne es Muskeln.« Mit einer harschen Bewegung riss er ihre Hand weg und schob Rachel zum Herrenhaus.
Muskeln.
Unter anderen Umständen hätte sie darüber gelacht. Doch sie hatte nicht seine durchaus markanten Muskeln gemeint. Ihre Fingerspitzen hatten schwarze, tattooähnliche Streifen nachgezeichnet, die sich im Dunkel der Nacht über seinen Körper gefressen hatten.
»Es tut mir leid«, brachte sie hervor und verwünschte die Hitze in ihren Wangen. »Ich wollte dich nicht begrapschen.«
»Es heißt, es gibt für alles ein erstes Mal.«
Nicht nur ein Idiot, sondern auch ein Arschloch. Wunderbar.
Vor der Haustür stolperte sie erneut, weil der Schwindel sie glauben ließ, der Dielenboden der Veranda würde zum Leben erwachen und in ihre Richtung kriechen.
Cayl fing sie auf, führte sie über die Schwelle und grollte: »Betrinkst du dich auf jedem Flug?«
Sie betrat einen spärlich beleuchteten Flur, in dem es schwach nach gebratenem Hühnchen und Kräuterbutter roch. »Das müssen Nachwirkungen der Schlaftabletten sein.«
»Alkohol und Tabletten? Erzähl das bloß nicht deiner Mutter.«
Abrupt blieb sie stehen. »Warum sollte meine Mutter ein Problem damit haben, dass ich Alkohol trinke?«
»Aus dem gleichen Grund, aus dem du dich sofort nach der Landung bei ihr melden sollst.« Erneut wanderte sein Blick an ihr hinunter und wieder herauf. »Bitte sag mir, dass du dich schon bei ihr gemeldet hast. Sie wird die Polizei nach dir fahnden lassen, wenn sie nichts von dir hört.«
Nur am Rande bemerkte sie den starken Arm an ihrer Taille, der sie stützte. »Woher kennst du meine Mutter so gut?« Hatte sich Alice’ Beschützerinstinkt herumgesprochen?
Cayls volle Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. »Ich habe euch mal besucht.«
»Und wieso erinnere ich mich nicht daran?«
»Weil du damals zu beschäftigt warst, mein Hemd mit Babybrei vollzukotzen.«
Ein Lachen kitzelte ihre Kehle, das von einem weiteren Schwindelanfall verscheucht wurde.
Widerwillig ließ sie sich von Cayl zu einem gedeckten Tisch führen, auf dem eine Auflaufform gefüllt mit Reis und Hühnchen dampfte.
Das ganze Abendessen über zog ihr Stiefcousin sie auf, und sie konnte es ihm nicht verdenken. Schließlich hatte sie sich wie eine Verrückte geradezu an ihn rangeschmissen. Seine Brust berührt!
Selbst später, als sie ihr Gästezimmer betrat, sehnte sie sich noch danach, mit einem der luftigen weißen Vorhänge zu verschmelzen.
Muskeln!
Mit glühenden Ohren stellte sie den Titankoffer neben dem Bett ab. Morgen würde sie ihn bei der Produktionsfirma abgeben. Hoffentlich vergaß Cayl bis dahin diesen peinlichen Vorfall. Hoffentlich legte sich der Schwindel, sobald sie unter die leichte Bettdecke kroch und das Moskitonetz um ihr Rattanbett zuzog.
Rachel schielte zur Tür. Geschlossen.
Sie kniete sich auf den geknüpften cremefarbenen Teppich neben dem Nachttischchen und verharrte zehn schnelle Herzschläge lang vor dem Koffer. Dann gab sie den fünfundzwanzigstelligen Code ein.
Sie hatte das Innenleben des Koffers nie gesehen, aber sollte sie morgen weitere Diebe abwehren müssen, so verdiente sie zumindest zu wissen, was genau sie da schützte. Ob sie eine Grundierung verteidigte oder wasserfesten Lidschatten.
Mit einem leisen Klicken sprang der Deckel auf.
Im Koffer lag ein samtenes Tuch, unter dem zwei Bücher hervorlugten. Rachel runzelte die Brauen. Hätte für eine Kosmetikrezeptur nicht ein Ausdruck gereicht? Wieso die Rezeptur in zwei Schwarten festhalten, die aus dem Haushalt einer Hexe hätten stammen können?
Der Titel des ersten Buches war nicht mehr zu entziffern. Vorsichtig strich sie mit dem Finger über den rauen, ehemals roten Einband und öffnete den abgegriffenen Lederverschluss. Die ersten Seiten zierten weder Widmung noch Druckdatum, dafür eine Tuschezeichnung eines Nadelwaldes, in dem eine Gestalt mit spitzem Hut und langem Gewand stand. Rachel vermutete Geheimtinte und griff nach dem zweiten Wälzer. Wesentlich besser erhalten leuchtete dieser im Halbdunkel des Zimmers. Fluoreszierendes Orange, Gold, Rot und Gelb schimmerte auf ihren Fingern. Sie schlug das Buch auf.
Leere vergilbte Seiten. Dazwischen nichts und noch mehr nichts.
Sie wollte das Werk schon enttäuscht zuklappen, da quoll aus dem Bund lilafarbenes Öl empor. Es sog nicht in die Seiten ein, perlte nicht darüber hinaus und tropfte zu Boden, sondern erhob sich von dem alten Papier wie eine glänzende lilafarbene Schlange, deren Schwanzende im Bund verankert blieb.
Entsetzt ließ Rachel das Buch fallen. Aufgeklappt blieb es auf dem Teppich liegen. Die ölige Schlange zischelte in Rachels Richtung, verbreitete den Geruch nach uralter beißender Tinte und begann dann sichtlich widerstrebend zu singen.
Leuchten in allen Seelen, jeder versucht zu stehlen, unendlich oft gegeben, schallt die Essenz von Leben.
Stell’ drei Fragen oder keine, an jede von uns eine. Wähle weise dein Begehr, denn Drei ist Eins, niemals mehr.
Kaum endete der Gesang, zerfiel die Schlange. Sie teilte sich auf in drei dicke Tropfen, die zurück auf die unbeschriebenen Seiten fielen. Dort änderten sie ihre Form, bildeten drei menschenähnliche Gestalten.
Eine hustende Greisin mit einem Nest voller grauer Haare, einem strengen faltigen Gesicht und einem nachtblauen Kleid, von dem unnatürlich viel Staub davonsegelte.
Eine blonde Schönheit mittleren Alters in Pullover und weißen Jeans, die naserümpfend versuchte, den Staub zu vertreiben.
Und ein junges Mädchen in knallgrüner Latzhose, das Rachel aus orangefarbenen Augen angrinste, so als hätten sie ein gemeinsames Geheimnis.
»Schön, dich endlich persönlich kennenzulernen«, schnurrte das Mädchen zu ihr.
Rachel tastete nach dem Holzboden unter sich, damit sie irgendwo Halt fand. Ihr Gehirn brachte keine Erklärung zustande für das, was sie da gerade sah und hörte.
Die Greisin schob die Hornbrille zurück auf die Nase und murrte: »Das wurde allerhöchste Zeit, dass du dieses fürchterliche Buch öffnest.«
Die blonde Schönheit schaute auf ihr Handgelenk, als würde sie eine nicht vorhandene Armbanduhr lesen. »Wieso? Uns bleiben genau …«
»Das darf sie nicht hören!«, sagte das Mädchen schrill, ihre feurigen Augen leuchteten auf. »Rachel, du musst wissen, dass wir Freiheit begehren. Und auch wenn manche Freiheit einfach zu geben scheint, so würde dich die unsere doch alles kosten. Alles.«
Ein kalter Schauer rann über Rachels Rücken. Sie ignorierte die Proteste der drei Figuren und klappte aufgelöst den Wälzer zu. Sie warf ihn zurück in den Koffer, schloss das Titanteil, stürzte auf den Flur, die Treppen hinunter und blieb mit pumpendem Herzen im dunklen Esszimmer stehen.
Was zur Hölle war das eben gewesen?
Eine Einbildung.
Sie halluzinierte.
Es konnte gar nicht anders sein.
In der Küchenspüle wusch sie sich Hände und Gesicht mit kaltem Wasser.
Hatte sie das Hühnchen nicht vertragen? Sah sie Geister aufgrund von Schlafmangel?
Die Schlaftabletten.
Irgendetwas musste ihr bester Freund bei der Herstellung falsch gemacht haben. Womöglich stand sie unter Drogen. Oder aber … Mit rasendem Puls befühlte sie den Verband an der Wade, unter dem die Bisswunde pochte.
Scheiße.
War das eine Nebenwirkung der Tollwutspritze, die ihr Richards Frau, Zarah, vor dem Essen gegeben hatte?
Eine Bewegung im Augenwinkel erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein flüchtiger Schemen aus Gold und Braun. Durch das Fenster oberhalb der Küchenzeile konnte sie jedoch nur den weiten Garten sehen. Mond und Wolken malten Silberflecken und Schatten auf das kurze Gras. Keine Spur von unmenschlichen Augen, die sie beobachteten.
Hastig verließ sie die Küche. Sie wollte schlafen, den Koffer zustellen, ihre Vergütung erhalten und dann die Insel erkunden. Und in ihrem jetzigen Zustand gab es nur eines, das sie tun konnte, um all das zu erreichen.
Kapitel 2
Am nächsten Morgen erzählte Rachel niemandem von dem singenden Folianten. Weil es ihn gar nicht gab.
Sie hatte den Titankoffer in derselben Nacht und auch bei Sonnenaufgang noch einmal inspiziert und nichts als zwei gewöhnliche Notizbücher darin gefunden nebst einem Briefumschlag, adressiert an ihren Auftraggeber, bei dem sie den Koffer am frühen Abend abliefern würde.
Rachel verstand nicht, wie sie beim erstmaligen Öffnen des Koffers den Briefumschlag hatte übersehen können. Erst recht verstand sie nicht, wie ihr Gehirn auf die Idee gekommen war, ein Buch zum Leben zu erwecken und eine Ölschlange sowie drei winzige sprechende Gestalten zu erschaffen. Sie wusste nur, dass irgendetwas nicht stimmte. Das hatte sie dazu gebracht, über ihren Schatten zu springen und ihren Stiefcousin zu fragen, ob er sie nicht doch bei ihren heutigen Ausflügen begleiten würde.
»Zum Markt nehmen wir das Motorrad«, sagte Cayl.
Gähnend folgte Rachel ihm zur alten Scheune, dankbar, dass er ihrer Bitte nachgegeben hatte. Die Idee eines Babysitters missfiel ihr immer noch, aber nach diesem Koffer-Ereignis fühlte sie sich wohler, die Insel zu zweit zu erkunden.
Cayl verschwand im Inneren der Scheune und holte aus einer Truhe hinter dem Tor etwas Ledernes heraus. »Zieh das an.« Er warf ihr das verstaubte Knäuel zu. Sie klopfte es aus. Es entpuppte sich als Hose und Jacke, die schon seit Jahrhunderten niemand mehr getragen hatte.
»Ich habe noch keinen Balinesen gesehen, der in so einer Tracht fährt«, meinte sie.
Er stellte ein ebenso verstaubtes, altes Motorrad neben ihr ab. »Du bist keine Balinesin, und wenn du den Markt sehen willst, tust du, was ich dir sage.«
Sie spähte an ihm vorbei zu den Holzwänden im Inneren der Scheune, wo ihr im fahlen Licht ein Arsenal von Buschmessern entgegenblitzte. »Bist du immer so freundlich?«
»Bist du immer so neugierig?«
Rachel quetschte sich in die steife Montur. »Ihr hortet hier eine ziemlich große Messersammlung.«
»Wir spielen auch gern damit.«
Sein Grinsen jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken, den die Hitze unter den Kleidern schnell vertrieb. Sie fühlte sich wie ein aufgequollenes Marshmallow.
Cayl schlüpfte ebenfalls in eine Lederkluft. Allerdings nur eine Jacke. Und die sah an ihm dreimal dünner aus als das, was sie trug. »Du trägst das zur Sicherheit«, meinte er.
Sie rollte mit den Augen. »Solange sich deine Kleidervorschriften auf Jacke und Hose beschränken, und nicht auf meine Unterwäsche …«
Leise lachend startete er das Motorrad. »Wenn du eine Empfehlung brauchst, musst du es nur sagen.«
∞
Der Markt in Ubud war voll. Voll mit Touristen, Balinesen, Waren aller Art und Gestank. Von den ausgetrockneten Kanälen stieg der Geruch nach Opfergaben und anderen unbeschreiblichen Dingen auf. Vermischt mit dem Duft exotischer Gewürze klebte er Rachel in der Hitze in der Nase. Sie ignorierte die Ausdünstungen und begutachtete fasziniert das Kunsthandwerk, das die Händler an die Touristen bringen wollten.
Dicht hinter ihr ragte Cayl aus der Menge heraus und fragte: »Was willst du dir anschauen?«
Sie betastete Notizbücher, deren Umschläge aus getrocknetem Elefantendung angefertigt worden waren. »Alles. Inklusive des Pura Taine, den ich dir beim Frühstück auf der Karte gezeigt habe.«
Seine Mine verfinsterte sich. »Muss es unbedingt dieser Tempel sein? Bali ist voll von Gotteshäusern. Such dir einen anderen aus.«
»Meine Antwort ist die gleiche wie heute Morgen: Solange du mir keine plausiblen Argumente nennen kannst, warum wir nicht zum Pura Taine gehen sollen, bleibt die Wahl des Tempels bei mir.«
»Er ist total von Touristen überlaufen.«
»Das sind wohl alle Tempel hier.«
»Es gibt dort Affen.«
Mit großen Augen schaute sie über die Schulter zurück. »Was ist denn das für ein Argument?«
»Das weißt du ganz genau mit deinem Hang, dich in Schwierigkeiten zu stürzen.«
Erbost wandte sie sich einer farbintensiven Malerei einer Reisterrassenlandschaft zu und flötete: »Dafür habe ich ja dich mitgenommen.«
Er seufzte, nur um gleich darauf mit einem Finger auf das Bild zu deuten. »Das ist zu teuer.«
Rachel zückte ihren Geldbeutel. »Das bestimme immer noch ich.« Sie kaufte die Malerei.
Drei Straßen weiter verliebte sie sich in einen kegelförmigen Strohhut, mit dem sie sicherlich schon aus der Ferne als Touristin identifiziert werden würde. Cayl konnte sich nicht zurückhalten und handelte den Preis herunter.
Als sie an einem Stand mit grellbunten Holzpenissen vorbeikam, die zum Flaschenöffnen geschnitzt worden waren, hielt sie ihm einen der neongrünen Öffner entgegen. »Wie viel würdest du für elf Stück bezahlen?«
Er hob eine Braue. »Von diesem winzigen Ding willst du gleich elf Exemplare haben?«
Sie nahm einen pinken Öffner, einen blauen und einen mit getupften Blumen. »Sie sind ein Mitbringsel für meine Klassenkameradinnen. Es geht um die Menge, nicht um die Größe.«
Ein halb genervtes, halb belustigtes Schnauben verließ seinen Mund und er murmelte leise: »Die werden wirklich beeindruckt sein.«
Rachel funkelte ihn böse an, woraufhin er sich streckte, eine bunte Patchworktasche von einem Haken am Stand nahm und mit einem schelmischen Grinsen zu ihr sagte: »Die Tasche nehmen wir auch. Damit deine Freunde nicht sehen müssen, wie klein ihre Mitbringsel sind.«
Gegen ihren Willen zuckten ihre Mundwinkel.
Sie kaufte die Öffner und steuerte dann einen Obststand an. »Hast du Hunger?«
»Nicht auf das.« Nach der Art und Weise, wie er das Gesicht verzog, war den Früchten, die hier angeboten wurden, nicht zu trauen. »Da drüben gibt es eine Gaststätte. Ich schaue nach, ob ein Tisch frei ist. Warte so lange hier und stell nichts Dummes an.«
Er überquerte die Straße und verschwand in besagter Gaststätte. Rachel verkniff es sich, ihm hinterherzubrüllen, was sie von seinem letzten Ratschlag hielt.
Ein alter blinder Bettler, der sich auf einen Stock stützte, trat neben sie an den Obststand heran und fragte auf Englisch: »Würden Sie mir helfen? Ich suche etwas.«
»Selbstverständlich«, sagte sie schnell und nahm das Angebot in Augenschein. »Was brauchen Sie?«
Mit der freien Hand tastete er über seine von der Sonne gebleichte staubgraue Augenbinde. »Hat man Sie bereits vor den Affen gewarnt?«
Irritiert runzelte sie die Stirn. »Ich habe meine Erfahrungen mit ihnen gemacht.«
»Die Sache mit den Affen ist ein Missverständnis.« Er neigte sich ein Stück weit zu ihr und wisperte: »Es ist nämlich so, dass die Wahrheit gestohlen wurde. Aber dem Dieb folgen nur zwei: der Narr und der Mutige.«
Rachel wich einen Schritt zurück. Wovon redete der Mann? Unsicher sah sie von ihm zu dem Händler. Hatte der Verkäufer das Gleiche gehört wie sie? Er wirkte jedenfalls nicht beunruhigt, im Gegenteil, er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seinen Sonnenschirmständer.
Rachel wollte gerade nachhaken, als ein betagter Fremder die Straße überquerte und zu dem Blinden rief: »Verbreitest du wieder Lügen?« Der Fremde kleidete sich in staubige Lumpen und trug denselben Strohhut wie Rachel. Unter der Krempe ragten weiße Strähnen hervor. An sie gewandt meinte er: »Hör nicht auf diesen Schwindler. Den Affen darfst du nicht trauen. Halte dich fern von ihnen.«
»Fernhalten?«, zischte der Blinde. »Wer ist jetzt hier der Lügner?«
Der Weißhaarige entblößte eine Reihe fauliger Zähne. »Hast du wieder zu viel Palmwein gesoffen, oder was treibt dich dazu, solchen Unsinn von dir zu geben?«
Als Antwort hob der Blinde seinen Stock, holte aus und schwang ihn wie eine Waffe.
Der Händler schrie auf und brachte eine Ananas außer Reichweite des Stabes.
Rachel duckte sich erschrocken unter einem Schwinger hindurch und versuchte vergeblich, sich des Stockes zu bemächtigen.
Der Weißhaarige hingegen bediente sich aus der Kiste mit dem halb vergorenen Obst. Er warf einen fauligen Wasserapfel, der den Blinden knapp verfehlte, jedoch einen Passanten an der Schulter traf und dort zerplatzte. Wütend wirbelte der Getroffene herum und beschimpfte den Obsthändler, der wiederum den Weißhaarigen ankeifte. Innerhalb weniger Augenblicke geriet die gesamte Straße in Aufruhr.
Rachel schaffte es gerade, den Blindenstock zu ergreifen, da wurde er ihr auch schon entrissen.
»Kann man dich keine Minute allein lassen?« Cayl gab dem Blinden den Stock zurück und zerrte den Weißhaarigen in eine Seitengasse auf einen Stuhl vor einem Café. Dann bezahlte er dem Obsthändler die beschädigten Waren und schob Rachel in das Gasthaus. Vom Obergeschoss aus konnte sie sehen, wie der Weißhaarige den Blinden mit obszönen Gesten bedachte und mit unsicheren Schritten davonwankte.
»Wenn ich dir sage, dass ich nichts zu dem Streit beigetragen habe, wirst du mir das sowieso nicht glauben.«
Cayls Augen sprühten Funken. Aber das taten ihre Nerven auch. Was war nur los mit den Balinesen und ihren Affen?
Die Frage beschäftigte sie die gesamte Mahlzeit über und erst die Fahrt zum Pura Taine verjagte ihre grüblerischen Gedanken.
»Ich hole ein Parkticket.« Cayl stoppte das Motorrad am Ende der Straße, die zum Eingang der weitläufigen Tempelanlage führte. »Schaffst du es, dir keine überteuerten Eintrittskarten andrehen zu lassen?«
Sie streckte ihm die Zunge raus und bewunderte auf dem Weg zum Tickethäuschen die Säulen, die sich hinter der aufwendig bearbeiteten Außenmauer der Anlage in den blauen Himmel reckten.
Das Tickethäuschen säumten zwei Mythengestalten aus dunklem Stein, die von ihren Sockeln aus die Besucher beobachteten sowie einen Stand, an dem Bananen angeboten wurden. Die Früchte waren nicht zum Verzehr gedacht, sondern um die Affen zu füttern, die in den Schatten riesiger Flammenbäume um Nahrung bettelten.
Argwöhnisch beäugte Rachel die Tiere. Die Warnung des weißhaarigen Alten hallte in ihr wider.
»Halte dich fern von den Affen.«
Seufzend reihte sie sich in die Schlange vor dem Bananen-Verkaufsstand ein. Sie war nicht hier, um sich Angst einreden zu lassen, sondern um Urlaub zu machen. Und offensichtlich, um irgendeinen Makakengott zufriedenzustellen.
Rachel zückte ihren Geldbeutel. Der ihr aus der Hand gerissen wurde. Nicht etwa von einem Menschen, nein, es war ein Affe, der mit ihrer Börse in die Tempelanlage flüchtete.
Bestürzt schubste sie die Touristen um sich herum zur Seite und nahm die Verfolgung auf. Der Ticketkontrolleur bellte ihr etwas hinterher, das sie ignorierte.
Rachel sprintete unter einer Reihe weißgelber Sonnenschirme hindurch, vorbei am Haupttempel und dann weiter.
Die mit Steinfliesen ausgelegten Wege endeten, als der Affe in einen Wald rannte, der zwar noch zur Tempelanlage gehörte, jedoch so aussah, als wäre er schon seit Jahren nicht mehr gepflegt worden. Rachel jagte über rottendes Gehölz hinweg und kämpfte sich durch dichtes Gestrüpp, bis sie eine Lichtung erreichte, auf der ein ausgedienter Tempel stand.
Der Dieb flitzte geradewegs in das halb zerfallene Gebäude hinein.
Mit brennenden Oberschenkeln kam sie vor dem Bauwerk zum Halten, wischte sich fluchend eine Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn und schaute sich um.
Palmen begrenzten die Lichtung, an den Bäumen rankten sich tiefgrüne Schlingpflanzen empor. Wurzeln gruben sich vom Wald aus auf den Platz des Tempels, klammerten sich an beigefarbene Mauerbruchstücke und umgefallene Tempelstatuen.
Von ihrem Standpunkt aus konnte sie weder den Lärm der vielen Roller auf der fernen Straße hören noch die zahlreichen Touristen. Alles, was sie wahrnahm, war das Rascheln des Windes in den Baumkronen, das Scharren von Kleintieren im Unterholz, das Zwitschern der Prachtfinken und Papageien sowie ihren eigenen angestrengten Atem. Sie hatte sich eindeutig zu weit abseits der für die Besucher geöffneten Wege gewagt.
Mit einem weiteren Fluch auf den Lippen umrundete sie das baufällige Gotteshaus. Schatten tanzten über den warmen Stein, während die höher steigende Sonne lange Lichtstrahlen durch die Lücken zwischen den Bäumen warf.
Rachel entdeckte keinen zweiten Tempeleingang, keine Fenster, keine Luke. Bröckelnde Steinsäulen, von Moos und Ranken bewachsen, flankierten das quadratische Gebäude. Schräg verbarrikadierte der steinerne Türsturz den Eingang in den Bau, ließ nur ein kleines Loch frei, durch das der Dieb geschlüpft war.
Sie biss sich auf die Zunge, bevor sie sich einen Ruck gab und Trümmerteile beiseitehievte, um die Öffnung zu vergrößern.
»Halte dich fern von den Affen.«
Was auch immer das mit den Affen war – hätte sie die Warnung beachtet, würde sie nicht hier knien, inmitten von Geröll, und sich von der feuchtschweren Vormittagshitze die Kleidung an die Haut kleben lassen.
»Wenn ich dich erwische …«, murmelte sie und erwartete halb, dass der Affe ihr antwortete.
Vielleicht hat der Bananenverkäufer diesen Affen trainiert. Eine Masche, um den Urlaubern nicht nur ein paar wenige, sondern alle Münzen aus der Tasche zu ziehen.
Endlich war das Loch groß genug, damit sie hindurchkriechen konnte.
Ein letztes Mal reckte sie den Hals und schaute sich nach allen Richtungen um. Dabei blieb ihr Blick auf mystischen steinernen Wächtern hängen, deren Köpfe an der Wand oberhalb des zerfallenen Tempeleingangs prangten. Elefanten mit einem Hirschgeweih waren aus dem Stein herausgearbeitet. Ihre Stirnen zierte eine Inschrift, die Rachel bis eben nicht aufgefallen war. Trotz der Hitze rollte Gänsehaut über ihren Rücken. Die Inschrift bestand weder aus balinesischen Buchstaben noch aus lateinischen.
Die Worte waren in einer Geheimsprache geschrieben, die ihr ihre Mutter beigebracht hatte. Rachel hatte gedacht, dass ihre Mutter und sie die einzigen Menschen auf der gesamten Welt seien, die diese Sprache beherrschten, denn sie war ein Spiel. Sie existierte nicht wirklich.
Mit immer schneller pumpendem Herzen zückte sie ihr Smartphone. Es fand kein Netz, aber das war auch nicht wichtig. Sie rief den SMS-Verlauf auf und scrollte durch die Unterhaltung mit ihrer Mutter zu einem kryptischen Satz, den sie nicht begriffen hatte.
Fliegen ist gedacht für die Götter, die Drachen und die Vögel.
Die SMS hatte sie erreicht, kurz bevor das Flugzeug abgehoben hatte.
Auf die Frage, was ihre Mutter damit meinte, hatte Rachel lediglich folgende Antwort erhalten:
Du entscheidest heute, wer du sein wirst. So wie du jeden Tag entscheidest, wer du bist.
Rachel hatte angenommen, ihre Mutter redete von ihrer Flugangst. Von Mut im Herzen. Jetzt allerdings war sie sich da nicht mehr sicher, denn jemand hatte genau den gleichen Satz über das Fliegen in die Stirnen der Hirschelefanten gehämmert. Die Worte bei den Wächtern waren in der Geheimsprache geschrieben – mit einem Zusatz am Ende.
»Fliegen ist gedacht für die Götter, die Drachen und die Vögel. Komm, mein Kind. Komm. Schreite durch mein Tor. Labe dich an den Wundern, die ich biete. Bis ich dich verschlinge.«
Das war alles, was auf den Wächtern stand. Ein Haufen Wirrwarr.
Rachel schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um die Bedeutung der Gravur auszulegen oder ihre Mutter anzurufen und sie zu fragen, ob sie im Internet ein Foto von Hirschelefanten gefunden und als Inspirationsquelle für fragwürdige Sprachen und noch fragwürdigere Ratschläge hergenommen hatte. Nein, nun war der Moment gekommen, um ihren Geldbeutel zurückzuerobern.
Die zwanzig Euro in der Börse hätten Rachel egal sein können. Ihr Pass und ihre heiß geliebten Eintrittstickets zu Museen, Gärten und Kirchen in gesamt Europa waren es jedoch nicht.
Eines Tages würde sie für ihre Sammlerleidenschaft von Aufklebern, Flyern und Handouts bezahlen.
Sie schob ihren Rucksack durch die Öffnung und kroch dann auf allen vieren in den Tempel hinein.
Die Luft im Inneren fühlte sich kühler an, schwer und geladen mit einer fast elektrischen Energie. Es roch nach feuchtem Stein, einem Hauch Magnolie und etwas leicht Fauligem, als würde irgendwo Obst verrotten.
Das Smartphone fest umklammert schaltete sie die Taschenlampe daran ein und tastete mit dem Strahl den breiten, hohen Raum ab, der einer Halle gleichkam. Unförmige, nicht humanoide Figuren säumten die Wände. Aus hohlen Augen schienen sie Rachel zu beobachten.
Vorsichtig bewegte sie sich vorwärts. Kleine Steine knirschten unter den Sohlen ihrer Wanderschuhe, das Geräusch zu laut für einen toten, verlassenen Ort wie diesen.
Hoffentlich weckte sie keine Geister.
Hoffentlich gab die Tempeldecke nicht nach und begrub sie.
Im hinteren Bereich der Halle entdeckte sie Fragmente eines Altartisches … und den Affen. Mit ihrer Börse! Das Tier klammerte sich an einen Holzbalken unter dem schrägen Dach. Es riss den Mund auf, als wollte es sie ankreischen, doch alles, was Rachel vernahm, war eine leise, melodiöse Stimme – oder waren es gar mehrere Stimmen?
Sie wirbelte herum, schwenkte den Lichtstrahl des Smartphones durch den Raum.
»Du gehörst nicht hierher«, sagte jemand.
Beinahe wäre ihr das Smartphone entglitten.
Aus der Dunkelheit hinter dem Altar trat eine Gestalt in einem schillernden Kimono heraus, die Rachel an ihrem Verstand zweifeln ließ. Es war ein Mann mit türkisfarbener Haut und ebenso intensiv leuchtenden Augen.
»Wer … was sind Sie?«, stammelte sie und wich rückwärts zum Tempelausgang.
»Ich heiße Lauriander Orei Imaldin.« Er redete, als besäße er zwei Stimmen. Eine die sprach und eine die sang. Sein langes weißes Haar, das an Seide erinnerte, wehte sacht in einer Brise, die Rachel nicht auf ihrer Stirn spürte. »Du kannst mich Gard nennen. Ich bin der Hüter über … Nun, wäre ich vor den Jahrhundertkriegen geboren worden, hätte ich behauptet, ich sei der Hüter über das Reich der Wunder. Derjenige, der dich zu den Legenden und Mythen führt, die hinter der Ersten Tür lauern. Aber diese Zeiten liegen schon Ewigkeiten zurück, darum bin ich heute wohl nur der Hüter der Flüche.« Er musterte sie von oben bis unten. »Und du, du bist ein Eindringling.«
Rachel schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Gehörte dieser Mann zu einem Verein, dessen Mitglieder geschminkt und verkleidet Tempelzeremonien für Touristen abhielten? Wenn ja, wozu hatte er sich hier versteckt? Erlaubte er sich einen Scherz mit Freunden? Nahm er Drogen? »Ich suche meine Brieftasche.« Mit einem zitternden Finger deutete sie auf den Affen, doch der war nicht mehr da. Fieberhaft schnellte ihr Blick durch den hohen Raum. Wo war das Tier hin? Sie hatte nicht gehört, dass es sich wegbewegt hatte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Fiel sie einer versteckten Kamera zum Opfer?
Sie rannte zurück zum Tempeleingang und sah gerade noch, wie sich das Loch unter dem Türsturz, das sie gegraben hatte, schloss. Als wäre der Tempel lebendig, begannen Boden, Decken, Säulen und Wände zu vibrieren. Ein unheimlicher Nebel entströmte dem alten Stein, so als presste er fluoreszierende Luft aus sich heraus. Innerhalb weniger Herzschläge löste sich das gesamte Gebäude auf, und Rachel stand nun nicht mehr im Dunkeln, sondern in etwas, das verdächtig einem leuchtenden Farbtopf ähnelte. Oder einem knallbunten Lutscher.
Gards glühende Augen verengten sich. »Du weißt nicht, wo du bist, oder?«
Sie erinnerte sich an den fauligen Geruch und schluckte. »In einem vergessenen Tempel.« Halluzinierte sie? War der Geruch ein Hinweis auf Schimmel oder Pilze gewesen, deren giftige Gase sie beim Betreten eingeatmet hatte?
Gard lachte kalt und humorlos. »Vergessen? Wohl kaum. Du bist durch die Pforte getreten und im Raum hinter der Ersten Tür gelandet. Der Schwelle zwischen den Welten.«
Oh Gott.
Sie war gestorben und hatte es nicht bemerkt. War der Tempel doch eingestürzt. Hatte sie begraben. Vergeblich rang Rachel nach Worten und einer anderen Deutung für Gards Aussagen. Es gelang ihr nicht, diese farbige Umgebung der Welt nach dem Tod zuzuordnen. So sah der Platz vor den Toren des Himmels aus?
Gard hob seine unförmigen, aufgedunsenen Hände an. Seine überdimensionalen Finger besaßen keine Nägel und glichen aneinandergereihten türkisfarbenen Marshmallows. »Verrate mir etwas über dich. Wie zum Beispiel deinen Namen.«
Rachel griff sich an den Hals. »Wozu?« Würde er das große Buch der Sünden aufschlagen und nachsehen, was sie verbrochen hatte? Musste sie in die Hölle, an die sie bis eben nicht geglaubt hatte? War er so was wie ein Seelenwächter?
»Ich muss wissen, wo du hingehörst«, antwortete Gard.
Also doch das Sündenbuch. Automatisch schnellten ihre Gedanken zu einem Urlaub in Spanien, als sie durch ein unbewachtes, offen stehendes Museumsfenster in ein Kloster geschlüpft war, um Eintrittsgeld zu sparen. Und dann war da noch die Nacht in Lissabon, als sie nicht alt genug für eine Diskothek gewesen war und trotzdem beschlossen hatte, eine zu besuchen.
Rachel wünschte, es gäbe hier einen Stuhl, damit sie sich setzen konnte. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde ihr im nächsten Moment aus dem Hals springen, so sehr raste es. »Rachel«, stieß sie hervor. »Ich heiße Rachel Cacylie.«
Abwartend musterte Gard sie. Wollte er mehr über sie erfahren? Reichte ihr Name nicht aus?
»Ich bin siebzehn Jahre alt. In zwei Monaten wollte ich meinen Schulabschluss machen und mich auf eine Stelle als Reisekauffrau bewerben, weil ich nichts mehr liebe, als neue Länder zu entdecken.«
Gard lauschte schweigend, so als wüsste er, dass es noch etwas gab, das sie erwähnen musste. Allerdings grub sich nun Neid in die Falten oberhalb seines Mundes.
»Ich, äh, habe mit meinem besten Freund ausgemacht, dass ich zu ihm in die Schweiz auswandere«, fügte Rachel hinzu. »Das planen wir seit Jahren.« Sie konnte nicht aufzählen, wie oft sie schon mit ihm davon geschwärmt hatte, nach ihrem Schulabschluss bei ihm einzuziehen. »Vor vier Wochen habe ich die Wandfarbe gekauft, um das Zimmer zu streichen, das ich in seinem Haus belegen werde. Tannengrün.«
Gard legte den Kopf schräg und beugte sich zu etwas hinab. Es war ein länglicher Papierschnipsel, der hinter seinem Rücken hervorschwebte und seine Wange streichelte, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Rachel starrte das Ding einige Sekunden an, bis ihr auffiel, dass der Schnipsel ein Scherenschnitt eines Wortes war. So als hätte jemand einen weißen Zettel genommen, Buchstaben ausgeschnitten, sie mit Tesafilm zusammengeklebt und dann zum Leben erweckt. Allerdings hatte man nicht irgendwelche Buchstaben ausgeschnitten, sondern solche, die der Geheimsprache ihrer Mutter entstammten.
»Was bedeutet Jabilomah?«, fragte sie.
Der Hüter riss die Augen auf. »Du kannst den Namen lesen.«
Ja, sie konnte lesen. Lateinische Buchstaben. Ein paar kyrillische. Und eben die, deren Bedeutung ihr ihre Mutter beigebracht hatte.
Sie deutete auf den Scherenschnitt und verbot es sich, anzumerken, dass Jabilomah eine äußerst fragwürdige Wahl für einen Namen war. »Warum überrascht es Sie, dass ich den Namen lesen kann?«
Gards Gesicht verfinsterte sich. In einem Tonfall, der andeutete, dass er sie für besonders beschränkt hielt, sagte er: »Jemand wie du sollte nicht in der Lage sein, zu mir zu gelangen. Schließlich öffnet sich der Zugang zu meinem Reich nur dann, wenn man die Losungsworte ausspricht, und die sind nicht in einer irdischen Sprache verfasst.«
»Losungsworte? Reden Sie von der Inschrift in den Hirschelefantenköpfen?«
Er nickte und schnipste die Papierbuchstabenkette von sich. »Die Losung öffnet die Pforte, die hierher, zum Raum hinter der Ersten Tür führt. Du, Rachel, gehörst nicht in mein Reich und stehst dennoch vor mir. Dieses Vergehen darf nicht ungesühnt bleiben, darum habe ich versucht, herauszufinden, wer einen Menschen wie dich zu mir schickt. Mein erster Verdacht lag auf deinem Freund, von dem du erzählt hast. Aber nun stelle ich fest, dass du die Namen lesen kannst, was bedeutet, du kennst unsere alte Sprache, und das wiederum bringt mich dazu, meine Annahme zu widerrufen. Dich hat niemand hierhergeschickt. Du hast die Losungsworte selbst ausgesprochen. Du hast die Pforte geöffnet.«
Das Smartphone in ihren Händen war schon ganz glitschig von ihrem Angstschweiß. »Meine Mutter hat mir diese Sprache beigebracht.«
Tadelnd schüttelte Gard den Kopf. »Diese Lektion hätte deine Mutter besser übersprungen, denn Namenlose wie du werden verflucht.«
»Verflucht? Ich will nicht verflucht werden. Bitte lassen Sie mich zurückgehen!«
»Du gehörst nicht hierher, Rachel von der Erde, und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass sich ein Mensch in Dinge einmischt, die er nicht versteht.«
Er sagte es bereits zum zweiten Mal. Dass sie nicht hierhergehörte. Was zur Hölle hatte es damit auf sich? Und wieso spuckte er das Wort Mensch so aus, als wäre es etwas Widerliches? Reflexartig griff sie nach einem seiner Ärmel. »Können oder wollen Sie mich nicht zurückschicken?«
Grob löste er ihre verkrampften Finger aus dem Stoff. »Mein Reich unterliegt Regeln, und deren Einhaltung ist nicht an Fähigkeiten oder Vorlieben gebunden, sondern folgt zwei einfachen Prinzipien: gehorche und lebe. Oder missachte und überlebe die Strafe … wenn du kannst.«
»Aber ich habe doch gar nichts getan!«
»Du hast meinen Raum hinter der Ersten Tür betreten, obwohl du hier als Erdenbürgerin keinen Namen besitzt!«, sagte Gard streng.
Sie wollte nicht darüber nachdenken. Was es mit diesen Namen auf sich hatte. Wie die Strafe für Regelbrecher lautete. Ob der Mann ihr gegenüber schon mal einen Regelbruch begangen hatte und seine Finger deswegen so unförmig aussahen. »Was kann ich tun, um zurückzukehren?«
Er schien abzuwägen, ob er ihr antworten sollte. »Du musst den Test bestehen.«
»Es gibt einen Test?«
»Eine Chance wird dir gewährt. Eine einzige, um dein altes Leben wieder aufzunehmen. Aber wie bei jeder Prüfung sind auch bei dieser Regeln zu beachten.«
Übereifrig nickte sie, doch das gefiel dem Hüter noch weniger als alles, was sie bisher gesagt hatte. Gard sah sie an, als sei sie ein uralter Weinfleck auf seinem edlen Kimono, den er einfach nicht herausgewaschen bekam.
»Du trägst Hoffnung in dir«, meinte er abfällig. Seine Stimme rutschte eine Oktave tiefer, wurde dunkler. »Hoffnung wird dir das Genick brechen. Denn weder du noch ich besitzen die Macht, die Regeln zu ändern. Und die Regeln, die lauten wie folgt:
Die Macht ist mein und mein allein.
Mahlt Knochen, Stein und Silber klein.
In diesem Heim leih ich sie dir,
in jenem Heim hol ich sie mir.
Raubst du von meinem Sternengold,
so zählt dein Herz zu meinem Sold.
Bei Diebstahl selbst in größter Not
gehört dein Fleisch, dein Blut dem Tod.
Die Seelen aus dem fremden Land
hüll’ ich in ein kostbar’ Gewand.
Mal Fell, mal Schuppen, Federkleid,
sei namenlos auf alle Zeit.
Die Flucht aus diesem Reich gelingt,
der Weg zu mir Sieben bezwingt.
Das Antlitz schaurig schön wie ich.
Ein Tier, so nannte man einst mich.«
Das Gedicht legte sich wie ein dicker Umhang aus kaltem Gold auf Rachels Schultern. Wertvoll. Schwer. Erdrückend. Sie wischte ihre feuchten Handflächen an den Shorts ab. »Das sind ziemlich viele Regeln. Was muss ich darüber hinaus wissen?« Wie sah der Test aus? Würde sie gleich in einem Klassenzimmer landen und einen Fragebogen ausfüllen? Würde sie wie ein Geist in die Vergangenheit reisen und versuchen, ihre Regelverstöße zu korrigieren?
»Du hast sieben Tage Zeit, um hierher zurückzukehren.«
Sie schluckte gegen den Kloß im Hals an. »Und wenn ich das nicht schaffe?«
»Dann bleibst du auf ewig verflucht, gefangen an dem Ort, an den ich dich schicke.«
Sämtliche Haare an ihren Armen stellten sich auf.
Mit dem Kinn wies Gard sie an, ihm zu einem grauen Wirbel zu folgen, der sich inmitten der farbigen Atmosphäre formte. In dem Wirbel zeichnete sich das Bild eines Waldes ab, sein herbstliches Blätterdach ein Mosaik aus feurigen Tönen.
Rachel trat näher, um die Landschaft besser betrachten zu können. Rotgoldene Wipfel, Ahorn- und Ginkobäume schimmerten in der Sonne. Die Flut leuchtenden Laubes durchbrach ein breiter Fluss. Der Ort kam ihr nicht bekannt vor. Eine ungute Vorahnung schlang sich wie eine reifbesetzte Peitsche um ihren Brustkorb. »Trügt die Idylle?«
»Mehr, als du dir jemals vorstellen könntest«, sagte Gard. Und gab ihr einen Schubs in den grauen Wirbel hinein.
Kapitel 3
Spätherbst, im Jahr 50 nach neuer Alainzeitrechnung
Rachel stolperte nicht zurück in ihre Wirklichkeit. Sie stürzte, und zwar direkt in den glitzernden Fluss hinein, den sie eben betrachtet hatte.
Das kalte Wasser biss in ihre Haut, zerrte an den Haaren. Wie ein Blatt wirbelte die starke Strömung sie herum und zog sie in die Tiefe. Hektisch ruderte sie mit Armen und Beinen, die Bewegungen fühlten sich verdreht und ungelenk an.
Irgendetwas war falsch.
Unter den Füßen spürte sie sandigen Grund. Sie stieß sich ab, durchbrach die Wasseroberfläche und hievte sich japsend ans Ufer, zog sich mit den Händen – ihre Hände! Rachels Gedanken kamen zum Stillstand.
Ihre Hände waren keine Hände mehr, sondern Pfoten. Katzenpfoten, samt Krallen, die sich in den Boden bohrten.
Hastig drehte sie sich zum Fluss herum und glotzte ihr Spiegelbild an.
Schnurrbart, Fell, Herznase.
Im Wasser sah sie anstelle ihres eigenen Gesichts ein ständig verschwimmendes Abbild eines Margay. Und dass es sich um einen Margay handelte, wusste sie auch nur, weil sie vor drei Jahren mal ein Referat über diese Langschwanzkatzen gehalten hatte.
Ich bin ein Margay.
In ihren Ohren dröhnte es.
Dieser Gard hat mich in eine Katze verwandelt!
Ein Schrei verließ ihre Kehle, der bemerkenswert menschlich klang und sofort erstarb, als jemand krächzte: »Etwas mehr Haltung, wenn ich bitten dürfte.«
Rachel schrak ein weiteres Mal zusammen. Die Stimme gehörte nicht zu Gard, dafür war sie zu kratzig. Eilig sah sie sich um, halb überwältigt von den Sinnen des Katzenkörpers. Eine gefühlt unendliche Vielfalt komplexer Gerüche haftete an der feuchten Erde am Ufer, den Kieselsteinen, dem Wasser. Von überall her drangen bekannte und unbekannte Geräusche. Und dann waren da noch die Katzenaugen. Rachels ultrascharfer Blick flog über Silberweiden, die ihre knorrigen Wurzeln durch das Erdreich in Richtung Fluss gruben. Flechten krallten sich in die dicke raue Rinde. In Gold und Karmesin erglühende Blätter klammerten sich überall trotzig an miteinander verflochtene Zweige. Ein viel zu großes Eichhörnchen sauste mit einer riesigen Nuss einen Stamm herab und verschwand hinter einem großblättrigen Busch. Und im knarzenden Geäst eines Ahornbaumes stand ein spindeldürres Vogelwesen. Federlose, graubraune Haut, die sich über Knochen spannte. Kurze Schwingen mit einer ledernen Membran, deren Adern im Sonnenlicht rot leuchteten.
»Hast du das Bad genossen?«, fragte das Wesen und flog herab.
Es ähnelte einer misslungenen Kreuzung nackter Vogelarten, Rachel empfand es als überaus hässlich. An seinem Kopf saß ein langer, grauer Schnabel, und aus winzigen rot-schwarzen Augen blitzte ihr Spott entgegen. Dort, wo seine Ohren begannen, erhob sich eine Krone aus dem Schädel, ähnlich einem Hahnenkamm. Im Flug streckte es die Hand – eine Klaue! – aus, und deutete auf sie mit einem seiner vier knochigen Finger, aus deren Enden jeweils eine Kralle wuchs. »Ich dachte, Katzen seien wasserscheu.« Kichernd landete es wenige Meter vor ihr und grub seine drei ebenfalls krallenbewehrten Zehen ins Gras. »Hat sich das geändert?«
Rachel wich zurück. Das Wesen war zwar spindeldürr, doch mindestens doppelt so groß wie sie. Außerdem besaß es einen Ochsenschwanz, an dessen Ende eine groteske Quaste klebte. »Wer bist du und was machst du hier?«
»Diese Fragen sollte ich stellen. Schließlich war ich zuerst hier.« Die Augen des Geschöpfes leuchteten unheimlich auf. »Aber wenn du es unbedingt wissen musst: Ich bin ein Jäger und liege auf der Lauer.«
Rachels Atmung ging schneller. Fraß dieses Wesen Katzen? Sie nahm die Beine in die Hand. »Lass mich in Ruhe!«
»Alles hat seinen Preis.« Die Vogelkreatur flog ihr hinterher. »Was gibst du mir für deine Ruhe?«
Sie schlug einen Haken in den Wald hinein. Geschmeidig wand sich ihr Katzenkörper an Farnen vorbei. Leider verlangsamte der Forst die Kreatur nicht. »Ich kann dir ein Gedicht vortragen«, fauchte sie und wünschte, sie würde sich so mutig fühlen, wie sie zu sein vorgab.
Das Vogelwesen lachte spöttisch. »Ich begnüge mich mit deinem Namen.«
War das Teil der Prüfung? Vertrauen schenken, wo ihr Instinkt förmlich schrie, sie solle fliehen? Widerwillig hielt sie an. »Ich heiße Rachel. Rachel Cacylie.«
Ein seltsamer Ausdruck schlich sich in die kleinen Augen der Kreatur. »Du kannst mich Kraiden nennen, Rachel von der Erde.«
»Woher weißt du, dass ich von der Erde stamme?«
»Weil es auf Lopahr keine sprechenden Katzen gibt.«
»Lopahr? Nennt ihr so den Raum der Prüfung? Oder wie auch immer ihr den Ort bezeichnet, an dem sich Seelen einem Test unterziehen?«
Jetzt wirkte das Vogelwesen verstört. »Lopahr ist der Name dieses Kontinents. Hat dir der Hüter überhaupt nichts erklärt?« Er klackte mit dem Schnabel. »Dieser Planet, auf dem du stehst, trägt den Namen Alain. Er existiert parallel zur Erde. Der Kontinent, auf dem wir uns befinden, heißt Lopahr. Dir bleiben genau sieben Tage, um die Pforte und damit Gard zu finden und zur Erde zurückzukehren.«
Alles, was ihr dazu einfiel, war: »Ich bin auf einem Parallelplaneten gelandet? Ich dachte, ich sei gestorben.«
»Gestorben? Nein, du lebst. Bleibt nur die Frage, wie lange noch.«
Rachel konnte nicht mal ansatzweise begreifen, was sie da hörte. Sie lebte und befand sich auf einem Parallelplaneten?
Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und hielt Ausschau nach etwas, das einem Tempel, einer Tür oder einer Pforte ähnelte. »Ich habe dir meinen Namen genannt, also halte dich an deinen Teil der Abmachung und bleib mir fern.«
Mit einem hämischen Ausdruck im Gesicht ließ sich Kraiden auf einem Ast einer Linde nieder. Rachel ignorierte sein Grinsen und sprintete los.
Über bunte Käfer auf verwesenden Baumstümpfen und unter gebogenen Wurzeln hindurch führte ihr Weg, stets mit dem Gefühl, ein Schatten würde sie verfolgen, der verschwand, sobald sie sich umdrehte.
Mehr als einmal setzte sie ihre Katzennase ein, um sich einen Reim auf die vertrauten und doch fremden Düfte zu machen. Die Luft trug das erdige Parfum von sich zersetzenden Blättern und feuchtem Moos vermischt mit der zarten Süße ferner Blüten, die den letzten Atemzug des Sommers bewahrten.
Dieser Wald war riesig. Er schien überhaupt kein Ende zu besitzen.
Rachel suchte in Astlöchern nach dieser Pforte, hinter Felsen und am Grund eines klaren, flachen Sees.
Bald legte sich Dunkelheit wie eine kalte Decke über Farne und moosbewachsene Steine. Mit den letzten Sonnenstrahlen verschwand auch Rachels Zuversicht. Ihr Magen knurrte, ihre Zunge klebte am Gaumen, und sie fand diese verdammte Pforte einfach nicht.
Sie folgte dem Geräusch von fließendem Wasser, und als sie genau dieselbe Stelle am Ufer erreichte, an der sie sich Stunden zuvor aus dem Fluss gehievt hatte, wollte sie Weinen und Fluchen zugleich.
»Schau an.« Auf einer Flussinsel lümmelte Kraiden im Geäst einer mächtigen Eiche und riss Fleisch aus einem rohen Fisch. »Hast du es dir anders überlegt und willst doch nicht zurück zur Erde?«
Dank ihrer Katzenaugen sah sie auch in der Düsternis gestochen scharf, konnte sogar die dünnen Sehnen in Kraidens Flügeln erkennen, die Falten in seiner ledrigen, harten Haut sowie die einzelnen Schuppen seiner Mahlzeit.
Er isst einen Fisch.
Kraiden war nicht hier, um Katzen zu jagen, sondern um Flussfisch zu fangen. Zumindest hoffte sie das inständig. Sie brauchte Antworten. Und eine Landkarte.
»Ich verstehe nicht, warum ich diese Pforte nicht finde. Wie kann sie sich so weit weg von hier befinden? Ich bin doch aus ihr herausgekommen, also hätte sie in meiner Nähe sein müssen, als ich im Fluss gelandet bin.«
Er brach einen faustgroßen grauen Pilz vom Stamm ab und warf ihn ihr zu. »Das ist Teil deines Fluches.«
Sie hätte gern die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Weil das aber nicht ging, fiel sie, mit dem flauschigen Bauch voran, ins Gras am Ufer und beäugte misstrauisch den Pilz, der beim Aufprall auf dem Boden in zwei Hälften zerbrochen war. »Schwebt die Pforte am Himmel?« Sie erinnerte sich noch genau an ihren Sturz ins Wasser.
»Die Pforte steht auf dem Erdboden«, meinte Kraiden. »Und der Pilz ist essbar.«
Das konnte doch nur eine Falle sein. Anderseits war sie wirklich hungrig. Und diese Vogelgestalt schien eine Menge über ihren Fluch und die Pforte zu wissen.
Rachel gelüstete es nach Fleisch, sie ignorierte es und biss in den Pilz. Das Aroma von Erde füllte ihren Mund, Sand knirschte zwischen den Zähnen. »Korrigiere mich, wenn ich etwas falsch verstanden habe: Diese Welt ist ein bewohnter Planet, der parallel zur Erde existiert.«
Ein Nicken.
»Ein Planet genannt Alain, der noch nicht von irdischen Wissenschaftlern entdeckt wurde.«
»Ja und nein. Ich kenne zumindest keinen Wissenschaftler, der es innerhalb der Sieben-Tage-Frist zurück zur Erde geschafft hat, um euch Erdgeborenen von Alain berichten zu können. Wenn ich recht überlege, vermag ich dir gar niemanden zu nennen, der den Test bestanden hat. Ich kenne nur diejenigen, deren Knochen in diesen Wäldern ruhen. Aber wer weiß? Du bist die Erste seit Jahren, die es hierher verschlägt. Womöglich überraschst du mich und stellst dich intelligenter an als deine Vorgänger.«
Rachels Blut sackte in die Tatzen. »Lass mich das zusammenfassen: Menschen von der Erde, wie zum Beispiel mir, ist es verboten, Alain zu betreten. Weil wir keinen Namen im Raum hinter der Ersten Tür besitzen, richtig? Wir haben keinen merkwürdigen fliegenden Papierfetzen. Was? Was schaust du mich so kritisch an? Die Namen sehen nun mal bizarr aus!«
»Du solltest vorsichtig sein, wie du über diesen Planeten und seine Schöpfungen sprichst. Hier hat alles Augen und Ohren und vor allen Dingen Münder. Mit messerscharfen Zähnen.«
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sah sie sich um. Erste Nebelschwaden kringelten sich um dornige Hagebuttensträucher und verworrene Wurzeln. Ein Schleier, der die scharfen Kanten der Wirklichkeit sanft verwischte.
Die Wirklichkeit!
Kaum zu fassen, dass Lopahr real war.
Mit einer seiner Krallen kratzte Kraiden eine Gräte aus dem Schnabel. »Früher gab es keine Namen im Raum hinter der Ersten Tür. Als ihr Menschen noch ungehindert zwischen beiden Welten gereist seid, waren Namen nicht nötig. Doch wie so oft in eurer Geschichte kam irgendwann ein Punkt, an dem eure Gier euren Respekt gefressen und euch dazu verleitet hat, die Jahrhundertkriege zu beginnen. Ein törichter Fehler, denn diese Kriege haben Es geweckt.«
»Es?«
Kraiden sah sich um, als befürchtete er, dieses Es könnte hinter einem Stamm hervorspringen, wenn er nur laut genug darüber sprach. »Es hat es überhaupt nicht gefallen, wie die Jahrhundertkriege Alain zugesetzt haben«, krächzte er leise. »Darum hat es beschlossen, das Übel an der Wurzel auszurotten, und ist in den Raum vor der Ersten Tür geschlichen. Hat den Menschen, die von der Erde aus nach Alain reisten, das Fleisch von den Knochen geätzt.«
Rachel blieb der Bissen im Hals stecken.
»Es hat sogar deine Welt besucht.« Zum ersten Mal verlor seine Miene jegliche Häme. »Hat eure Drachen umgebracht.« Er legte den Kopf schräg. »Hat man deine Geschichtsbücher inzwischen überholt? Der letzte Erdgeborene, mit dem ich mich darüber unterhalten habe, war fest davon überzeugt, dass es zu keinem Zeitpunkt Drachen auf der Erde gegeben hat.«
Sie würgte an dem Stück Pilz.
Kraiden tippte nachdenklich mit einer Kralle gegen seine Schläfe. »Eine Schande, dass Es eure Aufzeichnungen und all diejenigen vernichtet hat, die Erinnerungen an die Zeit mit den Drachen hatten. Ich habe bis heute nicht verstanden, wie Es