Die Pforten von Lopahr: Tore und Wächter - Erin K. Wilde - E-Book
NEUHEIT

Die Pforten von Lopahr: Tore und Wächter E-Book

Erin K. Wilde

0,0

Beschreibung

"Du kennst diese Welt nicht, Rachel. Bilde dir nicht ein, etwas über ihre Monster zu wissen." Einen Vulkan bei Nacht erklimmen, davon träumt die siebzehnjährige Rachel schon lange. Doch kaum auf Bali angekommen, wird sie von ihrem Begleiter getrennt und gerät durch eine Pforte in eine magische Welt voller Monster und Flüche. Um zurückzukehren, schließt sie einen Pakt mit einer Kreatur und ahnt nicht, dass sie dadurch weit mehr als ihr eigenes Leben in Gefahr bringt. Wird sie einen Weg finden, der den Pakt auflöst und nach Hause führt? Oder verliert sie ihr Herz an einen Mann, den sie nicht lieben darf? Magisch. Spannend. Romantisch. Der Auftakt der sechsbändigen High-Fantasy-Romance-Saga.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 462

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Erin K. Wilde

Die Pforten von Lopahr

Tore und Wächter

Band 1

Content Notes

Die Content-Notes zur Lopahr-Serie

finden Sie auf der Website der Autorin:

www.erinwilde.de

Impressum

© Erin K. Wilde, 2024

Alle Rechte vorbehalten

Deutsche Erstausgabe Juni 2024

Verlag: LAUSCH medien, HamburgLektorat: Philipp Bobrowski | lektor.philippbobrowski.de

Korrektorat: Melissa Preßler | lillypressler.de

Cover: Jaqueline Kropmanns | jaqueline-kropmanns.de

Gestaltung der Landkarte: Cornelia Schulz

Illustrationen in Rachels Notizen: Vessela Kolibarova | instagram.com/jessyblluGestaltung von Rachels Notizen: Erika Markkinen | merlausch.de

Ausführliche Informationen über die Autorin und ihre Bücher finden Sie unter

www.erinwilde.de

Instagram: @erin_wilde_autorin

TikTok: @erin_wilde_autorin

Facebook: Fantasywelten von Erin Wilde

Für Christian.

Weil ich dich lieb hab.

»Chetter!«

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Bonuskapitel

Danksagung

Kapitel 1

Mai, 2010, nach irdischer Zeitrechnung

Fliegen ist gedacht für die Götter, die Drachen und die Vögel.

Rachel las die SMS, als könnten die Buchstaben auf magische Weise einen anderen Sinn ergeben. Aber dem war nicht so. Ihre Mutter machte sich eindeutig über sie lustig.

Murrend stopfte sie das Smartphone zurück in den Rucksack unter dem Flugzeugsitz.

Vögel liebten das Fliegen, Rachel hasste es.

Drachen teilten die Wolken – im Märchen wohlgemerkt.

Götter hingegen … Götter krallten sich nicht an Flugzeugsitze. Sie benutzten keine Brechtüten. Und ganz bestimmt wagte es niemand, von Göttern zu stehlen.

Rachel vermied es, sich nach dem Klingelknopf zu strecken und eine vierte Brechtüte zu verlangen. Sie konnte das! Sie würde bald aussteigen, die Maschine landete bereits, und Pfefferspray fand sie sicherlich am Flughafen.

Stöhnend massierte sie die Schläfen und zog den letzten Mango-Kaugummi aus der Hosentasche. Der Geruch von Textilreiniger, der in den Sitzen steckte, versetzte sie nicht wie üblich in Urlaubsstimmung. Für den Rückweg nach Deutschland würde sie sich ein Zugticket kaufen und davor auf einer Fähre anheuern. Oder sie mietete ein Schlauchboot. Wie lange ruderte man von Bali aus zum Festland?

Als die Flugzeugtüren geöffnet wurden, zerrte sie den Titankoffer aus dem Gepäckfach und konnte nicht entscheiden, was schlimmer war: ihre Angst, keinen festen Boden unter den Füßen zu fühlen, oder diesen Koffer zu transportieren – samt ominöser Sondergenehmigung für die Sicherheitskontrollen.

Die Frau, die ihren Pass kontrollierte, warf dem Titankoffer einen kritischen Blick zu. Rachel konnte es ihr nicht verdenken. Mit dem blinkenden Display sah das Teil so aus, als würde sie eine Atombombe nach Bali schmuggeln. Sie hätte den Koffer doch mit einer Einkaufstüte tarnen sollen. Dann hätten vielleicht auch die drei Diebe am Flughafen in Frankfurt nicht ihr Glück versucht.

Einmal mehr versicherte sie sich, dass die Handschelle geschlossen war, die den Koffer untrennbar mit ihrem Arm verband, ehe sie sich in das Gedränge auf dem Flughafen in Denpasar mischte. Umgeben vom Rascheln leuchtender Sarongs und hellgrauer Anzüge stieg der Geruch von Sandelholz in ihre Nase.

Neben einem Geschäft, das neonfarbene Stofftaschen anbot, entdeckte sie einen Laden mit Pfefferspray. Und ihren Onkel.

Richard breitete die Arme aus, sein Lächeln verzerrte die Narbe über dem linken Wangenknochen. »Willkommen auf meiner Insel.«

Rachel zupfte an seinen silbernen Strähnen. »Deine Insel tut dir nicht gut. Wo lässt du all die Farbe in deinem Haar?«

Er kitzelte mit ihrem Pferdeschwanz ihr Ohr. »Du kannst ja wohl ganz still sein mit deiner schwarzen Mähne.«

»Nur Mutter steht Blond«, erwiderte sie grinsend.

»Du hast ihr Lachen.« Mit dem Zeigefinger fuchtelte er vor ihrem Gesicht herum. »Und diese Nase? Die gibt es auch nur einmal.«

Es war ihr Spiel, seit sie denken konnte. Sie machte sich über die unterschiedlichen Haarfarben ihrer Familie lustig – Richards Grau, Alice’ Blond, ihr eigenes Schwarz. Und er fand dafür Ähnlichkeiten zwischen ihr und ihrer Mutter, die eigentlich nicht möglich waren. Zumindest nicht, wenn jemand einen DNA-Test von Rachel und Alice verlangen würde.

Sie fischte nach dem Schlüssel in der Hosentasche. »Solange es nur Nase und Lachen sind und nicht ihre Übervorsichtigkeit, bin ich glücklich.«

Richard reckte den Hals und sah sich im Terminal um. »Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie einen oder fünf Bodyguards anheuert, aber ich sehe niemanden mit einem Schild, auf dem dein Name steht.« Er zwinkerte ihr zu. »Scheint, als hätte ihr mein Versprechen ausgereicht, dass ich dich keine Sekunde lang aus den Augen lassen werde.«

Rachel stöhnte und öffnete die Handschelle. »Zehn Euro, dass sie anruft, bevor wir bei dir daheim sind.«

»Zwanzig, dass sie es tut, bevor wir losgefahren sind.« Sein Blick fiel auf den dubiosen Koffer. »Spielst du öfter ihren Kurier?«

»Das ist eine Ausnahme. Eigentlich hatte ich andere Pläne, aber die Reisen, die ich ausgewählt hatte, wurden abgesagt und, nun ja, die Kofferlieferung kam mit einem Gratisflug einher. Mutter hat mich überredet, die Chance zu nutzen. Ein letztes Mal Ausspannen in den Ferien vor den Abschlussprüfungen.« Sie drückte ihm den Titankoffer in die Hand. »Warum besitzt du eigentlich kein Smartphone? Und auch keinen Computer?«

Er fummelte an der Handschelle, sie war ihm zu klein. »Wozu brauche ich ein Smartphone?«

»Ist das dein Ernst? Damit wir uns übers Jahr sehen können und ich nicht wieder warten muss, bis du zu Besuch kommst. Hast du noch nie etwas von Skype gehört?« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Zu Weihnachten schenke ich dir einen Laptop. Und einen Drucker.« Selbst wenn sie für das Geld länger Regale füllen und mehr Zeitungen austragen musste.

»Ich brauche einen Drucker, um Skype zu benutzen?«

»Du brauchst einen Drucker, damit du die nächste geheime Rezeptur bei dir daheim ausdrucken kannst. Das würde ungebetene Aufmerksamkeit ersparen.« Sie hob ihren ausgefransten Rucksack an. »Ich habe ernsthaft erwogen, den Koffer wegzuwerfen und die Formel hier drin zu verstecken.«

Abermals musterte Richard die Menschenmenge im Terminal. »Alice hat nie etwas gesagt.«

Das wunderte sie nicht. So oft, wie ihre Mutter mit dem Titankoffer verreiste, musste sie sowohl diese komischen Blicke als auch den Umgang mit Pfefferspray gewohnt sein.

»Bringen wir den Koffer gleich bei der Produktionsfirma vorbei?«

Ihr Onkel peilte eine Tür zum Parkplatz an. »Newlay liegt nicht auf unserem Heimweg, ich mache das morgen.«

»Ist das wirklich alles? Rechtfertigt das den Preis eines Flugtickets? Einen Wisch von Deutschland nach Bali zu bringen?«

»Das ist ein Job, Rachel. Im Internet kann alles abgefangen werden. Deine Mutter darf die Rezepturen nicht via E-Mail übermitteln.«

»Es ist trotzdem nur ein Blatt Papier, das ich von A nach B trans­portiere.«

»Es ist Zeit, die deine Mutter nicht mit dir verbringen kann. Ein Flugticket ist kein Ersatz für die zwei Wochen im Monat, die ihr euch nicht seht, wenn sie für Newlay unterwegs ist.«

Darauf wusste sie nichts zu erwidern.

Sie folgte ihm durch die Tür nach draußen und blieb wie angewurzelt stehen.

Richard lud den Koffer in einen Jeep. »Was ist?«

Rachel saugte die fremde Hitze, den drückenden Dunst in sich auf. Genüsslich schloss sie die Lider und atmete den Gestank, die Schwüle ein. Bali besaß wahrhaftig eine verdammt hohe Luftfeuchtigkeit. Das hatte sie bisher nur in Gewächshäusern erlebt, die Tropenpflanzen beherbergten.

Ihre Haut begann zu schwitzen. Mit immer noch geschlossenen Augen rief sie: »Ich liebe es!«

»Die Hitze? Oder den Lärm?« Unglauben schwang in Richards Tonfall mit. »Hoffentlich hält das lange an.«

Sie grinste über seine Skepsis, bis sie jemand in den Arm zwickte. Rachel zuckte zusammen und riss die Augen wieder auf. Ein schlaksiger Fremder in einem verblichenen, ehemals orangefarbenen Rock mit einem Affen auf der Schulter hielt fünf Bananen unter ihre Nase.

»Affe Hunger«, sagte der Unbekannte. »Kaufe Banana.«

»Nein, danke.« Er würde sein Tier ja wohl auch füttern, wenn sie ihm keine Banane abkaufte.

Der Affe kletterte von der Schulter des Fremden. Baute sich auf dem Asphalt auf den Hinterbeinen vor ihr auf. Und biss in ihre Wade.

Rachel schrie auf, Schmerz explodierte in ihrem Bein. Der Bananen­verkäufer ergriff die Flucht, Richard brüllte etwas auf balinesisch und stürmte auf sie zu.

Noch ehe sie den Affen packen konnte, ließ das Tier von ihr ab und verschwand zwischen den parkenden Autos.

»Hast du das gesehen?« Mit einem heiseren Zischen betastete sie die blutende Bisswunde. »Der Verkäufer ist einfach weggerannt.«

»Gesehen und gehört.« Richard verfrachtete sie in den Jeep und wickelte ihr Bein in ein halbes Kilo Mull ein. »So was kann einem auch bloß hier passieren.« Er fluchte in seinen kurzen Bart, ließ den Motor an und raste über den Parkplatz.

Rachel ignorierte das Pochen in ihrem Bein und hielt nach dem Affen Ausschau. »Hoffentlich wird das Tier nicht von seinem Herrchen bestraft.«

»Ist das im Moment deine größte Sorge?«

»Du bist ja noch schlimmer als Alice«, murmelte sie und beäugte den Müll am Straßenrand und den Dschungel dahinter.

An Richards Schläfe pochte eine Ader. »Was meinst du?«

»Das ist ein Affenbiss«, sagte sie. »Keine Haiattacke. Du kannst dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten. Sonst brauchen wir den Mull womöglich auch nicht mehr.«

Er umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. »Gabriel soll sich den Biss sofort anschauen, wenn wir daheim sind.«

Ihr Mund klappte auf. »Wieso ist Gabriel hier?«

»Hattet ihr Streit oder warum klingst du so entsetzt?«

Sie kurbelte das Fenster herunter und streckte den Arm in den lauen Fahrtwind. »Ich bin überrascht, das ist alles.« Sie wollte ihm nicht gestehen, dass sie freiwillig zu jedem Arzt gehen würde, sofern dieser Arzt nicht gleichzeitig den Titel bester Freund trug. Denn eine Behandlung bei Gabriel zog in aller Regel eines mit sich: das plötzliche Erscheinen von Geistern. Und damit das Ende ihres Urlaubs.

Kapitel 2

Ist da Schlangenblut drin, Engel? Oder eingekochte Büffelschwänze?« Rachel stand in der Küche von Richards – für Bali untypischem – Herrenhaus, und musterte argwöhnisch die Spritze, die in ihre Wade eindrang.

Der Mann, den sie wegen seines goldenen, langen Haares Engel nannte, lächelte zu ihr auf. »Beides. Gepaart mit Schmerzmittel.«

Sie kräuselte die Oberlippe. »Haben dir deine Privatpatienten noch nie von Wahnvorstellungen berichtet?«

»Nur du, Katze, nur du.«

Rachel nahm ihre grüne Kokosnuss vom Küchentresen. Sie konnte unmöglich die Einzige sein, die nach einer Behandlung von dem Arzt, der sie Katze getauft hatte, sabbernde Geister und weiße Wölfe sah. »Erinnerst du dich an Nael? Den Typen, den du vorletztes Silvester mit nach Hause genommen hast? Du hast ihm einen Tee gebraut gegen seine Übelkeit. Danach hat er den Blumenkasten mit der Kloschüssel verwechselt.«

»Das lag nicht an meinen Kräutern«, erwiderte er schnaubend. »Der Idiot hat den Tee mit Whiskey verfeinert.«

Ein schelmisches Grinsen zupfte an ihren Mundwinkeln. »Zu meinem Einzug werde ich den Blumenkasten bepflanzen. Mit Kakteen.« Den Traum, nach ihrem Schulabschluss zu ihm in die Schweiz zu ziehen, hegte sie gefühlt schon ewig. Sie konnte nicht mehr aufzählen, wie oft sie bereits mit Gabriel davon geschwärmt hatte.

Er warf die Spritze in den Mülleimer. »Vielleicht solltest du lieber Bananenbäume pflanzen.«

Rachel stöhnte auf. »Karma lässt grüßen. So wird Geiz bestraft.«

»Nur weil Newlay deinen Flug bezahlt, heißt das noch lange nicht, dass du mit Geld um dich werfen musst, das du sowieso nicht besitzt.«

»Sag das dem Bananenverkäufer.«

Der Arzt öffnete eine Metalltube und verteilte großzügig lilafarbene Creme auf der Wunde. »Übertreib es nicht mit den Tempelerkundungen, okay? Gib deinem Körper Zeit, zu heilen.«

Sie kaute auf dem Strohhalm in der Kokosnuss, bevor sie sagte: »Ich verspreche, mich jeden Tag für eine halbe Stunde in eine Hängematte zu legen.«

»Nennst du das Heilung?«

»Engel, du kennst mich. Müßigkeit und ich sind Todfeinde.«

Gabriel schien drauf und dran, ihr eine Standpauke zu halten. Zu ihrer Überraschung sagte er nur leise: »Ich weiß.« Die Bisswunde verschwand unter einem weißen Verband. »Darum habe ich die Dosis des Antiseptikums erhöht. Deiner nächsten Vulkanbesteigung steht nichts im Weg.«

Sie verschluckte sich an dem Kokoswasser. Dass der Inhalt der Spritze einen neumodischen Namen wie Antiseptikum trug, bezweifelte sie. Da waren doch allerhöchstens gemahlene Rindenstücke und zerstoßene Knochen drin.

»Gib einfach zu, dass du an mir neue Mixturen ausprobierst.«

»Wie bitte?«

Sie wedelte mit der freien Hand. »Tu nicht so. Deine superreichen Kunden schreien sicherlich nicht hier, wenn es darum geht, ein neues Heilmittel zu testen. Wie bist du überhaupt so schnell Arzt geworden? Da stimmt doch was nicht.« Er war schließlich erst zweiundzwanzig.

Gabriel klappte seinen mobilen Verbandskasten zu, den er behandelte wie andere Leute ihre Eheringe. Er verließ nie ohne ihn das Haus. »Wo ist deine Dankbarkeit geblieben, Katze?«

Sie stupste sacht den Ellenbogen in seine Seite. »Die zeigt sich morgen beim Frühstück in Form von selbst gebackenen Croissants.«

Er schmunzelte. »Hast du etwa Richards Vorratskammer durchwühlt und Pflaumenmarmelade gefunden?«

Rachel stellte die Kokosnuss ab. »Du kannst Croissants auch mit etwas anderem genießen. Butter. Käse. Avocados.«

Er verzog das Gesicht. »Ich esse meine lieber mit Pflaumenmarmelade.«

Sie riss die Hände in die Höhe. »Aber doch keine acht Stück!« Wohin er diese jedes Mal in seinem zwei Meter großem Körper verschwinden ließ, war ihr ein Rätsel.

Gabriel lachte bloß, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn zum Torbogen zu begleiten, der im hüfthohen, aus dunkelroten Backsteinen gemauerten Zaun um Richards weiten Garten saß.

»Was machst du eigentlich hier?«, fragte sie. »Ich dachte, du wolltest die nächsten drei Wochen in der Schweiz bleiben. Hast du auf Bali auch einen Kunden?« Gabriel besaß ein Haus in den Schweizer Bergen und kehrte für gewöhnlich nur dorthin zurück, um seine Arzneimittel aufzufüllen. Den Rest seiner Zeit tingelte er durch die Welt, von einem wohlhabenden Patienten zum anderen.

»Ich habe ein Last-Minute-Ticket ergattert.«

Das erklärte nichts. Sie verbrachten jeden zweiten Urlaub gemeinsam, er hätte es ihr erzählt, wenn er nach Bali gereist wäre. »Hast du Angst, mit mir gesehen zu werden, oder wieso hast du nichts gesagt?«

»Ich wollte dich überraschen und am Flughafen abholen, aber Richard war der Meinung, er kenne den Verkehr besser.«

Da stimmte doch was nicht.

Bevor sie nachhaken konnte, hauchte er einen Kuss auf ihren Scheitel und sagte: »Ruh dich aus, Katze! Wenn was ist, schreib mir.«

Damit verschwand ihr bester Freund in der anbrechenden Dunkelheit auf dem Trampelpfad, der durch den Wald zur Straße führte. Rachel fragte sich, wo er schlafen würde. Immerhin lag die nächste Ortschaft eine halbe Stunde Autofahrt entfernt. Doch der Arzt war schon immer ein wenig rätselhaft gewesen. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er jetzt im Mondschein besondere Kräuter pflückte.

Seufzend schloss sie das Tor, schlenderte in dem weiten Garten zwischen Kokospalmen hindurch und genoss den lauen Wind, der den Geruch von feuchter Erde und vergorenen Früchten mitbrachte. Zehn Tage hatte sie Zeit, diese Insel zu erkunden. Etwas Besseres hätte ihr in den Pfingstferien nicht passieren können. Die Gruppenwanderung in den Alpen hatte der Fremdenführer abgesagt, der Bus nach Tschechien war nicht voll geworden, das Zugticket in die Niederlande hatte sie sich nicht leisten können und …

»Wieso Rachel?«

Sie stolperte fast über ihre eigenen Füße. Die tiefe Stimme drang aus Richtung der alten Scheune, die mitten auf dem Grundstück neben dem doppelstöckigen Herrenhaus stand. Ihr geöffnetes zweiflügliges Tor starrte wie ein gähnender Schlund in die angebrochene Nacht. Auf ihrem mit Alang-Alang gedeckten Grasdach saß einer der hochgefährdeten schneeweißen Balistar-Vögel und schien den Sprecher zu beobachten, den Rachel nicht sah.

Ein verlegenes Räuspern hallte zu ihr herüber. Es stammte von ihrem Onkel.

»Ich konnte Alice diesen Gefallen nicht ausschlagen.«

Gefallen? Welchen Gefallen?

»Seit wann bist du so weichherzig?«, fragte die fremde Stimme. »Ist dir nicht klar, was alles hätte schieflaufen können?«

Schieflaufen?

Vorsichtig schlich sie näher.

Ihr Onkel stöhnte frustriert. »Cayl, du klingst wie ein alter Tempel­diener, der ständig vom Weltuntergang predigt und sinnlos Münzen einsammelt. Nicht wie vierundzwanzig und bereit, meine Kokosnussplantage zu übernehmen.«

Das darauffolgende Knurren, das durch die Luft schwang, löste Gänsehaut auf ihrem Rücken aus. Cayl Ferrow hatte da geknurrt. Richards Stiefsohn. Rachel kannte ihn lediglich von einem Jugendfoto, das zwischen vielen anderen in einer Schublade des Sekretärs ihrer Mutter verblich.

Sie presste sich an die Scheunenwand und linste um die Ecke. Das faserige Holz kratzte unter den Fingern.

Der Mann mit dem kurzen schwarzen Haar, der ihrem Onkel lediglich in knielangen Hosen gegenüberstand, stemmte die Hände in die schlanken Hüften und streckte herausfordernd das Kinn vor. »Ich will diese Kokosnussplantage nicht.«

Rachel schluckte. Warum zum Geier hatte ihr niemand gesagt, dass ihr Stiefcousin zu einem Unterwäschemodel mit Sixpack mutiert war? Alles an ihm wirkte durchtrainiert. Die nackte Brust, die breiten Schultern, selbst seine verdammten Füße! So hatte er auf dem Foto aber noch nicht ausgesehen.

Cayl bleckte die Zähne. »Deine Nichte ist erst siebzehn! Wieso lasst ihr sie allein mit dem Koffer reisen? Hat sie dir erzählt, dass man schon versucht hat, ihn zu stehlen?«

Woher wusste er das?

Mit mehr Schwung, als es für ihr verletztes Bein gut war, stieß sie sich von der Scheunenwand ab und humpelte um die Ecke. »Ich brauche keinen Babysitter, Cousin.«

Falls sie die beiden Männer überraschte, ließen sie es sich nicht anmerken, im Gegenteil. Der Blick aus Cayls dunkelgrauen, fast schwarzen Augen wanderte ausdruckslos von ihrem weißen T-Shirt mit Lissabon-Aufdruck über die luftigen ockergelben Hosen aus Barcelona zu den Salzburger Wanderschuhen.

»Nimm es ihm nicht übel«, sagte Richard. »Immerhin konnte ich nicht verhindern, dass du heute beinahe Affenfutter geworden wärst. Was mich zu dem Schluss bringt …« Er legte eine Hand auf ihre Schulter und fixierte Cayl. »Du hast recht. Begleite sie auf ihren Ausflügen. Nur für alle Fälle.« Cayl blinzelte irritiert, Richards Mundwinkel zuckten. »So, wie ich meine Nichte kenne, will sie sich bei Sonnenaufgang in ein Abenteuer stürzen. Also pass schön auf sie auf. Sie ist ja erst siebzehn.«

Rachel sah ihrem Cousin sofort an, was er von der Idee hielt. Sein ganzer Körper verkrampfte sich, und als ihr Onkel ihm dann auch noch lachend den Rücken zukehrte, schnitt er eine Grimasse.

»Ist das das, was du normalerweise tust?«, fragte sie Cayl. »Menschen beschützen, über die du dir Vorurteile bildest?«

»Bist du keine siebzehn? Hat man nicht versucht, dir den Koffer zu stehlen?«

»Es kommt nicht allein auf die Wahl der Worte an, sondern auch darauf, wie sie ausgesprochen werden.«

»Worte, die nicht für deine Ohren bestimmt waren.«

»Ja, sehr nett, wie du hinter meinem Rücken über mich redest. Das Amt des Beschützers wird dir hiermit aberkannt.«

»Ich war nie dein Bodyguard.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und neigte sich ein Stück näher zu ihr. »Wäre es so gewesen, wäre ich dir nicht mehr von der Seite gewichen, sobald du das Bett verlassen hättest.«

Ein Bild schob sich vor ihr inneres Auge. Cayl in ihrem Zimmer in Deutschland, an der Tür lehnend, an der eine Weltkarte hing und – die Scheunenwände neben Rachel begannen zu flimmern. Offensichtlich spürte sie bereits die befürchteten Nebenwirkungen von Gabriels Anti­septikum, denn die Scheune hob sogar ein Stück vom Boden ab, als wollte sie in den Abendhimmel aufschweben. Rachel schüttelte den Kopf, um die Einbildung zu vertreiben.

»Lassen wir den Quatsch, ich will nicht mit dir streiten.« Versöhnlich hielt sie ihm die Hand hin. »Das ist ein offizieller Neustart unserer ersten Begegnung. Hallo, Cayl.«

Misstrauisch kniff er die Augen zusammen, und das war der Moment, in dem nicht nur die Scheune ihr vorgaukelte, abheben zu wollen, sondern sich auch der trockene Boden unter ihren Füßen wölbte, als wollte er sie verschlingen. In Rachels Gehirn drehte sich alles, sie stolperte einen Schritt nach vorn. Anstatt Cayls Hand zu ergreifen, landete die ihre auf seiner Brust.

Er legte den Kopf schräg. »Hallo, kleine Rachel.«

Sämtliche Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Wer hatte dem Kerl eine solche Stimme verpasst? Und seine Haut … Vorsichtig zeichnete sie das V auf seinem Oberkörper nach. »Was ist das da auf deiner Brust?«

»Ich nenne es Muskeln.« Mit einer harschen Bewegung riss er ihre Hand weg und schob Rachel zum Herrenhaus.

Muskeln.

Unter anderen Umständen hätte sie darüber gelacht. Doch sie hatte nicht seine durchaus markanten Muskeln gemeint. Ihre Fingerspitzen hatten schwarze Streifen nachgezeichnet, die sich im Dunkel der Nacht über seinen Körper gefressen hatten.

»Das ist nicht, wonach es aussieht«, blubberte sie und verwünschte den Schwindel.

»Und nach was sieht es aus, Cacylie?«

Noch mehr Hitze stieg in ihre Wangen. »Ich begrapsche keine Männer, Ferrow.«

»Es heißt, es gibt für alles ein erstes Mal.«

Arschloch!

Was war er nur für ein – vor der Haustür musste er sie auffangen, weil ihre Welt schon wieder kippte und der Dielenboden der Veranda in ihre Richtung wanderte.

»Betrinkst du dich auf jedem Flug?«, grollte er.

Sie kniff die Augen zusammen, um das Bild von Geisterzähnen im Holz der Tür zu vertreiben. »Das ist Gabriels Schuld.«

Er führte sie über die Schwelle. »Schieb es nur auf andere.«

Rachel wollte ihn anfauchen und stolperte stattdessen in einen spärlich beleuchteten Flur hinein. Im letzten Moment fing sie sich an einer Wand ab.

Erneut wanderte Cayls Blick an ihr hinunter und wieder herauf. »Du hast dich verändert.«

Was sollte das denn heißen? Hatte er ebenfalls ein Foto aus ihrer Jugend gesehen?

»Die Zeit bleibt nicht stehen, Besserwisser.«

Seine Brauen wanderten tiefer. »Verpassen wir uns jetzt neue Nachnamen? Cacylie kann nämlich auch keiner richtig aussprechen.«

Wie oft hatte sie solche Aussagen schon gehört? Sie wedelte mit der Hand. »Es ist mein Nachname, er muss nur mir gefallen.« Sie taumelte an einer Garderobe vorbei, dann an ihrer Mutter, dann an – abrupt hielt sie inne. Ihre Mutter? Rachel ruderte zurück, prallte mit dem Rücken gegen Cayl, der wegen des plötzlichen Ellenbogens in seinem Bauch die Luft ausstieß.

»Für dich gibt es heute nur noch Wasser, das verspreche ich dir«, brachte er hervor.

Rachel bemerkte kaum den muskulösen Arm, der ihre Taille umschloss und sie stützte. Hier, in diesem Flur, in dem es schwach nach gebratenem Hühnchen und Kräuterbutter roch, hing ein Foto von Alice. Auf der Haube eines pinkfarbenen Chevrolets saßen ihre Mutter, Richard, Richards Frau und ein Fremder.

Stirnrunzelnd betrachtete Rachel die restlichen Momentaufnahmen, die in goldenen, silbernen und erdfarbenen Rahmen die linke Flurwand schmückten, nur um erneut das Bild mit dem Chevrolet zu inspizieren.

»Wann ist dieses Foto aufgenommen worden?«

»Vor deiner Geburt.«

Seine Hand schob sich in ihr Sichtfeld. Er deutete auf einen Schnapp­schuss, auf dem ein Kind grinsend neben einem Fahrrad stand. Das Gefährt, die kurzen Jeans und auch das halbe Gesicht des Mädchens zierten breite Schlammspritzer, im Hintergrund ragte ein Waisenhaus auf. Ungläubig glotzte Rachel auf ihr siebenjähriges Ich. Sie kannte dieses Foto. Ihre Mutter besaß dasselbe. Es war an dem Tag aufgenommen worden, an dem sie und Alice Rachels Waisenhaus besucht hatten, das es heute nicht mehr gab. Rachel erinnerte sich nur vage an die Reise.

»Das ist mein Favorit«, spöttelte Cayl.

»Natürlich«, erwiderte sie gereizt. »Niemand kann mit einem ausgeschlagenen Schneidezahn so hübsch lächeln wie ich.«

Zu allem Überfluss brachte ihn das zum Lachen. Die Laute krochen unter ihre Haut und verweilten dort, selbst dann noch, als er sie längst losgelassen hatte und ins Esszimmer ging.

Widerwillig folgte sie ihm und ließ sich auf einem der Bambusstühle nieder. »Ich kann mich erklären.«

»Schon wieder?« Cayl stellte eine Auflaufform mit Reis und Hühnchen auf den Tisch. »Auf die neue Begründung bin ich gespannt.«

Das Abendessen artete zu einer Katastrophe aus – zumindest für Rachel. Egal, wie deutlich sie die Auswirkungen von Gabriels Mischungen schilderte – ihr Cousin blieb skeptisch. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Schließlich hatte sie sich wie eine Verrückte geradezu an ihn rangeschmissen. Seine Brust berührt! Könnte sie doch nur mit einem der luftigen weißen Vorhänge verschmelzen und so Cayls seltsamen Blicken entfliehen.

»Mit Halluzinationen ist nicht zu spaßen.« Richard legte die Serviette ab. »Ich rufe Gabriel an.«

Damit ihr Engel ihr eine andere Mixtur verabreichte, von der die Wahnvorstellungen noch schlimmer wurden?

Nein, danke.

Sie musste sich beherrschen, nicht aufzuspringen und ihrem Onkel das Schnurtelefon aus der Hand zu reißen. »Ruf nicht an! Die Hallu­zinationen verfliegen bis morgen früh.«

Irritiert hielt Richard im Wählen inne. Er schien abzuwägen, ob sie die Wahrheit sprach, und so fischte sie nach dem einzigen Argument, das ihr einfiel. »Wenn du Gabriel jetzt Bescheid gibst, wird er Mutter informieren. Dann kannst du dich darauf einstellen, dass sie ab morgen jede Stunde einen Bericht von dir persönlich erwartet.«

Cayl nahm sich einen der Pfannkuchen, die es als Dessert gab. »Hast du Alice schon gesagt, dass du hier bist? Sie wird die Polizei nach dir fahnden lassen, wenn du dich nicht meldest.«

»Woher kennst du meine Mutter?« Hatte sich Alice’ Beschützerinstinkt so sehr herumgesprochen?

Mit einem süffisanten Lächeln öffnete er ein Glas Himbeermarmelade. »Ich habe euch mal besucht.«

»Und wieso weiß ich davon nichts?«

»Weil du damals zu beschäftigt warst, mein Hemd mit Babybrei vollzukotzen.«

Sie wollte lachen und gleichzeitig ihren eigenen Pfannkuchen in seinem Haar verteilen, doch Richard wedelte mit dem Telefon in der Hand und hakte nach: »Deine Mutter?«

Rachel schickte ein stummes Gebet an den Messingkronleuchter, der über ihr baumelte, und zückte ihr Smartphone.

Der Titankoffer und ich sind wohlbehalten in Richards Gästezimmer angekommen. Hast du Gabriel nach Bali geschickt? Damit er ein Auge auf mich hat?

Sie erhielt keine Antwort. Selbst als Rachel spät in der Nacht unter die leichte Bettdecke kroch und das Moskitonetz um ihr Rattanbett zuzog, blieb ihr Smartphone stumm. Hoffentlich saß ihre Mutter nicht bereits vor Sorge in einem Flieger. Hoffentlich vergaß Cayl bis morgen diesen peinlichen Vorfall.

Muskeln!

Mit glühenden Ohren glitt sie in den Schlaf.

Kapitel 3

Ein Affe mit goldenen Augen verfolgte Rachel.

Ihre Lungen brannten, Staub klebte an ihren Lippen. Sie bohrte die nackten Zehen stärker in die lose Erde, rannte schneller, noch schneller, doch der Affe holte auf. Setzte zum Sprung an. Rachel riss die Lider auf. Ihre Finger krallten sich in eine leichte Decke. Ihre Decke.

Atemlos starrte sie zur weißen Spiegelkommode, die dem Bett gegenüberstand. Im schwachen Mondlicht schimmerte das Möbelstück gräulich, von dem Affen fehlte jede Spur.

Nur ein Traum.

Erleichtert lehnte sie sich an das Kopfteil des Bettes.

»Rachel.«

Ihr Körper verkrampfte.

»Hier, Rachel«, wisperte jemand.

Das klang nicht nach ihrem Onkel. Oder Cayl. Und das Flüstern drang auch nicht aus dem Flur vor ihrer Zimmertür.

Ganz langsam schielte sie vorbei an ihrem Nachttischchen, auf dem ihr Smartphone Mitternacht anzeigte.

Absolut. Unmöglich.

Es war der Titankoffer, der murmelte.

Sie sprang so hastig aus dem Bett, dass sie sich im Moskitonetz verhedderte.

Zehn schnelle Herzschläge lang verharrte sie vor dem Koffer, den Richard in ihrem Zimmer zwischengelagert hatte. Dann gab sie den fünfundzwanzigstelligen Code ein.

Sie war nicht dabei gewesen, als ihre Mutter die Rezeptur im Koffer verstaut hatte. Rachel hatte überhaupt keine Ahnung, wie das Titanding von innen aussah.

Mit einem leisen Klicken sprang der Deckel auf.

Im Koffer lag ein samtenes Tuch, unter dem zwei Bücher hervorlugten. Rachels Irritation wuchs. Sie wusste, dass Alice ein Faible für alte Schmöker besaß. Aber hätte für die Kosmetikrezeptur nicht ein Ausdruck gereicht? Wieso die Rezeptur in zwei Schwarten festhalten, die den Eindruck von Hexenbüchlein erweckten?

Der Titel des ersten Buches war nicht mehr zu entziffern. Vorsichtig strich Rachel mit dem Finger über den rauen, ehemals roten Einband und öffnete den abgegriffenen Lederverschluss. Die ersten Seiten zierten weder Widmung noch Druckdatum, dafür eine Tuschezeichnung eines Nadelwaldes, in dem ein Magier mit spitzem Hut und langem Gewand stand. Rachel vermutete Geheimtinte und griff nach dem zweiten Wälzer. Wesentlich besser erhalten, leuchtete dieser im Halbdunkel des Zimmers. Fluoreszierendes Orange, Gold, Rot und Gelb schimmerte auf ihren Fingern. Sie schlug das Buch auf – und ließ es sofort fallen.

Aus dem Bund quoll zwischen leeren vergilbten Seiten lilafarbenes Öl empor. Es schlängelte sich in die Luft, verbreitete den Geruch nach uralter beißender Tinte und begann zu singen.

Leuchten in allen Seelen, jeder versucht zu stehlen, unendlich oft gegeben, schallt die Essenz von Leben.

Stell’ drei Fragen oder keine, an jede von uns eine. Wähle weise dein Begehr, denn Drei ist Eins, niemals mehr.

Das Öl tropfte auf die unbeschriebenen Seiten hinab. Dort teilte es sich in drei Teile auf, die jeweils unterschiedliche Formen und Farben annahmen. Eines davon kreierte ein Nest voll grauer Haare. Darunter erschien ein faltiges, strenges Gesicht.

Innerhalb weniger Sekunden stand auf dem Papier eine winzige alte Frau, die hustete, da unnatürlich viel Staub von ihrem nachtblauen Kleid davonsegelte. Neben ihr wedelte eine blonde, ebenso kleine Schönheit mit den Armen und versuchte naserümpfend, den Staub zu vertreiben.

»Kannst du dich nicht woanders sauber machen?«, beschwerte sie sich, woraufhin eine dritte Gestalt – ein Kind in knallgrüner Latzhose – die Blonde in die Seite boxte.

»Du hast gesagt, beim nächsten Mal ziehst du etwas anderes an als deinen langweiligen Pullover und …«, das Kind fixierte den Rock der Blonden, »wie auch immer du diesen Fetzen bezeichnest.«

Die Blonde sog empört die Luft ein und bedachte das Kind mit nicht jugendfreien Schimpfworten.

Das Mädchen wandte sich nur kichernd Rachel zu und flötete: »Hi, Cacylie.«

Rachel tastete nach dem Holzboden unter sich, damit sie irgendwo Halt fand. Woher kannten diese Gestalten ihren Namen?

Die Alte schob die Hornbrille zurück auf die Nase und murrte: »Das wurde allerhöchste Zeit.«

Die blonde Schönheit unterbrach ihre Tirade und schaute auf ihr Handgelenk, als würde sie eine nicht vorhandene Armbanduhr lesen. »Wieso? Uns bleiben genau …«

»Rachel muss wissen, dass wir Freiheit begehren«, warf das Mädchen ein, ihre orangefarbenen Augen leuchteten auf. »Das ist genug.«

Fieberhaft klappte Rachel den Wälzer zu und legte ihn zurück in den Koffer. Sie stürzte auf den Flur, die Treppen hinunter und blieb mit pumpendem Herzen im Esszimmer stehen.

Nur eine Einbildung.

In der Küchenspüle wusch sie sich Hände und Gesicht mit kaltem Wasser und schwor sich, Gabriels Arztköfferchen samt Inhalt einer der kunstvoll verzierten Tempelstatuen zu opfern, die auf Bali an jeder Ecke verehrt wurden.

***

»Zum Markt nehmen wir das Motorrad.«

Gähnend folgte Rachel ihrem Stiefcousin zur alten Scheune. Sie hatte ihm nicht von der Halluzination des Buches erzählt, denn vergangene Nacht hatte sie den Titankoffer noch einmal inspiziert. Selbstverständlich hatte sie keinen singenden Folianten darin vorgefunden. Nur zwei alte Wälzer, in denen neben einem Briefumschlag an Newlay so viel Leben gesteckt hatte wie in dem holzwurmigen Stuhl in ihrem Zimmer. Sie hatte Gabriel sofort eine SMS geschickt. Wahrscheinlich waren die Vorwürfe in der Nachricht der Grund, weshalb er nicht zum Frühstück erschienen war. Die Croissants, die sie mit Cayls Mutter, Zarah, gebacken hatte, hatte Cayl verdrückt. Ihr Engel fürchtete sich. Sollte er auch! Wieso verabreichte er ihr kein normales Antibiotikum? Ihr Cousin hielt sie mit Sicherheit immer noch für geistig gestört. Sie war heilfroh, dass er ihrer Bitte nachgegeben hatte und sie tatsächlich auf ihren ersten Ausflug begleitete. Die Idee eines Babysitters missfiel ihr, aber sogar sie sah ein, dass sie in ihrem Zustand die Insel besser zu zweit erkundete.

Cayl verschwand im Inneren der Scheune und holte aus einer Truhe hinter dem Tor etwas Ledernes heraus. »Zieh das an.« Er warf ihr ein verstaubtes Knäuel zu, das sich nach Ausklopfen desselben als Hose und Jacke entpuppte, die wohl schon seit Jahrhunderten niemand mehr getragen hatte.

»Ich habe noch keinen Balinesen gesehen, der in so einer Tracht fährt«, meinte sie.

Er stellte ein ebenso verstaubtes, altes Motorrad neben ihr ab. »Du bist keine Balinesin. Und wenn du den Markt sehen willst, tust du, was ich dir sage.«

Sie spähte an ihm vorbei zu den Holzwänden im Inneren der Scheune, wo ihr im fahlen Licht ein Arsenal von Buschmessern entgegen blitzte. »Bist du immer so freundlich?«

»Bist du immer so neugierig?«

Rachel quetschte sich in die steife Montur. »Scheint mir eine große Messersammlung zu sein, die ihr hier hortet.«

»Wir spielen auch gern damit.«

Sein Grinsen jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken, den die Hitze unter den Kleidern schnell vertrieb. Sie sah aus wie ein aufgequollenes Marshmallow, und genauso fühlte sie sich.

»Du trägst das zur Sicherheit.« Er schlüpfte ebenfalls in eine Lederkluft. Allerdings nur eine Jacke. Und sie sah an ihm dreimal dünner aus als das, was sie trug. »Wenn ich schon auf dich aufpassen soll, ziehst du an, was ich dir vorschreibe.«

Sie rollte mit den Augen. »Solange sich das auf Jacke und Hose beschränkt, und nicht auf meine Unterwäsche …«

Leise lachend startete er das Motorrad. »Wenn du eine Empfehlung brauchst, musst du es nur sagen, Rachel.«

***

Der Markt in Bali war voll. Voll mit Touristen, Balinesen, Waren aller Art und Gestank. Von den ausgetrockneten Kanälen stieg der Geruch nach Opfergaben an die Götter und anderen unbeschreiblichen Dingen auf. Vermischt mit dem Duft exotischer Gewürze klebte er Rachel in der Hitze in der Nase. Sie ignorierte die Ausdünstungen und begutachtete fasziniert das Kunsthandwerk, das die Händler mit Rabatten an die Touristen bringen wollten.

Dicht hinter ihr ragte Cayl aus der Menge heraus und fragte: »Was willst du dir anschauen?«

Sie betastete Notizbücher, deren Umschläge aus getrocknetem Ele­fant­en­dung angefertigt worden waren. »Alles.«

Er seufzte, und ihre Gedanken drifteten zu den bunten Notizbüchern, die sich in den Regalen im Schlafzimmer ihrer Mutter aneinanderreihten. Alice erstand sie für Übungen einer Sprache, die sie erfunden hatte. Rachel fühlte sich selbst heute noch wie eine Agentin, sobald sie die von Alice entworfenen Buchstaben niederschrieb und mit einem für andere unentzifferbaren Einkaufszettel nach Milch und Eiern suchte.

»Das ist zu teuer.« Cayl deutete auf die farbintensive Malerei einer Reisterrassenlandschaft, die sie betrachtete.

Rachel zückte ihren Geldbeutel. »Das bestimme immer noch ich.« Sie kaufte die Malerei, dazu einen kegelförmigen Strohhut, mit dem sie sicherlich schon aus der Ferne als Touristin identifiziert wurde.

Als sie erneut an einem Stand grellbunter Holzpenisse vorbeikam, die zum Flaschenöffnen geschnitzt worden waren, überlegte sie ernsthaft, ob das nicht ein denkwürdiges Mitbringsel für ihre Klassenkameradinnen sei. Nachdem sie aber Cayls zweifelnden Blick förmlich im Nacken spürte, ließ sie die Öffner, wo sie hingen, und steuerte einen Obststand an.

»Hast du Hunger?«, fragte sie.

»Nicht auf das.« In der Art und Weise, wie er das Gesicht verzog, war den Früchten, die hier angeboten wurden, nicht zu trauen. »Da drüben gibt es eine Gaststätte. Ich schaue nach, ob ein Tisch frei ist. Warte so lange hier und stell nichts Dummes an.« Er überquerte die Straße und verschwand in besagter Gaststätte. Rachel verkniff es sich, ihm hinterherzubrüllen, wohin er sich seine Forderungen stecken konnte. Für wie alt hielt er sie eigentlich? Acht?

Ich sollte eine geöffnete Durian-Frucht unter deinem Bett verstecken. Damit du mal siehst, was Achtjährige anstellen. Eine neue Duftnote in deiner Matratze, das wäre der Hit. Schwefel, Röstzwiebeln, Stinktier – gepaart mit Fäule.

Mit einem diebischen Grinsen trat sie an den Obststand heran.

»Würden Sie mir helfen?«, fragte ein fremder Mann auf Englisch und lächelte sie an. Es war ein blinder alter Bettler, der sich auf einen Stock stützte. »Ich suche etwas.«

»Selbstverständlich«, beeilte sie sich zu sagen und nahm das Angebot in Augenschein. »Was brauchen Sie?«

»Selbstverständlich ist nicht ganz, worum ich Sie bitten möchte.« Mit der freien Hand tastete er über seine von der Sonne gebleichte staubgraue Augenbinde. »Hat man Sie bereits vor den Affen gewarnt?«

Irritiert runzelte sie die Stirn. »Ich habe meine Erfahrung mit ihnen gemacht.«

»Die Sache mit den Affen ist ein Missverständnis.« Er neigte sich ein Stück weit zu ihr und wisperte: »Die Wahrheit wurde gestohlen. Aber dem Dieb folgen nur zwei: der Narr und der Mutige.«

Sie trat einen Schritt von ihm weg. »Wie bitte?«

Der Blinde deutete auf die Früchte. »Ich denke, eine Banane wird genügen.«

Unsicher sah sie von dem Alten zu dem Händler. Der trommelte ungeduldig mit den Fingern auf seinen Sonnenschirmständer. Sie wollte gerade zu den Bananen greifen, als jemand in ihrem Rücken sagte: »Verbreitest du wieder Unsinn?«

Hinter Rachel stand ein betagter, hagerer Fremder. In staubige Lumpen gekleidet, trug er denselben Strohhut wie sie, nur ragten unter seinem schneefarbene Strähnen hervor.

»Hör nicht auf ihn«, meinte er zu Rachel. »Spiele spielen und andere hinters Licht führen, das ist alles, was ihn interessiert. Den Affen darfst du nicht trauen. Halte dich fern von ihnen.«

»Was machst du hier?«, zischte der Blinde.

Der Weißhaarige entblößte eine Reihe fauliger Zähne. »Dich davon abhalten, Schaden anzurichten.«

»Bist du das Lügen noch nicht leid?« Der Blinde hob seinen Stock an. »Du wolltest nachsehen, ob ich endlich unter der Erde liege, gib wenigstens das zu!« Mit diesen Worten holte er aus und schwang den Blindenstock wie eine Waffe vor sich her. Der Händler stieß einen entsetzten Ruf aus, Rachel duckte sich unter einem Schwinger hindurch.

Ungeschickt wich der Weißhaarige zur Seite aus. »Hast du wieder zu viel Palmwein gesoffen?«

Die Frage versetzte den Blinden erst recht in Rage.

Rachel versuchte vergeblich, sich des Stockes zumindest für einen Moment zu bemächtigen. Was war hier los? Wovon sprachen diese Leute?

Ein fauliger Wasserapfel zerplatzte am Kopf des Blinden.

Fassungslos stellte Rachel fest, dass der Weißhaarige sich aus der Kiste mit dem halb vergorenen Obst bediente. Er warf eine weitere Frucht, die den Blinden knapp verfehlte, jedoch einen Passanten an der Schulter traf, der wütend herumwirbelte und den Obsthändler beschimpfte, der wiederum den Weißhaarigen anschrie. Innerhalb weniger Augenblicke geriet die gesamte Straße in Aufruhr.

Rachel schaffte es gerade, den Blindenstock zu ergreifen, da wurde er ihr auch schon entrissen.

»Kann man dich keine Minute allein lassen?« Cayl gab dem Blinden den Stock zurück und zerrte den Weißhaarigen in eine Seitengasse auf einen Stuhl vor einem Café. Dann bezahlte er dem Obsthändler die beschädigten Waren und schob Rachel in das Gasthaus. Vom Obergeschoss aus konnte sie sehen, wie der Weißhaarige den Blinden mit obszönen Gesten bedachte und mit unsicheren Schritten davonwankte.

»Wenn ich dir sage, dass ich nichts zu dem Streit beigetragen habe, wirst du mir das sowieso nicht glauben.«

Cayls Augen sprühten Funken. Aber das taten ihre Nerven auch. Was war nur los mit den Balinesen und ihren Affen?

Kapitel 4

Wo bist du?« Er streckte die Hand aus, tastete durch die Luft, bis er den haarigen Schopf unter den Fingern fühlte. »Was glaubst du, wie schnell er es merken wird?«

Ein wütendes Kreischen erklang.

Schwerfällig stemmte er sich in die Höhe. Was hasste er seine spröden Knochen, diesen alten Körper. Er wollte nicht daran denken, wie er womöglich aussah.

»Lass uns alles noch einmal durchgehen. Bei einem Bananenshake.«

Das Tappen nackter Füße auf Fliesen begleitete seine Schritte. Er zerrte den Schlüsselbund aus der Tasche und fand das Schloss beim dritten Anlauf. Die Tür knarrte, der Duft von Magnolien schwang ihm entgegen, hüllte ihn ein.

»Falls sie überlebt, wird er fluchen. Und brüllen. Und dann tanzen wir. Du und ich. Zu seiner Musik, was sagst du?«

Wieder ein Kreischen.

»Ein Narr? Ja, ein Narr und ein Mutiger. Bald wird sich herausstellen, wer wer ist.«

Kapitel 5

Eine zweite Nadel drang in Rachels Wade ein.

»Tut mir leid, Katze.« Gabriels Lächeln glich einer Grimasse. »Ich hoffe, du verträgst diese Mischung besser.«

»Das werden wir sehen. Ach nein, ich korrigiere mich.« Rachel presste das Pflaster auf die Haut an der Einstichstelle. »Ich werde das sehen. Weil du dich ja bestimmt wieder aus dem Staub machst.«

»Deine SMS klang nach einer ekelhaften Überraschung in meinen Croissants.«

»Deswegen bist du nicht zum Frühstück erschienen?« Sie ballte die Abziehstreifen des Pflasters in der Faust zusammen. »Ein einziges Mal habe ich dir Senf in dein Croissant gespritzt!«

»Seither bin ich vorsichtig.«

»Ach ja? Und was soll ich da sagen mit deiner Meerrettich-Über­raschung in meinen Geburtstagsmuffins?«

Jetzt grinste er breit. »Nördlich von hier gibt es eine Tempelanlage. Hast du Lust auf einen Ausflug? Dort werden Muffins verkauft.«

»Aber der Meerrettich bleibt hier!«

***

Nach einer Stunde Fahrt durch die engen Gassen und einer weiteren Stunde Stau aufgrund von Motorradfahrern wanderte sie über weitläufige Grasflächen und vorbei an Mauern aus aufwendig bearbeitetem Stein. Säulen reckten sich in den blauen Himmel, beeindruckten mit gehämmerten Reliefs, von denen Rachel ein Foto schoss. »Du hast mir nie verraten, wie du auf den Spitznamen Katze gekommen bist.«

»Weißt du das nicht mehr?« Gabriel musterte eine der Mythengestalten aus dunklem Stein, die von ihren Sockeln aus die Besucher beobachteten. »Mit vierzehn hast du mit Alice Polen bereist.«

Sie erinnerte sich sehr genau an ihr erstes Aufeinandertreffen mit dem Engel. Damals war sie fest davon überzeugt gewesen, er sei direkt vom Himmel gefallen und hätte seine Schwingen auf dem Weg nach unten verloren.

»Du hast einen schwarzen Rucksack getragen«, sagte er. »Mit flauschigen braunen Katzenohren daran.«

»Stimmt.« Wie hatte sie das vergessen können? Gedankenverloren starrte sie ihn an, dann schoss sie schnell ein Foto von ihm. Er zog die Nase kraus, sie ignorierte es. »Ich besitze zehntausend Bilder von den Orten, die wir zusammen bereist haben, aber nur fünf von dir, Engel. Sobald das Objektiv in deine Richtung schwenkt, suchst du das Weite.«

Zielstrebig steuerte er die Herrentoilette an und rief über die Schulter zurück: »Das stimmt doch gar nicht.«

Halb belustigt, halb genervt schüttelte sie den Kopf. »Ich warte im Wald. Mit gezückter Kamera!«

Sie entfloh der stechenden Mittagshitze und folgte der Horde Touristen in den Forst, der an die Tempelanlage grenzte. Im Schatten riesiger Flammenbäume bettelten Affen die Besucher um Nahrung an. Argwöhnisch beäugte sie die Tiere.

Halte dich fern von den Affen.

Seufzend reihte sie sich in die Schlange vor einem Bananen-Verkaufsstand ein. Sie war nicht hier, um sich von einem alten Mann Angst einreden zu lassen, sondern um Urlaub zu machen. Und offensichtlich irgendeinen Bananengott zufriedenzustellen.

Rachel zückte ihren Geldbeutel. Der ihr aus der Hand gerissen wurde.

Bestürzt schubste sie die Menschen um sich herum zur Seite und erkannte … einen Affen. Der mit ihrer Börse flüchtete!

Fluchend nahm Rachel die Verfolgung auf.

Sie sprintete durch den Wald, über Gehölz und durch Gestrüpp hindurch. Der Affe erhob sich in die Lüfte, schwang sich von Liane zu Liane.

Sie ignorierte die Rufe der anderen Touristen, achtete kaum auf die Richtung, in die sie rannte. Warum war dieser Forst so groß, wieso schon wieder ein Affe, weshalb – sie stolperte über eine Wurzel. Mit der Nase voran landete sie im Dreck, kullerte einen Abhang hinab, und prallte auf einem Felsbrocken auf.

Sterne tanzten vor ihren Augen, halb benommen vernahm sie das Kreischen des Diebes von irgendwo über ihr. Wo steckte der Affe? Und was waren das für hohe, von Wind und Wetter zerfressene Säulen, die sich in den Himmel reckten?

Mit einer Hand auf dem warmen Fels stemmte sie sich auf.

Rachel stand am Rande eines alten Tempelplatzes, den die Anwohner dem Verfall überlassen hatten. Graue Steinstatuen lagen zerbrochen am Boden oder ruhten halb zertrümmert auf ihren Sockeln. Hinter Rachel krallten sich Flechten an letzte Überreste einer Tempelmauer. Wahrscheinlich hatten Balinesen die Mauersteine gestohlen, um ihre eigenen Haustempel damit zu errichten.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie einen kleinen Schemen. Es war der Affe. Samt Geldbeutel.

Sie verfolgte das Tier durch die Ruine, bis er in einem Bauwerk verschwand, dessen Außenwände weiße Elefantenhirschköpfe schmückten.

Außer Atem begutachtete sie den eingefallenen Gebäudeeingang. Drei von vier großen Stützquadern lagen schräg übereinander, ließen nur ein kleines Loch ins Innere frei. Eilig untersuchte sie den Bau von allen Seiten.

Kein zweiter Eingang, keine Fenster. Nicht mal eine Dachluke. Dafür zierten Inschriften die Stirnen der Elefantenhirschköpfe, die inzwischen verwittert, teilweise ausgebrochen waren.

Rachels Herz stockte.

Die Worte bestanden weder aus lateinischen noch balinesischen Buchstaben, sondern stammten aus einer Sprache, von der sie angenommen hatte, dass nur zwei Menschen auf diesem Planeten sie sprechen, schreiben und lesen konnten. Offenbar hatte ihre Mutter ihre geheime Sprache von jemandem abgeschaut, denn die Zeichen in den Elefantenhirschköpfen waren uralt.

»Komm, mein Kind. Komm. Schreite durch mein Tor …«

Alice musste die Symbole auf einem Foto im Internet gefunden haben. Vielleicht hatte sie selbst einst am gleichen Fleck gestanden.

Rachel holte ihr Smartphone aus dem Rucksack und wählte Gabriels Nummer.

Kein Netz.

Frustriert rieb sie sich über die Wangen. Das Geld in der Börse hätte ihr egal sein können. Doch der Ausweis darin war es nicht. Genauso wenig die abgestempelten Eintrittskarten zu bestimmten Sehenswürdigkeiten, an denen ihr Herz hing.

Mit dem Smartphone leuchtete sie in das Gebäude hinein. Am Boden lag Geröll, keine Spur von dem Affen.

Dem Dieb folgen nur zwei: der Narr und der Mutige.

Rachel zog eine Grimasse.

Mit der Kamera schoss sie Dreihundertsechzig-Grad-Fotos vom Inneren des Eingangs. Keines der Bilder zeigte einen Affen, der von oben auf sie niederstürzen könnte.

Sie schluckte ihre lächerliche Nervosität hinunter und betrat geduckt das Gebäude.

Im schwachen Licht des Smartphones offenbarte sich das Bauwerk als kleiner Tempel. Ein Gotteshaus, das nicht im indonesischen Stil erbaut worden war.

Fragmente eines Altartisches standen vor der hinteren Wand, Trüm­mer­teile verteilten sich auf dem schmutzigen Boden. Den Rest des Raumes bedeckte Staub, den Rachels Wanderschuhe aufwirbelten.

Sie hätte sich gern länger mit den nahezu verblichenen Wandmalereien befasst, doch der Affe hatte Vorrang. Fauchend klemmte das Tier zwischen zwei Holzbalken unter dem schrägen Dach.

Rachel versuchte, ihn mit dem Kamerablitz zu erschrecken, damit er die Börse fallen ließ. Als er sich unbeeindruckt zeigte, schmeichelte sie ihm. Dann schimpfte sie. Dann warf sie einen kleinen Stein an die Mauer unter seinen Füßen.

Der Affe kreischte, sprang in Richtung ihres Gesichts.

Instinktiv wich Rachel zurück. Mit der Schulter prallte sie an eines der Wandbilder. Es gab nach. Verschluckte sie.

Wild ruderte sie mit den Armen, stemmte sich mit den Beinen gegen den plötzlichen Sog. Es nützte nichts. Ihr Körper wurde in die Mauer hineingezogen und auf der anderen Seite in einem winzigen Raum ausgespuckt.

Bewegungsunfähig vor Schreck glotzte sie auf die jetzt durchsichtige und gleichzeitig harte Wand vor ihrer Nasenspitze. Dahinter hüpfte der Affe auf und ab, als könnte er sie sehen.

»Ganz ruhig«, wisperte sie zu sich selbst.

Mit den Händen drückte sie gegen die Mauer, tastete nach einem Schalter oder einer versteckten Tür. Als das nichts nützte, trat sie mit dem Fuß dagegen. Vergeblich.

»Das ist nicht möglich.«

Fahrig sah sie sich um. In dem achteckigen Raum, in dem sie jetzt stand, befanden sich weder Tür noch Fenster, dafür besser erhaltene Malereien als die hinter dem Affen. Die Bilder zogen sich bis unter die Decke und die einzige Lichtquelle stammte von dem halb zerfallenen Tempeleingang.

Wie kann Sonnenlicht durch die Mauer gelangen, aber ein Körper wie meiner nicht?

Sie zerrte das Smartphone aus der Tasche, es wackelte in ihren zitternden Fingern. Das Display war dunkel. Es ließ sich nicht anschalten. Dabei hatte es eben noch einen Akkustand von achtundsiebzig Prozent angezeigt.

Panik kroch ihre Kehle hoch, erneut tastete sie die Wände ab, danach den Boden. Eine Inschrift schmückte den Stein zu ihren Füßen, sie bestand aus den gleichen Buchstaben, die auch die Köpfe der Elefanten­hirsche zierten.

Rachel ging in die Hocke, wischte mit der Hand über den rauen Grund. Dabei legte sie die Zeichnung eines Strichmännchens frei.

Angespannt fegte sie mit ihrer Regenjacke über den Boden.

Weitere Strichmännchen kamen zum Vorschein, zusammen mit der Inschrift erzählten sie in Reimen die Geschichte vom Aufbau und Fall eines Königreiches. Jedoch waren die einzelnen Steine im Boden falsch verlegt, die Verse waren durcheinander.

Auf der anderen Seite der Mauer nagte der Affe an der Börse und verschwand gemächlich im fahlen Sonnenlicht.

Sie wünschte sich, er wäre geblieben.

Sie wünschte sich, ihr Engel würde kommen und sie retten.

Rachels Atmung ging flacher.

»Nur nicht hysterisch werden.«

Mehr zu sich selbst als zu der Stille sagte sie die Reime über Schwerter, zerbrochene Herzen und Verrat auf.

Kaum hatte sie die letzte Zeile beendet, vibrierte der Boden.

Ein Stein verschwand. Er fiel nach unten, als würde sich unter dem kleinen Raum eine Kammer befinden und nicht etwa Erdboden.

Dem einen Stein folgte ein zweiter.

Dann ein dritter.

Kreischend sprang Rachel zur durchsichtigen Mauer, um sich daran festzuhalten. Ihre Fingernägel kratzten über den glatten Stein, sie fand nicht eine Unebenheit, an die sie sich klammern konnte.

Mit einem knirschenden Geräusch sank auch der Rest des Bodens nach unten ab. Zurück blieben ein Schacht, aus dem Dunkelheit gähnte, sowie der kleine Stein, auf dem sie einbeinig balancierte.

Rachel starrte ihren Turnschuh an. Doch alles Starren half nicht. Sie stand auf einem schwebenden Stück Stein. Wie konnte das sein? Eine weitere Halluzination?

In ihren Ohren rauschte es, als sie zu dem Raum hinter der durchsichtigen Wand schaute. Der Affe kehrte nicht zurück. Sie bezweifelte, dass jemand in absehbarer Zeit sie hier finden würde.

Ihr Körper protestierte, sie zwang sich, ihr freies Bein auszustrecken und damit in die Tiefe zu tasten.

Ein zweiter Stein schwebte herauf, direkt unter ihren Fuß.

Sie verlagerte das Gewicht.

Der Stein trug sie.

Mit viel zu vielen Fragezeichen im Kopf streckte sie das andere Bein aus.

Das Phänomen wiederholte sich.

Rachel tat einen Schritt in die Tiefe. Dann einen zweiten. Einen dritten. Nach dem dreiunddreißigsten hörte sie auf zu zählen. Sie begriff nicht, was hier vor sich ging. Sie war sich nicht einmal sicher, dass sie es verstehen wollte, wenn ihr denn jemand hätte eine Erklärung liefern können.

Kühle Dunkelheit umfing sie. Rachel hätte sie am liebsten in Fetzen gerissen. Etwas stimmte ganz und gar nicht, und sie befürchtete, dass sich dieses Etwas in ihrem Hirn befand.

Nach Minuten – oder waren es gar Stunden-, die sie in völliger Nacht wandelte, streifte etwas ihren Arm.

Sie hielt den Atem an. Wagte es nicht, laut zu fragen, was in der Dunkelheit wanderte. Was lebte hier unter einem toten, verlassenen Tempel?

Einmal mehr erwog sie, umzukehren. Vielleicht hatte sie doch einen Hebel übersehen oder einen Reim, der die Wand auflöste, die sie verschluckt hatte.

Ein schwacher Schimmer erglühte unter ihr, drängte sich der Schwärze entgegen. Orangetöne waberten zu ihr herauf, gefolgt von Lila, Rot, Gelb und Gold.

Wieder streifte etwas ihren Arm, dieses Mal erkannte sie, was es war: eine Kette. Eine fliegende Kette aus Papier.

Gute Geister!

Sie musste hier weg.

Rachel rannte, die Steine kamen kaum nach, sich unter ihre Turn­schuhe zu schieben.

Die fliegende Treppe führte nicht zu einem Tunnel, einem Zimmer oder gar einer hell beleuchteten Höhle in der Erde, sondern zu einer weiten Landschaft bestehend aus farbigen Wolken.

Unsicher verließ Rachel den letzten Stein und betrat einen pinkfarbenen Grund, der genauso seltsam aussah wie der surreale Rest dieses Ortes. Nirgendwo stand ein Haus. Oder ein Baum. Es wuchs kein Gras am Boden, keine Sonne brannte am Firmament, im Gegenteil. Himmel und Erde und die Luft dazwischen waren eins und bestanden lediglich aus gelben, violetten und grünen Farbklecksen in der Konsistenz von Nebel.

»Faszinierend, nicht wahr?«, sprach eine fremde Stimme. »Bist du das erste Mal hier?«

Der bunte Farbenmix schien sich zu teilen. Sie konnte es kaum erkennen, da dieser Ort keine festen Formen besaß, trotzdem glaubte sie, die Atmosphäre würde sich verschieben. Sie legte einen Mann mit türkisfarbener Haut und ebenso intensiv leuchtenden Augen frei.

»Wohin willst du?«, fragte der Fremde.

Rachel musste das Gesagte zweimal in Gedanken wiederholen, um zu verstehen, dass diese Gestalt in dem schillernden Kimono zwei Stimmen besaß. Eine die sprach und eine die sang.

Sie wich vor dem Unbekannten zurück. »Wer sind Sie?«

»Lauriander Orei Imaldin.« Er legte den Kopf schräg, sein langes weißes Haar, das an Seide erinnerte, wehte sacht in einer Brise, die Rachel nicht auf ihrer verschwitzten Stirn spürte. »Du kannst mich Gard nennen. Der Hüter über – nun, wäre ich früher geboren, hätte ich behauptet, ich sei der Hüter über das Reich der Wunder. Derjenige, der dich zu den Legenden und Mythen führt, die hinter der Ersten Tür lauern. So bin ich wohl nur der Hüter der Flüche.« Er musterte sie von oben bis unten. »Du stammst von der Erde.«

Rachel schob aufsteigende Bilder von angeblich verfluchten Menschen weit von sich und stammelte: »Wenn Sie Erde sagen, bedeutet das, dass ich mich nicht mehr auf der Erde befinde?« War dies etwa keine Halluzination und sie stand im Himmel? War sie gestorben und hatte es nicht bemerkt?

Gard hob seine unförmigen, aufgedunsenen Hände an. Ohne Nägel glichen seine überdimensionalen Finger aneinandergereihten türkisfarbenen Marshmallows. »Ich werde die Frage beantworten, sofern du mir deinen Namen nennst.«

Rachel griff sich an den Hals. »Wozu?« Würde er das große Buch der Sünden aufschlagen und nachsehen, was sie verbrochen hatte? Musste sie in die Hölle, an die sie bis eben nicht geglaubt hatte?

»Damit ich weiß, wo du hingehörst«, antwortete Gard.

Also doch das Sündenbuch. Sie wollte sich übergeben. Das konnte nicht sein. Was war mit all ihren Träumen? Was würde aus Alice und ihrem Engel werden?

Rachel wollte zu den Treppenstufen zurückeilen, aber die hatten Beine bekommen. Oder Flügel. Oder was auch immer, jedenfalls waren sie nicht mehr da.

»Rachel«, stieß sie hervor. »Ich heiße Rachel Cacylie.«

Gard nickte langsam. »Komm, Rachel Cacylie von der Erde. Im Raum vor der Ersten Tür kannst du nicht lange bleiben.«

»Ich will nicht!« Sie griff nach einem seiner Ärmel. »Bitte schickt mich zurück! Ich bin noch nicht bereit, zu gehen!«

Er löste ihre verkrampften Finger aus dem Stoff. »In dem Fall solltest du dir ein Gedicht merken.«

Übereifrig nickte sie. Alles. Alles, was er wollte. Wenn es sie nur wieder zu ihrem Engel brachte.

»Die Macht ist mein«, sprach Gard, seine Stimme rutschte eine Oktave tiefer, sein Gesang wurde dunkler. »Und mein allein.«

Die Macht ist mein und mein allein.

Mahlt Knochen, Stein und Silber klein.

In diesem Heim leih ich sie dir,

in jenem Heim hol ich sie mir.

Raubst du von meinem Sternengold,

so zählt dein Herz zu meinem Sold.

Bei Diebstahl selbst in größter Not

gehört dein Fleisch, dein Blut dem Tod.

Die Seelen aus dem fremden Land

hüll’ ich in ein kostbar’ Gewand.

Mal Fell, mal Schuppen, Federkleid,

sei namenlos auf alle Zeit.

Die Flucht aus diesem Reich gelingt,

der Weg zu mir Sieben bezwingt.

Das Antlitz schaurig schön wie ich.

Ein Tier, so nannte man einst mich.

Rachel wischte ihre feuchten Handflächen an den Shorts ab. Das war ein verdammt langes Gedicht. Gruselig noch dazu.

Gards Blick fiel zu ihrem Bauch, an dem die Papierkette vorbeischwebte.

Es ist gar keine Papierkette.

Es war ein Scherenschnitt. Er stellte Buchstaben aus Alice’ geheimem Alphabet dar. »Was bedeutet Jabilomah?«

Der Hüter taxierte sie aus unergründlichen Augen. »Du kannst die Namen lesen.«

Sie deutete auf die Scherenschnitte. »Das sollen Namen sein? Wer nennt sich bitteschön Jabilomah?« Er schnaubte, als hätte sie gerade die Papierfetzen beleidigt, und sie fragte schnell: »Was spielt es für eine Rolle, dass ich die Namen lesen kann?«

»Es sagt mir etwas über dich.«

»Das da wäre?«

Wieder betrachtete er sie eingehend.

Rachel wünschte sich, es gäbe hier einen Spiegel, damit sie ihre Auf­machung überprüfen konnte. Je länger dieser Hüter sie ansah, umso mehr schien ihm zu missfallen, wer vor ihm stand. Nervös zog sie ihr T-Shirt glatt. »Aus welchem Land stammt ein Jabilomah?«

Gard deutete auf einen grauen Wirbel, der sich inmitten der Farben formte. In ihm zeichnete sich das Bild eines Baches ab.

Rachel trat näher, um die Landschaft besser erkennen zu können. »Welches Land zeigen Sie mir?«

»Kein Land der Erde«, sagte er. Und gab ihr einen Schubs.

Kapitel 6

Spätherbst, im Jahr 50 nach neuer Alainzeitrechnung

Rachel stolperte nicht zurück in ihre Wirklichkeit. Sie stürzte, und zwar aus dem Farbenmix heraus in luftige Höhen hinein: den Himmel über dem glitzernden Bach, den sie eben gesehen hatte. Und ihr wuchs auch nicht etwa plötzlich ein Fallschirm aus dem Rücken, denn ihr Fall verlangsamte sich nicht, im Gegenteil. Sie raste auf den Bach zu. Dabei schien sie zu schrumpfen, vielleicht lag es auch an der Fallhöhe, jedenfalls schien der Bach breiter zu werden, zu einem Fluss anzuwachsen, je näher sie ihm kam.

Sie fiel direkt hinein.

Das kalte Wasser biss in ihre Haut, zerrte an den Haaren. Wie ein Blatt wirbelte die starke Strömung sie herum und zog sie in die Tiefe. Hektisch ruderte sie mit Armen und Beinen, die Bewegungen fühlten sich verdreht und ungelenk an.

Unter den Füßen spürte sie sandigen Grund.

Sie stieß sich ab, durchbrach die Wasseroberfläche und hievte sich ans Ufer.

Ein unartikulierter Laut verließ ihre Kehle. Sie lebte.

Gard, dieser farbige Ort, die fliegende Steintreppe im Tempel – alles war ein Traum gewesen. Eine Einbildung.