4,99 €
Eine Pilgermuschel wird im Jahre 1209 zum Zeichen einer Verschwörung gegen den jungen König von Sizilien, der als Kaiser Friedrich II. in die Geschichte eingehen wird. Die Pilgermuschel gehört einer sizilianischen Adeligen, die von den Verschwörern als verkleideter Falknerjunge an Friedrichs Hof geschmuggelt wird. Die Hofdame Johanna und ihre kluge Freundin, die Kölner Kaufmannstochter Mechthild, kommen hinter ihr Geheimnis und beschließen, die junge Adelige aus ihrer Lage zu befreien. Doch bald schon ist nicht nur Agnes' große Liebe, sondern auch ihr Leben in Gefahr ... Ein historisch genau recherchierter spannender Mittelalterroman um Liebe, Macht, Intrigen und die Intuition von Frauen. "Ein spannender Mittelalterroman." Spiegel "Good News für Katja-von-Glan-Fans: Auch in ihrem dritten historischen Roman zieht einen der Stoff wieder voll in vergangene Zeiten." Freundin Teil 3 der Trilogie um die Kaufmannstochter Mechthild und die Hofdame Johanna nach "Silber im Saum" und "Der Sternenmantel".
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 776
Katja von Glan
Die Pilgermuschel
Roman
LangenMüller
Besuchen Sie uns im Internet unter
www.langen-mueller-verlag.de
© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für die Originalausgabe: 2004 nymphenburger in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising
Titelmotiv: © Thinkstockphoto
eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
ISBN 978-3-7844-8321-4
Für Eckhart
Juli 1206, auf einem Berghang bei Assisi
Franziskus lachte. Er breitete die Arme aus, warf den Kopf in den Nacken und lachte.
Sein Lachen wurde den Berghang hinuntergetragen und schwang sich in den wolkenlosen Himmel empor. Der junge Mann in dem schlichten Gewand pries Gott für etwas ganz Besonderes. Es würde die Welt verändern.
Franziskus von Assisi konnte kaum glauben, was ihm soeben widerfahren war. Er, das unwürdigste unter Gottes Geschöpfen, hatte in der Kirche von San Damiano eine Vision gehabt. Eine echte Vision! Nicht irgendeinen trunkenen Sinnestaumel. Nicht von Hunger und Entbehrung ausgelöste nebelhafte Erscheinungen. Er kannte sich mit solchen Dingen aus. Dies war anders gewesen. Das Bild des Gekreuzigten hatte zu ihm gesprochen. Es hatte wirklich gesprochen!
Zuerst hatte Franziskus nur fassungslos dagestanden. Der Gekreuzigte auf dem hölzernen Altarbild hatte ihn mit wohlklingender Stimme aufgefordert, sein in Verfall geratenes Haus wieder aufzubauen. Auf ein Zeichen wie dieses hatte Franziskus sein ganzes Leben gewartet. Das Warten hatte ein Ende. Als er das begriffen hatte, war er, von Freude und Erleichterung überwältigt, hinausgelaufen, hatte sich ins Licht der strahlenden Morgensonne gestellt, die Arme zum Lobpreis erhoben und befreit gelacht.
Endlich kannte er seine Bestimmung. Die Ausschweifungen und betrunkenen Nächte in den Straßen von Assisi lagen hinter ihm, die falschen Freunde und die wenig ruhmreichen Kriegszüge gegen Perugia und nach Apulien waren nichts weiter als sinnlose, ermüdende Nichtigkeiten. Er lachte über sie, lachte über sein altes Leben und begrüßte freudig sein neues. Mit seinen eigenen Händen wollte er die baufälligen Kirchen rings um Assisi wieder aufbauen. Dabei würde er seine braune Kutte mit dem Ledergürtel und die staubigen alten Schuhen tragen, wie ein Eremit leben und ganz sicher den Zorn seines Vaters und der vornehmen Bürger von Assisi heraufbeschwören. Doch das kümmerte ihn nicht, denn Gottes Schöpfung war nun seine Familie.
Erst vor ein paar Tagen hatte er ein Lied gedichtet. Es pries Bruder Sonne und Bruder Wind und er freute sich schon darauf, noch weitere Strophen zu ersinnen, die er eines Tages vielleicht niederschreiben würde. Bei diesem Gedanken verebbte das Lachen und Töne bildeten sich. Eine eingängige, ehrfürchtige und andächtige Melodie entstand, Worte folgten: »Gelobt seist Du, mein Herr, mit all Deinen Geschöpfen, besonders Herrn Bruder Sonne; der ist der Tag, und spendet uns Licht, und schön ist er mit großem Glanze; von Dir, Höchster, gibt er Eindruck.«
Im Gebüsch zu seinen Füßen kicherte es.
Franziskus nahm rasch die Arme herunter, sank auf die Knie und bog vorsichtig einen Ast zurück.
Zwei Mädchen sahen ihn aus einem Gewirr grüner Zweige erschrocken an.
Eines der Mädchen kannte er gut. Sie hieß Clara, war zwölf Jahre alt und kam aus einer einflussreichen Adelsfamilie. Seit Franziskus vom Kriegszug zurückgekehrt war und immer mehr die Einsamkeit suchte, schien sie von ihm fasziniert zu sein. Besonders seine häufigen Besuche bei den Aussätzigen vor der Stadt hatten es ihr angetan. Wenn er die Kranken zum Abschied küsste, stand sie oft hinter dem Torbogen des Leprosenheims und beobachtete ihn. Anscheinend nutzte das Mädchen jede Gelegenheit, um der strengen Aufsicht ihrer Eltern zu entkommen. Diesmal wurde sie von ihrer gleichaltrigen Cousine begleitet. Sie kam jeden Sommer aus Sizilien und verbrachte die heißen Monate in Assisi bei ihrer Tante. Jeder in der Stadt wusste das. Diesen Sommer schienen die Cousinen sich die Zeit damit zu vertreiben, Franziskus nachzustellen. Schon seit Tagen hatte er sich vorgenommen, die kleine Clara deshalb zur Rede zu stellen, doch als er nun versuchte, ein strenges Gesicht zu machen, geriet es etwas schief, denn die Freude über die Vision steckte noch in ihm. So lächelte er stattdessen freundlich und bog den Ast noch ein Stückchen weiter zurück, damit die beiden hindurchschlüpfen konnten. Claras Cousine kroch zuerst ins Freie. Verlegen hockte sie vor ihm im Staub und wischte sich eine tiefschwarze Strähne aus ihrem zarten Gesicht. Clara setzte sich aufrecht neben das ängstliche Mädchen und legte ihr aufmunternd einen Arm um die Schulter. Franziskus räusperte sich bedeutungsvoll und wollte mit seiner Ermahnung beginnen. Er nannte Clara bei ihrem vollständigen Namen: »Signorina Chiara degli Offreducci ...«
Als Claras Cousine plötzlich begann, etwas in einem kleinen Leinenbeutel, den sie am Gürtel trug, zu suchen, unterbrach Franziskus seine seit Tagen vorbereitete Rede über das Benehmen von jungen Adelstöchtern und wartete gespannt. Es schien sich um etwas Wichtiges zu handeln, denn das sizilianische Mädchen hatte rote Flecken im Gesicht und ihr Atem ging ganz flach. Hastig streckte sie ihm ihre geöffnete Hand entgegen und er sah genauer hin. Auf ihrer zitternden Handfläche lagen die Strahlen der aufgehenden Sonne, eingefangen in einer leuchtend weißen Muschelschale. Die feine Maserung strebte in orangeroten Furchen auseinander und verlor sich in pastellgelben Lichtstrahlen in der Unendlichkeit. Franziskus konnte seine Augen nicht von dem im Morgenlicht schimmernden Kleinod lösen. Sie trug Bruder Sonne auf ihrer Hand, Gottes einzigartige Schöpfung, eingefangen in einer Muschel.
Das Mädchen erklärte leise: »Wir wollten Euch nicht stören. Das Lied von Bruder Sonne war schön. Weil wir es unterbrochen haben, sollt Ihr meine Muschel haben. Mein Vater brachte sie mir letztes Jahr aus Santiago de Compostela mit. Singt bitte das Lied zu Ende und nehmt meine Pilgermuschel dafür.«
Clara nickte und fügte wichtigtuerisch hinzu: »Das ist eine Jacobsmuschel. Wenn ein frommer Pilger am Grab des heiligen Jacobus in Santiago de Compostela gebetet hat, erwirbt er sie zum Angedenken und als Beleg seiner Pilgerfahrt.«
»Das weiß er doch! Du störst ihn. Siehst du nicht, dass er nachdenkt! Vielleicht fallen ihm gerade neue Strophen für sein Lied ein«, wisperte ihre Cousine.
Franziskus hatte die Augen geschlossen und überlegte, was er mit den beiden anfangen sollte. Vielleicht sollte er ihnen erklären, dass es von nun an langweilig sein würde, ihm nachzustellen, weil er ein zurückgezogenes Leben voller Armut, Demut und Lobpreis führen würde.
Da die Mädchen noch irgendetwas von ihm zu erwarten schienen, öffnete er die Augen, hielt die Hände über die Muschel und sagte andächtig: »Gelobt sei der Herr für Bruder Sonne.«
Als das sizilianische Mädchen ihn fragend ansah, fügte er etwas gönnerhaft hinzu: »Du kannst deine Muschel behalten. Vielleicht solltest du sie der Kirche San Damiano stiften. Sie würde die bescheidene kleine Kirche schmücken. Ich brauche sie nicht. Ich brauche gar nichts, außer meinen Atem, um Gott zu preisen.«
»Preist ihn mit Eurem Sonnengesang«, erwiderte das schwarzhaarige Mädchen schüchtern und steckte die Muschel zögernd wieder in den Leinenbeutel. Sie ließ ihre Hand darauf liegen, als könnte sie die wärmenden Strahlen der Muschel fühlen.
Clara rückte ein Stück näher und flüsterte verschwörerisch: »Singt zu Gottes Lobpreis, Franziskus Bernardone. Wir werden Euch ganz bestimmt nicht wieder stören und wir erzählen niemandem von Eurem Versteck. Es ist die Felsenhöhle ganz hier in der Nähe, nicht wahr? Wir verraten es ganz sicher nicht Eurem Vater, der Euch seit Tagen sucht. Er ist voller Zorn und verflucht Euch so laut, dass ganz Assisi es hören kann. Doch Gott hat Euch nicht zum Kaufmann bestimmt. Er hat etwas Größeres mit Euch vor. Das weiß ich.«
Clara lächelte ihn an und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Es war ein schönes Gesicht, das von hellbraunen Locken eingerahmt wurde. Sie hatte große Augen, viel zu große Augen. In ihrem Blick lag aufrichtige Verehrung, Bewunderung und noch etwas, das Franziskus unruhig werden ließ. Doch er musste den Auftrag des Gekreuzigten von San Damiano erfüllen und durfte sich nicht ablenken lassen, nicht von großen Mädchenaugen und auch nicht von seinem fluchenden Vater. Hastig sprang er auf die Füße und lief den schmalen Pfad hinauf. Bei jedem Schritt flüsterte er: »Der Gekreuzigte hat zu mir gesprochen. Er hat wirklich zu mir gesprochen.«
Die Mädchen folgten ihm. Er konnte ihre trappelnden Füße hören. Keuchend lief er voraus, stolperte und bückte sich nach einer Raupe, die er fast zertreten hatte. Vorsichtig nahm er die Raupe hoch und setzte sie sacht auf ein herabhängendes Blatt. Dabei beruhigte sich sein heftig klopfendes Herz und sein Atem wurde beim Anblick der zierlichen Kreatur ruhiger.
Die Mädchen beobachteten ihn neugierig aus einigem Abstand. Er wandte sich ihnen zu und erklärte: »Ich sammle Raupen und Würmer vom Weg ein, damit sie nicht zertreten werden können. Bienen gebe ich im Winter Honig und Süßwein, damit sie nicht verhungern. Bäume schlag ich niemals an der Wurzel ab, damit sie am Stamm wieder ausschlagen können.«
»Ist er nicht wundervoll!«, flüsterte Clara ihrer Cousine zu. Franziskus achtete nicht auf sie und begann leise zu singen: »Gelobet seist Du, mein Herr, für unsere Schwester Mutter Erde, die uns erhält und leitet und mannigfache Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Gräser.«
Er hatte wieder begonnen, den Pfad hinaufzuklettern, doch diesmal tat er es ganz leichtfüßig. Nach ein paar Schritten wandte er sich noch einmal um und rief den Mädchen zu: »Ach, und vergesst nicht, wenn eine Wasserlache am Boden ist, tretet nicht hinein, sondern springt hinüber. Gelobet seist Du, mein Herr, für Schwester Wasser, die gar nützlich ist und bescheiden und kostbar und rein.«
Als er den Hügel fast erklommen hatte, rief er: »Hört meinen Sonnengesang: Canticum Fratris Solis!« Er legte den Kopf in den Nacken und sang laut in den blauen Himmel hinein: »Höchster, allmächtiger, guter Herr, Dein ist das Lob, die Herrlichkeit und die Ehre und jegliche Preisung.«
Dann setzte er singend und nach jedem Schritt hüpfend seinen Weg fort.
Clara und ihre Cousine blickten der Gestalt nach, die immer kleiner wurde und schließlich ganz zwischen den Büschen verschwand.
Drei Jahre später sollte sich Claras Cousine wieder an ihre Begegnung mit Franziskus erinnern.
Auf Sizilien wird König Friedrich vermählt und in Santiago de Compostela wird ein Schwur geleistet
Juni 1209, das Kloster San Juan de la Peña in den Pyrenäen
Nichts war zu hören. Agnes lauschte mit angehaltenem Atem. Sie sollte zu dieser Stunde in den Kreuzgang kommen. Wenn die Nebel aufstiegen und das letzte Gebet in der Klosterkirche verklungen war, dann sollte sie hier warten. Anscheinend war sie noch zu früh. Niemand war da. Ihre Füße bewegten sich lautlos weiter.
Ein mächtiger Felsvorsprung wölbte sich wie ein steinernes Dach über der Klosteranlage. Bei ihrer Ankunft am Morgen hatte sie den grauen Fels freudig begrüßt. Das Kloster bot erschöpften Pilgern auf dem Weg nach Santiago de Compostela Zuflucht und versprach ihnen Geborgenheit. Und erschöpfte Pilger waren sie, besonders ihr Bruder Stephan, der seit Tagen über seine wunden Füße klagte und seiner Schwester die Schuld an allen Unannehmlichkeiten gab.
Allerdings hatte sich seine Laune unversehens gebessert, als er beim Abendessen mit einer Gruppe Templer ins Gespräch gekommen war, die ganz offensichtlich seine Nähe gesucht hatten. Agnes wusste nicht, was die Männer gesprochen hatten, weil sie selbst etwas abseits bei den Frauen gegessen hatte. Doch nach dem Mahl hatte ein neuer Ausdruck auf Stephans Gesicht gelegen und erst nachdem er ihr aufgetragen hatte, zur nächtlichen Stunde zum Kreuzgang zu kommen, war ihr aufgefallen, was es war: In seinem Gesicht war Hoffnung. Sie verstand nicht, woher sie so plötzlich gekommen war. Es war beunruhigend. Stephan hatte sich nach allen Seiten umgeblickt und leise hinzugefügt: »Sie wollen dich kennenlernen. Sie müssen prüfen, ob du dich eignest.«
Agnes fragte sich beunruhigt, was das zu bedeuten hatte. Wer waren diese Männer und was wollten sie von ihr?
Der einsame Ort, an dem die Templer sie zu sehen wünschten, trug nicht gerade dazu bei, ihr die Furcht zu nehmen. Am Tag war der mächtige Felsen Vertrauen erweckend gewesen, in der Nacht wirkte die ganze Anlage beängstigend und sehr bedrohlich. Vor allem, wenn man fünfzehn Jahre alt war und ganz genau wusste, dass die Heiligen wirklich mit einem sprachen und überall grässliche Teufel wisperten. Während die Heiligen einer Jungfrau beistanden, taten die dämonischen Stimmen nichts lieber, als sie zu verführen. Der Kreuzgang war von ihren nächtlichen Schatten bevölkert. Nebelschwaden umtanzten die hohen Säulen. Kapitelle und Rundbögen schienen zu schweben.
Fröstelnd beschleunigte Agnes ihre Schritte und ihre Hand fuhr unwillkürlich zu der Stelle, wo bis heute Nachmittag eine hübsche Eidechsenspange gesteckt hatte. Sie musste sie verloren haben, als sie den Nachmittag im Panteón de los Nobles verbracht und die Grabsteine der Könige von Navarra betrachtet hatte. Morgen früh würde sie in die Grabkammer zurückkehren, um sie zu suchen. Jetzt galt es, den ganzen Mut zusammenzunehmen.
Der Nebel schien dichter zu werden. Knarrte nicht gerade die Tür der Klosterkirche, durch die sie eben gekommen war? Oder kamen die Dämonen aus der Dunkelheit, um ihre unberührte Jungfräulichkeit zu fordern? Beim Gedanken daran bekam sie einen trockenen Mund und ihr wurde schwindelig. Sie rang nach Luft und stützte sich an der Doppelsäule ab, die am nächsten war.
Ein verhaltenes Hüsteln in ihrem Rücken ließ sie zusammenfahren. Unschlüssig blieb sie stehen und widerstand dem Drang, laut zu schreien. Sie begann alle Heiligen anzuflehen, die sie auf ihren Gürtel gestickt hatte. Heiliger Hieronymus und gnädige Verena, öffnet den Himmel, heiliger Ignatius und standhafte Juliana, kommt herab, heiliger Benignus und gütige Afra, schreitet ein! Ein kräftiger Windstoß kam vom Gebirge herunter und zerrte an den Falten ihres langen Kleides. Dunkle Haarsträhnen wirbelten vor ihrem Gesicht. Für einen Moment war ihr, als würde die Luft von Flötenspiel und Engelsgesang vibrieren. Doch dann war der hoffnungsvolle Moment vorbei und sie hörte nur noch ihren eigenen schnellen Atem. Jemand rief leise ihren Namen.
»Agnes? Bist du hier?«
Das war Stephan und er war nicht allein. Sie hatten ihn wie einen Gefangenen in ihre Mitte genommen. Sie waren zu dritt und trugen helle Gewänder. Auf den ersten Blick wirkten sie wie gewöhnliche Tempelritter. Doch die Templer beschützten Pilgerreisende und bestellten sie nicht in der Nacht in dunkle Kreuzgänge.
»Stephan?«, flüsterte sie unsicher und trat zögernd einen Schritt vor. Niemand achtete auf sie. Niemand hatte sie bemerkt.
Einer der Ritter stellte sich breitbeinig vor Stephan auf und schnauzte ihn an: »Wo ist sie nun, Eure Schwester? Wir haben nicht ewig Zeit. Es gibt noch einiges zu klären.«
Agnes wich hastig hinter die breite Doppelsäule zurück. Es gefiel ihr gar nicht, wie der Templer seine Hand auf die schmale Schulter ihres Bruders sinken ließ. Mit einer heftigen Bewegung zog er Stephan zu sich heran und zischte ihm etwas ins Gesicht. Stephan geriet ins Taumeln. Der Templer stieß ihn von sich und sagte abfällig: »König Friedrich hat uns alle enttäuscht, besonders den edel gesinnten Grafen. Das müsst Ihr doch wissen, wie konntet Ihr dann nachgeben? Wie konntet Ihr Euch dem Willen dieses Kinderkönigs beugen? Ihr lasst Euch von einem vierzehnjährigen Kind einschüchtern.«
König Friedrich, dachte Agnes erschrocken, sie konnten nur den jungen König von Sizilien meinen, und ihr heimliches Vorgehen konnte nur Verrat bedeuten. Eine Verschwörung war im Gange und es war nicht die erste. Seit König Friedrich nach sizilianischem Recht volljährig geworden war, kam es immer wieder zu Unruhen. Nun schien Stephan in die Hände von Männern geraten zu sein, die gegen den König vorgehen wollten. Deshalb hatte er doch nicht so hoffnungsvoll ausgesehen? Im Augenblick schien er nur Angst zu haben.
Er duckte sich und erklärte kleinlaut: »Sie haben alle nachgegeben!«
»Besteht der sizilianische Adel nur aus Feiglingen? Wie ist es diesem Kind gelungen, einen gut geplanten und mit Geldern vom Festland unterstützten Aufstand niederzuschlagen?«
Agnes lehnte sich vor, um Stephans Antwort zu verstehen. Genau diese Frage hatte sie ihm auch immer wieder gestellt. Wie hatte der junge Friedrich es geschafft, die aufständischen Grafen und Barone auf seine Seite zu ziehen? Wieso hatte sich ihr Vater, der seit den Zeiten Kaiser Heinrichs den Titel eines Grafen führte, unterworfen? Sie hatte nie eine Antwort auf ihre Fragen bekommen. Nun brüllte ihr Bruder die Antwort heraus, als ob er es nicht mehr ertragen konnte, länger zu schweigen: »Weil dieser Knabe sie alle mit etwas anderem gedemütigt hat. Für jeden hat er eine andere Buße ersonnen. Manche kamen mit dem Bau einer Kapelle oder dem Verzicht auf einen Ehrentitel davon. Für meinen Vater war Friedrichs Vergebung nicht so billig zu haben.«
Stephan stockte. Agnes konnte ihn in den Nebelschwaden kaum noch erkennen. Am liebsten wäre sie in den Kreuzgang gerannt und hätte ihren Bruder geschüttelt. Sie hatte nichts davon gewusst, dass der junge König Friedrich Bedingungen gestellt hatte. Was war in diesem Frühjahr wirklich geschehen? Friedrichs Bote hatte mit ihrem Vater verhandelt und kurz darauf war ihr Vater mit ihm davongeritten. Ein paar Wochen später kam die Nachricht, dass ihr Vater in einem von Friedrichs Verliesen ums Leben gekommen war. Ein furchtbarer Kerkerbrand hatte tagelang gewütet und alles vernichtet. Nichts war zurückgeblieben, nichts, was in geweihter Erde bestattet und beweint werden konnte. Seitdem saß ihre Mutter im Garten und zählte Nüsse. Die Erinnerung an die vergangenen Monate trieb Agnes die Tränen in die Augen. Sie blinzelte und schluckte. Sie durfte nicht weinen. Die Nase würde laufen, begleitet von Schniefen und kleinen Schluchzern, das Weinen würde sie sofort verraten.
Plötzlich fragte einer der Templer leise: »Was hat dieser lächerliche Friedrich verlangt?«
Ja, was hat er verlangt, dachte Agnes und wischte sich über die feuchten Augen. Sie konnte ihren Bruder nur verschwommen erkennen, dichter Nebel und Tränenschleier nahmen ihr die Sicht. Sie starrte in den Dunst und wagte nicht zu atmen. Stephan seufzte und erklärte unwillig: »Mein Vater musste schwören, nach seiner Kerkerhaft zur Buße eine Wallfahrt nach Santiago de Compostela zu machen. Doch er starb kurz darauf und an seiner Stelle ...«
Er sprach nicht weiter, doch in Gedanken beendete Agnes seinen Satz: und an seiner Stelle ... bin ich mit meiner Schwester aufgebrochen. Das konnte er doch nicht wirklich meinen? Sie waren auf Wallfahrt, weil König Friedrich es verlangt hatte? Stephan hatte kein Wort davon gesagt. Sie hatte geglaubt, sie wären aufgebrochen, weil ihr der heilige Jacob im Traum erschienen war. Doch Stephan hatte ihren Traum gar nicht ernst genommen. Er nahm sie nie ernst. Er war drei Jahre älter und der Erstgeborene und sie nur die kleine Schwester, die ständig von Heiligen sprach und Engel hinter dem Altar schweben sah. Sie waren gar nicht dem Ruf des Heiligen gefolgt. Es waren alles elende Lügen gewesen.
»Misere bugie!«
Ohne es zu wollen, hatte sie die Worte laut ausgesprochen. Dabei hatte sie genau die sizilianische Betonung ihrer Mutter getroffen. Weder der Nebel noch die Doppelsäule konnten sie jetzt noch verbergen.
»Agnes?«
»Eccomi qui ... hier bin ich.«
Sie trat hinter der Säule hervor, stieg vorsichtig über die Abgrenzung des Kreuzganges und tauchte in die Nebelwand ein. Sie sah zuerst die Gesichter, die sie misstrauisch musterten. Nur ihr Bruder wirkte erleichtert, sie zu sehen, und streckte ihr die Hände entgegen. Als sie vor ihm stand, flüsterte sie: »Wir sind hier, weil König Friedrich es verlangt hat? Ist das wirklich wahr?«
Stephan sah verlegen zur Seite. Warum antwortete er nicht? Er sollte sie ansehen. Natürlich war es wahr. Die Art, wie er schuldbewusst an ihr vorbeisah, sagte alles. Sie war so enttäuscht, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Die Templer hatte sie ganz vergessen. Erst als einer von ihnen lachte, kam sie zu sich. Der Bärtige, der anscheinend ihr Wortführer war, musterte sie interessiert. Er streckte die Hand aus und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Dabei betrachte er sie, als würde er eine Ware auf dem Marktplatz prüfen. Gleich wird er mir den Mund öffnen und meine Zähne ansehen, als wäre ich eine Leibeigene, die er erwerben wollte, dachte Agnes angewidert. Doch der Templer ließ die Hand wieder sinken: »Das ist Eure Schwester? Sie ist perfekt, denn sie ist klein und zierlich. Ihr Gesicht hat etwas Unbestimmtes. Ihre Schönheit wird alle anrühren, auch den jungen König. Sie ist so dunkel wie ihre sizilianische Mutter und hat dabei den unerschrockenen Blick ihrer deutschen Vorfahren. Genau die richtige Mischung für unseren Plan, so wie der edel gesinnte Graf es gesagt hat. Überlasst sie unserem Herrn und Meister. Ihr werdet es nicht bereuen!«
Was redet er da, dachte Agnes verwirrt. Die richtige Mischung wofür? Was hatte sie mit den Plänen dieser dunklen Gesellen zu schaffen und wer war der edel gesinnte Graf? Unbehaglich sah sie von einem zum anderen. Alle schienen zu wissen, wovon die Rede war. Stephan hatte den Kopf gesenkt und schien mit sich zu ringen. Der bärtige Anführer musterte Agnes noch einmal und fragte skeptisch: »Und sie spricht wirklich mit Vögeln?«
Stephan blickte auf. Als er antwortete, huschte so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht: »O ja, meine Schwester kann sie alle mit ihrem Lockruf betören.«
Agnes fand sein angedeutetes Lächeln abscheulich. Was hatte er diesen Templern über sie erzählt? Alle Männeraugen starrten sie nun an, als wäre sie ein Preis, den es beim Lanzenstechen zu erringen galt. Besonders der Bärtige. Er schnalzte zufrieden mit der Zunge und erklärte den Umstehenden: »Und der kleine König ist vernarrt in seine jungen Falken. Das passt ganz wunderbar.«
»Stephan, was ...«
Agnes kam nicht dazu, ihren Bruder zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte, denn der trat einen Schritt vor und wisperte mit seltsam rauer Stimme: »Und es bleibt dabei? Die Güter südlich von Catania und ein königliches Amt in Palermo ... Und wenn der Plan misslingt, stehen wir unter Eurem Schutz?«
»Wir?«, fragte der Bärtige leise. »Könnt Ihr für Eure Schwester sprechen?«
Stephan achtete nicht auf seinen Einwand. Er ließ sich auf die Knie fallen, hob die Hände wie zum Lehnsschwur und stieß hervor: »Mein Leben gehört Euch.«
Agnes wollte protestieren und nach seinen Händen greifen, doch seine fast tonlose Stimme hielt sie zurück: »Und nehmt auch meine Schwester, wenn es der Sache dient.«
Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Eimer Wasser ins Gesicht geschüttet. Seine geflüsterten Worte liefen ihr eiskalt den Rücken hinunter. Zwar war sie es gewohnt, dass er für sie das Wort ergriff, so machten es Brüder mit ihren kleinen Schwestern, doch das ging zu weit. Er konnte sie doch nicht diesen Fremden ausliefern! Das sahen die jedoch anders, denn der bärtige Anführer nickte zufrieden. Er zog etwas unter seinem Mantel hervor und sagte feierlich: »Erhebt Euch wieder. Nicht hier, nicht so. Schwört unserem Grafen in Santiago de Compostela. Schwört ihm am Grab des heiligen Jacobus Eure Treue. Schwört auf diese Jacobsmuschel mit ihren feuergleichen Strahlen und sprecht die Worte des Jacobusbriefes: Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet es an!«
Er hatte plötzlich eine große Muschel in der Hand und hielt sie in die Höhe.
Die Nebelschwaden wurden zu dünnen Fetzen und der Mond kam zwischen den Wolken hervor. Die Jacobsmuschel schien zu strahlen und ein Windstoß vertrieb die letzten Nebelfäden. Als der Bärtige fortfuhr, klang seine Stimme so drohend, dass Agnes erschrocken die Luft anhielt. »Während der Nachtwache in der Basilika müsst Ihr Eure Hand auf diese Jacobsmuschel legen und den Schwur besiegeln. Die Worte aus dem Jacobusbrief sollen unsere Losung sein.«
Alle blickten gebannt auf die weiße, schimmernde Muschelschale. Gelborange Strahlen gingen von ihren gefächerten Furchen aus. Feine Sonnenstrahlen schienen die Dunkelheit zu durchdringen. Agnes konnte ihre Augen nicht von der Muschel lösen. Irgendwie kam ihr die Muschel bekannt vor. Sie konnte nicht sagen, woher die Erinnerung kam, es war mehr ein unbestimmtes Gefühl. Konnte es möglich sein, dass dieser Mann die Muschel besaß, über die einst der kleine Mann in Assisi die seltsamen Worte gesprochen hatte? Gelobt sei der Herr für Herrn Bruder Sonne. Nein, unmöglich. Ihre Muschel lag zu Hause im Falknerhäuschen. Wie um zu erwachen, wischte sie sich über die Augen. Es musste eine Täuschung sein. Sicher gab es unzählige ähnliche gemaserte Muscheln. Das Meer brachte Hunderte von Formen und Sorten hervor, um Gott zu preisen. Gelobt sei der Herr für unsere Schwester Mutter Erde, die mannigfaltige Früchte hervorbringt. Waren das nicht die Worte des Franziskus gewesen?
Stephan flüsterte mit belegter Stimme: »So soll es geschehen: Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet es an.«
Seine Worte brachten sie wieder zu sich. Kurz entschlossen ließ sie sich neben ihm nieder und umklammerte seinen Arm: »Stephan, das darfst du nicht! Jacobus hat seine Brüder in Christi ermahnt, nicht zu schwören. So steht es geschrieben!«
Sie wusste ganz genau, dass es diese Stelle im Jacobusbrief gab. Ihr Beichtvater hatte ihr auch erklärt, dass der Brief von einem jüngeren Jünger Jesu und nicht von dem Jacobus, der in Compostela sein Grab hatte, stammte. Der jüngere Jacobus hatte das Feuer als Gleichnis für die Zunge gewählt, die den ganzen Leib verunreinigen konnte. Diese Männer brachten ja alles durcheinander! Leise wiederholte sie: »So steht es geschrieben.«
Niemand beachtete ihren Einwand. Der bärtige Anführer ließ die Jacobsmuschel wieder unter seinem Mantel verschwinden und forderte Stephan mit einem kurzen Nicken auf, sich zu erheben. Ihr Bruder wankte, als stünde er unter einem Zauberbann. Mit einer fahrigen Bewegung entzog er ihr seinen Arm und flüsterte kaum hörbar: »Geh zu Bett, Agnes.«
Stephan kam auf die Füße und einer der Templer sprang herbei, um ihn zu stützen. Während Agnes sich ebenfalls aufrappelte, knurrte der Bärtige sie an: »Geht beten und überlasst das Denken Eurem Bruder.«
Agnes sah hilflos mit an, wie die Männer ihren Bruder die Säulenreihe entlangführten. Die Bögen warfen dunkle Schatten über ihre weißen Gewänder und sie wurden zu unwirklichen Gestalten. Agnes konnte sich zuerst nicht rühren, dann endlich löste sich ihre Erstarrung. Sie rannte ihnen nach und erreichte die Gruppe, als sie gerade in die Klosterkirche eintrat. Stephan stolperte über die Schwelle, ohne sich umzusehen. Agnes versuchte, ihm zu folgen, und erhielt von einem der Männer einen unsanften Stoß. Ihre Füße kamen auf den feuchten Steinen ins Rutschen und sie stürzte zu Boden.
Mit einem lauten, dumpfen Dröhnen fiel die Kirchentür zu. Agnes richtete sich stöhnend auf. Sie rieb sich den schmerzenden Ellenbogen und flüsterte: »O Santa Agatha di Catania.«
Die Heilige antwortete nicht. Agnes hielt sich den Arm. Feuchtigkeit drang durch ihre Kleider und kroch kalt ihren Rücken hinauf. Verzweifelt starrte sie auf die dunkle Holzmaserung der Tür. Wie konnte Stephan so etwas tun? Er bot ihnen seine Schwester an, als wäre sie eine kostbare Rarität. Sie spricht mit Vögeln, das passt ganz wunderbar. Was hatten sie vor? Waren sie alle von Sinnen? Ihr Bruder gab sie weg, als wäre sie ein dressierter Tanzbär. Nehmt meine Schwester, das hatte er wirklich gesagt! Ein Ausruf ihres Vaters kam ihr in den Sinn und sie zischte die gleichgültig schweigende Kirchentür an: »Beim Näglein des Heiligen Kreuzes zu Ulm!«
Hinter ihr lachte jemand leise. Dort hinten lag die Kapelle des heiligen Voto im Schatten des Felsens verborgen. Jemand musste dort gebetet haben und war auf dem Weg zurück zu den Schlafräumen. Warum hatte sie keine Schritte gehört? Sie vergaß ihre Verzweiflung und den schmerzenden Ellenbogen. Hastig wandte sie sich um.
Im Mondlicht stand ein Engel und blinzelte ihr freundlich zu.
L’ Angelo salvatore, dachte Agnes verblüfft. Die Heilige schickte einen rettenden Engel. Die heilige Agatha von Catania hatte sie erhört. Sie sandte einen Helfer, der größer und kräftiger war als jeder Sterbliche. Obwohl es so dunkel war, glaubte sie sein ebenmäßiges Gesicht und sein einnehmendes Lächeln gut erkennen zu können. Engel leuchteten von innen heraus, denn sie waren vollkommene Geschöpfe. Agnes hatte schon welche gesehen, einmal nach einem tiefen Gebet, als sie sich ganz der Nähe eines Heiligen hingegeben hatte, und ein anderes Mal war es, als schwebten sie über der Empore der Kirche in Catania. Allerdings schien dieser Engel plötzlich nicht mehr lichtdurchschienen zu sein, noch schwebte er. Als er langsam näher kam, verflog alles Engelhafte. Aus dem Nebel tauchte eine unerhört schmutzige Gestalt in einem verfilzten Umhang über fleckigen Beinlingen auf. Der Mond brach erneut aus den Wolken hervor und brachte die feinen Nebeltropfen in dem ungewaschenen und zerzausten blonden Haar zum Glänzen.
Immer noch lächelnd, ließ er sich neben Agnes nieder. Aus der Nähe hatte er nichts Überirdisches mehr an sich, ganz im Gegenteil, er roch nach Schweiß. Sie rückte ein Stück zur Seite und musterte ihn neugierig: Er war noch jung, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ihr Bruder, und trotz seines Geruchs fühlte sie sich auf sonderbare Weise zu ihm hingezogen. Selbst die Narbe, die sich als feine Linie von der Augenbraue bis zur Spitze seiner großen Nase zog, gefiel ihr. Sie durchschnitt hell und weiß sein schattiges Gesicht, in dem alles überraschend groß wirkte. Agnes starrte gebannt darauf. Eine scharfe Klinge musste sein linkes Auge knapp verfehlt haben. Der heilige Augustinus, der die Augen beschützte, hatte ihm beigestanden. Dieser Mann war vielleicht kein Engel, doch er musste etwas ganz Besonderes sein, wenn er den Schutz des Heiligen verdient hatte, denn Augustinus war ein eigenwilliger Heiliger und kümmerte sich nicht um jeden.
Der Fremde sah sie schweigend an. Seine blaugrauen Augen hatten zwar etwas Sehnsuchtsvolles, dennoch gehörte es sich nicht, dass er sie so unverhohlen anstarrte. Agnes wollte ihn zurechtweisen, doch er kam ihr zuvor und erklärte hastig: »Entschuldigt, ich bin nur so überrascht. Es geschieht nicht oft, dass ich aus einer Kapelle komme und eine bekannte Ulmer Beschwörung durch die Nacht klingt. Kennt Ihr die alte Pfalzkapelle zum Heiligen Kreuz? Habt Ihr Euren Finger andächtig über das goldene Näglein gerieben, wie es der Brauch verlangt? Seid Ihr aus Ulm?«
»Was? Ob ich aus Ulm bin? Nein, mein Vater stammte aus Ulm. Er kam vor vielen Jahren mit Kaiser Heinrich nach Sizilien. Ich bin nie in Ulm gewesen.«
»Wie schade. Ich gehöre zum Gefolge des Ritters von Justingen. Wir sind auf dem Rückweg von Santiago de Compostela und ich hatte gehofft, endlich jemanden aus Schwaben zu treffen.«
»Oh, Ihr wart am Grab des heiligen Jacob? Wir sind Pilger auf dem Weg dorthin. Das heißt, wir sind aufgebrochen, weil mir der heilige Jacob im Traum erschienen ist, aber nun ... Habt Ihr sie gesehen, die Templer? Sie haben meinen Bruder mitgenommen und ich, ähm ...«
Sie brach ab und schwieg verwirrt. Wieso erzählte sie ihm das? Es war sehr unvernünftig, im Dunkeln auf den feuchten Steinfliesen zu sitzen und sich einem völlig Fremden anzuvertrauen. Er schien nichts Sonderbares dabei zu finden. Nachdenklich fuhr er an seiner Narbe entlang. Als er mit der Fingerkuppe an der Nasenspitze angekommen war, tippte er dagegen und sagte: »Die Templer? Die halte ich nicht für echt. Sie sind viel zu ordentlich gekämmt, besonders ihr Anführer, der ist ein eitler Kerl. Schon Bernhard von Clairvaux hat gesagt, dass echte Tempelritter niemals gekämmt und selten gebadet sind. Geht ihnen besser aus dem Weg, Fremden kann man nicht trauen.«
Er war ebenfalls ein Fremder, ein ungekämmter und ungebadeter Fremder. Eigentlich sollte sie aufstehen und zum Gästetrakt des Klosters laufen und nie wieder ein Wort mit ihm wechseln. Doch in dieser Nacht war sowieso nichts, wie es sein sollte, und so sagte sie leise: »Erzählt mir vom Grab des heiligen Jacob. Ist es, wie alle erzählen? Kehrt man verwandelt von dort zurück?«
Der Gefolgsmann des Ritters von Justingen lächelte geheimnisvoll: »Findet es selbst heraus.«
Er stand auf und bot ihr seine Hand an, die ungewöhnlich breit und groß war. Zögernd griff Agnes danach und ließ sich hochziehen. Ihre Glieder waren ganz steif und sie fühlte sich müde und durchgefroren. Er hielt ihre Hand viel länger als nötig und fuhr mit seinen rauen Fingerkuppen über die feinen Narben, die ihren Handrücken bedeckten und von unzähligen Schnabelhieben und scharfen Vogelkrallen stammten. Seine Berührung war fragend und verständnisvoll zugleich. Ihr war, als würde sie ihn schon lange kennen. Auch als er sie endlich losließ, blieb ein Gefühl von Nähe und Vertrautheit zurück. Agnes seufzte leise und wünschte, dass er wirklich ein Engel wäre, der gekommen war, um sie zu retten. Wäre sie doch weit weg von den falschen Templern. Sie wollte nichts mit Männern zu tun haben, die ihren Bruder in ihrer Gewalt hatten und den jungen König stürzen wollten. Auf einmal fiel ihr ein, dass sie von nun an mit ihnen nach Santiago de Compostela pilgern mussten. Dort, am Grab des heiligen Jacob, würde Stephan auf eine Muschel schwören und sich versündigen. War es womöglich gar nicht der heilige Jacob gewesen, der ihr im Traum erschienen war, sondern der leibhaftige Teufel in Verkleidung? Hatte der Teufel selbst sie nach Santiago gelockt? War er womöglich irgendwo in der Dunkelheit und beobachtete sie? Unsicher blickte sie sich um. Ihr Blick fiel auf die Kapelle des heiligen Voto.
Die kleine Kapelle befand sich nur wenige Schritte von ihr entfernt unter dem Schatten des Felsens verborgen. Vielleicht wusste der Heilige eine Antwort. Sie würde die Kapelle aufsuchen und den Rest der Nacht um eine Antwort flehen. Wortlos wandte sie sich um, doch die bittende Stimme des Schwaben hielt sie zurück: »Wartet! Wir reisen bei Sonnenaufgang weiter. Werdet Ihr am Tor stehen und mir nachblicken?«
Sie überlegte einen Moment. Sie hatte wirklich andere Sorgen. Seine sehnsuchtsvollen grauen Augen blickten sie flehend an. Schließlich sagte sie seufzend: »Ich denke nicht.«
»Beim Näglein des Heiligen Kreuzes zu Ulm: Ich denke doch!«
Sie war zu müde und erschöpft, um mit ihm herumzustreiten, und zuckte nur mit der Schulter. Der große Schwabe machte eine unbeholfene Bewegung und hatte unvermutet eine kleine gewundene Silberspange in Form einer Eidechse zwischen seinen großen Fingern. Sie kannte die grünen Steine, die Augen der Echse, nur zu gut. Aus dem Nebel blitzte sie die Spange an, die sie in der Grabkammer der Könige verloren hatte. Er ließ die Echsenspange in ihre offene Hand fallen.
»Das habe ich am Grab von Sancho Ramírez von Aragón gefunden. Am späten Nachmittag kamt Ihr von dort, ich habe es beobachtet. Gehört sie Euch?«
»Das ist wirklich meine Spange. Mille grazie!«
Er lächelte und verschwand im grauen Dunst. Kurz darauf hörte sie erneut die Kirchentür zuschlagen. Verwundert strich sie über die zierliche Spange. Mitten in den unwegsamen Pyrenäen hatte sie jemanden getroffen, der die Pfalzkapelle zum Heiligen Kreuz in Ulm kannte. So oft hatte ihr Vater von Ulm gesprochen. Es schien ihr, als hätte er ihr auf seine Weise Trost geschickt. Ihr Vater war ein ehrlicher Mann gewesen, der zu seinem Wort gestanden hatte. Niemals hatte er im Verborgenen gearbeitet und beim Aufstand gegen Friedrich war er dem König offen entgegengetreten, doch er hätte sich niemals an einer Verschwörung beteiligt. Eine Verschwörung hatte nicht zu ihrem Vater mit seinem starken Empfinden von Recht und Unrecht gepasst. Es hätte allerdings zu ihm gepasst, ihr den großen, ungewaschenen Ulmer zum Trost zu schicken. Wenn sie doch nur wüsste, wer sie auf den Weg nach Santiago de Compostela geschickt hatte. Wer war ihr im Traum erschienen? Seufzend wandte sie sich zur Kapelle, um den heiligen Voto zu befragen.
Der Fremde sollte recht behalten, denn Agnes blickte ihm tatsächlich nach, als sie bei Sonnenaufgang aus der Kapelle hinaus in die kühle Morgenluft trat. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob ihr der heilige Jacob oder der Teufel im Traum erschienen war, doch war das nicht die Schuld des heiligen Voto. Vielmehr war es ihr nicht gelungen, sich ganz im Gebet zu verlieren, weil ihre Gedanken immer wieder abschweiften. Es war unmöglich gewesen, sich ganz tief in die Andacht zu versenken. Der heilige Voto möge ihr vergeben.
Als die Sonne die letzten Nebel vertrieb, die sich in den Felsspalten bis zum Morgengrauen gehalten hatten, stand sie am steinernen Torbogen. Nach der durchwachten Nacht waren alle Geräusche unangenehm laut und alle Farben bunt und aufdringlich. In ihrem Kopf brummte es unaufhörlich und sie war sich nicht sicher, ob die Templer im Nebel nur Schatten gewesen waren.
Nachdenklich blickte sie dem langen Zug von Reittieren und Menschen nach, der sich auf dem gewundenen Weg zum Tal hinabschlängelte. War der große Schwabe unter ihnen oder war er auch nur eine nächtliche Erscheinung gewesen? Plötzlich fiel ihr die Spange ein. Er hatte ihr die kleine Eidechsenspange zurückgegeben. Sie war der Beweis dafür, dass der Ulmer kein Lichtwesen gewesen war. Erleichtert tastete sie nach dem kühlen Silber und dachte an den ungekämmten Mann mit den großen, unbeholfenen Händen. Ein winziges Lächeln huschte über ihre Lippen. Beim Näglein des Heiligen Kreuzes zu Ulm, sie würde ihn wieder sehen, ganz bestimmt würde sie ihn wieder sehen. Manchmal wusste sie diese Dinge, auch ohne Zwiesprache mit einem Heiligen zu halten.
Sie ließ den Torbogen hinter sich und stieg den schmalen Weg zum Kloster hinauf.
Wenn der Ulmer echt war, dann waren es die Templer auch und würden sie von nun an nach Santiago de Compostela begleiten. Der bärtige Anführer würde sie den ganzen Weg über abschätzig von der Seite ansehen und mit seinen Versprechungen ihren Bruder immer tiefer in seine finsteren Pläne hineinziehen. Zum Schutz gegen Räuber schlossen sich Pilger in Gruppen zusammen, doch diese Männer waren nicht die Reisebegleiter, die sie sich ausgesucht hätte. Und dann gab es da noch einen unbekannten Grafen, den sie den Edelgesinnten nannten, der sie in Compostela erwarten und von Stephan den Schwur verlangen würde. Bei der Erinnerung daran fröstelte sie. So hatte sie sich die Wallfahrt nicht vorgestellt. Unglücklich trat sie mit der Fußspitze gegen einen spitzen Stein und beobachtete, wie er den Abhang hinuntersprang. Sie musste tief Luft holen, bevor sie ihren Weg zurück zum Kloster fortsetzen konnte.
Sie fand Stephan in der Eingangshalle. Er hockte müde auf den Stufen zum Untergeschoss und sie setzte sich wortlos neben ihn. Beide blickten sie starr in die dunklen Gemäuer, die zu den Schlafsälen der Mönche und der alten mozarabischen Unterkirche führten. Es schien Agnes, als würde ihr Bruder auf etwas warten, was von dort unten heraufgekrochen kam. Unruhig rutschte sie auf den kalten Steinen herum, bis sie sich schließlich überwand und leise fragte: »Wartest du auf sie?«
»Verschone mich mit deinen Vorhaltungen und beruhige dich. Sie sind noch vor Sonnenaufgang nach Eunate aufgebrochen.«
»Eunate? Wo liegt das?«
Stephan gähnte herzhaft und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, erklärte er leise: »Es ist ein etwas abseits vom Pilgerweg gelegener Ort, nicht weit von hier. Dort gibt es eine achteckige Templerkirche. Ein einsamer Ort, gewöhnliche Pilger begeben sich selten dorthin. Die Kirche ist dem Heiligen Grab in Jerusalem nachempfunden, wo die Templer ihren Hauptsitz errichtet haben. Das war lange bevor sie für die Befreiung Spaniens von den Mauren kämpften und sich um die Pilger nach Santiago kümmerten. Es sind verdienstvolle Männer, also erspar mir deine Vorwürfe.«
»Verdienstvolle Männer? Es sind Männer, die dem jungen König schaden wollen. Sie ziehen dich in eine Verschwörung hinein, darauf steht der Tod. Ist dein Hass auf König Friedrich wirklich so groß, dass dir das gleichgültig ist? Es war doch nicht Friedrichs Schuld! Vater hatte sich am Aufstand gegen ihn beteiligt und sein Zeichen unter das Schreiben gesetzt, das voller Bedingungen und angedeuteter Drohungen war. Du weißt das ebenso gut wie ich.«
Stephan schnaufte unwillig, doch sie fuhr fort, ohne darauf zu achten: »Die Kerkerhaft war noch gnädig, denn einen Verräter erwartet das Henkerbeil. Vaters Tod war nicht die Schuld unseres Königs, eine Feuersbrunst hat ihn getötet, die vielleicht von einer heruntergebrannten Kerze oder einem unbeaufsichtigten Kohlebecken ausgelöst wurde. Warum sinnst du also auf Rache? Es gibt nichts zu rächen. Finde endlich deinen Frieden. Bete am Grab des heiligen Jacobus, anstatt unheilige Schwüre zu leisten.«
Stephan erhob sich schwerfällig. Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als hätten ihre Worte keine Bedeutung. Agnes blickte ungläubig zu ihm auf. Er benahm sich, als wäre er sehr zufrieden mit den Ereignissen der Nacht. Hatte er wirklich vor, den Tod ihres Vaters zu rächen und Pläne gegen den jungen König von Sizilien zu schmieden? Ihr Bruder sah eigentlich nicht aus wie ein Verschwörer. Nur die dunklen Ringe unter den Augen verrieten ihn. Er gähnte noch einmal und murmelte: »Hör auf damit. Du bist nur eine Frau, ach was, du bist noch ein kleines Mädchen. Was verstehst du von solchen Dingen? Es ist ganz allein meine Entscheidung. Wir treffen die Templer und ihren Herrn in Puente la Reina und reisen mit ihnen weiter nach Santiago de Compostela. Bis dahin sollen wir uns Reittiere und ein paar Knechte besorgen, damit wir schneller vorankommen.«
»Der Heilige hat mir im Traum ganz deutlich gesagt, dass wir zu Fuß ...«
»Sieh dir meine Füße an!«
Stephan streckte einen Fuß vor und drehte ihn anklagend. Das graue, von Staub durchtanzte Licht ließ die blutverkrusteten Fersen seines Lederschuhs groß und schwarz hervortreten. Agnes sah schuldbewusst weg. Ihre Füße waren zwar übersät mit wunden Stellen und aufgeplatzten Blasen, doch hatten sie vom vielen Barfußlaufen im Sommer eine schützende Hornhaut. Stephan hatte jeden Sommer über ihre Lederfüße gespottet. Nun ließ er seinen Fuß wieder in den Schatten zurückgleiten und schnaufte: »Ein Mann von adliger Herkunft reitet zum Grab des Jacobus. So ist es immer schon gewesen, also bring nicht Gottes Ordnung durcheinander. Wir besorgen uns endlich Reittiere. Schluss mit den wunden Füßen, die dir so gottgefällig erscheinen. Schluss mit deinen langen Nachtwachen in abseits gelegenen Kapellen und den Gebeten vor wundertätigen Marienfiguren in versteckten Felsnischen. Dafür haben wir keine Zeit mehr. Wir haben es eilig.«
Seine Worte legten sich wie eine schwere Decke auf sie. Ihr Entschluss, den Weg zum Grab zu Fuß zurückzulegen, galt nun nicht mehr und die Eile gefiel dem heiligen Jacob sicher auch nicht.
Stephan hielt einen vorbeihastenden Mönch an und fragte ihn nach einem Stall, in dem es günstige Reittiere zu erwerben gab. Der Mönch schüttelte bedauernd den Kopf und ihr Bruder fluchte leise. Stephan würde sich in den Pyrenäen weiterhin blutige Füße holen müssen und schnell würden sie auch nicht sein. Sie folgte ihm in die klare Morgenluft und beobachtete, wie er mit müden Schritten zum Gasttrakt hinüberging.
Der Anblick der imposanten, gezackten Gebirgskette, die sich rosa leuchtend vor dem blassen Himmel abhob, ließ sie innehalten. Eine Windböe fuhr in die bewaldeten Hänge vor den kargen Schotterfeldern und brachte die Baumwipfel zum Schwanken. Hier oben war es immer windig und das Wetter schlug schnell um. Es würde ein beschwerlicher Abstieg werden und am Ende wartete der edel gesinnte Graf. Agnes starrte nach oben, als könnte sie auf diese Weise die Felswand zum Einsturz bringen, doch nichts geschah.
Juni 1209, auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela
Noch am selben Morgen verließ Agnes mit Stephan das Kloster San Juan de la Peña. Schweigend begannen sie den Abstieg. Sie folgten dem uralten Weg, auf dem seit Jahrhunderten die Menschen nach Santiago de Compostela gezogen waren. Während Stephan unermüdlich ausschritt, warf Agnes noch einen Blick auf die Klosteranlage zurück: Die graue Felswand wölbte sich schützend über dem Kreuzgang. Es sah so friedlich aus.
Agnes konnte kaum glauben, dass die Verschwörer in der Nacht dort gewesen waren und von Landgütern bei Catania und einem Amt in Palermo gesprochen hatten. Doch Stephans beharrliches Schweigen und seine schnellen Schritte erinnerten sie an seinen Kniefall und seine geflüsterten Worte: Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet es an.
Nehmt meine Schwester.
Nichts war mehr so wie zuvor. Statt dem Ruf des heiligen Jacobus zu folgen, folgten sie nun dem Befehl eines unbekannten Grafen, der ganz bestimmt nicht edel gesinnt war. Sie wagte nicht, Stephan noch einmal nach dem geheimnisvollen Mann zu fragen; er würde sowieso nicht antworten. Traurig ließ sie ihren Blick über die hohen Gipfel wandern, die nun hinter ihnen aufragten. Die mächtigen Felswände wirkten wie in den tiefblauen Himmel gemeißelt. Leise begann sie, ein Te Deum zu singen. Stephan schwieg beharrlich und rannte fast über den grasbewachsenen, steinigen Weg. Er schien kaum auf die aufgehäuften Steine zu achten, die andere Pilger zur Orientierung zurückgelassen hatten. Agnes zwang sich, den Blick nach vorn zu richten und nicht nachzudenken. Es war schwer genug mitzuhalten.
Nach ein paar Stunden verlor sie jedes Gefühl für die dahinfließende Zeit. Nur das Licht veränderte sich ständig. Es kam von allen Seiten, mal blendete es sie, mal wärmte es ihren Nacken. Die Schatten der knorrigen Büsche am Wegrand wanderten und die lateinischen Worte des Te Deum wurden zu einem immer gleichen Singsang, der sie unaufhaltsam vorantrieb. Gegen Abend stießen sie auf eine Höhle, in der ein wortkarger Einsiedler hauste. Er wusch Stephans Füße und rieb sie mit einer stinkenden Paste ein. Die eiskalte Nacht verbrachten sie zusammengekauert an seinem offenen Feuer. Als Agnes in den Schlaf hinüberglitt, lief sie im Traum immer weiter und spürte noch den steinigen Boden unter ihren Füßen. Das Feuer knackte und knisterte. Der Gestank der Heilpaste kroch ihr in die Nase und das gleichmäßige Te Deum zog durch ihre Träume.
Am nächsten Morgen setzten sie nach einem kargen Frühstück, das der Einsiedler durch eine Schale Ziegenmilch ergänzte, ihren Weg fort. Der Gebirgswind zerrte an ihren Mänteln und trieb ihnen den Sand in die Augen. Nach vorn gebeugt und mit ihrem ganzen Gewicht stemmten sie sich dem Wind entgegen. Nun änderte sich die Landschaft. Sie kamen an wilden Schluchten und zerklüfteten Felsen vorbei. Sie mussten durch einen kalten Fluss waten und rutschten auf dem weichen Waldboden einen Hang hinunter. Gegen Mittag trafen sie zwei Pilger, die höflich grüßten und dann ihren Weg fortsetzten. Kurz darauf machten sie Rast, um ein paar trockene Brotkanten zu verzehren und einen Schluck Wasser aus der Lederflasche zu trinken, die sie beide um ihre Hüften gebunden hatten. Dann ging es weiter. Bald spürte Agnes ihre Füße nicht mehr und ihr Kopf wurde seltsam klar. Ihr Atem ging gleichmäßig und wurde immer flacher. Atmen und laufen, Luft holen, die Füße vorwärtsbewegen und nicht denken. Doch umso erschöpfter sie sich fühlte, umso zuversichtlicher wurde sie. Ihr war, als würde sie vor den Verschwörern im Kreuzgang davonlaufen. Mit jedem Schritt entfernte sie sich von den Eindrücken der Nacht im Kloster und kam dem heiligen Jacob ein Stückchen näher. An seinem Grab würde sie endlich Ruhe finden, um zu beten. Die Gebete würden keine Ähnlichkeit haben mit denen, die sie vor jedem Aufbruch hastig stammelte. Sie würde sich tief versenken, so wie sie es gewohnt war, mit geschlossenen Augen, ohne jeden anderen Gedanken, ganz hingegeben an den Moment, erfüllt von der Heiligkeit des Ortes. In Santiago wird alles gut, dachte sie und ließ diesen Gedanken zu einer gesummten Melodie werden: In Santiago wird alles gut.
In Santiago wird alles gut. Es wird alles gut. Ein weiterer Tag verging, ohne dass ihre neu gewonnene Zuversicht von Stephans unheimlichem Schweigen beeinträchtigt wurde. Die gesummte Melodie begleitete sie. Es schien so einfach. Sie musste sich vor dem Altar in Santiago nur ganz tief ins Gebet versenken und alles würde gut. Als sie bei Anbruch der Dunkelheit eine verlassene Kapelle fanden, nächtigten sie in deren verfallenem Vorraum. Das Schnarchen zweier ungewaschener alter Pilger, die zur Buße mit Ketten aneinandergebunden waren, drang die ganze Nacht zu ihnen herüber. Trotz der nächtlichen Störung erwachte Agnes am nächsten Morgen wieder mit dem Gefühl, dass in Santiago alles gut werden würde.
Sie kämmte im Morgennebel vor der Kapelle ihr Haar mit dem Holzkamm, an dem schon zwei Zinken abgebrochen waren, und summte vor sich hin: In Santiago wird alles gut. Dort empfängt uns der heilige Jacob und bringt alle Verschwörer zum Schweigen. Der Kamm verfing sich in einer Klette und ein weiteres Stück brach heraus. Agnes warf den kaputten Kamm ins Moos. In Santiago würde sie sich einen neuen Kamm kaufen, einen, auf dem Muscheln und heilige Worte gemalt waren. Nun entschied sie sich, ihr langes Haar in viele kleine Zöpfe zu flechten, die sie mit Grashalmen umwand.
Die kleinen Zöpfe tanzten den ganzen Weg über um ihr Gesicht herum und am Abend entlockten sie der Bauersfrau, die ihnen auf ihr Klopfen hin geöffnet hatte, ein verschmitztes Lächeln. Sie verbrachten eine ruhige Nacht in einer Scheune, doch stellten sie am nächsten Morgen fest, dass das Wasser im Bach hinter dem Haus eine bräunliche Färbung hatte und seltsam säuerlich roch. Sie dachten an die vielen Warnungen, die ihnen ihr Beichtvater vor ihrem Aufbruch über vergiftetes oder faulendes Wasser auf dem Pilgerweg mitgegeben hatte. Die Lederflaschen um die Hüften blieben leer und sie setzten ihren Weg, ohne etwas zu trinken, fort.
Beim Höchststand der Sonne kamen sie in eine Schlucht, die vom Rauschen eines kleinen Wasserfalls erfüllt war. Stephan hockte sich vor die spiegelnde Fläche, in die sich das Wasser ergoss, tauchte vorsichtig eine Hand hinein und fuhr prüfend mit der Nase darüber. Andächtig senkte er den Kopf, schlug ein Kreuz und verharrte einen Moment. Erst dann schöpfte er erneut Wasser, trank, wusch sich das Gesicht und füllte seine Trinkflasche. Agnes lief zum Wasserfall und hob die Hände. Sie ließ das Wasser durch ihre Finger rinnen und erinnerte sich an die Worte des Mannes aus Assisi: »Gelobt seist Du, mein Herr, für Schwester Wasser, die gar nützlich ist und bescheiden und kostbar und rein.« Dankbar und gierig trank sie Schwester Wasser und achtete darauf, nicht in die Pfützen zu treten, genau wie der Fremde es sie gelehrt hatte.
Als sie weitergingen, schienen Stephans Gesichtszüge weicher geworden zu sein. Ermutigt von seiner Andacht, begann Agnes zu sprechen. Sie wanderten an dem Wasserfall vorbei und während die kalten Tropfen auf sie niedergingen, sprach Agnes von ihrem Lieblingsthema, den Heiligen und ihren Martyrien. Fast sang sie mit ihrer hohen Stimme über das Rauschen des Wassers hinweg und pries die Standhaftigkeit der Märtyrerinnen. Als der Wasserfall nur noch in der Ferne rauschte und es wieder ein kleines Stück bergauf ging, erzählte sie dem Rücken, der vor ihr herlief, immer noch von den Versuchungen des Teufels und dass dieser es auch verstand, mit Gütern um Catania und einem Amt in Palermo zu locken. Doch weder dieser Hinweis noch die Beharrlichkeit der heiligen Ursula, noch die Entschlossenheit der heiligen Margareta entlockten ihrem Bruder mehr als nur ein Schnaufen. Agnes war so in die Leiden der Märtyrerinnen vertieft, dass sie den ganzen Tag über kaum die spitzen Steine und die stechende Sonne, die ihr den Schweiß den Rücken herunterlaufen ließ, spürte.
Die Nacht verbrachten sie in einem Hospiz, das von freundlichen Benediktinern geführt würde. Agnes achtete nicht auf die zerrissenen Decken, in die sie sich nach einer warmen Suppe müde wickelte, sondern fiel erschöpft in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Tag näherten sie sich Sangüesa. Es war die erste größere Stadt und mit jedem weiteren Schritt änderte sich die Landschaft. Sobald der Weg breiter, das Vogelgezwitscher lauter und die Kreuze zwischen den Steinen häufiger wurden, begann Stephan zu sprechen. Er stellte Mutmaßungen darüber an, wann sie wohl die Templer und ihren Herrn treffen würden, und führte längere Gespräche mit den Pilgern, die nun in großen Gruppen an ihnen vorüberzogen. Unter ihnen gab es oft Männer aus geistlichem Stand, die er in seinem holprigen Latein befragte, ob sie eine Deutsch sprechende Templergruppe getroffen hätten. Eine Erregung ergriff ihn, die Agnes mit Sorge erfüllte, denn mit jedem weiteren Haus am Weg kamen sie dem unbekannten Grafen näher.
Als sie die ersten größeren Häuser von Sangüesa erreichten, verschwand Stephan in einer der Gassen der Stadt und ließ sie allein auf dem Marktplatz zurück. Staunend betrachtete sie das Portal der großen Kirche. Ein vorüberziehender Pilger lüftete seinen Hut und begrüßte die Kirche mit einem andächtigen »Ave Santa María de Real«. Neidvoll blickte Agnes den Pilgergruppen nach, die durch das reich mit Figuren geschmückte Portal hineinströmten. Das Portal war von hohen Frauengestalten umgeben, die Kapitelle über ihren Häuptern trugen, von denen sich Bögen mit andächtig blickenden Aposteln emporschwangen. Darüber wimmelte es nur so von Dämonen und grinsenden Ungeheuern. Agnes blickte hoch und es schien ihr, als flüsterten die Fratzen mit ihr und streckten ihr ihre schlangenartigen Zungen entgegen. Sie glaubte ihr Gewisper ganz deutlich zu vernehmen, es handelte von Sünde und Verrat, Hochmut und Gier.
Agnes wünschte sich nichts mehr, als in dieser neuen Kirche mit dem zweistöckigen, festungsartigen Turm zu beten. Als Stephan mit einem neuen Paar Schuhe an den Füßen und einer besorgten Miene zurückkam, bat sie ihn, hineingehen zu dürfen. Wortreich verwehrte er ihr den Besuch. Sie hätten es eilig, müssten nun endlich Reittiere besorgen und wären sowieso spät dran. Im Laufschritt hastete er an der Kirche vorbei. Sie wagte nicht, ihm zu widersprechen, denn auf seinem Gesicht lag ein entschlossener Ausdruck, der keinen Widerspruch duldete. Beim Vorübereilen wandte Agnes noch einmal den Kopf, um einen Blick auf das Portal zu werfen. Die Dämonen grinsten noch selbstgefälliger. Höllenfeuer und unendliche Qualen erwarten die Hochmütigen, zischten sie. Agnes versuchte, sich im Laufen die Ohren zuzuhalten, und kämpfte mit den Tränen. Sie war sich nicht mehr so sicher, dass in Santiago alles gut werden würde.
Die Verschwörer schienen jeden ihrer Schritte zu lenken. Stephan gelang es ohne Schwierigkeiten, Reittiere und zwei wortkarge Knechte zu finden. Agnes fürchtete sich vor ihren dunklen Gesichtern und den großen Pferden. Unglücklich und ratlos ritt sie am nächsten Morgen neben Stephan aus der friedlich schlafenden Stadt.
Am späten Abend erreichten sie Puente la Reina. Stephan schien sich sofort in der wohlhabenden und geschäftigen Stadt wohlzufühlen. Agnes blickte sich ängstlich um. Alles zeugte davon, dass die Handwerker und Händler der Stadt an den Pilgern reich geworden waren. Zwei bedeutende Pilgerwege trafen hier zusammen und es wimmelte von erschöpften Menschen, die vor der Nacht eine Unterkunft suchten. Stephan wollte zuerst einen Blick auf die berühmte Brücke werfen, die sich am Ortsausgang befand, weil man nur dort den breiten Rio Arga überqueren konnte. Vorsichtig lenkten sie ihre Pferde durch die Menge. Überall leuchteten ihr nun die hellen Pilgermuscheln entgegen, sie steckten an Umhängetaschen und zierten Wanderstöcke. Es gab sie in den verschiedensten Ausführungen. Agnes sah kleine silberne Muscheln, aus Holz geschnitzte, weiße und braun gestreifte aus dem Meer. Die vielen Jacobsmuscheln erinnerten sie an die Muschel im Mondlicht, die Stephan in ihren Bann gezogen hatte. Unbehaglich blickte sie sich um. In dieser Stadt wollten die Verschwörer zu ihnen stoßen. Ihr Herr, der edel gesinnte Graf, würde bei ihnen sein. Wurden sie womöglich schon von ihm beobachtet?
Beim Anblick der eindrucksvollen Brücke vergaß Agnes ihren Kummer. Das Abendlicht warf ein verzerrtes Spiegelbild der Brückenpfeiler auf die ruhige Wasseroberfläche. In der Ferne stiegen sanfte Hügel in den milchig blauen Abendhimmel. Der Anblick der Brücke erfüllte Agnes wieder mit Zuversicht: Die mächtigen Pfeiler und die ansteigenden und wieder abfallenden Bögen bezeugten Gottes Unendlichkeit und Allmacht. Auf dem Wasser tanzten helle Lichter. Das Geräusch von sich entfernenden Stimmen und auf das Pflaster aufschlagenden Pilgerstöcken vermischte sich mit Vogelgeschrei und dem dumpfen Glockengeläut aus der Stadt.
Stephan winkte ihre kleine Gruppe zur Seite, um sie um einen knorrigen Baum am Wegesrand zu versammeln. Agnes hörte Stephan etwas von überfüllten Herbergen sagen, doch sie achtete nicht darauf. Gedankenversunken stieg sie ab. Sie überließ einem der Knechte die Zügel und zog sich die Schuhe aus. Bevor die Nacht hereinbrach und sie irgendwo zwischen verschwitzten Pilgern auf den Morgen warten musste, wollte sie nur ein einziges Mal über die Brücke laufen. Sie wollte dem heiligen Jacob entgegeneilen, barfuß und voller Andacht. Das durfte Stephan ihr nicht verwehren. Sie wollte gerade die Schuhe in die Satteltasche schieben und loslaufen, als ein wütender Schrei sie innehalten ließ.
»Ihr doppelzüngigen Pfaffengesichter, heuchlerisches Gewürm, römisches Geschmeiß. Das Stückchen Hartwurst kommt in meinen Bauch, so war es abgemacht.«
Agnes presste ihre Schuhe erschrocken an sich und drehte um. Neben der Baumgruppe auf einer vergilbten Grassode stand ein kleiner dicklicher Mann mit kleinen schwarzen Löckchen und einem zornesroten Gesicht. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass die beiden Männer, mit denen er sich auf einen Streit einließ, braune Mönchskutten trugen. Empört umklammerte er das Ende einer Hartwurst, schwenkte sie wie eine Wurfschleuder über seinem Kopf und brüllte: »Wagt es ja nicht, mich anzufassen. Ich bin Walther von der Vogelweide. Ich stehe im Dienst des deutschen Königs und vieler mächtiger Fürsten.«
Einer der Mönche stieß abfällig ein lateinisches Wort hervor: »Glōriōsus!«
Der kleine wütende Mann schrie empört: »Selber Aufschneider, lateinschwatzender, papsthöriger Speichellecker.«
Die Mönche blickten sich um und riefen mit schneidenden Stimmen nach ihren Knechten.
»Juan!«
»Mateo! Donato!«
Während die beiden Mönche eilig in der Menge untertauchten, kamen die Herbeigerufenen aus den Büschen gekrochen. Sie hatten dreckverkrustete Gesichter und zotteliges, langes Haar. Brüllend und kreischend fielen sie über den verblüfften kleinen Mann her. Eine geballte Faust traf sein Gesicht und Blut schoss ihm aus der Nase. Er verlor das Gleichgewicht und die Hartwurst glitt ihm aus der Hand. Mit einem überraschten Aufschrei fiel er ins trockene Gras. Sofort begannen sie, nach ihm zu treten. Ihre schmutzigen Füße trafen seinen Hals, seinen Magen und in seinen Bauch. Sein Gesicht flog hilflos hin und her. Stöhnend und wimmernd versuchte er davonzukriechen. Einige Umstehende lachten, andere gingen hastig davon und flüsterten aufgeregt miteinander.
Plötzlich stand Stephan breitbeinig über dem sich windenden Mann und zog einen Nierendolch aus seinem Gürtel. Agnes wich erschrocken zurück. Fast hätte sie die Schuhe fallen gelassen. Was tat er da? Ihr Bruder fuchtelte mit der Klinge vor den Gesichtern der Angreifer herum, bis diese mit eingezogenen Schultern davonhuschten. Agnes starrte verblüfft auf den kleinen Dolch. Sie hatte angenommen, dass Stephan bei ihrem Aufbruch alle Waffen zurückgelassen hatte. Und warum kam er einem Unbekannten zu Hilfe? Sonst mied er doch jede Auseinandersetzung.
Nun bückte er sich, steckte den Nierendolch zurück und ließ sich neben dem kleinen Mann im Gras nieder. Die Menge zerstreute sich. Von den beiden Mönchen und ihren langhaarigen Helfern war nichts zu sehen.
Barfuß und mit den Schuhen vor ihren Körper gepresst, kam Agnes über das trockene Gras. Ihr Bruder war gerade dabei, dem blutenden Mann aufzuhelfen. Freundlich redete er auf ihn ein: »Sie sind alle fort. Seid unbesorgt, wir bringen Euch ins Hospiz des Gekreuzigten, dort werden sich die barmherzigen Brüder um Euch kümmern. Sagt, steht Ihr wirklich im Dienst des deutschen Königs? Ihr kommt von dem Welfen Otto, der das deutsche Reich regiert?«
»Wo ist meine Wurscht?«, nuschelte der kleine Mann und tastete blind zwischen den Grasbüscheln herum. Als er einsehen musste, dass die Wurst längst verschwunden war, legte er den Kopf in den Nacken, presste zwei Finger vor die blutende Nase und schniefte: »Ob isch den deutschen Könisch kenne? Dasch will ich meinen. Isch bin Walther von der Vogelweide.« Er musste eine Pause machen und holte ein paar Mal tief Luft. Als er wieder sprechen konnte, flüsterte er: »Im Herbst werde ich ihn als frisch gekrönten Kaiser besingen. Ich habe ein Lied zu seiner Krönung in Rom gemacht.« Erneut holte er tief Luft und wischte sich das Blut mit dem Handrücken über sein Gesicht. »Wenn dieses unselige Nasenbluten vorüber ist, singe ich es für Euch. Für Euer beherztes Eingreifen. Wem habe ich meine Rettung zu verdanken?«
»Wir sind aus Sizilien, mir gehört ein Landgut bei Catania. Ich bin Stephan von Borras. Doch sagt, eine Kaiserkrönung? Im Herbst schon? Was wisst Ihr darüber?«
Stephan beugte sich gespannt vor. Er hatte rote Flecken auf den Wangen und schien den Atem anzuhalten. Walther von der Vogelweide nahm den Kopf hoch und wollte antworten, doch ein weiterer heftiger Blutschwall schoss aus seiner Nase und hinderte ihn am Sprechen. Stephan blickte hilflos auf und bemerkte zu seiner Schwester: »Schnell, hilf mir. Wir bringen ihn zum Hospiz. Meine Füße können auch ein kühlendes Bad gebrauchen.«
Agnes bemerkte erst jetzt, dass sich die Fersen an seinen neuen Schuhen rot färbten. Hastig streifte sie sich die Schuhe über. Gemeinsam halfen sie dem deutschen Sänger auf die Beine und führten ihn durch die Menge. Ihre mürrischen Knechte folgten mit den Reittieren. Sie kamen gut voran, da die Leute erschrocken vor dem blutverschmierten Mann zurückwichen. Walther hatte wieder den Kopf in den Nacken gelegt. Er blinzelte in die Abendsonne, während er verzweifelt versuchte, mit dem Ärmel seines Gewandes das Blut aufzufangen. Schließlich blieb er schwer atmend stehen. Obwohl er kaum sprechen konnte, stieß er hervor: »Hört das Lied zu Ottos Krönung. Herr Kaiser, ich als Herrenbot’ ... bring eine Botschaft Euch von Gott: Er hat das Himmelreich und ihr die Erde ...«
»Still, hebt Euch Eure Worte für den Kaiser auf. Wir sind gleich da.« Stephan zog ihn ungeduldig weiter. Bald ließen sie die vielen Pilgerkirchen und die kleinen Adelspaläste mit den steinernen Wappen über den Torbögen hinter sich. Am Stadtrand erhob sich ein schlichter Klosterbau, dessen Portal ein großes Templerkreuz schmückte. Agnes stolperte und rief erschrocken: »Heilige Agatha von Catania, steh mir bei. Heilige Juliana, erbarme dich. Es gehört den Templern!«
Stephan seufzte.
»Natürlich gehört es ihnen. Santa María de la Vega wurde den Templern vor vielen Jahren vom spanischen König geschenkt. Seitdem nehmen sie vorbeikommende Pilger auf und versorgen sie mit Brot und Wein.« An den deutschen Sänger gewandt, fügte er entschuldigend hinzu: »Meine Schwester fürchtet die Tempelritter.«