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Eine verschwundene Zeichnung Rembrandts veranlasst 1628 einen jungen Holländer zu einer ereignisreichen und gefährlichen Suche, die ihn bis in die von Wallenstein belagerte Hansestadt Stralsund führt. Unversehens wird die Tochter der städtischen Hebamme in das Geheimnis, das die Zeichnung umgibt, hineingezogen. Unerschrocken hilft sie, das Rätsel zu entwirren, trifft den jungen Rembrandt und entdeckt nicht nur die Kraft der Farben und das Wechselspiel des Lichts, sondern auch die Liebe.
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Seitenzahl: 663
Katja von Glan
Rembrandts Garten
Roman
LangenMüller
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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
© für die Originalausgabe: 2006 nymphenburger in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising
Titelmotiv: © Thinkstockphoto
eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
ISBN 978-3-7844-8322-1
Für meine Tochter Hannah
Frühjahr 1628. Marten Gottholdzoon Olearius saß in einer düsteren Schenke in Leyden und fühlte sich so verloren, dass es ihn schier zerreißen wollte. Seine Augen brannten vom Pfeifenqualm und von den ungeweinten Tränen. Heute hatten sie seinen Vater zu Grabe getragen und er war verzweifelt. Für seinen Vater, der so gern schalkhafte Spiele ersonnen und andere mit Rätseln überrascht hatte, war das Spiel zu Ende.
Der junge Mann seufzte schwer und fuhr sich mit seinen schmalen Fingern durch das dichte rote Haar im Nacken. Ein dumpfer Schmerz pochte in seinen Schläfen, doch er würde nicht weinen, nicht hier, nicht in dieser überfüllten Schenke. Von der offenen Feuerstelle drangen Stimmen herüber und manchmal lachte jemand schnaubend. Es klang nicht freundlich. Marten und sein Freund Rembrandt, den er aus frühen Studientagen kannte, saßen sich an einem umgedrehten Fass, das als Tisch diente, gegenüber. Beide drückte der Kummer, doch Rembrandts Augen schweiften aufmerksam umher.
Marten vermutete, er prägte sich alles ein, um es später in einem Gemälde festzuhalten. Das flackernde Licht, die Schatten und die dunklen Gestalten. Rembrandt war genauso alt wie Marten, erst zweiundzwanzig, und dennoch sah er immer mehr als gewöhnliche Leute, wo er sich auch befand. Marten versuchte zu sehen, was sein Freund sah. Es gelang ihm nicht.
Schließlich blinzelte Rembrandt und erklärte mit seltsam matter Stimme: »Betrinken wir uns. Wir sind es seinem Andenken schuldig.« Als Marten nichts erwiderte, fügte er etwas lebhafter hinzu: »Einen Trinkspruch, Marten, ersinne einen Trinkspruch. Einen, der ihm gerecht wird!«
Es war Rembrandts Vorschlag gewesen, sich nach der Bestattung zu betrinken. Es war nicht unüblich, sich zu Ehren des Verstorbenen einen kräftigen Rausch zu genehmigen. Je reicher und angesehener er war, umso heftiger wurde dem doppelt starken Bier zugesprochen, der Sorte, die schnell trunken machte. Vor jeder Runde war ein Trinkspruch fällig. Normalerweise war Marten gut darin, Trinksprüche zu ersinnen. Die gelöste Stimmung einer Schenke lockerte ihm die Zunge. Doch diesmal wirkte das Gemurmel der Zecher nur beunruhigend und das Rohrpfeifenspiel des Straßenmusikanten schien seinen Kummer zu verhöhnen. Die dazu im Kreis hüpfenden Kinder sollten längst im Bett sein. Marten beobachtete die langen Schatten der Kinder, die über die vom Ruß geschwärzten Ölbilder an der Wand zuckten. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Rembrandt ungeduldig die Nasenflügel blähte. Dabei wirkte seine knollenartige Nase noch größer und die wirren krausen Haare gaben ihm etwas anrührend Faunhaftes.
Marten runzelte die Stirn: »Ich soll etwas sagen, was meinem Vater gerecht wird?«
Wie sollte er seinen Vater in einem einzigen Satz würdigen? Sollte er Gotthold Wilhelm Olearius als großen deutschen Humanisten und Gelehrten preisen? Seine Verdienste an der Universität zu Leyden hervorheben? Was war geblieben von all der Gelehrsamkeit? Was war seiner Familie geblieben? Nur langsam hatte sich der Vater nach dem Winter von einem heftigen Fieber erholt. Viele waren gestorben in jenen Wochen. Als der Frühling kam, hatte es jedoch so ausgesehen, als würde die Kraft des alten Mannes zurückkehren. Dann war alles ganz schnell gegangen. Ein quälender Husten hatte den Vater befallen, ein glühendes Fieber ihn erneut geschüttelt und kurz darauf war er nicht mehr aufgestanden. Einen Trinkspruch? Marten war viel zu aufgewühlt. Seine Augen brannten und etwas schnürte ihm die Luft ab. Verwirrt und beschämt gestand er sich ein, dass es Zorn war. Zorn auf den Vater, der ihn allein zurückgelassen hatte.
Unschlüssig trommelte er mit den Fingern an seinen Zinnbecher. Rembrandt schien zu spüren, was in ihm vorging, und erklärte sanft: »Dein Vater war ein großer Mann. An ihm lag es bestimmt nicht, dass ich die philosophische Fakultät verließ.«
Daran wollte Marten heute Abend nicht erinnert werden, doch nun war es ausgesprochen und er konnte sich nicht zurückhalten. Die Worte kamen ihm über die Lippen, ehe er es verhindern konnte. »Gern hätte ich mich ganz der Malerei gewidmet, aber im Gegensatz zu dir musste ich die Rechte studieren. Mein Vater nannte meine Malerei Gepinsel und Gekleckse. Ich sollte den diplomatischen Dienst wählen. Aber du, du warst immer etwas Besonderes für ihn ...«
Rembrandt war nicht beleidigt. Er lächelte und sagte leise: »Ich war nur ein ehemaliger Student, doch du warst sein Sohn. Da gelten andere Gesetze.«
Marten schwieg und dachte daran, dass sein Vater ihn als talentlosen Möchtegern betrachtet hatte. Genauso talentlos wie die Masse der Maler, die sich tagtäglich vergebens abmühte. Die geschwärzten Ölbilder an den Wänden hier schienen ihm recht zu geben. Die düsteren Schenken Hollands waren voll davon. Und nicht nur dort ersetzten sie die viel teureren Tapeten. Marten seufzte und wollte nicht an die vielen mit drittklassigen Bildern gepflasterten Wände in dieser Stadt denken.
Rembrandt griff nach seinem Becher und starrte über dessen Rand hinweg zu Marten hinüber. Furchen bildeten sich auf seiner Stirn, als grübelte er nun selbst über einen Trinkspruch nach. Sein Blick hatte etwas Forderndes. Schließlich räusperte er sich und flüsterte: »Dein Vater hat es gut mit dir gemeint. Er hat aus Liebe gehandelt. Vergiss deinen Groll und trink mit mir.«
Marten nickte und drehte nachdenklich seinen Becher zwischen den Fingern. Das Bier schwappte leise darin. Es klang, als würde es flüstern. Er dachte daran, dass sein Vater Rembrandts Talent immer bewundert hatte. Doch daraus konnte er seinem Freund keinen Vorwurf machen. Marten wollte großzügig sein. Zwar hatte Rembrandt mit Jan Lievens eine Werkstatt gegründet, doch Jans Historienbilder und Porträts passten ja auch besser zu Rembrandts Bildern als seine eigenen. Marten malte Landschaftsbilder, solche mit besonders weiten Horizonten. Einen mittelmäßigen Landschaftsmaler, einen Zeitvergeuder und Tagedieb hatte sein Vater ihn genannt. Er hatte gedroht, ihn zu enterben, wenn er das Studium der Rechte für die Malerei aufgäbe. Marten fühlte plötzlich die Gegenwart seines Vaters so stark, als wäre dieser anwesend.
Endlich reagierte er auf Rembrandts fordernden Blick, hob seinen vollen Becher und rief: »Gott, dem Allmächtigen, hat es in seiner ewigen und unerschütterlichen Weisheit gefallen, meinen lieben Vater aus dieser Welt der Traurigkeit in die gesegnete Freude seines ewigen Reiches zu rufen.«
Das war kein Trinkspruch, sondern eine Traueranzeige, wie sie Nachbarn und Verwandte erhielten, dennoch hob auch Rembrandt seinen Becher und sie tranken.
Schwungvoll stellte Rembrandt sein Bier ab und erklärte: »Dem alten Olearius sei das ewige Reich gegönnt. Du tröste dich in dieser Welt mit seiner Hinterlassenschaft.« Nach kurzem Zögern fügte er mit einem verschmitzten Blinzeln hinzu: »Der Notarius wird bald eine hübsche Summe für dich bereithalten.«
Marten hätte vor Schreck fast seinen Becher fallen lassen. Der Notarius! Den hatte er ja ganz vergessen. Der kleine schwarz gekleidete Mann mit der steifen weißen Halskrause hatte ihm während des Leichenzugs durch die Stadt zugeraunt, dass er schon morgen früh die Stadt verlassen werde. Deshalb werde die Testamentsverlesung bereits heute Abend stattfinden. Marten fühlte, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Sie würden ohne ihn anfangen! Hastig stellte er sein Bier ab und sprang auf: »Beim Teufel auf Stelzen, die Testamentsverlesung findet in diesem Augenblick statt! Wie konnte ich das nur vergessen? Entschuldige mich bitte ...«
Rembrandt machte eine Handbewegung, als wollte er ihn zurückhalten.
»Warte, du sollst wissen, dass mich dein Vater in letzter Zeit häufig besucht hat. Er saß hustend in meinem Atelier und machte seltsame Andeutungen. Dabei lächelte er manchmal so süffisant, als heckte er einen Streich aus.«
»Der viel gerühmte Schalk des Humanisten. Bis zum Schluss musste er seine Spielchen treiben, so war er eben.« Gehetzt fuhr er fort: »Ich muss los. Wir sehen uns morgen. Hier, die nächste Runde geht auf mich.«
Marten nahm einen Gulden aus seinem Beutel und ließ ihn neben Rembrandts Becher kullern. Ein Gulden würde in dieser Kaschemme für die ganze Nacht reichen. Wenn stimmte, was alle annahmen, wäre Marten bald ein wohlhabender Mann. Sein Vater war an der Herausgabe mehrerer bedeutender Bücher und Enzyklopädien beteiligt gewesen und hatte gut daran verdient. Und statt das Geld auszugeben, hatte er sich von reichen Gönnern und Bewunderern aushalten lassen. Gotthold Wilhelm Olearius hatte es verstanden zu leben. Marten trat in die stille dunkle Gasse hinaus. Durch die geschlossenen Läden blitzte hier und da das Licht einer Öllampe oder eines Herdfeuers. Er beeilte sich, bewegte seinen dünnen, fast hageren Körper im Gleichklang. Der geliehene Trauermantel schlug um seine Beine und der Wind fuhr ihm ungehindert durchs Haar. Seinen breitkrempigen Hut hatte er in der Schenke vergessen. Mit jedem Schritt drang Rembrandts Bemerkung tiefer in sein Bewusstsein. Was hatte seinen Vater, kurz bevor ihn die Krankheit ans Bett fesselte, in Rembrandts Atelier getrieben? Was hatte ihn beschäftigt? Welche Andeutungen hatte er gemacht? Vielleicht war es diesmal doch nicht nur ein harmloser Zeitvertreib gewesen? Hatte er geahnt, dass es zu Ende ging? Ein Verdacht ließ Marten innehalten und nach Luft ringen.
Konnte es sein, dass sein Vater sich nach all den Jahren wieder an Hendrik, den sieben Jahre älteren Erstgeborenen, erinnert hatte? Als Hendrik fortging, war Marten fünfzehn Jahre alt. Bis zu jenem Tag hatte er seinen Bruder immer bewundert. Doch dann war Hendrik vom Vater verstoßen worden, und das hatte den heranwachsenden Marten schwer getroffen. Er hatte nie verstanden, was genau geschehen war. Es war um eine Unterschlagung gegangen und um die Familienehre. Ein hohes Gericht hatte Hendrik zur Verbannung verurteilt und der Vater hatte geschworen, ihm niemals zu vergeben. War er kurz vor seinem Tod weich geworden? War es das, was ihn in Rembrandts Atelier beschäftigt hatte? Hatte er Hendrik eine Nachricht zukommen lassen, ihm mitgeteilt, dass es zu Ende ging? Ihn aus der Verbannung zu sich zitiert? Befand sich Hendrik gar in Leyden? Wenn dem so wäre, dann würde es bei der Testamentsverlesung eine Überraschung geben.
Marten beschleunigte seine Schritte noch ein wenig und rannte nun fast. Noch nie war er so schnell vom Westteil der Stadt, wo hinter dem Rhein die Windmühlen aufragten, zu den verwinkelten Gassen hinter der Pieterkerk gelangt. Dort war es nicht so vornehm wie an der Breestraat oder an der Gracht bei der Rapenburg, dafür waren es nur wenige Schritte bis zum ehrwürdigen Gebäude der Universität. Hier hatte sein protestantischer Vater einst Zuflucht vor seinen Verfolgern gefunden. Wie viele andere Gelehrte war er in seiner Jugend ins tolerante Leyden geflohen und hier war er gestorben. Das Haus sah eher unscheinbar aus, und nur die vielen Lichter hinter den hohen, bleiverglasten Fenstern gaben ihm etwas Ernstes und Würdevolles. Marten zögerte kurz und ließ seinen Blick über die drei Stockwerke der Backsteinfassade bis hinauf zu dem steilen, etwas schiefen Stufengiebel gleiten. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er fragte sich, ob sein Bruder bereits hinter den Fenstern saß und ihn erwartete. Konnte das möglich sein?
Nachdem er sich fest in seinen Mantel gewickelt hatte, klopfte er an. Als niemand öffnete, betrat er die Empfangshalle, durchschritt sie mit schnellen Schritten und öffnete die Tür zur Stube. Sie wurde nur zu besonderen Anlässen benutzt, doch heute war sie leer und so nahm er die Treppe zum Arbeitszimmer seines Vaters. Dabei fragte er sich, ob er Hendrik überhaupt wiedererkennen würde. Sicher hatte sich sein Bruder in Übersee verändert. Egal ob es ihn an die Westküste Afrikas oder die Ostküste Amerikas getrieben hatte, das Leben dort hinterließ zweifellos seine Spuren. Würde Hendrik verbittert sein oder ihn in die Arme schließen und scherzen, so wie früher? Marten wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen. Er war sogar bereit, die Erbschaft zu teilen, wenn er dafür seinen Bruder zurückbekäme. Einen Handel, er würde dem Allmächtigen einen Handel vorschlagen. Die Hälfte des Vermögens für einen Bruder, der mit ihm scherzte. Hoffnungsvoll blieb er im offenen Türrahmen stehen und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
Es war ungewohnt, so viele Menschen im Studierzimmer seines Vaters vorzufinden. Für gewöhnlich saß er als einziger Besucher an dem kleinen ovalen Tisch am Fenster. Nun hatten dort der Kutscher, die Köchin und die beiden Dienstmägde Platz genommen. Sie fühlten sich offensichtlich unwohl, im Gegensatz zu dem selbstbewusst wirkenden Notarius, der neben einer verwirrt blinzelnden Tante Augusta saß. Marten hatte, ohne es zu merken, die Luft angehalten, nun atmete er aus und zog leise die Tür hinter sich zu.
Der allmächtige Herrgott ließ nicht mit sich handeln. Hendrik war nicht zurückgekommen. Wie sollte er auch? Eine Überfahrt von den Niederlassungen der Westindienkompanie dauerte viele Wochen, sogar Monate. Was immer seinen Vater vor seinem Tod beschäftigt hatte, mit Hendrik hatte es nichts zu tun gehabt.
Marten fühlte, wie die Anspannung aus seinen Gliedern wich und sich wieder das Gefühl von Verlassenheit in ihm ausbreitete. Die Hoffnung, alles würde gut werden, verschwand, und zurück blieb eine trostlose Leere. Überdeutlich nahm er war, wie überheizt und stickig der Raum war. Der säuerliche Geruch stieß ihn ebenso ab wie die starren und leblosen Möbelstücke, die überall herumstanden. Sein Vater würde niemals mehr an dem mit aufgeschlagenen Büchern bedeckten Sekretär sitzen, nie mehr die abgenutzte Stuhllehne berühren. Für einen Moment wünschte sich Marten in die Schenke zurück, dann straffte er seinen Oberkörper und trat mit weit ausholenden Schritten, als könnte er die verlorene Zeit aufholen, zu der Gruppe, die sich um den Tisch vor dem Fenster versammelt hatte.
Tante Augusta warf ihre beringten Hände in die Luft und rief: »Herr, erbarme Dich! Auf den ersten Blick hielt ich dich für Hendrik. Du hast seine Statur und auch dein Gang ähnelt dem seinen immer mehr.«
Marten zuckte zusammen, versuchte aber, sich nicht anmerken zu lassen, wie erschrocken er war. Es schien, als hätten die Versammelten vor seinem Eintreten über seinen Bruder gesprochen. Sicher hatten sie darüber spekuliert, ob der Verbannte im Testament berücksichtigt worden war. Der Notarius blickte zur Tür, als erwartete er jeden Moment Hendriks Erscheinen, doch dann besann er sich auf seine Aufgabe und deutete auf den einzigen freien Stuhl: »Setzt Euch, junger Mann, setzt Euch zu Eurer Tante. Wir sind fast fertig. Nur Ihr fehltet noch, und für Euch habe ich etwas ganz Besonderes. Es soll Euch heute vor Zeugen ausgehändigt werden.«
Während Marten Platz nahm, wühlte der Notarius in einem Stapel Papier und Tante Augusta erklärte leise: »Er überlässt dir das Haus unter der Bedingung, dass du mir lebenslanges Wohnrecht gewährst. Dazu erhalte ich eine jährliche Rente, Gott vergelt ihm seine Güte. Die Dienstleute erhalten einen Aufschlag zum Lohn, wenn sie sich bereit erklären zu bleiben. Neeltje ...«
Sie unterbrach sich und warf einen Blick zu der jungen Dienstmagd hinüber, deren hübsches Gesicht von Tränen verschmiert war. Tante Augusta seufzte leise, erläuterte jedoch nicht, was ihr Schwager für Neeltjes Zukunft bestimmt hatte. Marten wollte es gar nicht hören. Jeder im Haus wusste, dass die junge Neeltje das Bett seines Vaters geteilt hatte. Ein Umstand, den Marten nur mit Mühe hatte akzeptieren können. Nie konnte er Neeltje ansehen, ohne an das Bild seiner früh verstorbenen Mutter zu denken, das in der Diele hing. Ihm war, als würde sie immer noch über die Vorgänge im Haus wachen. Die Vorstellung, dass seine Mutter schön und bleich aus ihrem Gemälde herabblickte und der so lebendigen rotwangigen Neeltje jeden Tag beim Fegen der Treppe zusah, gefiel ihm nicht. Sein Vater würde für seine hübsche Bettgenossin mit einer ansehnlichen Summe gesorgt haben. Marten beschloss, darüber hinwegzugehen.
Der Notar räusperte sich und zog einen versiegelten Umschlag hervor. Er reichte ihn Marten und flüsterte: »Flucht nicht, sondern haltet sein Andenken in Ehren!«
Der Umschlag war vergilbt und Fingerabdrücke hatten darauf dunkle Flecken hinterlassen. Spuren des Lebens, dachte Marten beklommen, und ihm wurde bewusst, dass der Umschlag die letzte Botschaft seines Vaters enthielt. Die Worte des Notarius weckten die schlimmsten Befürchtungen. Mit klopfendem Herzen erbrach er das Siegel. Das knackende Geräusch klang unnatürlich laut durch die erwartungsvolle Stille. Während Marten das steife, ungefaltete Stück Papier aus dem Umschlag zog, rasten die Gedanken durch seinen Kopf. Hatte sein Vater ihn enterbt? Hatte er alles einer frommen Stiftung zukommen lassen? Worüber sonst sollte er fluchen? Im Gegensatz zum Umschlag war das Papier, das zum Vorschein kam, rein und von guter Qualität. Marten erkannte sofort die vertraute, selbstbewusst nach oben schwingende Schrift seines Vaters. Sie bedeckte die ganze Seite, nahm sie in Anspruch und zwang ihr seinen Willen auf. Marten beugte sich über den Bogen. Es war Deutsch. Sein Vater hatte seine Muttersprache gewählt, die er auch zu Lebzeiten bevorzugt hatte. Marten hatte ihn kaum je holländisch sprechen hören. Er selbst hatte es ganz früh auf der Straße von den anderen Kindern gelernt. Keiner der Anwesenden verstand Deutsch. So konnte Marten entschuldigend aufblicken und murmeln: »Es ist auf Deutsch«, und sich der letzten Botschaft seines Vaters widmen. Er las langsam und sehr bewusst Wort für Wort, dabei war ihm, als könnte er die Stimme seines Vaters hören:
Höre Sohn und rege dich, rege Geist und Füße. Beweise deiner Lieb und Treu gabst du mir zuhauf. Nun an und beweise mir deinen klugen Witz und deinen fröhlichen Verstand. Rühr dich. Der Lohn sei ungeteilt und für ewig dein. Des Dichters Wort leitet dich, mein Wohlwollen begleitet dich. Empfinde keinen Groll, denn es gefiel mir, als letzten Gruß diese Spielerei zu ersinnen, mir zum Gedächtnis und dir zur Probe deines Verstandes. Ich fand zu später Stunde des großen Dichters letzten Rat. Er lautet:
Bitte meine guten Brüder
Auf die Musik und ein Glas
Nichts schickt, dünkt mich, nicht sich bass
Als gut Trunk und gute Lieder.
Lass ich gleich nicht viel zu erben,
Ei, so hab ich guten Wein;
Will mit anderen lustig sein,
Muss ich gleich alleine sterben.
Bedenke Sohn, nur wenn du alle fünf Strophen dieser deutschen Poesie genau studierst, findest du den Ort, wo ich deinen Anteil vergrub. Er ist nicht knapp bemessen, denn guter Trunk und gute Lieder waren nur selten meine Weggenossen. Zähle das achte Wort der ersten Strophe, verbinde es mit seinem Dreifachen, dreie noch fehlen, zähl sie dazu. Nimm das drittletzte Worte der dritten Strophe und es führt dich zu dem Frühlingsgruß aus Floras Füllhorn, welches die erste Strophe nennt. Hier, wo alle Pracht sich bündelt, wo sie gehütet und gezähmt wird, musst du entlanggehen bis zur vierten Strophe. Dort findet sich das Wort, das zu allem leitet. Zähle zurück Tage wie der Monat April hat weniger neun Regentage. Unter der giftigen Schönheit des unliebsamen Wetters wirst du finden, was ich dir auf Erden zurücklasse. Möge Gott deine Wege behüten und Gnade über dir walten lassen, bis wir uns in seinem ewigen Frieden wiedersehen.
Dein dich von ganzem Herzen liebender Vater
Gotthold Wilhelm Olearius
Marten blickte auf und bemerkte, dass ihn alle erwartungsvoll ansahen. Er musste etwas sagen, doch es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. Schließlich räusperte er sich und erklärte: »Vater hat meinen Anteil vergraben und den Ort in einem Rätsel verschlüsselt. Er will mich mit einem Poesierätsel auf die Probe stellen.«
Zu spät fiel ihm auf, dass er von seinem Vater sprach, als wäre er noch am Leben.
Niemand sagte etwas. Der alte Olearius hatte es geschafft, sie zu überraschen. Der Notarius machte ein betroffenes Gesicht, als wüsste er nicht, was in so einem Fall zu tun sei. Endlich flüsterte Tante Augusta in die Stille hinein und sie klang sehr ehrfurchtsvoll: »Ein Poesierätsel ... wie wundervoll! Mein Schwager war so klug und belesen. Ich glaube gar, er hat diese Rätselgattung einst erfunden. Um welchen Poeten handelt es sich? Sicher ein deutscher Dichter. Er hat der deutschen Dichtung immer den Vorzug gegeben.«
»Es ist ein Gedicht von Martin Opitz. Vater hielt viel von Opitz’ Werk, er lobte besonders das ›Buch von der Deutschen Poeterey‹. Er besaß sogar eine Erstausgabe von 1624.«
Marten stand auf und trat zu einem mit Büchern beladenen Regal. Vorsichtig zog er einen schmalen schwarzen Band heraus. Darin würde er alle fünf Strophen des fraglichen Gedichts finden. Doch er glaubte nicht, dass es ihm viel weiterhelfen würde. Poesie war nicht gerade seine Stärke. Während die von ihm mit dem Pinsel aufgetragene Farbe willig auf der Grundierung haftete, schwirrten seine Worte auf einem Papier umher, verließen ihren Platz und verbanden sich zu einer neuen Bedeutung. Einer Bedeutung, die vielschichtig und verwirrend sein konnte. Wie sollte er dieses vertrackte Rätsel lösen? Es schien ihm doppeldeutig und hintersinnig. Ratlos hielt er das Bändchen zwischen den Fingern. Tante Augusta lächelte ihm aufmunternd zu: »Ich weiß, du wirst deinen Vater nicht enttäuschen. Betrachte es als sein Abschiedsgeschenk. Es wird dir ganz sicher Freude bereiten, den geheimnisvollen Ort zu finden.«
Der Notarius nickte und schien ihre Ansicht zu teilen. Nur Neeltje hatte den Kopf schief gelegt und sah Marten nachdenklich an. Sie schien zu ahnen, wie enttäuscht und verwirrt er war. Marten fühlte sich einmal mehr wie ein talentloser Sohn, der zu nichts taugte. Ihm war elend, er hatte einen schmerzhaften Knoten in der Brust und wünschte, er könnte sich jemandem anvertrauen. Doch mit Neeltje würde er ganz bestimmt nicht sprechen. Ausgerechnet! Plötzlich wollte er nichts lieber, als wieder mit Rembrandt in der verqualmten Schenke sitzen. Mit Rembrandt konnte er offen reden, und sein Freund besaß genügend Wortwitz und Fantasie, um ein Poesierätsel zu lösen. Vielleicht würde es ihm sogar Spaß machen. Hatte er nicht angedeutet, dass der Vater bei ihm im Atelier gesessen und etwas ausgeheckt hatte? Entschlossen, noch heute Nacht mit Rembrandt zu sprechen, nahm Marten das Schreiben seines Vaters vom Tisch und steckte es zwischen die Buchseiten.
Er verabschiedete sich höflich und verließ eilig das Haus. Es war deutlich abgekühlt, und der Weg zur Schenke kam ihm sehr lang vor. Das Buch vor die Brust gepresst, hastete er durch die dunklen Gassen. Irgendwann glaubte er Schritte hinter sich zu hören. Wurde er verfolgt? Mit klopfendem Herzen blieb er stehen und lauschte. Hatten die Schritte eben nicht ganz nach seinem Vater geklungen? Das gleiche entschlossene Auftreten, begleitet von den vertrauten gleichmäßigen Atemzügen. Unsinn, schalt er sich verärgert. Überzeugt, nur von seinen eigenen Erinnerungen gejagt zu werden, setzte er seinen Weg noch eiliger fort. Doch das ungute Gefühl, sein Vater würde ihn verfolgen, blieb. Als endlich die Schenke aus der Dunkelheit auftauchte, schien er eine Ewigkeit durch die Nacht gerannt zu sein.
Rembrandt saß noch am selben Platz. Er hatte seinen Zinnbecher auf den Boden direkt neben Martens Hut gestellt. Konzentriert und selbstvergessen beugte er sich mit einem roten Kreidestück in der Hand, das seine Finger färbte, über einen Fetzen Papier. Als Marten vor ihm stand, blickte er auf und fragte verwundert: »Was machst du denn hier? Müsstest du nicht längst auf deinen frisch geerbten Gulden schlummern?«
Marten schnaufte und ließ sich auf einen Hocker fallen. Als er nichts sagte, fuhr Rembrandt fort, einen Schatten hinter ein mit wenigen Strichen angedeutetes Profil zu setzen. Marten erkannte die Gesichtszüge des Wirtes und musste lächeln, weil das schwammige Gesicht mit dem Doppelkinn so gut getroffen war. Er sah noch eine Weile zu, dann zog er das Testament zwischen den Buchseiten hervor. Etwas stockend begann er für Rembrandt zu übersetzen. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie jemand durch die Tür kam und sich zu den Männern am Feuer gesellte, und senkte die Stimme. Rembrandt legte das Kreidestück weg und beugte sich interessiert vor. Als Marten bei den Abschiedsworten seines Vaters angelangt war, lachte Rembrandt leise: »Ach herrje, dieses Schlitzohr! Er wollte es dir nicht zu einfach machen, nicht wahr?«
»Hat er dir gegenüber irgendeine Andeutung gemacht, vielleicht als er dich in den letzten Wochen besucht hat? Er war doch bei dir im Atelier?«, fragte Marten fast flehend und ergänzte kleinlaut: »Mit Poesie kann ich nichts anfangen, und er wusste das!«
Rembrandt lehnte sich zurück und bedeutete dem Wirt, ihnen einen neuen Krug Bier zu bringen.
»Entspann dich, Marten. Hast du nicht den Rat deines Vaters vernommen? ›Ei, so hab ich guten Wein; will mit anderen lustig sein.‹ Wir werden morgen über dieses Testament sprechen. Jetzt ist es schon viel zu spät, um noch verzwickte Rätsel zu lösen.«
»Aber ...«
»Nichts da, du musst dich erst mal von dem Schrecken erholen. Du bist ja bleich wie eine frisch gekalkte Wand, warte, bis du wieder klar denken kannst. Nimm einen kräftigen Schluck, einen Gruß aus Floras Füllhorn.«
Floras Füllhorn, Floras Frühlingsgruß, was sollte das bloß bedeuten?, grübelte Marten. Er überlegte, ob die Göttin des Frühlings für seinen Vater eine besondere Bedeutung gehabt hatte. Hatte er sie vielleicht in einem bestimmten Zusammenhang erwähnt? Der Wirt kam mit einem Krug Bier von der dunklen Sorte, stellte einen Zinnbecher vor Marten ab und schenkte bis zum Rand voll.
»Trink!«, befahl Rembrandt, als der Wirt sich schlurfend entfernte.
Marten beugte seine Nase über den Becher und der würzige Duft benebelte seine Sinne. Floras Frühlingsgruß, die giftige Schönheit des unliebsamen Wetters, dachte er niedergeschlagen und trank viel zu schnell. Er würde alles hinunterspülen, bis eine angenehme Leere im Kopf zurückblieb. Rembrandt hatte recht, morgen konnten sie das verflixte Rätsel immer noch lösen. Nach zwei weiteren Bieren schien es ihm eine lächerliche Kleinigkeit zu sein, sein Erbteil war so gut wie gefunden. Er hörte nicht auf zu trinken, und irgendwann sackte sein Kopf nach vorn.
Marten erwachte erst, als der Morgen schon weit fortgeschritten war. Es musste fast Mittag sein. Er blickte sich erschrocken um. Niemand war zu sehen, leere Zinnbecher lagen herum und im Sonnenlicht tanzte der Staub. Anscheinend hatte es Rembrandt nicht geschafft, ihn zu wecken, und war ohne ihn gegangen. Marten wollte sich nach dem Wirt umsehen, hielt sich jedoch stöhnend den steifen Nacken. Dabei fiel sein Blick auf das schwarze Büchlein. Das Testament seines Vaters war verschwunden! Seine Kehle wurde ganz trocken und sein Herz begann heftig zu klopfen. Doch dann tröstete er sich mit dem Gedanken, dass Rembrandt das Blatt Papier versehentlich zusammen mit seiner Kreidezeichnung eingesteckt haben musste. Oder er hatte es bewusst an sich genommen, damit es nicht in falsche Hände geriet. Sicher würde es eine Erklärung geben.
Marten stand vorsichtig auf und bückte sich nach seinem breitkrempigen Hut. Er legte einen Gulden für den Wirt auf den Tisch, dann griff er nach dem kleinen Buch.
Draußen blendete ihn das helle Sonnenlicht. Marten versuchte das unangenehme Brummen in seinem Kopf zu ignorieren und schlug die Richtung zu den Mühlen ein. Dort unten am Rhein lag Rembrandts Elternhaus, und sein Freund stand in diesem Augenblick mit Sicherheit an der Staffelei. Das Testament würde irgendwo vergessen auf einem Haufen Zeichnungen und Entwürfen liegen, während sich Rembrandt längst einem ganz anderen Problem zugewandt hatte. Einem Rätsel der Malerei, wie dem Farbauftrag oder der Dichte des Bindemittels. Marten schob zuversichtlich das Buch unter den Mantel und machte sich auf, Rembrandt aufzusuchen.
Wenig später öffnete ihm Rembrandts Mutter die Tür und ihr faltiges Gesicht verzog sich zu einem freundlichen Lächeln, als sie Marten erkannte. Sie überließ es ihm, der Spur des Leinölgeruchs zu folgen und Rembrandt in seinem Atelier zu überraschen. Allerdings nicht, ohne ihn vorher mit kaum unterdrücktem Stolz darauf hinzuweisen, dass ihr Sohn schon seit dem frühen Morgengrauen fleißig arbeite. Der verrückte Kerl hat die Nacht kein Auge zugetan, dachte Marten anerkennend und zögerte einen Augenblick, bevor er die eisenbeschlagene Tür einen Spaltbreit öffnete. Horchend stand er da und lauschte, ob vertraute Geräusche zu hören waren. Das Knarren des Bohlenfußbodens deutete darauf hin, dass Rembrandt nicht still mit der Palette dasaß und konzentriert malte. Plötzlich verstummten die Schritte.
Marten zog leise die Tür auf und überraschte Rembrandt dabei, wie der sich gerade auf seinen Stuhl fallen ließ und gähnte. Dabei riss er seinen Mund so weit auf, als wollte er sein ganzes Atelier samt dem schweren Mühlstein zur Bereitung des Pigments verschlucken, der auf einem grob behauenen Baumstumpf ruhte. Er trug einen schlichten grauen Arbeitskittel und hatte weiße Farbspritzer unter dem Kinn. Über dem Tisch neben dem Mühlstein hingen Paletten. Töpfe mit Lösungsmittel standen herum und es häufte sich nachlässig verstreutes Zeichenpapier, auf dem zerbrochene Kreidestücke und abgenutzte Gänsekielfedern lagen.
Rembrandt rieb sich müde seine geröteten Augen und deutete auf einen mit Tuch bespannten Holzrahmen auf der Staffelei, den er offensichtlich gerade präpariert hatte: »Die Grundierung für ein neues Bild mache ich gern vor Sonnenaufgang. Dann beginnt der neue Tag mit einer jungfräulich weißen Fläche, auf der alles Mögliche passieren kann. Aber es ist eine elende Schinderei und ich wünschte, ich wäre ein großer Meister und hätte Schüler, die das für mich erledigten. Zuerst rotes Ockerpigment auftragen, es muss eine leimartige, steife und undurchlässige Konsistenz haben, und ...«
»... und wenn es trocken ist, kommt darüber das Bleiweiß, in das ein Hauch von schwarzen Pigmenten gemischt wird. Rembrandts Spezialgrundierung, dein Geheimrezept, ich weiß«, ergänzte Marten und fügte ungeduldig hinzu: »Vaters Testament mit dem Poesierätsel ist verschwunden. Hast du es gestern Nacht versehentlich an dich genommen?«
»Dein Poesierätsel?«, Rembrandt wirkte plötzlich hellwach. Er sprang so schnell auf, dass fast der Stuhl umkippte, und lief zu dem Tisch in der Ecke, auf dem seine Zeichnungen lagen. Hektisch begann er darin herumzuwühlen.
»Ich habe es zusammen mit der Kreidezeichnung hierhin gelegt, das weiß ich genau. Du solltest es heute zurückbekommen. Ich konnte doch unmöglich ein so wertvolles Dokument neben einem Schlafenden zurücklassen. Verflucht, jetzt weiß ich es wieder! Zum Teufel auch ...«
Rembrandt hielt inne, wandte sich mit leeren Händen zu Marten um und starrte ihn an.
»Was? Was ist los?«, fragte Marten und trat einen Schritt vor. Er unterdrückte den Drang, seinen Freund zu packen und ihn zu schütteln. Rembrandt wich bis zur Tischkante zurück und hob abwehrend die Hände: »Es tut mir wirklich leid! Zur Buße werde ich bis in alle Ewigkeit für dich grundieren, Klettfäden von der Leinwand kratzen und herrliche grüne Pigmente für deine Landschaften zaubern.«
»Red keinen Unsinn! Was ist passiert?«
Rembrandt senkte den Kopf und sein krauses Haar fiel ihm in die Stirn, darunter rümpfte sich abschätzig seine breite Nase: »Vor etwa einer Stunde war so ein vornehmer Wichtigtuer hier. Er wollte unbedingt porträtiert werden. Er nannte seinen Namen nicht, stellte sich stattdessen als wohlhabender Kaufmann aus Amsterdam vor, dessen stolze Handelsschiffe überall in der Welt kreuzen. Einen großzügigen Lohn versprach er mir, doch er bestand darauf, dass ich ihm vorher eine Skizze mache. Er wollte eine Vorstellung haben, wie das fertige Porträt aussehen würde. Nur eine ungefähre Andeutung, keinen richtigen Entwurf. Sein Ansinnen störte mich bei der Arbeit und ich wollte ihn schnell wieder loswerden – da muss ich wohl die Rückseite deines Rätsels erwischt haben. Es hat direkt neben dem Tintenfass gelegen und ich habe nicht darauf geachtet, was es war.«
»Du hast eine Skizze auf die Rückseite von Vaters Testament gemacht? Bist du wahnsinnig? – Ach gib schon her, so groß wird der Schaden nicht sein.« Marten streckte die Hand aus.
»Nein, du verstehst nicht«, sagte Rembrandt und wand sich verlegen, dann stieß er seufzend hervor: »Er hat die Skizze mitgenommen. Er hat sie unter sein Wams geschoben und ist damit fort.«
»Er hat sie mitgenommen?«, flüsterte Marten und hatte das Gefühl, der Boden unter ihm würde schwanken.
»Mir fällt ein, dass er erwähnte, er müsse in einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit nach Stralsund. Es kann dauern, bis er wieder nach Leyden kommt, denn Wallensteins Armee liegt vor der Stadt. Bis die Kampfhandlungen beginnen, ist es nur noch eine Frage der Zeit. Doch er versicherte mir, dass er während der Reise über das Porträt nachsinnen will. Sobald er wieder in Leyden ist, wird er mich wissen lassen, ob ihm mein flüchtiger Entwurf zusagt. Er bringt die Skizze also zurück. Du kannst ganz beruhigt sein!«
»Aber wenn Stralsund erst einmal richtig belagert wird, kann es jederzeit niederbrennen. Vaters Poesierätsel wird dann ein Opfer der Flammen und ist für immer verloren!«
»Beruhig dich, Marten. Kannst du es nicht auswendig?«
»Auswendig? In der kurzen Zeit? Weißt du noch, ob es das siebente Wort der ersten Strophe war oder das sechste? Und wie viele Regentage musste man abziehen? Waren es fünf?«
Rembrandt biss sich verlegen auf die Unterlippe. Am liebsten hätte Marten sonst etwas mit ihm angestellt. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen und seinem Freund nicht ins Gesicht zu schlagen. Sie hatten sich noch nie geprügelt und es würde auch nichts bringen. Aber guttun. Wohin nur mit der überwältigenden Enttäuschung über Rembrandts Nachlässigkeit, die fast an Verrat grenzte? Der Kopfschmerz, den er fast vergessen hatte, wurde wieder heftiger. Marten presste seine Handballen gegen die schmerzenden Schläfen und schloss die Augen. So verharrte er eine Weile, bis er plötzlich wusste, was zu tun war. Mit fester Stimme erklärte er: »Ich muss nach Stralsund und diesen Kaufmann aus Amsterdam suchen. Wenn er in der Stadt Handelsbeziehungen unterhält, wird er dort kein Unbekannter sein. Ich werde ihn finden und die Skizze zurückverlangen. Wie viel hat er dafür bezahlt?«
Rembrandt packte Marten am Arm: »Bist du wahnsinnig? Du willst in eine belagerte Stadt am anderen Ende der Welt? Du kennst dort niemanden, und er wird lange vor dir eintreffen. Er wird ein schnelles Schiff haben.«
»Dann werde ich ebenso schnell sein müssen.«
»Und wie willst du in die Stadt hineinkommen? Bis du eintriffst, werden die Papisten längst einen Ring um Stralsund gezogen haben und alle Zufahrtswege sperren. Selbst den Seeweg werden sie kontrollieren. Einen Calvinisten aus den Vereinigten Niederlanden lassen die bestimmt nicht in die Stadt.«
Marten schüttelte Rembrandts Hand ab. »Ich bin Lutheraner, aber das muss ich denen ja nicht unter die Nase reiben.« Rembrandt wollte etwas einwenden, doch Marten kam ihm zuvor: »Außerdem werde ich mich als Kupferstecher aus Antwerpen ausgeben. Ich kann mein Zeichenbrett mitnehmen und vorgeben, das Kampfgeschehen als neutraler Beobachter für die Ordentliche Wöchentliche Antwerpener Postzeitung festzuhalten.«
»Gibt es die?«
»Weiß der Himmel.«
»Und wenn du erwischt wirst, werden die Antwerpener Kupferstecher dich vors Zunftgericht zerren.«
»Sie werden mich nicht erwischen. Sag, wie viel muss ich dem Kaufmann zahlen, um mein Poesierätsel auszulösen? Hat er überhaupt für die Skizze bezahlt?«
»Nein, natürlich nicht. Es ist abgemacht, dass er sie zurückbringt. Marten, bleib hier und warte auf seine Rückkehr!«
»Warten? Warten, bis Stralsund in Flammen aufgeht? Die Papisten sind nicht zimperlich. Nein, ich werde noch heute abreisen. Wünsch mir Glück, Rembrandt Harmenzoon van Rijn.«
»Gott segne dich, Marten Gottholdzoon.«
Zwei Wochen später hockte in Stralsund eine junge Frau auf einer Treppe. Von oben kam ein gellender Schrei, und ihre Nasenspitze verschwand noch ein bisschen tiefer zwischen den Falten ihrer Schürze. Zitternd presste sie die Hände auf die Ohren und wünschte sich weit weg. Sie würde nicht da hochgehen. Niemals.
Die Gebärende schrie ein zweites Mal. Diesmal klang es fast zornig. Die ehrliche Empörung über eine verlorene Welt lag darin. Sie beklagte den Sündenfall im Paradies. Unter Mühen sollst du Kinder gebären. Das bedeutete blutige Laken und unkontrollierbaren Schmerz. Flora spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog und ihr übel wurde. Das ganze Elend dieses erbärmlichen Erdenlebens schien sich über ihr zusammenzubrauen. Vor ihren Augen erschien ein wütendes Gesicht. Der Pfarrer stand auf der Kanzel der Marienkirche, Augen rund wie Erbsen blickten auf sie herab, und er spuckte angeekelt das Wort Sünde aus.
Sünde, Sünde, Sünde.
Die Frau oben keuchte jetzt gleichmäßig, gleich würde sie wieder schreien. Das war die Strafe für den Sündenfall. Flora dachte an die Predigt am Morgen und an die Sünden der Evastöchter, des Pfarrers liebstes Thema. Mit Schaudern erinnerte sie sich, wie es bei der letzten Niederkunft gewesen war. Sie erinnerte sich an das viele Blut, das die Frau verloren hatte. Alles war mit einer dickflüssig sickernden, tiefroten Substanz bedeckt gewesen.
»Flora?«
Nun war es so weit. Sie musste aufstehen und zu ihrer Mutter hinaufgehen. Sie sollte ihr zur Hand gehen, das erwarteten alle von der Tochter der Hebamme. Der Lehrtochter, die einmal Amt und Würde übernehmen sollte. Ich kann nicht, dachte Flora, ich kann mich nicht bewegen. Sie hielt den Atem an und wartete auf den nächsten Schrei. Doch er kam nicht. Stattdessen rief ihre Mutter verärgert: »Flora Maria Wullenwewer! Wo steckst du denn?«
Wenn ihre Mutter diesen Ton anschlug und sie Flora Maria nannte, dann wurde es ernst. Flora verharrte noch einen Moment reglos. Schließlich stieß sie mit einem ergebenen Seufzen die Luft aus und erhob sich steif. Oben war die Tür geöffnet worden und gab den Blick auf eine Gruppe Frauen frei, die sich besorgt um die Möllerin scharten. Sie war eine kräftige Frau. Mit gespreizten Beinen hockte sie auf dem Gebärstuhl zwischen den Anteil nehmenden Nachbarinnen und keuchte schwer.
Alwine Wullenwewer hatte es offensichtlich aufgegeben, nach ihrer Tochter zu rufen. Die Geburt schien kurz bevorzustehen und ihre Hände waren unter dem Rock der Möllerin verschwunden. Flora blickte verwundert auf den vorgebeugten Rücken ihrer Mutter. Selbst von hinten strahlte die kleine Gestalt Gelassenheit aus. Wie machte sie das nur? Wie konnte sie so ruhig bleiben? Während die Hebamme unter den Stoffbahnen tastete, begann sie mit gefasster Stimme, die das ganze Haus mit Frieden zu erfüllen schien, zu beten: »Gib ihrem Herzen Kraft, o Herr, dass es die Schmerzen der Niederkunft ertrage und dass wir sie als Ausdruck Deiner Gerechtigkeit hinnehmen, die Du wegen der Sünden der ersten Frau an unserem Geschlecht übest.«
Die Möllerin stieß einen wimmernden Laut aus und stöhnte auf. Flora stand auf der Treppe und konnte sich nicht rühren. Ihre Mutter rief: »Es ist so weit! Es will über die Schwelle treten!«
In diesem Moment fuhr ein Luftzug von unten herauf und die Tür fiel mit einem Knarren ins Schloss. Flora zuckte zusammen. Nun war sie aus der Gemeinschaft der Verheirateten und Mütter ausgesperrt. Die Frauen würden ohne sie neben der Wöchnerin beisammensitzen und sich die Wochenbettsuppe schmecken lassen. Sie würden das rotgesichtige Kindlein bewundern, während sie die Nabelschnur im Namen der Dreifaltigkeit in ein leinenes Säckchen einnähten und es zum Schutz des Neugeborenen über die Wiege hängten.
Schutz konnte das Kleine wirklich brauchen, dachte Flora. Vor Stralsund lagerte ein riesiges feindliches Heer. Die kaiserlichen Truppen würden bald einen Ring um die Stadt gebildet haben und damit beginnen, sich zu verschanzen. Die Stadt erwartete den Sturmangriff, und dennoch regte sich in ihren Mauern neues Leben. Ein kräftiger, krähender Schrei erklang hinter der Tür.
Unwillkürlich musste Flora lächeln. Sosehr sie auch die Geburt selbst fürchtete, so liebte sie diesen Moment. Die Schwelle war übertreten, die Lungen füllten sich mit Luft und ein neues Leben begann. Freudiges Stimmengewirr drang durch die Tür.
In diesem Augenblick vermisste niemand die Tochter der Hebamme. Ihre Mutter würde zu beschäftigt sein, um noch einmal nach ihr zu rufen.
Erleichtert begann Flora ihre Schürze zu lösen und warf sie über das Geländer. Eine Dienstmagd würde sie später finden. Vorher würde die Mutter die zurückgelassene Schürze sehen und sich denken, wo Flora steckte. Es war nicht das erste Mal, dass sie bei einer Geburt davonlief. Meistens suchte sie Trost bei den Leckereien des Konditors im Semlower Tor. Die Mutter hatte leider wenig Verständnis für ihre Zuflucht zu den Törtchen.
Während Flora die Treppe hinunterstieg, grübelte sie über ihre Mutter nach. Sie würde nie so angesehen und geachtet sein wie die von allen bewunderte Alwine Wullenwewer. Ihre Mutter war eine vor dem Rat der Stadt vereidigte Hebamme und diesem zu Dienst und Loyalität verpflichtet. Jeder erwartete, dass Flora ihr eines Tages im Amt nachfolgen werde. Deshalb nahmen auch alle an, dass ihre Hochzeit bevorstand, vielleicht noch in diesem Frühjahr.
Flora durchquerte die menschenleere Diele des Möllerschen Hauses und dachte an das Gesetz, das vorschrieb, dass eine vereidigte Hebamme verheiratet zu sein hatte. Eine Witwe war auch akzeptabel, notfalls sogar eine ledige Mutter, eine Jungfrau allerdings nicht. Um Floras ehelosen Zustand zu beenden, wurde jeden Sonntag ein anderes Mitglied der Gemeinde zum Abendessen eingeladen. Meist waren es Chirurgen, denn ihnen waren Behandlungsmethoden erlaubt, die einer Hebamme verboten waren, auf die sie jedoch nicht verzichten konnte. Floras Vater war auch Chirurg gewesen, allerdings keiner, dem die städtischen Ärzte besonders viel Achtung gezollt hatten. Wie sehr hatte sie sich vor dem Blut auf seinem Wams, auf den Schabern und den Messern gefürchtet! Die Erinnerung verfolgte sie bis in ihre Träume.
Gedankenverloren legte sie ihre Finger um den schweren Türgriff. Der Rat der Stadt konnte unmöglich jemanden wie sie zu den Frauen von Stralsund schicken. Sie war nicht wie ihre Mutter. Sie fürchtete sich vor den Kindsnöten und der Weiberlast, wie ihre Mutter es nannte. Der Pfarrer nannte es das von Gott gewollte Los der sündigen Evastöchter. Flora öffnete leise die Haustür des wohlhabenden Bierbrauers Tewes Möller, dessen Frau soeben von ihrer Last entbunden worden war.
Die laue Luft trug eine Ahnung des beginnenden Frühlings mit sich und kitzelte angenehm in der Nase. Der Tag schien wie geschaffen für einen heimlichen Abstecher zum Semlower Tor. Flora zupfte an ihrem Brusttuch und prüfte den Sitz ihres Häubchens. Es ließ den Haarknoten im Nacken unbedeckt und hatte einen winzigen Spitzenrand. Am Sonntag war das Tragen von Spitze verboten. Während der Predigt hatte der Pfarrer missbilligend von der Kanzel zu ihr hinuntergeblickt.
Flora wusste selbst nicht, wieso sie am Morgen das Häubchen mit dem Spitzenrand gewählt hatte. Als sie aus der Kirche traten, hatte die Mutter geschimpft: Dein Trotz und dein unbändiger Eigenwillen werden dich eines Tages noch ins Verderben stürzen. Ehe sie etwas erwidern konnte, war die möllersche Magd an sie herangetreten und hatte sie zur Niederkunft geholt. Kinder kamen zu jeder Stunde und an jedem Tag der Woche. Daran änderte auch ein voller Geldbeutel nichts.
Flora blickte die schmale Gasse hinunter, an der sich ein Giebelhaus an das nächste reihte. Sie würde die Mühlenstraße überqueren und an der hohen Zierfront des Rathauses und der Nikolaikirche vorbei zum Semlower Tor laufen. Hier hatte sich der geschäftstüchtige Konditor in einer Wohnung in der Innenseite des Tores niedergelassen. Er verkaufte die köstlichsten cremeartigen Süßspeisen aus Milch, Zucker, Zimt und Eiern. Der einfallsreiche Mann bereitete Pastetchen mit kandierten Früchten, überzuckerte Esskastanien im Backteig und verkaufte Rügener Bruch. Letzteres war eine Tüte voller Reste aus der Backstube, die selbst für den kleinen Geldbeutel erschwinglich war. Manchmal waren sogar mehrere Marzipanbröckchen darunter! Allein der Gedanke an Marzipan ließ Flora dahinschmelzen. Gezuckerte Süßspeisen waren am Sonntag ebenso sündhaft wie ein winziger Spitzenrand an der Haube. Für Flora war ohne Zweifel Rügener Bruch die schlimmste Versuchung. Vor der Belagerung war kaum eine Woche vergangen, in der sie nicht schwach geworden war. Seit Wallensteins Feldherr von Armin die Stadt bedrohte, gönnte sie sich dieses Vergnügen nur noch selten. Das lag vor allem daran, dass seit Kurzem eine Flotte dänischer Kriegsschiffe vor Anker lag und sich Söldner aus aller Herren Länder in der Stadt herumtrieben. Raue Gesellen waren darunter, denen man besser aus dem Weg ging.
Heute würde Flora eine Ausnahme machen. Wild entschlossen marschierte sie los.
Ein winzig kleines Tütchen würde sie sich gönnen, denn immerhin hatte sie ja auf der Treppe gesessen und alles mit angehört. Sogar einen Blick in die Wochenstube hatte sie geworfen. Das musste genügen. Sie nahm sich vor, ihrer Mutter zu versprechen, in Zukunft die Hebammenkunst ganz aus der Nähe studieren. Sie würde es ihr beim heiligen Evangelium schwören.
Flora seufzte und hoffte, dass noch viele Schiffe durch den schmalen Wasserarm vor dem Dänholm segeln würden, bis sie eine vereidigte Hebamme wäre. Sie würde dann ihre Tage an der Seite eines blutbeschmierten Chirurgen oder schmierigen Baders verbringen müssen. Ein entsetzlicher Gedanke! Sie beschleunigte ihre Schritte und wollte jetzt lieber nicht an die Zukunft denken. Stattdessen stellte sie sich die vielen verschiedenen Geschmacksrichtungen in der Tüte vor. Brocken von Anisgebäck und Stücke von Mandelkuchen, überzogen mit gezuckertem Rosenwasser. Mit einem Spitzenrand am Sonntag hatte sie sich sowieso schon versündigt, jetzt kam es auf den Rügener Bruch auch nicht mehr an. Schwungvoll raffte sie ihren schwarzen Rock und ihr war, als würde der köstliche Duft des Zuckerwerks schon zu ihr herüberwehen.
Doch bevor sie das Semlower Tor erreichte, hielt sie so abrupt inne, dass fast ein sonntäglich gekleideter Kirchgänger in sie hineingelaufen wäre. Ihr war eingefallen, wo sie ihre drei Schilling heute Morgen versteckt hatte. Die Schilling sundisch befanden sich in dem Polster an ihrer Hüfte, das den Stoff ihres Kleides unauffällig nach der neusten Mode bauschte. Niemand trug mehr einen Reifrock, außer vielleicht noch ein paar ältliche Damen, alle anderen behalfen sich mit Polstern, in denen sich wunderbar alles Mögliche verstecken ließ. Allerdings war es schwierig, das Versteckte unauffällig hervorzuholen. Flora konnte unmöglich im Laden des Konditors ihren Rock anheben und nach ihrem Geld tasten.
Prüfend blickte sie sich um und ließ die Augen über das Backsteinmeer gleiten. Die ganze Stadt bestand aus dem roten Stein, in allen Schattierungen und Abtönungen. Es gab kaum einen grünen Baum oder Busch, hinter dem sie sich verbergen konnte. Für Gärten war kein Platz, doch besaßen die größeren Giebelhäuser einen Hof, in dem Zierbüsche Schatten spendeten. Ihre Augen blieben an einem Torbogen hängen, hinter dem eine achteckige Laube sichtbar wurde. Kunstvoll gestutzte Kegel in großen Töpfen bildeten einen Halbkreis um eine kleine Bank. Lange eiserne Streben trugen ein moosbewachsenes Dach.
Als sie sich vorsichtig näherte, meinte sie Musik aus einer der oberen Etagen herunterwehen zu hören. Irgendwo stand wohl ein Fenster offen. Die zarten Klänge eines Tasteninstruments wurden von verhaltenem Lachen begleitet. Anscheinend hatte sich eine kleine Gesellschaft um ein Virginal versammelt. Ausgelassenes Gemurmel und hier und da eine helle Stimme mischten sich in die Melodie. Niemand war zu sehen und Flora konnte nicht widerstehen. Sie musste einfach durch den Torbogen treten.
Erstaunt blickte sie sich um. Der verwunschene Ort schien für Heimlichkeiten wie geschaffen. Hier nutzte niemand den Sonntag, um in aller Stille das heilige Evangelium zu studieren, wie es sich für die Anhänger Luthers ziemte. Die Melodie wurde ausgelassener, wechselte das Tempo, und da war wieder dieses helle Lachen. Was für eine Dreistigkeit, am Sonntag so frei heraus zu lachen, dachte Flora halb empört, halb belustigt. Sie blickte sich noch einmal um, schlüpfte in die Laube und stand vor einer zierlichen Bank, auf der höchstens zwei Liebende Platz hatten, und das auch nur, wenn sie eng beieinandersaßen. Zuerst zögerte sie, schließlich überwand sie sich, stellte ihren Fuß auf die Sitzfläche und schlug den Rock hoch. Es war nur ein Handgriff nötig, um die Schillinge aus der eingenähten Tasche unter dem Polster zu nesteln. Gerade wollte sie hineingreifen, als trappelnde Füße eine Treppe herunterkamen und Schritte den Hof füllten. Das fröhliche Lachen, die übermütigen Rufe und die ausgelassenen Stimmen schienen ein Wild vor sich herzutreiben. Das Virginalspiel hatte aufgehört. Für einen Moment war Flora zu erschrocken, um sich zu rühren, dann warf sie die Stoffbahnen über ihr Bein, nahm hastig den Fuß von der Bank und wandte sich um.
Sie war nicht mehr allein. Am Eingang der Laube, zwischen den grünen Kegeln, stand ein Mann. Seine Augen waren mit einem cremefarbenen Seidentuch verbunden. Hilfe suchend breitete er die Arme aus und tastete sich unsicher vor. Er war vornehm gekleidet und hatte am Morgen ebenfalls nicht mit Spitze gegeizt. Das elegante Zierwerk quoll aus seinen Ärmeln hervor, umspielte seinen Kragen und schmückte den Bund der Kniehose. Selbst das Tuch um seine Augen hatte einen Spitzenrand, der dem an Floras Häubchen ein wenig ähnelte. Die Enden der Augenbinde wippten bei jedem Schritt über seinem Ohr und ein erwartungsvolles Lächeln lag auf seinem Gesicht.
»Gleich hab ich dich! Ich weiß, dass du da bist.«
Flora erstarrte bei seinen Worten. Sie fühlte sich wie ein Kaninchen in der Falle. Er kam immer näher, seine breite Gestalt verschluckte das Tageslicht und wurde zu einem Schatten, der die ganze Laube zu füllen schien. Hinter ihm entfernten sich die rufenden Stimmen. Erst jetzt begriff Flora, dass es Kinderstimmen waren. Sie spielten ein Kinderspiel, vielleicht Blinde Kuh, Hasch mich oder Fangt den Schelm.
Sie wollte erklären, dass er im Irrtum war, sie nicht mitspielte und seine Mitspieler sich gerade am anderen Ende des Hofes befanden. Konnte er sie nicht rufen hören? Anscheinend nicht.
Nun stand er direkt vor ihr und sie brachte immer noch keinen Ton heraus. Er streckte die Finger aus, berührte tastend ihren Hals, strich an ihrem Kinn entlang und fragte unsicher: »Mijn lieveling?« Sie überlegte noch, mit welchem norddeutschen Küstendialekt die zärtliche Geste einherging, da hatte er sich auch schon die Augenbinde fortgerissen und starrte sie verblüfft an.
Trotzig starrte sie zurück und sagte kein Wort.
Er hatte ein interessantes Gesicht, scharfkantig und gebräunt, wie das eines Seeräubers. Die Falten saßen an der richtigen Stelle, das blonde Haar umrahmte das Gesicht in zerzausten langen Strähnen, und die Augen hatten etwas Geheimnisvolles. Wie dunkle Gräben, dachte Flora beklommen. Plötzlich verzog sich der schmale Mund über dem kleinen Bart zu einem spitzbübischen Lächeln, ein boshaftes Vergnügen blitzte über die Seeräuberzüge, und dann zog er sie an sich und küsste sie. Einfach so, ganz selbstverständlich und besitzergreifend.
Floras Lippen waren völlig unvorbereitet, machtlos und überrumpelt. Ihre Empfindungen schlingerten steuerlos hin und her. In ihrem Kopf brach ein gewaltiger Wirbelsturm los, der über die Klippen ihrer Gedanken hinwegbrauste. Die Stimme des Pfarrers auf der Kanzel vermischte sich mit dem Schrei des Neugeborenen und wirbelte davon. Irgendwo tief in Floras Innerem wuchs etwas, zerschellte wieder, bäumte sich auf, flehte und jubilierte. Als es immer stärker wurde und sie meinte, den Verstand zu verlieren, sagte eine empörte Stimme: »Onkel Lucas, du bist ein Spielverderber!«
Er ließ sie so unvermutet los, dass sie zurücktaumelte und sich, nach Atem ringend, an der Marmorbank abstützen musste. Zwischen den grünen Kegeln standen drei Kinder und blickten sie vorwurfsvoll an. Der Seeräuber mit den feurigen dunklen Augen verwandelte sich vor Flora in Onkel Lucas, der beim Mogeln ertappt worden war. Er zog die Augenbinde mehrmals verlegen zwischen seinen Fingern hindurch, machte ein betont unschuldiges Gesicht und fragte Flora: »Oh, mein schönes Fräulein, Ihr spielt doch mit, oder etwa nicht?«
»Sicher«, sagte sie und konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen, als sie sich an die Kinder wandte und ergänzte: »Euer Onkel hat mich gefangen.«
Die Kinder wirkten ein bisschen enttäuscht. Der kleine Junge am meisten. Er war vielleicht sieben Jahre alt und hatte die Fäuste geballt. Neben ihm standen zwei herausgeputzte Mädchen, das jüngere war höchstens fünf, das große bestimmt älter als zwölf. Bald würde sie zu alt für ausgelassene Kinderspiele sein. Heute jedoch waren ihre Wangen gerötet und ihre Haube war vom wilden Spiel verrutscht. Beide Mädchen trugen kastanienbraune Kleider, die etwas in Unordnung geraten waren, und so blitzten blassgelbe Unterröcke unter dem Saum hervor. Das kleine Mädchen wich Floras Blick aus und sah verlegen zu Boden. Die Ältere wollte etwas sagen, doch der Junge kam ihr zuvor und erklärte ernst: »Dann ist sie jetzt dran. Verbindet ihr die Augen!«
Gerade als Onkel Lucas seiner Aufforderung nachkommen wollte und einen Schritt auf Flora zutrat, ging über ihnen ein Fenster auf und eine ungeduldige Männerstimme rief in den Hof hinunter: »Herr Stadtrat, der dänische Gesandte wird jeden Moment eintreffen.«
Der Junge hatte sich umgedreht, nun wandte er sich wieder seinem Onkel zu, stampfte mit dem Fuß auf und quengelte: »Aber du hast versprochen, mit uns zu spielen.«
»Später, erst einmal muss ich mit den Dänen verhandeln. Wir wollen doch wissen, wie viele Geschütze sie uns mitgebracht haben und was sie als Gegenleistung verlangen.«
»Geschütze? Sie haben Geschütze dabei? Werden sie die Katholischen damit verjagen?«, fragte der Junge gespannt. Seine Augen waren vor Aufregung weit aufgerissen. Das Spiel interessierte ihn nicht mehr.
»Ich denke, es werden mindestens zehn Geschütze sein und dazu noch anderes Kriegsmaterial«, erwiderte sein Onkel nachdenklich, auch er schien das Spiel völlig vergessen zu haben. Achtlos warf er das Seidentuch auf die Bank und strich seinem Neffen zum Abschied über den Kopf, dann verschwand er.
Flora blickte ihm verwundert nach. Der Seeräuber war Stadtrat und verhandelte mit dem dänischen Gesandten. Wer hätte das gedacht! Das ältere der beiden Mädchen schien ihre Gedanken erraten zu haben, denn sie erklärte stolz: »Der Herr Lucas Wurffrath ist ein überaus geschätztes Mitglied des Stadtrats. Und dabei ist er noch nicht einmal dreißig Jahre alt und bereits seit zwei Jahren Witwer. Gleich nach Tante Dorotheas Tod wurde er in den Rat gewählt. Er ist unglaublich weit gereist und spricht fast alle nordischen Sprachen fließend. Deshalb gehört er auch zum engsten Kreis des Bürgermeisters Steinwich.«
»Erst gestern ist er von einer weiten Reise zurückgekommen. Onkel Lucas’ Schiffe flitzen mit geblähten Segeln über das Wasser, und er reitet wie der Blitz, schneller als der Postreiter«, ergänzte der Junge. Flora sah vor sich, wie der Mann mit den dunklen Augen am Bug eines Schiffes stand. Der Wind zerrte an seinen Haaren und seine Kleider flatterten. Sie zwinkerte und das Bild wurde von einem dahinstürmenden Reiter abgelöst, der sich wild entschlossen im Sattel vorbeugte. Eine eisige Stimme holte Flora zurück in die Wirklichkeit.
»Und wo habt Ihr seine Bekanntschaft gemacht?« Das große Mädchen sah sie herausfordernd an.
»Oh, ich ...« Flora überlegte fieberhaft, was sie darauf antworten sollte. Natürlich hatte sie schon von der Familie Wurffrath gehört, doch sie gehörte nicht zu den Kreisen, mit denen diese verkehrte.
Dem kleinen Jungen wurde es offensichtlich zu langweilig, denn er nahm die Augenbinde an sich, stieg damit auf die Bank und erklärte sehr bestimmt: »Wen interessiert das? Sei keine Spielverderberin, Liselotte. Sie ist dran mit Suchen.«
Erleichtert, der Antwort enthoben zu sein, stellte sich Flora folgsam vor den Jungen hin, der sie anwies: »Du musst dich drei Mal im Kreis drehen, damit wir Zeit haben wegzulaufen.«
Flora schloss die Augen und spürte, wie das feine Seidentuch um ihren Kopf geschlungen und über ihrem Haarknoten ungeschickt verknüpft wurde. Ein paar Haare gerieten hinein und es ziepte. Plötzlich glitt eine kleine Hand vertrauensvoll in ihre und eine helle Mädchenstimme flüsterte leise: »Tante Dorothea sah genauso aus wie du. Nur deshalb lässt er dich mitspielen.«
Flora fühlte, wie eine Gänsehaut ihren Rücken hinunterlief. Hatte er sie geküsst, weil sie ihn an seine verstorbene Frau erinnerte? Das würde sein Verhalten zumindest erklären. Wie hatte Tante Dorothea ausgesehen? War sie hübsch gewesen? Hatte er sie sehr geliebt? Und hatte er sie genauso leidenschaftlich geküsst? Ehe Flora weiter darüber nachdenken konnte, führte die kleine Hand sie aus der Laube hinaus. Es wurde heller unter der Augenbinde und die Sonne kitzelte sie im Nacken.
»Dreh dich!«, kicherten die Kinder. Fußgetrappel und raschelnde Röcke entfernten sich.
Flora stand unschlüssig da. Eigentlich sollte sie vernünftig sein. Eine brave Tochter würde sich die Augenbinde abnehmen und nach Hause eilen. Die Sonne schien schon hoch zu stehen, und sicher wartete die Mutter. Sie wollte ihr bestimmt alles über die Niederkunft im Möllerschen Haus erzählen und Flora musste sich Notizen in ihr kleines Büchlein machen: Lage des Kindes, Dauer der Wehen, Aussehen der Nachgeburt.
»Pulvertonnen im Rücken ...«, ergänzte eine besorgt klingende Stimme von oben.
»Infanterieangriff auf die St.-Jürgen-Schanze ... Scheinmanöver auf das Knieperwerk ... schweres Geschützfeuer vom Mühlenberg«, fielen andere Stimmen ein, die genau aus jenem Fenster zu kommen schienen, aus dem zuvor das Virginalspiel zu Flora heruntergeweht war. Dort standen die wichtigsten Männer der Stadt und sprachen über den bevorstehenden Angriff. Flora überlegte, ob sie die Augenbinde abnehmen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Vielleicht blickte der Stadtrat mit den Seeräuberaugen gerade aus dem Fenster und beobachtete sie. Flora fühlte erneut einen Schauer durch ihren Körper rieseln, breitete ihre Arme aus und drehte sich schwungvoll um sich selbst. Ihr weiter Rock flog ihr um die Beine. Von oben würde sie wie eine flatternde Blüte aussehen. Eine Blume mit einem spitzenbesetzten Häubchen in der Mitte. Flora drehte sich noch ein bisschen schneller. Staub wurde vom Boden aufgewirbelt, und plötzlich begann ihre Nase heftig zu kribbeln. Das unangenehme Gefühl brachte sie wieder zu sich. Sie stoppte mitten in der Drehung und rieb sich die Nasenspitze. Ihr schwindelte. Das Niesen kam in vielen kleinen Stößen, die wie kleine Explosionen die Luft zerrissen. Ihre Augen begannen zu tränen und die Augenbinde verrutschte. Die Welt hörte auf, sich zu drehen, und kam zum Stillstand. Flora blinzelte ins Sonnenlicht. Der Zauber des Spiels war verflogen. Was blieb, war ein Gefühl von Verlassenheit und ein seltsames Rauschen in den Ohren. Infanterieangriff und schweres Geschützfeuer, säuselte es in ihrem Kopf. Was treibe ich hier eigentlich, dachte sie verwundert. Hastig warf sie die Augenbinde zu Boden und stürmte aus dem Innenhof.
Als Flora dem Stadtrat zum ersten Mal begegnete, war Marten nur noch wenige Tage vom Ziel seiner Reise entfernt. Wenn er günstigeren Wind oder sein Schiff einen fähigeren Steuermann gehabt hätte oder das geliehene Pferd auf dem Weg nach Amsterdam nicht gelahmt hätte, hätten die Dinge vielleicht einen anderen Verlauf genommen. Während er nun auf dem Deck des Schiffes stand und zum Horizont blickte, malte er sich seine Begegnung mit dem Amsterdamer Kaufmann aus. Er war fest davon überzeugt, dass sein Anliegen erfolgreich sein würde, bevor es zum Kampf um die Stadt kam. Wenn Wallensteins Feldherr zum Sturm blies, wäre er mit Rembrandts Skizze längst wieder auf dem Weg in die Vereinigten Niederlande.
An jenem späten Vormittag lief Flora durch Stralsunds sonntäglich stille Straßen und dachte nicht an die Gefahr, die von Wallensteins Armee ausging, die gut gerüstet und mit ausreichend Proviant aus dem Hinterland vor der Stadt lagerte. Sie konnte in diesem Moment an nichts anderes denken als an den Kuss des Stadtrats. Es war kein Abschiedskuss und kein Gutenachtkuss gewesen, sondern ein richtiger Kuss. Ein Kuss, wie ihn nur ein verheirateter Mann seiner Ehefrau geben durfte. Wenn überhaupt, überlegte sie und war sich plötzlich nicht sicher, ob so ein Kuss unter anständigen Lutheranern erlaubt war.
Sie bog um eine Ecke und die Marienkirche tauchte zwischen den Häusern auf. Sofort mäßigte sie ihr Tempo und blickte schuldbewusst zur Turmspitze hinauf. Sie musste daran denken, was der Pfarrer am Morgen gepredigt hatte. Er hatte wieder einmal über die Sünde der Evastöchter gesprochen. Sicher war der Kuss des Mannes, der sie in der Laube überrascht hatte, noch viel sündhafter gewesen als ein Spitzenrand am Sonntag oder eine Nascherei vom Semlower Tor. Die süße Leckerei war längst vergessen. Was war schon Rügener Bruch gegen die feurigen Augen eines geheimnisvollen Unbekannten? Nun, unbekannt war er ja nicht mehr. Er war Lucas Wurffrath, ein weltgewandter Stadtrat, der viele Sprachen sprach, Bürgermeister Steinwich beriet und ausgelassen mit seinen Nichten und Neffen im Hof spielte. Außerdem konnte er reiten wie der Wind und küssen wie kein anderer Mann auf der Welt. Sie hatte zwar keinen Vergleich, trotzdem war sie sich ganz sicher. Ihr schwindelte jetzt noch bei der Erinnerung an seine Lippen. Sie waren so hungrig gewesen und hatten Gefühle geweckt, von denen sie nicht geahnt hatte, dass sie überhaupt existierten. Mächtige Gefühle, die ihr jetzt noch den Atem nahmen. Flora musste sich an eine Hauswand lehnen und tief Luft holen, dabei dachte sie an seinen Gesichtsausdruck, kurz bevor er sie geküsst hatte. Dieses boshafte Vergnügen und dieses Seeräuberlächeln! Flora hob den Kopf und blickte träumend in die blassgelben Wolken, die sich abwartend um die Kirchturmspitze zusammenballten.
Eine Stimme ließ sie zusammenfahren.
»Flora, was tust du hier? Soeben ist ein Vertreter des Rats aus eurem Haus gekommen. Das bedeutet sicher nichts Gutes für deine arme Mutter! Spute dich, Kind.«
Flora blickte sich erschrocken um. Eine Nachbarin stand hinter ihr und musterte sie streng von Kopf bis Fuß. Sie trug ein schwarzes Sonntagskleid und eine schlichte Haube. Sie schien nicht erfreut über Floras Anblick und nuschelte: »Steht rum und vertrödelt den lieben langen Tag. Und trägt einen Spitzenrand am Sonntag, der Herr sei uns gnädig ...«
Ehe Flora fragen konnte, was der Vertreter der Stadt von ihrer Mutter gewollt hatte, setzte die Nachbarin ihren Weg fort. Dabei schüttelte sie unablässig den Kopf. Flora blickte ihr nach und überlegte, was der Mann von ihrer Mutter gewollt haben könnte. Wenn jemand vom Rat am Sonntag kam, dann musste es sich um eine wichtige Angelegenheit handeln, die keinen Aufschub duldete. Hatte Alwine Wullenwewer sich etwas zuschulden kommen lassen? Machten ihr vielleicht trauernde Eltern den Tod eines Kindes zum Vorwurf? Gott behüte, dann war ihre Mutter ernsthaft in Gefahr.
Flora gab sich einen Ruck und löste sich von der Hauswand. Während sie die schmale Gasse hinter der Marienkirche hinunterging, grübelte sie weiter. Sie dachte daran, dass manchmal die Eltern eines Kindes wegen Missbildungen oder auch nur eines zarten schwarzen Flaumes auf der Brust die Hebamme vor Gericht brachten. Schlimmstenfalls kam es zu einer Anklage wegen bösen Zaubers und eine unschuldige Hebamme brannte als Hexe. War etwa das Kind der Möllerschen gestorben? Wie konnte das sein? Der Schrei hatte so sehr nach Leben geklungen, und eigentlich täuschte sich Flora darin nie. Sie wünschte, sie wäre nicht weggelaufen. Wenn ihre Mutter in Schwierigkeiten steckte, dann sollte sie an ihrer Seite sein.