Die Politik des Kinderkriegens - Susanne Schultz - kostenlos E-Book

Die Politik des Kinderkriegens E-Book

Susanne Schultz

0,0
0,00 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zu viel Bevölkerung oder zu wenig? Wer soll Kinder bekommen und wer vom Gebären abgehalten werden? Kinderkriegen ist eingebunden in mächtige Regierungsstrategien, die auf Körper und Bevölkerungen abzielen. Das malthusianische Denken geht noch weiter, indem es fast alle Krisen unserer Zeit zu Bevölkerungsproblemen umdeutet. Der Status quo von sozialer Ungleichheit, Rassismus und globaler Zerstörung bleibt dabei allerdings unberührt. Susanne Schultz seziert das demografische Denken und versammelt Analysen deutscher Kinderwunsch-, Familien- und Migrationspolitik. Dabei hinterfragt sie auch eine »demografisierte« Klimadebatte und kritisiert repressive globale Verhütungsprogramme.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 320

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die freie Verfügbarkeit der E-Book-Ausgabe dieser Publikation wurde ermöglicht durch den Fachinformationsdienst Politikwissenschaft POLLUX

und die Open Library Community Politik 2022 – einem Netzwerk wissenschaftlicher Bibliotheken zur Förderung von Open Access in den Sozial- und Geisteswissenschaften:

Vollsponsoren: Freie Universität Berlin – Universitätsbibliothek | Staatsbibliothek zu Berlin | Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin | Universitätsbibliothek Bielefeld | Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum | Universitäts- und Landesbibliothek Bonn | Staats- und Universitätsbibliothek Bremen | Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt | Sächsische Landesbibliothek Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) | Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf | Universitätsbibliothek Frankfurt am Main | Justus-Liebig-Universität Gießen | Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen | Universitätsbibliothek der FernUniversität in Hagen | Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Hamburg | Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek - Niedersächsische Landesbibliothek | Technische Informationsbibliothek (TIB Hannover) | Universitätsbibliothek Kassel | Universitätsbibliothek Kiel (CAU) | Universitätsbibliothek Koblenz · Landau | Universitäts- und Stadtbibliothek Köln | Universitätsbibliothek Leipzig | Universitätsbibliothek Marburg | Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München | Max Planck Digital Library (MPDL) | Universität der Bundeswehr München | Universitäts- und Landesbibliothek Münster | Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg |Bibliotheks- und Informationssystem der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg | Universitätsbibliothek Osnabrück | Universitätsbibliothek Passau | Universitätsbibliothek Vechta | Universitätsbibliothek Wuppertal | Vorarlberger Landesbibliothek | Universität Wien Bibliotheks- und Archivwesen | Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern | Universitätsbibliothek St. Gallen | Zentralbibliothek Zürich

Sponsoring Light: Bundesministerium der Verteidigung | ifa (Institut für Auslandsbeziehungen), Bibliothek | Landesbibliothek Oldenburg | Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg, Hochschulbibliothek | ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Hochschulbibliothek

Mikrosponsoring: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) - Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit | Leibniz-Institut für Europäische Geschichte

Susanne Schultz (Dr. habil.), geb. 1964, forscht als Soziologin zu Macht- und Herrschaftsverhältnissen rund um Reproduktion, Humangenetik und Bevölkerungspolitik. Sie ist Privatdozentin an der Goethe-Universität Frankfurt/M., lehrte Politikwissenschaft, Soziologie und Gender Studies in Berlin, Wien und Graz, ist Beirätin des Gen-ethischen Netzwerks e.V., Mitglied des Herausgeber*innenkollektives Kitchen Politics sowie in antirassistischen feministischen Netzwerken in Berlin aktiv.

Susanne Schultz

Die Politik des Kinderkriegens

Zur Kritik demografischer Regierungsstrategien

Unter Mitarbeit von Daniel Bendix und Anthea Kyere

Für Lee und Ivan

Mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld© Susanne Schultz

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: Kinder (Susanne Schultz, 1968)

Schlussredaktion: Nadia Al Kureischi und Judith Höppner

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-6161-3

PDF-ISBN 978-3-8394-6161-7

EPUB-ISBN 978-3-7328-6161-3

https://doi.org/10.14361/9783839461617

Buchreihen-ISSN: 2702-9050

Buchreihen-eISSN: 2702-9069

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

 

Prolog

ITheorien, Methoden, Konzepte. Eine Einführung

Die malthusianische MatrixVon Konjunkturen der Demografisierung und dis/reproduktiven TechnologienVon Susanne Schultz

II Deutsche Demografiestrategien. Über un/erwünschte Geburten und Bevölkerungen

Nation und KinderwunschDemografisches Wissen, Familienpolitik und stratifizierte ReproduktionVon Susanne Schultz

Humanvermögen und ZeitpolitikZur Kritik familienpolitischer Konzepte in DeutschlandVon Anthea Kyere und Susanne Schultz

Migrationspolitik als Bevölkerungssteuerung?Die ›migrantische Geburtenrate‹, ›qualifizierte Zuwanderung‹ und die zukünftige NationVon Susanne Schultz

III Klimakrise, Bevölkerungspolitik und Big Pharma. Vom Ansetzen an globalen Geburtenraten

Weniger Klimakrise durch weniger Menschen?Technokratische, rechte und feministische Bezüge auf neomalthusianische KurzschlüsseVon Susanne Schultz

Antinatalismus und Big PharmaLangzeitverhütung und das Rollback internationaler EntwicklungspolitikVon Daniel Bendix und Susanne Schultz

Epilog

Autor*innenverzeichnis

 

 

 

 

Für Lee und Ivan

Prolog

Zu viel Bevölkerung oder zu wenig? Wer soll Kinder bekommen und wer vom Gebären abgehalten werden? Welche Kinder sollen geboren werden und welche lieber nicht? Solche Fragen stehen im Zentrum einer Politik des Kinderkriegens, die mich seit vielen Jahren umtreibt, aufregt und dazu bewegt, zu forschen und mich einzumischen. Weiter treibt das Gespenst der ›Bevölkerung‹ sein Unwesen, wirkt ein malthusianisches Denken, nach dem so gut wie alle Krisen unserer Zeit zu Bevölkerungskrisen umgedeutet werden können. Die Zahl der Menschen und die hierarchische Auf- und Abwertung je nach sozialer Gruppe steht mehr oder weniger explizit immer wieder im Zentrum des Politischen. Und diese Projektion sozialer und ökologischer Krisen auf ›Bevölkerungsprobleme‹ ermöglicht es, den Status quo von sozialer Ungleichheit, Rassismus und globaler Zerstörung unberührt zu lassen. Vielfältige Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind mit der Politik des Kinderkriegens verbunden, die gleichermaßen auf Körper wie auf Bevölkerungen abzielen. Sie involvieren statistische Wissensregime, die gesellschaftliche Verhältnisse als demografische Verhältnisse interpretieren. Und sie sind mit vielfältigen Technologien verknüpft, die das Gebären fördern oder verhindern sollen. All dies ist eine Herausforderung für geschlechtertheoretische Perspektiven, denn: Dimensionen der Heteronormativität, des Ableismus, der Klassenhierarchien und bioökonomischen Interessen, des Rassismus und Nationalismus greifen hier ineinander.

In diesem Band habe ich Forschungsarbeiten zusammengetragen, die sich mit etlichen der genannten Aspekte befassen und in verschiedenen Kontexten und Kooperationen entstanden sind. Manche der Texte beruhen auf bereits bestehenden Arbeiten, die für diesen Band überarbeitet und aktualisiert worden sind; andere werden hier zum ersten Mal veröffentlicht. Die Texte stehen auch für sich, können also auch einzeln gelesen werden – ein Grund dafür, dass manches auch mehrmals im Band erklärt wird und es gegenseitige Verweise auf die Texte gibt.

Das Buch beginnt in Teil I mit einer ausführlichen theoretischen Einführung. Hier erläutere ich meine theoretischen, methodologischen und konzeptuellen Zugänge zur Politik des Kinderkriegens und biete auch einen Überblick über die Perspektiven, die ich in den weiteren Texten des Bandes einnehme. So erkläre ich die Konzepte der malthusianischen Matrix und der Demografisierung, diskutiere Stärken und Schwächen von Michel Foucaults Begriff der Biopolitik und begründe, warum ich über dieses Konzept hinaus auf intersektionale, dekoloniale und nekropolitische Analysen zurückgreife. Weiterhin schlage ich eine ›bifokale‹ staatstheoretische Methodologie vor, um den demografischen Macht-Wissenskomplex sezieren und die Konjunkturen der Demografisierung analysieren zu können. Und ich führe ein, wie ich mich dis/reproduktiven Technologien, also Technologien zur Verwirklichung von Kinderwünschen ebenso wie zur Geburtenkontrolle annähere. Dieser theoretisch einleitende Text ist eine bearbeitete Version des Rahmenpapiers für meine Habilitation in Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Dass ich so intensiv über viele Jahre zur Politik des Kinderkriegens forschen konnte, verdanke ich der kontinuierlichen Unterstützung durch Thomas Lemke, Renate Uhrig und auch allen anderen Mitarbeiter*innen am dortigen Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft. Ohne diesen wissenschaftlichen, organisatorischen und freundschaftlichen Support, ohne allen Austausch und die durchweg respektvolle und bestärkende Arbeitsatmosphäre wären diese Forschungsarbeiten nicht möglich gewesen.

Der Teil II des Bandes, »Deutsche Demografiestrategien. Über un/erwünschte Geburten und Bevölkerungen«, versammelt drei Texte, die sich mit Wissens- und Technologiepolitiken rund um Bevölkerung, Familie, Kinderkriegen und Migration in Deutschland seit den 1990er Jahren befassen. Sie basieren überwiegend auf Forschungsarbeiten im Rahmen meines DFG-Forschungsprojekts »Demografisierung des Politischen? Eine intersektionale Analyse deutscher Familien- und Migrationspolitik seit Mitte der 1990er Jahre«. Mein Dank für die Arbeit an diesem umfangreichen Projekt gilt neben der DFG und dem Frankfurter Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft ganz besonders Anthea Kyere, Alexander Lingk und Tiziana Ratcheva, die diese Arbeit als wissenschaftliche Hilfskräfte wunderbar unterstützt und vorangebracht haben.

Der Text »Nation und Kinderwunsch« führt in queer-feministische intersektionale Zugänge zu Reproduktionsverhältnissen ein und befasst sich mit hierarchischen Dimensionen von Familien- und Kinderwunschpolitik in Deutschland. Im ersten Hauptkapitel des Textes gehe ich auf die bis heute wirksamen Reformen einer ›nachhaltigen Familienpolitik‹ insbesondere in den 2000er Jahren ein. Die Problematisierung einer niedrigen nationalen Geburtenrate führte dazu, dass eine geburtenfördernde Politik etabliert wurde, die allerdings von klassenselektiven und rassistischen Ausschlüssen geprägt ist. Verschiedene politische Kräfte haben in diesem Kontext gemeinsam ein national orientiertes demografisches Projekt bestärkt. Im zweiten Hauptkapitel befasse ich mich daran anschließend mit den Angebotsdynamiken in der deutschen Reproduktionsmedizin und ihren demografiepolitischen Einbettungen. Ich erläutere die selektiven behindertendiskriminierenden Dimensionen humangenetischer Diagnostik. Und ich stelle im Zusammenhang mit Eizellabgabe und Leihgebären neue politische Dimensionen des Kinderkriegens zur Diskussion: von reproduktiver Ausbeutung über fremdnützige Biomedizin bis zu neuen Dimensionen einer Genetisierung von Verwandtschaft. Insbesondere dieses Kapitel zu Kinderwunschpolitik wäre nicht möglich gewesen ohne vielfältige Vorarbeiten und Diskussionen in drei Gruppenkontexten: Ganz herzlich möchte ich mich bedanken für den redaktionellen und politischen Austausch im Herausgeber*innenkollektiv Kitchen Politics, für die kontinuierliche Kooperation mit dem Gen-ethischen Netzwerk Berlin und für gemeinsame Diskussion und Aktivismus in der Initiative fem*ini. Feministische Initiative gegen reproduktive Ausbeutung.

Im Text »Humanvermögen und Zeitpolitik« befassen Anthea Kyere und ich uns gemeinsam mit der Frage, welche Rolle ›Humanvermögen‹ und ›Zeitpolitik‹ als spezifische familienpolitische Konzepte in den Demografiestrategien der Bundesregierungen spielen. Mit dem Konzept des Humanvermögens wurde einerseits familiäre Sozialisationsarbeit politisch sichtbar gemacht, andererseits aber auch hierarchisch bewertet. Und mit ›Zeitpolitik‹ wurden Problematiken unbezahlter und bezahlter Arbeit auf eine spezifische Weise politisch so bearbeitet, dass Fragen sozialer Ungleichheit eher ausgeblendet wurden. Wir stellen zur Diskussion, inwiefern diese Konzepte dazu beigetragen haben, klassenhierarchische und rassistische Bewertungen von Elternschaft und Kinderkriegen einzuführen und zu bestärken. Und wir zeigen, wie sich die ›bevölkerungsorientierte‹ Familienpolitik vor allem auf die Bedürfnisse bessersituierter und ›qualifizierter‹ Elternpaare aus den deutschen Mittelschichten ausrichtete. Danke, Anthea, für die inspirierende und kontinuierliche Zusammenarbeit!

Im Text »Migrationspolitik als Bevölkerungssteuerung?« untersuche ich, welche demografischen Berechnungen unterschiedliche politische Kräfte in Deutschland herangezogen haben, um sich mit der Bedeutung von Zuwanderung für eine als national verstandene Zukunft zu befassen. Besonders intensiv wurde dies – in extrem rechten bis utilitaristisch neoliberalen Versionen – im Kontext des ›Sommers der Migration‹ 2015 diskutiert. Der Text befasst sich zum einen damit, wie die demografische Wissensproduktion mit rassistischen Rechenspielen zu einer segregiert erfassten ›migrantischen Geburtenrate‹ jonglierte; unterschiedliche Herangehensweisen liefen hier auf ähnliche anti-immigratorische Schlussfolgerungen hinaus. Weiterhin geht es darum, wie die quantitative demografische Logik (nämlich, dass das ›alternde‹ und ›schrumpfende‹ Deutschland eine offene, liberale Einwanderungspolitik gebrauchen könnte) in den demografischen Expertisen und strategischen Ausrichtungen zu Zuwanderungspolitik immer wieder durch den ›qualitativen‹ Fokus auf die Mobilisierung und Anwerbung nur von ›Fachkräften‹ zurückgedrängt wurde. Danken möchte ich hier besonders der Redaktion von movements, der Zeitschrift für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, und Kathrin Braun für die Diskussion früherer Texte zu dieser Thematik.

Der Teil III dieses Bandes, »Klimakrise, Bevölkerungspolitik und Big Pharma. Vom Ansetzen an globalen Geburtenraten«, widmet sich in zwei Texten den Narrativen und transnationalen Programmen zur Reduktion von Geburtenraten insbesondere im Globalen Süden. Im Text »Weniger Klimakrise durch weniger Menschen?« befasse ich mich mit dem gefährlichen malthusianischen Reflex in der Klimadebatte, also mit der Idee, durch Geburtenkontrolle könne etwas gegen die Klimakrise getan werden. Der Text zeigt zunächst, dass sich dieser Reflex in sehr unterschiedlichen politischen Milieus beobachten lässt: von einem technokratischen Mainstream über rechte nationalistische Positionen bis zu feministischen und klimaaktivistischen Aufrufen zum Gebärstreik. In einem weiteren Kapitel rekonstruiere ich systematisch drei Dimensionen dieser malthusianischen Argumentation. Ich zeige, inwiefern sich die genannten Positionen dazu unterscheiden, aber auch, dass sich diese Dimensionen letztendlich nicht trennen lassen, sich überkreuzen und zusammenwirken. Besonders möchte ich mich bei Martin Rapp bedanken, der immer einen klaren Kopf dazu behält, welche Bewegungsstrategien gegen die Klimakrise heute wirklich wichtig sind. Ebenso bedanke ich mich bei allen Klimaaktivist*innen, die sich für radikal andere sozialökologische Verhältnisse und für Klimagerechtigkeit weltweit einsetzen und sich nicht von Ablenkungsmanövern irritieren lassen.

Im zweiten Text, »Antinatalismus und Big Pharma«, analysieren Daniel Bendix und ich die aktuellen Entwicklungen in der internationalen Politik der Familienplanung und der Verhütungsmittelvermarktung. Wir zeigen, dass in den globalen Bevölkerungsprogrammen derzeit ein platter Ökonomismus unter dem Stichwort ›demografische Dividende‹ wiederbelebt wird. Die Entwicklungspolitik kehrt auf dieser Grundlage zu isolierten Familienplanungsprogrammen zurück und verbreitet massiv Langzeitverhütungsmittel wie Hormonimplantate und injektionen. Wir zeigen, dass hier auch die Interessen von Big Pharma an der Eroberung globaler Märkte im Rahmen von Public Private Partnerships eine wichtige Rolle spielen und diese Entwicklungen vorantreiben. Danke, Daniel, für spannende gemeinsame Recherchen und Zusammenarbeit zu diesen Themen! Ein Dank geht auch an die Zeitschrift Peripherie für kontinuierliche kritische Arbeit zu ›Entwicklungspolitik‹ und die Unterstützung einer älteren Veröffentlichung zum Thema, sowie an die Coordination gegen Bayergefahren für die Kooperation bei kritischen Aktionär*innen-Aktionen. Ganz besonders möchte ich auch allen danken, mit denen wir kontinuierlich antirassistische gegenhegemoniale feministische Positionen zu internationaler Bevölkerungspolitik weiterentwickelt haben, insbesondere Anne Hendrixson, Rajani Bhatia und Kalpana Wilson.

Das Buch endet mit einem Epilog, in dem ich zusammenfassend wichtige Ergebnisse diskutiere. Zudem befasst sich der Epilog mit Fragen des Widerstandes und der weiteren Vernetzung, auch in Zeiten von Pandemie und neuen Kriegen. Für die Politik des Kinderkriegens ist das Konzept der reproductive justice, wie es von Schwarzen US-Feminist*innen seit den 1990er Jahren eingefordert und verbreitet wird, eine wichtige Referenz. Denn es schafft einen Rahmen für Analysen und Bündnisse, innerhalb derer rund um Schwangerschaftsabbruch, Kinderkriegen und Elternschaft strukturelle Macht- und Gewaltverhältnisse sichtbar gemacht werden können. Mit dem Bezug auf reproduktive Gerechtigkeit lässt sich auch verstehen, wie es für viele Menschen unmöglich gemacht wird, Kinder unter guten sozialen Bedingungen frei von Gewalt aufziehen zu können. Es gibt viele Formen, wie die Mutter- bzw. Elternschaft bestimmter sozialer Gruppen diskriminiert, abgewertet oder gar unmöglich gemacht wird. Danke an alle Aktivist*innen im kleinen Berliner Netzwerk reproduktive Gerechtigkeit, in dem wir versuchen, dieses Konzept auf deutsche Verhältnisse anzuwenden. Und ein ganz herzliches Danke auch an die Freund*innen aus der Casita und Respect Berlin dafür, dass Ihr Eure Analysen und Erfahrungen im harten Alltag des Lebens ohne Papiere mit mir teilt. Schließlich möchte ich mich auch bei dem großartigen Programm Mecila (Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America) bedanken. Mecila hat mir durch eine Fellowship 2021 ermöglicht, mich mit brasilianischen Feminist*innen darüber auszutauschen, wie sie sich auf justiça reprodutiva beziehen; auch ihnen Danke für die Gesprächsbereitschaft in diesen schwierigen Zeiten.

All diese umfangreichen Forschungen, Kooperationen und Schreibarbeiten, alle Gruppentreffen und politischen Aktivitäten, die zu diesem Buch geführt haben, wären aber sowieso nicht möglich gewesen ohne die nächsten geliebten Menschen um mich herum. Danke für allen alltäglichen Austausch, für jede Art von Support, Liebe, Spiel und Spaß, und auch für alles Verständnis für das tägliche Auf und Ab: Danke an Lee, Martin und Majd, an meine Wahlverwandtschafts-WG Merle, Philip und Ivan, an Encarnación als meine mobile Offenbach/Berlin-WG, an meine Freundinnen Helle, Kera und Sabine, an meine Schwester Ulrike und an die wunderbare Metrogap-Etage in der Lause!

Susanne Schultz

I Theorien, Methoden, Konzepte. Eine Einführung

Die malthusianische MatrixVon Konjunkturen der Demografisierung und dis/reproduktiven Technologien

Von Susanne Schultz

›Wie hoch sollte die deutsche Geburtenrate sein, und inwiefern kann Familienpolitik hier intervenieren?‹ ›Welche Reproduktionstechnologien braucht es, um den staatlichen Auftrag umzusetzen, Kinderwünsche zu verwirklichen?‹ ›Welche sozialen Gruppen sind besonders relevant, um das nationale Humanvermögen zu optimieren?‹ ›Inwiefern beeinflusst Zuwanderung langfristig die nationale Bevölkerungsstruktur?‹ ›Wie können Hormonimplantate im Globalen Süden besser verbreitet werden, um die Klimakrise einzudämmen?‹1

Diese hier absichtlich im hegemonialen Duktus formulierten Fragen sind in ihren Begrifflichkeiten, Problemstellungen und Ausrichtungen höchst voraussetzungsvoll und aus einer Perspektive sozialer Gerechtigkeit höchst problematisch. Gleichzeitig sind sie hochaktuell und brisant und könnten auch einfacher formuliert werden: Welche Kinder sollten von wem und wo geboren werden und welche besser nicht? Und wie wird mit den zukünftig (nicht) geborenen Menschen heute Politik gemacht? Die Fragen verweisen auf verschiedene Dimensionen in der Gesellschaftlichkeit des Kinderkriegens, die trotz all ihrer Brisanz weiterhin ein wenig gesellschaftskritisch bearbeitetes und durchdrungenes Themenfeld sind. Karl Marx überließ die Frage des Kinderkriegens »getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter« (Marx 1983: 598; vgl. Cooper 2015; Federici 2018); der feministische Materialismus subsumierte sie lange unter die Grundfrage der sozialen Reproduktion bzw. Reproduktionsarbeit (vgl. Kontos 2018); Queertheorien brachten die Kritik an Institutionen der Heteronormativität lange Zeit vorrangig mit Blick auf Sexualitätspolitik voran (vgl. Engel 2008; Deutscher 2012; Laufenberg 2014). Die Frage, wie Menschen in die Welt kommen und welche Macht- und Herrschaftsverhältnisse hier eine Rolle spielen, blieb eher ein Nischenthema für spezifische Forschungsfelder: etwa für eine feministische Geschichte der Medikalisierung (vgl. Duden 1991; Oudshoorn 1996; Samerski 2002; Franklin/Lock 2003) oder für vereinzelte feministische Arbeiten, die das Konzept der Biopolitik insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Werk von Michel Foucault in Richtung dieser Fragen bearbeiteten, zuspitzten und erweiterten (vgl. Ginsburg/Rapp 1990; Schneider 2000; Braun 2000; Lettow 2015a; Deutscher 2017). Die gesellschaftstheoretische Marginalität des Kinderkriegens ermöglichte es auch, dass eine weitgehend quantitativ-statistische Demografie, weitgehend frei von jeglicher Gesellschaftstheorie, das Thema mit Forschungen zu Fertilität, reproduktivem Verhalten und Bevölkerung international und in den letzten Jahrzehnten auch wieder zunehmend in Deutschland ohne viel Gegenwind besetzen konnte (vgl. Greenhalgh 1996; Hummel 2000; Schultz 2006; Heimerl/Hofmann 2016; Heitzmann 2017; McCann 2017; Murphy 2017). Ermöglicht wurde dies auch dadurch, dass die akademische gesellschaftstheoretische Forschung in Deutschland (aber auch lange im angloamerikanischen Raum) kaum die komplexen Auseinandersetzungen zu Bevölkerungspolitik wahrnahm und aufgriff, die insbesondere von antirassistischen, antieugenischen und antiimperialistischen feministischen Bewegungen und deren organischen Intellektuellen bereits an vielen Orten seit Langem vorangetrieben worden waren. In den USA entstand vor dem Hintergrund einer langen Geschichte der Kritik antinatalistischer Politik gegenüber der Schwarzen und Nativen Bevölkerung der sozial- und rassismuskritische Ansatz der reproductive justice (vgl. Davis 1982: 182f; Spillers 1987; Roberts 1997; 2015; Silliman/King 1999; Silliman/Bhattacharjee 2002; Gumbs u.a. 2016; Roberts 2015; Ross 2021). In Deutschland arbeiteten Bewegungen und ihnen nahestehende Intellektuelle rassehygienische und nationalsozialistische Kontinuitäten auf (vgl. Bock 1986; Bradish u.a. 1989; Pinn/Nebelung 1989; Degener/Köbsell 1992; Heim/Schaz 1996; Waldschmidt 2003; Achtelik 2015), und vielfältige Kämpfe im Globalen Süden setzten sich mit repressiven antinatalistischen Entwicklungsprogrammen auseinander (vgl. Mass 1976; Nair 1989; Ávila 1993; Hartmann 1995; Akhter 1996; Rao 2002; Schultz 2006; Wilson 2012, 2017; Bhatia u.a. 2020). Diese Bewegungen erarbeiteten vielfältige Forschungen und Theorieansätze zum Zusammenhang von Geschlechterverhältnissen, Rassismus, globalem Kapitalismus und Neokolonialismus, lange bevor die Konzepte der Biopolitik und Intersektionalität die Universitäten erreicht hatten.2

Nach und nach entwickelten sich allerdings neue Felder des Forschungsinteresses zum Kinderkriegen: Eine praxeologisch angelegte Forschung beansprucht, die materiellen Dimensionen und sozialen Diskurse des Kinderkriegens zusammenhängend zu beforschen (z.B. Heimerl/Hofmann 2016; Sänger 2020). Sowohl in queer-feministischen als auch kulturanthropologischen Forschungen gibt es ein zunehmendes Interesse an Fragen der reproduktionsmedizinischen Technologieentwicklung sowie an der Veränderung von Verwandtschaftsverhältnissen bzw. an alternativen Formen, Verwandtschaft zu denken (z.B. Butler 2002; Fonseca 2006; Mamo 2007; Freeman 2008; Klotz/Knecht 2010; Mamo/Alston-Stepnitz 2015). Meistens liegt der Ausgangspunkt hier in der Analyse von Heteronormativität, Familienformationen und Geschlechterverhältnissen bzw. in der Analyse, wie sich diese Dimensionen gesellschaftlicher Verhältnisse verändern und neujustieren. Inwiefern aber Politiken des Kinderkriegens als Grundfrage globaler kapitalistischer Vergesellschaftung theoretisiert werden können und insbesondere Klassenverhältnisse, Rassismus und Kolonialität nicht nur als zusätzliche Achsen der Theoretisierung eine Rolle spielen, damit befassen sich immer noch nur wenige sozialwissenschaftliche und gesellschaftstheoretische Arbeiten.3

In meinen Forschungsarbeiten, theoretischen Erkundungen und politischen Diskussionskontexten habe ich mich diesem großen gesellschaftstheoretischen Projekt der Analyse einer Bio- und Nekropolitik des Kinderkriegens von zwei Perspektiven her angenähert: Zum einen sind die Regierungsstrategien und Wissensformationen, kurz die Rationalitäten, ein Ausgangspunkt; zum anderen untersuche ich die Einbettung dis/reproduktiver Technologien in gesellschaftliche Machtverhältnisse. Mit den Begriffen der dis/reproduktiven Technologien fasse ich Sterilisations, Verhütungs, und Abtreibungsmethoden, assistierende Reproduktionsmedizin sowie pränatale und humangenetische Diagnostik zur ›Qualität‹ des Embryos oder Fötus zusammen und integriere damit geburtenverhindernde, geburtenfördernde und selektive technologische Dimensionen. Die übergreifende Fragestellung ist, in welche gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse die aktuelle Politik des Kinderkriegens eingebunden ist und wie sich Rassismus, Nationform, Klassenverhältnisse, Geschlechterhierarchien sowie Gesundheitsnormen hier verschränken. Konkrete empirische Forschungsfelder sind aktuelle Dimensionen von globaler und nationaler Bevölkerungspolitik, demografische Wissensproduktion, Familienpolitik und Migrationspolitik in Deutschland sowie die Analyse gesellschaftlicher Implikationen assistierender Reproduktionsmedizin (insbesondere Eizelltransfer und Leihgebären), Präimplantations- und Pränataldiagnostik sowie Verhütungstechnologien.

Schon die schwierige Frage, welche Begrifflichkeiten adäquat sind, verweist auf die gesellschaftstheoretische Vernachlässigung der Thematik: Ich verwende den umgangssprachlichen Begriff des Kinderkriegens oder auch alternativ den Begriff der Generativitätsverhältnisse, um die üblichen Begriffe ›Fortpflanzung‹ oder ›biologische Reproduktion‹ zu vermeiden.4 Denn der Begriff der Fortpflanzung impliziert die Idee einer biologischen generationellen Kontinuität. Und mit der Vorstellung einer biologischen Reproduktion wird eine Abgrenzung zu Fragen der sozialen Reproduktion vorgenommen, wodurch die sozialen Verhältnisse und Praktiken der Sexualität, Verhütung, Abtreibung, Schwangerschaft und Geburt ausgeblendet bzw. biologisiert werden (vgl. Lettow 2015a; Heimerl/Hofmann 2016; Kontos 2018). Den Begriff der Reproduktion verwende ich dennoch erstens nominalistisch, wenn ich damit die Politiken beschreibe, die sich selbst auf eine nationale oder generationelle Reproduktion der Bevölkerung beziehen und auf einer entsprechenden Wissensproduktion basieren, oder zweitens, wenn ich mich auf ihn als kritischen Begriff beziehe u.a. auch im Rahmen theoretischer Ansätze zur ›stratifizierten Reproduktion‹.5 Damit knüpfe ich an die Arbeit von Shellee Colen an, die die globale Hierarchisierung von Kinderbetreuung und Kindererziehung in ihrer Forschung zu (post)kolonialen Arbeits- und Familienverhältnissen karibischer Hausangestellter in den USA herausarbeitete, sowie an die Arbeiten von Rayna Rapp und Fayne Ginsburg, die dieses Konzept auf die Frage des Kinderkriegens erweiterten (Colen 1990; Ginsburg/Rapp 1995). Sie riefen damit zu einer sozialwissenschaftlichen Forschung auf, die nach den globalen und lokalen Verhältnissen fragt, innerhalb derer manche soziale Gruppen gefördert und andere davon abgehalten werden, Kinder zu bekommen, Kinder zu betreuen und/oder Kinder zu erziehen (ebd.: 3).

Mein Forschungsprogramm, das ich in diesem Buch präsentiere, lässt sich als Rekonstruktion einer malthusianischen Matrix in der aktuellen Politik des Kinderkriegens zusammenfassen.6 Grundthese ist, dass sich die klassenselektiven und rassistischen Dimensionen von Bevölkerungspolitik mit individualisierenden und vergeschlechtlichenden Dimensionen von Körper- sowie Verhaltenspolitik asymmetrisch verschränken – und dass die Analyse demografischer Rationalitäten und deren weiterhin malthusianische Anordnung dafür erhellend sind, wie dies geschieht. Mit diesem Zugang ist es möglich, die Fragestellung einer stratifizierten Reproduktion als gesellschafts, staats- und wissenschaftstheoretische Herausforderung und Grundfrage zu bearbeiten. Ausgehend von der Analyse bio- und nekropolitischer Staatlichkeit ist ein Analyserahmen entstanden, mit dem Dynamiken der Demografisierung des Politischen ebenso zu untersuchen sind wie die Herrschafts- und Machtverhältnisse, in die dis/reproduktive Technologien eingebettet sind. Dieser Zugang ermöglicht es, über eine kategorisierende Untersuchung der gesellschaftlichen Platzanweisung von (potenziellen) Eltern qua Geschlecht, Klasse oder rassistischer Zuschreibung hinauszugehen, wie es einer etablierten akademischen Intersektionalitätsforschung zum Vorwurf gemacht werden kann (vgl. Lorey 2008; Erel u.a. 2011). Zudem erlaubt es dieses Forschungsprogramm, die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kinderkriegens nicht nur jenseits einer technologisch-medizinischen, sondern auch jenseits einer mikrosoziologischen Einhegung zu analysieren. Ziel ist es, die Thematik weder familiensoziologisch auf ein individuelles oder paarförmiges ›reproduktives Verhalten‹ zu reduzieren (vgl. Dackweiler 2006; Heitzmann 2017; McCann 2017) noch den Fokus nur auf eine Mikropolitik der Geschlechter zu legen. Vielmehr verstehen meine Arbeiten das Kinderkriegen und die historischen Formationen der Familie selbst als in staatlicher Bio- und Nekropolitik gleichzeitig reproduziert und verändert, und sie beforschen die paradoxen Dynamiken einer gleichzeitigen Politisierung und Privatisierung (vgl. Kontos 1998; Donzelot 1980). Mit einer Perspektive auf staatliche Bevölkerungspolitik können nationale ebenso wie rassifizierende Ein- und Ausschlüsse von Bevölkerungsgruppen als zentrale Dimensionen der Generativitätsverhältnisse deutlich werden. Über die in der Familie organisierten generationellen Kontinuitäten werden Genealogien der Abstammung hergestellt und staatsbürgerliche Zugehörigkeit ebenso wie die Reproduktion von Klassenverhältnissen organisiert (vgl. Bourdieu 1986). Schließlich ist es aus dieser Perspektive möglich, Verhältnisse der stratifizierten Reproduktion im Zusammenhang mit anderen Feldern der Bio- und Nekropolitik (in meinen Forschungen insbesondere Migrationspolitik und Gesundheitspolitik) zu untersuchen. Intersektionale staatstheoretische Ansätze können so weiterentwickelt werden, die eine gesellschafts, staats- und machtkritische Perspektive einnehmen (vgl. Sauer 2012).

Dieses Forschungsprogramm bedarf folgender theoretischer Zuspitzungen und methodologischer Vorgehensweisen: Es ist sinnvoll, vom Konzept der Biopolitik der Bevölkerung bei Michel Foucault analytisch auszugehen, es aber mit Rekurs auf neomarxistische, geschlechtertheoretische und rassismuskritische sowie dekoloniale Theorieperspektiven kritisch zu reflektieren, zu überarbeiten und zu erweitern. Insbesondere Generativitätsverhältnisse sind mit Foucault kaum angemessen zu theoretisieren, ebenso wie die Frage der Nationform sowie die rassistische, koloniale und malthusianische Genealogie des Konzeptes der Bevölkerung eher Leerstellen in seinen Arbeiten sind. Eine darauf aufbauende Strategie ist es, theoretisch-methodologische Zugänge zu Staatlichkeit weiterzuentwickeln, indem ich auf der Grundlage feministisch und rassismuskritisch erweiterter neomarxistischer Ansätze ein doppeltes Vorgehen wähle: Dieses zielt darauf ab, einerseits hegemoniale politische Konjunkturen zu rekonstruieren, andererseits die Umkämpftheit und Dynamik von Hegemoniebildungsprozessen zu erfassen. Dabei berücksichtige ich die strategische Selektivität des Staates, mit der die Reproduktion von Grundstrukturen und die Formbestimmtheit von Staatlichkeit im Rahmen kapitalistischer Vergesellschaftung rekonstruiert werden kann. Hegemoniebildungsprozesse verstehe ich auf der Grundlage neogramscianischer Ansätze und wiederum mit Rekurs auf Foucault weitreichender mit Bezug auf politische Rationalitäten, und ich lege einen Schwerpunkt auf die Frage der Wissensproduktion sowie die Herausbildung programmatischer Subjektivitäten.

Im Folgenden gehe ich zunächst auf meinen Zugang zur Biopolitik der Bevölkerung mit Michel Foucault und über Foucault hinaus ein. Ich begründe, in welcher Hinsicht ich Foucaults Konzeptualisierung weiter für analytisch sinnvoll und hilfreich halte, und zeige, welche Leerstellen und offenen Fragen dieses Konzeptes der Biopolitik ich kritisch reflektiere und weiterbearbeite. Auf dieser Grundlage führe ich in das Konzept einer malthusianischen Matrix ein und erläutere, inwiefern ich auch von einer nekropolitischen Dimension der Politik des Kinderkriegens spreche. Schließlich setze ich mich kritisch mit anderen Konzepten von Biopolitik auseinander. Im nächsten Kapitel folgen Forschungsergebnisse und theoretisch-methodologische Zugänge zu bio- bzw. nekropolitischer Staatlichkeit. Ich stelle vor, inwiefern ich mich auf feministisch und antirassistisch erweiterte neomarxistische Zugänge zu Grundstrukturen, Formbestimmtheit, aber auch Umkämpftheit von Staatlichkeit beziehe. Ich erläutere, wie ich diese Zugänge mit der Analyse von Rationalitäten als Frage des Macht-Wissen-Nexus und von Dimensionen der Subjektivierung kombiniere, diskutiere die hegemonietheoretischen Grenzen der Gouvernementalitätsstudien und erkläre, wie ich mit einem methodologisch ›bifokalen‹ staatstheoretischen Ansatz arbeite. In den darauffolgenden beiden Kapiteln führe ich in die Texte in diesem Band ein – unter zwei Perspektiven: In einem Kapitel führe ich in das Konzept der Demografisierung ein und zeige, wie ich verschiedene Konjunkturen der Demografisierung in Familien, Migrations, Klima- und Entwicklungspolitik jeweils in diesem Band bearbeite. In einem weiteren Kapitel gehe ich auf die Analyse dis/reproduktiver Technologien ein – als übergeordnetes Konzept für geburtenverhindernde, geburtenfördernde und selektive Technologien. Ich zeige hier auch, wie ich Fragen der Subjektivierung und der bioökonomischen Einbettung der Politik des Kinderkriegens in den Texten in diesem Band jeweils bearbeite.

Mit Foucaults Biopolitik und über sie hinaus: die malthusianische Matrix und das hierarchische Konzept der Bevölkerung

Das Konzept einer Biopolitik der Bevölkerung, wie es Michel Foucault präsentiert hat, bleibt ein wichtiger Ausgangspunkt, um Fragen globaler stratifizierter Reproduktion und transnationaler ebenso wie nationaler Bevölkerungspolitik zu untersuchen (Foucault 1983, 2001, 2003). Denn es ermöglicht, ›Leben‹ als einen historisch spezifischen Begriff gesellschaftstheoretisch zu reflektieren und zu historisieren. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, um die Entstehung/Produktion menschlichen Lebens als Frage historisch spezifischer sozialer und materieller Praktiken und Bedeutungszuschreibungen zu begreifen – und enthistorisierende Perspektiven eines alten oder auch neuen Vitalismus zu vermeiden (vgl. Lettow 2014). Foucaults Zugang ermöglicht eine über die Rekonstruktion sprachlicher Bedeutungen hinausgehende materialistische Perspektive, insofern er Dispositive als Assemblage sozialer, sprachlicher, materieller und technologischer Praktiken fasst, die im Sinne von ›Strategien ohne Strategen‹ trotz aller Komplexität in eine Richtung zusammenwirken (Foucault 1978: 119f; 132).

Foucaults Konzept der Biopolitik ist in mehrfacher Hinsicht als Scharnierbegriff zu verstehen und ermöglicht es, folgende Verhältnisse zusammenzudenken, ohne sie funktionalistisch oder deterministisch aufeinander zu reduzieren: Zentral ist das Verhältnis zwischen den Polen einer Biopolitik, von denen einer sich auf die Disziplinierung des individuellen Verhaltens und der individuellen Körper bezieht und der andere auf die Durchschnittsphänomene bzw. die Masse der Bevölkerung (Foucault 1983: 173; 2001: 297). Dieses Verhältnis zwischen zwei Polen ist der Ansatzpunkt, um die asymmetrische Verschränkung von Klassenverhältnissen, Rassismus und Geschlechterhierarchien in moderner Biopolitik zu verstehen und – wie ich weiter unten ausführen werde – die malthusianische Matrix zu rekonstruieren. Zudem ermöglicht es das Konzept der Biopolitik, das historisch nicht zu trennende Verhältnis zwischen einer entstehenden staatlichen Verwaltung von Bevölkerungen einerseits und ihrer kapitalistischen Verwertung (sei es als Arbeitskräfte oder bezüglich der bioökonomischen Inwertsetzung von Körpern, Körperteilen und Körperstoffen) andererseits zu reflektieren, wiederum ohne die eine auf die andere Dimension funktionalistisch zurückzuführen (vgl. Foucault 1983: 168). Neomarxistisch gesprochen ermöglicht es Foucaults Ansatz insofern, in Bezug auf die Politik des Kinderkriegens die relative Autonomie des Staates (oder von Verstaatlichung) zu reflektieren.

Schließlich knüpfe ich an Foucaults Analyse des modernen Rassismus an, halte sie allerdings, wie ich noch ausführen werde, nicht für ausreichend. Die Konzeption des Rassismus als tötender bzw. ausschließender Einschnitt in die Bevölkerung, der mit der Verbesserung »des Lebens im allgemeinen« begründet wird und damit den Ausschluss oder das Töten unter den Bedingungen des Liberalismus ermöglicht und etabliert, ist für das Verständnis demografischer Rationalitäten äußerst hilfreich (Foucault 2001: 302; vgl. Foucault 2003). Die neomalthusianische Argumentation, dass das menschliche Überleben nur unter den Bedingungen gelingen kann, dass bestimmte Menschen durch Sterilisations- und Verhütungsprogramme vom Kinderkriegen ausgeschlossen werden, entspricht dieser Figur und macht es möglich, die Mechanismen rassistischer Ausschlüsse in globaler Bevölkerungspolitik auch dann zu verdeutlichen, wenn vorrangig ökonomische oder ökologische Kriterien ins Spiel gebracht werden (vgl. Murphy 2017).7

Trotz der genannten Vorteile von Foucaults Konzeptualisierung von Biopolitik gibt es vier Dimensionen der Politiken des Kinderkriegens, für die es notwendig ist, über Foucaults Zugänge hinauszugehen bzw. sie kritisch zu reflektieren: Erstens ist die Frage des Kinderkriegens und der stratifizierten Reproduktion in Foucaults Konzeption der Biopolitik untertheoretisiert und marginalisiert. Anschließend an die feministische Kritik an dieser Leerstelle argumentiere ich, dass nicht der Sex im Allgemeinen, sondern Schwangerschaft und Geburt, dis/reproduktive Technologien sowie prokreativer Sex als entscheidendes Scharnier zwischen den biopolitischen Polen des individuellen Körpers/Verhaltens einerseits und der Bevölkerung andererseits ins Zentrum der Analyse gehören (vgl. Deutscher 2012). Damit rückt nicht nur das Regieren über das malthusianische Paar, über die »Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens« weitaus mehr ins Zentrum des Geschehens, als es bei Foucault der Fall ist, sondern auch die von ihm kaum bearbeitete Frage der heteronormativen Geschlechterordnung, in die die Politik des Kinderkriegens eingebettet ist (Foucault 1983: 127; vgl. Quinby/Diamond 1988; Engel 2002: 55f; Deutscher 2017). Auf der Grundlage dieser Konzeptualisierung des biopolitischen Scharniers schlage ich vor, von der Kontinuität einer malthusianischen Matrix in der aktuellen Politik des Kinderkriegens zu sprechen und diese zu rekonstruieren. Die malthusianische Matrix zeichnet sich durch ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Klassenhierarchien, Rassismus und Geschlechterverhältnissen aus: Die familialisierte und vergeschlechtlichte Biopolitik, die sich auf die ›reproduktiven Körper‹ bzw. das ›reproduktive Verhalten‹ des biologisch heteronormativ gefassten Paares bzw. der individuellen Frauen richtet, steht in einem systematischen, aber nicht gegenseitig aufeinander reduzierbaren Zusammenhang mit einer Biopolitik der Bevölkerung, innerhalb derer Bevölkerungsgruppen nach Klassenhierarchien, rassifizierenden Zuschreibungen und/oder Gesundheitsnormen auf- und abgewertet werden (vgl. Lettow 2015a).

Hier schließt sich die zweite notwendige kritische Verschiebung weg von Foucaults Konzeption von Bevölkerung an. Sie betrifft die Geschichte des Kolonialismus, der Rassenhygiene und der malthusianischen Hierarchisierungen, die die Genealogie von ›Bevölkerung‹ prägen und weiter in Bevölkerungswissenschaft und politik eingeschrieben sind. Sowohl die kolonialrassistischen als auch die klassenhierarchischen Vorstellungen von Malthus prägen in ihrer »internen Hierarchisierung der Vorstellung von Bevölkerung« die Geschichte der politischen Ökonomie bis heute (Tellmann 2013: 137); und sie sind auch für eine aktuelle Rekonstruktion demografischer Rationalitäten aufschlussreich (vgl. McCann 2017).8 In Malthus’ Bevölkerungsgesetz ist angelegt, eine quantitative, scheinbar hierarchiefreie Wissensproduktion, die sich auf Bevölkerungszahlen in ihrem abstrakt quantitativen Verhältnis zu Ressourcen richtet, mit solchen ›qualitativen‹, also ein- und ausschließenden sowie hierarchisierenden Mechanismen systematisch zu kombinieren (vgl. Malthus 1998). Für die Konzeptualisierung einer malthusianischen Matrix ist dieses Verhältnis zwischen quantitativer Abstraktion und qualitativer Zuschreibung – neben der asymmetrischen Artikulation der biopolitischen Pole – ein weiteres wichtiges Moment. Dabei ist es ein zentrales Charakteristikum der malthusianischen Matrix, dass dieses Verhältnis opak bzw. unsichtbar bleiben kann. Die quantitativen Rationalitäten in ökonomischen oder ökologischen Krisennarrativen, die ein abstraktes Zuviel oder Zuwenig an Bevölkerung konstruieren, schlagen in klassenhierarchisierende und rassistische Zuschreibungen um, wenn es darum geht, dieses Zuviel oder Zuwenig bestimmten Bevölkerungsgruppen zuzuschreiben und auf dieser Grundlage bio- bzw. nekropolitische Strategien zu entwerfen und zu implementieren. Das Moment dieses Umschlags selbst kann aber als nicht greifbar im Verborgenen bleiben. Um die Genealogie der malthusianischen Matrix zu verstehen, beziehe ich mich auf Forschungen zur kolonialrassistischen Geschichte von ›Bevölkerung‹ und auf Arbeiten zu Foucault, die sich kritisch mit seiner Konzeption von Biopolitik befassen oder sie weiterdenken. So analysiert Stoler seine »tunnelartige Betrachtung des Westens« in der historischen Rekonstruktion von Biopolitik (Stoler 2002: 324; vgl. Stoler 1995); Weheliye kritisiert Foucaults Konzeption des Rassismus (Weheliye 2014); Mbembe denkt aus einer antikolonialen und rassismuskritischen Perspektive das Konzept der Biopolitik mit dem Fokus auf die Frage der Nekropolitik weiter (Mbembe 2003); und weitere Arbeiten untersuchen die für Bevölkerungsdiskurse zentrale Dimension der Zukünftigkeit nach rassistischen Anordnungen (vgl. Baldwin 2012, 2017; Smith/Vasudevan 2017; Schultz 2019).9 Dass ich in Bezug auf die Politik des Kinderkriegens auch von Nekropolitik spreche, bezieht sich auf diese genannten hierarchisierenden Dimensionen von ›Bevölkerung‹. Denn: In bevölkerungspolitischen Strategien zur Verhinderung von Geburten als Verhinderung der ›Reproduktion‹ bestimmter sozialer Gruppen ist als Fluchtpunkt die Idee der Vernichtung angelegt, wenn diese Strategien davon ausgehen, dass sich soziale Gruppen über die Generationen ›reproduzieren‹.10

Drittens stellt Foucault kein systematisches Verhältnis zwischen der Nationform und ›Bevölkerung‹ her. Der methodologische Nationalismus ist aber zentral für die Konstitution von ›Bevölkerung‹ (vgl. Wimmer/Glick Schiller 2003; Murphy 2017). Die Geschichte der Bevölkerungserfassung verweist auf die Konstitution der europäischen imperialen Nationalstaaten ebenso wie auf die Rassifizierung der Bevölkerungen ihrer Kolonien (vgl. Anderson 1996: 164ff; Supik 2014: 60ff; Gutiérrez Rodríguez 2018). Das demografische Wissen und die bevölkerungspolitischen Strategien basieren in ihrer massiven Abstraktion heute weiterhin auf nationalen Bevölkerungsregistrierungen und statistiken sowie daraus ermittelten nationalen Durchschnitten (der Geburtenrate, Alterszusammensetzung etc.), auch wenn diese in regionalen (z.B. europäischen) und transnationalen (meist auf den Globalen Süden ausgerichteten) Strategien auch nachträglich aggregiert werden können. Die Frage der Nationform ist zudem entscheidend, um das Verhältnis zwischen nationalem Ein- und Ausschluss, Rassismus und Staatlichkeit zu verstehen. Für das Verständnis von ›Bevölkerung‹ und Nationform und auch für das komplexe Verhältnis von Überschneidungen und Differenzen zwischen Nationalismus und Rassismus greife ich deswegen neben anderen Forschungen zur Genealogie der Nation auf die Arbeiten von Etienne Balibar zurück (Balibar 1992a, 1992b).

Schließlich ist es viertens eine weitere offene Frage, wie die verschiedenen Dimensionen von Biopolitik bei Foucault historisch einzuordnen und welche Phasen, Dynamiken und Konjunkturen bis heute analysierbar sind. Meine Forschungen stehen im Kontrast zu Analysen, die insbesondere in den 2000er Jahren eher von einer biopolitischen Verschiebung in Richtung Individualisierung und Ökonomisierung ausgingen und die staatliche Verwaltung von Bevölkerungen als zurückweichend oder in Auflösung begriffen verstanden (z.B. Rose 2001; Rabinow/Rose 2003; vgl. Schultz 2011a). Demgegenüber richten sich meine Forschungen darauf zu untersuchen, inwiefern Dimensionen transnationaler und nationaler staatlicher Bevölkerungsverwaltung sowohl für Politiken des Kinderkriegens als auch in einem weiteren Sinne etwa in systematischer Artikulation mit Migrationspolitik weiterhin wichtig zum Verständnis heutiger Bio- bzw. Nekropolitik sind.

Keine Alternativen: Konzeptionen der Biopolitik nach Agamben und Hardt/Negri

In den 2000ern wurde der Biopolitik-Begriff von Foucault oftmals konfrontiert mit oder weitergedacht in den Arbeiten derjenigen Autor*innen, die ihre eigenen Interpretationen von Biopolitik vor dem Hintergrund ihrer Auseinandersetzung damit ebenso wie ihrer Abgrenzung publiziert haben, nämlich einerseits Giorgio Agamben, andererseits Michael Hardt/Antonio Negri (Agamben 2002; Hardt/Negri 2002).11 Meines Erachtens haben sie jedoch in vieler Hinsicht keine überzeugende Alternative angeboten bzw. fallen auch in bestimmter Hinsicht hinter Foucaults Konzeption zurück: Kurz zusammengefasst erscheint Agambens radikale und generelle ontologische Staatskritik, die sich auf die totalisierende und souveräne Macht zu töten ausrichtet, zwar auf den ersten Blick für eine Kritik einer globalen antinatalistischen Bevölkerungspolitik angemessen; denn der Fluchtpunkt der Vernichtung ist hier als »verborgene Matrix« analyseleitend (Agamben 2002: 175). Mit seiner ahistorischen Perspektive und seinem fast ausschließlichen Fokus auf das Recht und den Ausnahmezustand vernachlässigt er aber die Komplexität ökonomischer, technologischer und subjektivierender Dimensionen von Biopolitik, macht eine Analyse von Widerstand unmöglich und verfehlt es auch, die unterschiedlichen Dynamiken von auf Bevölkerung oder auf Körper ausgerichteten Biopolitiken verständlich zu machen.12 Fast in eine entgegengesetzte Richtung konzipierten Hardt/Negri Biopolitik in »Empire« im Sinne einer ermöglichenden, allumfassenden biopolitischen Produktivität (Hardt/Negri 2002). Diese umfasse im aktuellen globalen Kapitalismus eben das Ganze des sozialen Lebens – und wird sowohl als Ansatzpunkt für Kooperation und Widerstand als auch als zunehmend umfassendere Dimension von Machtverhältnissen und Verwertungsprozessen gefasst. Problematisch erscheinen hier die ahistorische, den Begriff des Lebens nicht reflektierende, vitalistische Konzeption und das Verständnis von Affektivität. Beides wird ohne eine kritische Reflektion geschlechtlicher Arbeitsteilungen und Zuschreibungen vor allem als Ansatzpunkt für ein revolutionäres Umschlagen konzipiert (vgl. Schultz 2002, 2011b). Darüber hinaus problematisiere ich Hardt/Negris Ansatz zu biopolitischer Produktivität als ganzheitliches Konzept von Arbeit, das es unmöglich macht, das hierarchische Verhältnis von Produktions- und Reproduktionsverhältnissen und damit auch dessen Kontinuitäten und Veränderungsdynamiken zu analysieren (vgl. Federici 2021).

Theoretisch-methodologische Zugänge zu Staatlichkeit

Die dargestellte Interpretation, Erweiterung und Verschiebung des Konzepts der Biopolitik bei Foucault steht in engem Zusammenhang damit, bio- bzw. nekropolitische Staatlichkeit zu konzeptualisieren. Die Frage, inwiefern die verschiedenen Dimensionen der malthusianischen Matrix in Grundstrukturen globaler kapitalistischer Vergesellschaftung eingelassen sind, die Frage der Nationform, der rassistischen, (post)kolonialen Genealogien und Hierarchisierungen im Konzept der Bevölkerung sowie der damit verbundenen heteronormativen Genderregime sind nicht ausreichend im ›staatsskeptischen‹ Zugang Foucaults zu Staatlichkeit bearbeitet (vgl. Foucault 2000b). Deswegen gehe ich in einem ersten theoretischen Schritt von neomarxistischen, feministisch-materialistischen und rassismuskritischen Konzeptionen von Staatlichkeit aus, die ich allerdings in einem zweiten Schritt wiederum um Foucaults Zugänge zu Rationalität, Regierung und Selbsttechnologien erweitere und reflektiere. Als dritter und zu neomarxistischen Fragestellungen wiederum zurückkehrender Schritt stellt sich schließlich die Frage der Hegemonie und Reichweite der untersuchten Rationalitäten und Regierungsverhältnisse. Diese Vorgehensweise wird im Folgenden erläutert und anschließend in Bezug auf methodologische Schlussfolgerungen diskutiert.

Feministisch und rassismuskritisch erweiterte neomarxistische Perspektiven

Aus einer feministisch und rassismuskritisch erweiterten und reflektierten marxistischen Perspektive ist es ein immer wieder neu zu reflektierender Ausgangspunkt, dass das Politische im Rahmen globaler kapitalistischer Vergesellschaftung und sich damit entwickelnder Staatlichkeit mehrfach begrenzt ist, auch wenn diese Grenzen selbst umkämpft sind, sich verschieben, mal deutlicher werden und mal stärker verschwimmen (vgl. Brown 1995; Demirovic/Pühl 1998). Wichtige Dimensionen einer Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen gehen verloren oder werden zumindest eingeebnet, wenn die kokonstitutiv entstandenen und sich reproduzierenden hierarchischen Grenzziehungen nicht immer wieder in die Analyse von Staatlichkeit eingehen: die für den Marxismus zentrale Trennung des Politischen vom Ökonomischen, in der die Privatheit von Produktionsmitteln gilt und gesellschaftliche Beziehungen nicht über demokratische Teilhabe organisiert sind; die Trennung des Politischen und Ökonomischen vom Privaten, innerhalb dessen Kinderkriegen, Haus- und Sorgearbeit weiterhin zu einem erheblichen Anteil unbezahlte Tätigkeiten sind, die auf einer familiären geschlechtlichen Arbeitsteilung basieren (z.B. Barrett 1983; Chorus 2012; Federici 2012, 2018); und die Ein- und Ausschlussmechanismen der nationalen (oder regionalen) Staatsbürgerschaften in einem postkolonialen rassifizierten globalen Kapitalismus (vgl. Robinson 1983; Quijano 2000, Mezzadra/Neilson 2013; Gutiérrez Rodríguez 2018).

Eine solche Ausblendung oder Einebnung geschieht, wenn beispielsweise in der Untersuchung von NGOisierungsprozessen die Governance- oder Regimeforschung sich nur auf den politischen Output bei der Kooperation diverser politischer Akteur*innen konzentriert (vgl. Schultz 2018). Auch manche Forschungen zu Gouvernementalität oder zu Assemblagen stellen additiv verschiedene Elemente des Regierens nebeneinander, ohne Grundstrukturen und formen globaler kapitalistischer Vergesellschaftung wie das Kapitalverhältnis, die Familie, den Nationalstaat, die Kolonialität und den Rassismus als solche zu markieren.13 Gleichzeitig beziehe ich mich in meinen Arbeiten auf diejenigen neomarxistischen Perspektiven, welche mit Rekurs auf Poulantzas den Staat als materiell verdichtetes soziales Verhältnis verstehen; sie gehen davon aus, dass Staatlichkeit als Konfliktfeld zu verstehen ist, das allerdings aufgrund dieser kokonstitutiv entstandenen Formen und Grenzziehungen vermachtet und vorstrukturiert ist und insofern ›strategisch selektiv‹ wirkt (vgl. Jessop 1992; Poulantzas 2002; Demirovic 2007). Nur über das Nachvollziehen von Kräfteverhältnissen, Konflikten und Kämpfen um strategische Ausrichtungen, politische Agenden aber auch Alltagspraktiken kann verständlich werden, wie die genannten Grundformen und strukturen kapitalistischer Vergesellschaftung reproduziert, aber auch im Rahmen ihrer permanenten Reproduktion verändert werden. Dies betrifft sowohl die Reproduktion und Verschiebung von Machtverhältnissen auf dem Terrain des Politischen als auch die Grenzverschiebungen des Politischen selbst. So beschäftigen sich einige der in diesem Band präsentierten Texte damit, wie das Konzept der Nation im Rahmen einer demografisierten Migrationspolitik umkämpft und gleichzeitig reproduziert und gestärkt wird (insbesondere »Migrationspolitik als Bevölkerungssteuerung?«)