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Anne Berest geht dem Schicksal ihrer eigenen Familie nach – und landete damit einen preisgekrönten literarischen Coup, der seit Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht.
Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. Anne fragt nach und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinowicz. Aber erst als ihre kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, beschließt Anne, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Mithilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen recherchiert sie in alle erdenklichen Richtungen. Das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman. Er zeichnet nicht nur den ungewöhnlichen Weg der Familie nach, sondern fragt auch, ob es gelingen kann, in unserer Zeit als Jüdin ein »ganz normales« Leben zu führen.
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Deutsch von Amelie Thoma und Michaela Meßner
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel La carte postale bei Éditions Grasset & Fasquelle, Paris.
© Éditions Grasset & Fasquelle 2021
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2023
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Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Collage aus einem Porträtfoto von Noémie Rabinovitch und der Postkarte, © Anne Berest
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Cover & Impressum
Meine Mutter …
BUCH I
Gelobte Länder
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Ich sehe …
Noémie stirbt …
Kapitel 31
Jede Woche …
»Das wär’s, …
BUCH II
Erinnerungen eines jüdischen Kindes ohne Synagoge
»Oma, bist du …
Jeden Mittwoch …
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
BUCH III
Die Vornamen
Claire, …
BUCH IV
Myriam
»Maman, …
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Dieses Buch
Dank
Zitatnachweise
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Meine Mutter hat sich die erste Zigarette des Tages angezündet, ihre liebste, die einem beim Aufwachen die Lunge verbrennt. Dann ist sie vors Haus gegangen, um die weiße Pracht zu bewundern, die das ganze Viertel bedeckte. In der Nacht waren mindestens zehn Zentimeter Schnee gefallen.
Sie blieb trotz der Kälte lange draußen stehen, rauchend und die unwirkliche Stimmung genießend, die sich über ihren Garten gelegt hatte. Sie fand es schön, all dieses Nichts, diese Auslöschung der Farbe und der Linien.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch, das durch den Schnee gedämpft wurde. Der Briefträger hatte gerade die Post auf den Boden fallen lassen, unter den Briefkasten. Meine Mutter ging hin, um sie aufzuheben, und sah sich vor, wo sie mit den Hausschuhen hintrat, damit sie nicht ausrutschte.
Die Zigarette noch im Mundwinkel, dicke Rauchwolken in die eisige Luft schickend, beeilte sie sich, wieder ins Haus zu kommen, um ihre kältetauben Finger aufzuwärmen.
Sie warf einen schnellen Blick auf die verschiedenen Umschläge: traditionelle Grußkarten, die meisten von ihren Studenten, eine Gasrechnung, etwas Werbung. Aber auch Briefe an meinen Vater – die Kollegen vom CNRS und seine Doktoranden wünschten ihm alle ein frohes neues Jahr.
Und da lag sie, in dieser vollkommen gewöhnlichen Januarpost. Die Postkarte. Sie hatte sich ganz unscheinbar zwischen die Umschläge gemogelt, so als hätte sie sich versteckt, um nicht aufzufallen.
Was meine Mutter sofort stutzig machte, war die Schrift: seltsam, unbeholfen, eine Handschrift, die sie noch nie gesehen hatte. Dann las sie die vier Vornamen, die untereinanderstanden, wie eine Liste.
Ephraïm
Emma
Noémie
Jacques
Es waren die Vornamen ihrer Großeltern mütterlicherseits, ihrer Tante und ihres Onkels. Alle vier waren zwei Jahre vor der Geburt meiner Mutter deportiert worden. Sie waren 1942 in Auschwitz gestorben. Und einundsechzig Jahre später tauchten sie in unserem Briefkasten wieder auf. An diesem Montag, dem 6. Januar 2003.
Wer schickt mir denn so eine schreckliche Karte, fragte sich Lélia.
Meine Mutter bekam furchtbare Angst, als bedrohte sie jemand, lauernd im Dunkel der Zeit. Ihre Hände begannen zu zittern.
»Schau mal, Pierre, was ich in der Post gefunden habe!«
Mein Vater nahm die Karte und inspizierte sie eingehend, aber es gab keine Unterschrift, keine Erklärung.
Nichts. Nur diese Vornamen.
In meinem Elternhaus wurde die Post damals vom Boden aufgesammelt, wie man Fallobst aufliest – denn unser Briefkasten war so alt geworden, dass er mit der Zeit nichts mehr hielt, ein richtiges Sieb, aber wir liebten ihn so, wie er war. Ihn zu ersetzen kam niemandem in den Sinn. In unserer Familie wurden Probleme nicht auf diese Weise gelöst, wir lebten mit den Dingen, als verdienten sie die gleiche Rücksicht wie Menschen.
An Regentagen wurden die Briefe nass. Die Tinte zerfloss, und die Worte wurden für immer unlesbar. Am schlimmsten erwischte es die Postkarten, unbekleidet wie junge Mädchen, im Winter mit bloßen Armen ohne Mantel.
Hätte der Verfasser dieser Postkarte einen Füllfederhalter benutzt, um uns zu schreiben, wäre seine Botschaft dem Vergessen anheimgefallen. Wusste er das? Die Karte war mit schwarzem Kugelschreiber verfasst worden.
Am nächsten Sonntag rief Lélia die ganze Familie zusammen, das heißt meinen Vater, meine Schwestern und mich. Als wir um den Esstisch versammelt waren, ging die Karte von Hand zu Hand. Wir schwiegen eine ganze Weile – was bei uns nicht üblich ist, vor allem nicht sonntags beim Mittagessen. In unserer Familie gibt es normalerweise immer jemanden, der etwas zu sagen hat und sofort damit herausrücken möchte. Diesmal wusste niemand, was er von dieser aus dem Nichts kommenden Nachricht halten sollte.
Die Postkarte war sehr banal, eine typische Ansichtskarte mit einer Fotografie der Opéra Garnier, wie sie zu Hunderten auf den Eisenständern in den Tabacs in ganz Paris zu finden sind.
»Warum die Opéra Garnier?«, fragte meine Mutter.
Niemand wusste eine Antwort darauf.
»Das ist der Poststempel des Louvre.«
»Meinst du, wir können dort mal nachfragen?«
»Es ist riesig, das größte Postamt von Paris. Was sollen sie dir da sagen können …?«
»Du meinst, es war Absicht?«
»Ja, die meisten anonymen Briefe werden vom Postamt Louvre aus verschickt.«
»Die Karte ist nicht mehr neu, sie ist mindestens zehn Jahre alt«, bemerkte ich.
Mein Vater hielt sie ins Licht. Er betrachtete sie aufmerksam und kam zu dem Schluss, dass die Fotografie aus den Neunzigerjahren stammen musste. Die Farbgebung des Abzugs mit seinen satten Magentatönen sowie das Fehlen von Werbeplakaten rund um die Opéra Garnier bestätigten meine Vermutung.
»Ich würde sogar sagen, aus den frühen Neunzigerjahren«, präzisierte mein Vater.
»Wie kommst du darauf?«, fragte meine Mutter.
»Weil 1996 die grün-weißen SC10-Busse mit offener Heckplattform, von denen ihr einen im Hintergrund seht, durch die RP312 ersetzt wurden.«
Niemand wunderte sich, dass mein Vater sich mit der Geschichte der Pariser Busse auskannte. Er hat zwar nie ein Auto gefahren – geschweige denn einen Bus –, aber er war Forscher, und sein Beruf brachte es mit sich, dass er aus vielerlei Bereichen, die ebenso verschieden wie hoch spezialisiert waren, eine Unmenge von Details kannte. Mein Vater hat ein Gerät erfunden, das den Einfluss des Mondes auf die irdischen Gezeiten berechnet, und meine Mutter für Chomskys Abhandlungen zur generativen Grammatik übersetzt. Die beiden zusammen wissen also eine unvorstellbare Menge an Dingen, von denen die meisten im konkreten Leben gänzlich nutzlos sind. Außer manchmal, wie an jenem Tag.
»Warum eine Karte schreiben und dann zehn Jahre warten, bis man sie abschickt?«
Meine Eltern stellten sich weiter Fragen. Mir selbst war die Postkarte völlig egal. Die Liste der Namen dagegen ließ mich aufhorchen. Diese Menschen waren meine Vorfahren, und ich wusste nichts über sie. Ich wusste nicht, welche Länder sie bereist, welche Berufe sie ausgeübt hatten, wie alt sie waren, als sie ermordet wurden. Hätte man mir ihre Porträts gezeigt, hätte ich sie unter Fremden nicht wiedererkannt. Dafür schämte ich mich.
Als das Mittagessen beendet war, verwahrten meine Eltern die Postkarte in einer Schublade, und wir sprachen nie wieder darüber. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, und mich beschäftigten im Moment vor allem mein Leben und die Geschichten, die ich schreiben wollte. Ich löschte die Erinnerung an die Postkarte aus meinem Gedächtnis, nicht aber den Vorsatz, meine Mutter eines Tages zu unserer Familiengeschichte zu befragen. Doch die Jahre vergingen, und ich nahm mir nie die Zeit dazu.
Bis ich zehn Jahre später kurz vor der Entbindung stand.
Der Muttermund hatte sich schon etwas geöffnet. Ich musste liegen, damit das Baby nicht zu früh kam. Meine Eltern hatten angeboten, mich ein paar Tage bei sich aufzunehmen, da bräuchte ich nichts zu tun. Während ich auf die Geburt wartete, dachte ich an meine Mutter, an meine Großmutter, an die Reihe der Frauen, die vor mir ein Kind bekommen hatten. Und plötzlich wollte ich unbedingt die Geschichte meiner Vorfahren hören.
Lélia führte mich in das Büro, in dem sie den größten Teil ihrer Zeit verbringt, dieses Büro, das mich immer an einen Bauch erinnert hat, tapeziert mit Büchern und Aktenordnern, getaucht in das winterliche Licht der Pariser Banlieue, die Luft stickig von Zigarettenrauch. Ich legte mich unter das Bücherregal mit seinen alterslosen Gegenständen, den Erinnerungsstücken, bedeckt von einer zarten Schicht Asche und Staub. Meine Mutter griff nach einer grün-schwarz gesprenkelten Schachtel, einer von zwanzig Archivschachteln, die alle gleich aussahen. Als Jugendliche wusste ich, dass diese in den Regalen aufgereihten Schachteln Spuren der dunklen Geschichten aus der Vergangenheit unserer Familie enthielten. Sie erinnerten mich an kleine Särge.
Meine Mutter nahm ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand – wie alle pensionierten Lehrer blieb sie in jeder Lebenslage Lehrerin, es betraf selbst ihre Art, Mutter zu sein. Lélia war bei ihren Studenten an der Universität von Saint-Denis sehr beliebt. In den gesegneten Zeiten, als sie im Hörsaal rauchen und zugleich Linguistik unterrichten konnte, tat sie etwas, das ihre Studenten faszinierte: Außerordentlich geschickt vermochte sie die Zigarette vollständig abbrennen zu lassen, ohne dass die Asche, die zwischen ihren Fingerspitzen einen grauen Zylinder bildete, jemals zu Boden fiel. Einen Aschenbecher brauchte sie nicht, sie stellte die heruntergebrannte Zigarette auf ihren Schreibtisch und zündete sich die nächste an. Dieses Kunststück flößte ihnen Respekt ein.
»Nur dass du es weißt«, sagte meine Mutter, »was du gleich hören wirst, ist eine zweischneidige Geschichte. Einige Fakten werden als gesichert dargestellt, aber du kannst dir selbst denken, wie viel davon auf persönlichen Hypothesen beruht, die am Ende zu dieser Rekonstruktion geführt haben – außerdem könnten neue Dokumente meine Annahmen natürlich substanziell ergänzen oder ändern.«
»Maman«, sagte ich zu ihr, »ich glaube, der Zigarettenrauch kann das Gehirn des Babys schädigen.«
»Ach was. Ich habe in meinen drei Schwangerschaften eine Schachtel pro Tag geraucht und nicht den Eindruck, am Ende drei Schwachköpfe produziert zu haben.«
Ihre Antwort brachte mich zum Lachen. Lélia nutzte die Gelegenheit, sich eine Zigarette anzustecken, und fing an, aus dem Leben von Ephraïm, Emma, Noémie und Jacques zu erzählen – den vier Vornamen auf der Postkarte.
»Wie in russischen Romanen«, sagte meine Mutter, »beginnt alles mit einer unglücklichen Liebesgeschichte. Ephraïm Rabinovitch liebte Anna Gavronsky, deren Mutter Liba Gavronsky, geborene Yankelevitch, eine Cousine ersten Grades der Familie war. Doch diese Leidenschaft stieß bei den Gavronskys nicht auf Wohlgefallen …«
Lélia sah mich an und merkte, dass ich nichts begriff. Sie klemmte sich die Zigarette in den Mundwinkel und begann, die Augen wegen des Rauchs halb zusammengekniffen, in ihrem Archiv zu stöbern.
»Hier, ich werde dir diesen Brief vorlesen, dann wirst du es besser verstehen … Er stammt von Ephraïms älterer Schwester, sie schrieb ihn 1918 in Moskau:«
Liebe Vera,
meine Eltern haben nichts als Ärger. Hast du von dieser Geschichte zwischen Ephraïm und unserer Cousine Aniouta gehört? Wenn nicht, kann ich sie dir nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, obwohl offenbar viele von uns längst Bescheid wissen. Kurz gesagt: An und unser Fédia (der vor zwei Tagen vierundzwanzig wurde) haben sich verliebt. Meine Familie hat sehr darunter gelitten, es hat sie schier verrückt gemacht. Tante weiß nichts davon, es wäre eine Katastrophe, sollte sie es erfahren. Sie begegnen ihr ständig und sorgen sich sehr. Unser Ephraïm liebt Aniouta sehr. Aber ich muss gestehen, dass ich ihre Gefühle für nicht ganz aufrichtig halte. Das sind bei uns die Neuigkeiten. Manchmal habe ich wirklich die Nase voll von dieser Geschichte. So, mein Schatz, ich muss jetzt Schluss machen. Ich werde meinen Brief selbst einwerfen, um sicher zu sein, dass er auch wirklich abgeschickt wird …
Mit herzlichem Gruß, Sara
»Wenn ich das richtig verstehe, wurde Ephraïm gezwungen, auf seine erste Liebe zu verzichten?«
»Genau deswegen sucht man ihm schnell eine andere Verlobte, und das ist Emma Wolf.«
»Der zweite Vorname auf der Postkarte?«
»Ganz recht.«
»Gehörte sie auch zur Verwandtschaft?«
»Nein, ganz und gar nicht. Emma kam aus Łódź. Sie war die Tochter eines Großindustriellen, der mehrere Textilfabriken besaß, Maurice Wolf, und ihre Mutter hieß Rebecca Trotski. Aber sie hatte nichts mit dem Revolutionär zu tun.«
»Sag mal, wie haben Ephraïm und Emma sich überhaupt kennengelernt? Łódź ist doch mindestens tausend Kilometer von Moskau entfernt.«
»Weit über tausend Kilometer! Entweder haben sich die Familien an die schadkhanit der Synagoge gewandt, also an die Heiratsvermittlerin. Oder Ephraïms Familie waren Emmas kesteltern.«
»Emmas was?«
»Die Kesteltern. Das ist jiddisch. Wie soll ich dir das erklären … Erinnerst du dich an die Sprache der Inuit?«
Als ich ein Kind war, hatte Lélia mir beigebracht, dass es bei den Inuit zweiundfünfzig Wörter für Schnee gibt. Man sagt zum Beispiel qanik für den Schnee, wenn er fällt, aputi für den bereits gefallenen Schnee und aniu für den Schnee, aus dem man Wasser macht …
»Im Jiddischen«, fuhr meine Mutter fort, »gibt es verschiedene Begriffe für die Familie. Ein Wort bezeichnet die eigentliche Familie, ein anderes die Schwiegerfamilie und ein weiteres diejenigen, die man zur Familie dazuzählt, auch wenn keine verwandtschaftlichen Beziehungen bestehen. Und dann gibt es noch einen Begriff, die kesteltern, was man als Gastfamilie übersetzen könnte, denn es war Tradition, dass Eltern, die ein Kind zum Studium in die Ferne schickten, ihm eine Familie suchten, die ihm Unterkunft und Verpflegung bot.«
»Die Familie Rabinovitch waren also Emmas Kesteltern.«
»Genau … Aber hör es dir in Ruhe an, keine Sorge, du wirst dich irgendwann zurechtfinden …«
Ephraïm Rabinovitch bricht recht früh mit der Religion seiner Eltern. Als Teenager wird er Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre und erklärt seinen Eltern, dass er nicht an Gott glaubt. Aus Provokation tut er alles, was Juden an Jom Kippur verboten ist: Er raucht, rasiert sich, trinkt und isst.
1919 ist Ephraïm fünfundzwanzig Jahre alt. Er ist ein moderner, schlanker junger Mann mit feinen Gesichtszügen. Wäre seine Haut nicht so braun und sein Schnurrbart nicht so schwarz, könnte man ihn für einen echten Russen halten. Dieser brillante Ingenieur kommt frisch von der Universität, da er dem Numerus clausus entgangen ist, der den zulässigen Anteil der Juden auf drei Prozent beschränkte. Er will am großen Abenteuer des Fortschritts teilhaben und hat ehrgeizige Ziele für sein Land und sein Volk, das russische, dessen Revolution auch die seine ist.
Jude zu sein, hat für Ephraïm keine Bedeutung. Er sieht sich in erster Linie als Sozialist. Im Übrigen lebt er in Moskau auf Moskauer Art. Er stimmt der Heirat in der Synagoge nur zu, weil sie seiner zukünftigen Frau etwas bedeutet. Aber er warnt Emma:
»Wir werden unser Leben nicht an religiösen Vorschriften ausrichten.«
Die Tradition verlangt, dass der Bräutigam bei seiner Hochzeit am Ende der Zeremonie mit dem rechten Fuß ein Glas zertritt. Die Geste erinnert an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Danach kann der Bräutigam einen Vorsatz fassen. Ephraïm gelobt sich, die Erinnerung an seine Cousine Aniouta für immer auszulöschen. Doch als er auf die am Boden verstreuten Glasscherben blickt, ist ihm, als läge dort sein Herz in tausend Scherben.
An jenem Freitag, dem 18. April 1919, reist das Brautpaar aus Moskau zur Datscha von Nachman und Esther Rabinovitch, Ephraïms Eltern, fünfzig Kilometer außerhalb der Hauptstadt. Ephraïm hat sich nur deshalb bereit erklärt, Pessach, das jüdische Osterfest, zu feiern, weil sein Vater in einem ungewöhnlichen Tonfall darauf bestanden hat und seine Frau schwanger ist. Er will die Gelegenheit nutzen, seinen Brüdern und Schwestern die gute Nachricht zu verkünden.
»Emma ist mit Myriam schwanger?«
»Ganz genau, mit deiner Großmutter …«
Unterwegs vertraut Ephraïm seiner Frau an, dass er Pessach immer besonders gemocht hat. Als Kind liebte er die geheimnisvollen Rituale dieses Festes, die bitteren Kräuter, das Salzwasser und die Äpfel mit Honig, die auf einem großen Teller in die Mitte des Tisches gestellt wurden. Er liebte es, wenn sein Vater ihm erklärte, dass die Süße der Äpfel die Juden daran erinnern sollte, wie sehr man sich vor Bequemlichkeit hüten muss.
»In Ägypten«, so betonte Nachman, »waren die Juden Sklaven, das heißt: Sie erhielten Unterkunft und Verpflegung. Sie hatten ein Dach über dem Kopf und Essen in der Hand. Verstehst du? Die Freiheit hingegen ist ungewiss. Zur Freiheit gelangt man unter Schmerzen. Das Salzwasser, das wir am Pessach-Abend auf den Tisch stellen, symbolisiert die Tränen derer, die ihre Ketten abwerfen. Und diese bitteren Kräuter erinnern uns daran, dass es grundsätzlich beschwerlich ist, als freier Mensch zu leben. Hör mir gut zu, mein Sohn, sobald du den Honig auf deinen Lippen spürst, frage dich: Von was oder wem bin ich der Sklave?«
Ephraïm weiß, dass seine revolutionäre Seele dort geformt wurde, durch die Erzählungen seines Vaters.
Als er an jenem Abend zu seinen Eltern nach Hause kommt, eilt er in die Küche, um den eigenartigen faden Geruch der Matzen zu riechen, der ungesäuerten Brotfladen, die Katerina, die alte Köchin, zubereitet hat. Ergriffen nimmt er ihre runzlige Hand, um sie auf den Bauch seiner jungen Frau zu legen.
»Schau ihn dir an«, sagt Nachman zu Esther, die die Szene beobachtet. »Unser Sohn ist stolz wie ein Kastanienbaum, der den Spaziergängern all seine Früchte zeigt.«
Die Eltern haben alle Rabinovitch-Cousins der Nachman-Linie und alle Frant-Cousins der Esther-Linie eingeladen. Warum so viele Leute, fragt sich Ephraïm und wiegt ein silbernes Messer in der Hand, das so glänzt, weil es sorgfältig mit Kaminasche poliert wurde.
»Haben sie die Gavronskis auch eingeladen?«, fragt er besorgt seine jüngere Schwester Bella.
»Nein«, antwortet sie, ohne zu verraten, dass die beiden Familien sich darauf geeinigt haben, eine Begegnung zwischen Cousine Aniouta und Emma zu vermeiden.
»Aber warum haben sie dieses Jahr so viele Cousins versammelt …? Haben sie uns etwas mitzuteilen?«, bohrt Ephraïm weiter und zündet sich eine Zigarette an, um seine Verwirrung zu verbergen.
»Ja, aber frag mich bitte nichts weiter. Ich darf vor dem Abendessen nicht darüber sprechen.«
Am Pessach-Abend ist es Tradition, dass der Patriarch die Haggada vorliest, also die Erzählung über den Auszug des hebräischen Volkes aus Ägypten unter der Führung von Moses. Nach den Gebeten erhebt sich Nachman und schlägt mit der flachen Seite des Messers an sein Glas.
»Wenn ich heute Abend diese letzten Worte des Buches so sehr betone«, sagt er, an den ganzen Tisch gewandt, »baue Jerusalem, die Stadt, schnell in unseren Tagen und lass uns hinaufsteigen, dann deshalb, weil ich als Familienoberhaupt die Aufgabe habe, euch zu unterrichten und es euch zu verkünden.«
»Uns was zu verkünden, Papa?«
»Dass es Zeit ist zu gehen. Wir müssen alle das Land verlassen. So schnell wie möglich.«
»Das Land verlassen?«, fragen seine Söhne.
Nachman schließt die Augen. Wie soll er seine Kinder überzeugen? Wie die richtigen Worte finden? Es ist, als hinge ein beißender Geruch in der Luft, gleich einem kalten Wind, der baldigen Frost ankündigt, es ist unsichtbar, fast nichts, und doch ist es da, zuerst ist es in seine Albträume zurückgekehrt, Albträume, die von Erinnerungen an seine Jugend durchwoben waren, als man ihn in manchen Weihnachtsnächten mit den anderen Kindern hinterm Haus versteckte, weil betrunkene Männer kamen, um das Volk zu bestrafen, das Christus getötet hatte. Sie brachen in die Häuser ein, um die Frauen zu vergewaltigen und die Männer zu töten.
Diese Gewalt zügelte Zar Alexander III., als er den staatlichen Antisemitismus mit den Maigesetzen verschärfte, welche die meisten Freiheiten der Juden einschränkten. Nachman war noch ein junger Mann, als ihnen mit einem Mal alles verboten war. Sie durften die Universität nicht besuchen, nicht von einer Gegend in die andere reisen, ihren Kindern keine christlichen Vornamen geben und nicht ins Theater gehen. Da das Volk mit diesen erniedrigenden Maßnahmen zufrieden war, wurde etwa dreißig Jahre lang weniger Blut vergossen. Nachmans Kinder kannten also nicht die Angst vor dem 24. Dezember, wenn sich die Meute mit Mordlust vom Tisch erhebt.
Doch seit einigen Jahren hatte Nachman wieder den Geruch von Schwefel und Fäulnis in der Nase. Die Schwarzhunderter, eine rechtsradikale monarchistische Gruppe, angeführt von Vladimir Pourishkévitsh, machte sich im Hintergrund bereit. Dieser ehemalige Höfling des Zaren gründete seine Thesen auf der Idee einer jüdischen Verschwörung. Er wartete auf seine Stunde der Rückkehr. Und Nachman glaubte nicht daran, dass diese brandneue Revolution, angeführt von ihren Kindern, den alten Hass vertreiben würde.
»Ja. Fortgehen. Meine Kinder, hört mir gut zu«, sagt Nachman ruhig: »S’shtinkt shlekht drek – es stinkt nach Scheiße.«
Bei diesen Worten verstummen die auf den Tellern klappernden Gabeln. Die Kinder hören auf, durcheinanderzureden, es wird still. Nachman kann endlich sprechen.
»Ihr seid fast alle frisch verheiratet. Ephraïm, du wirst bald zum ersten Mal Vater. Ihr habt Schwung, ihr habt Mut – das ganze Leben liegt noch vor euch. Jetzt ist es an der Zeit, die Koffer zu packen.«
Nachman dreht sich zu seiner Frau um und drückt ihre Hand: »Esther und ich haben beschlossen, nach Palästina zu gehen. Wir haben ein Stück Land in der Nähe von Haifa gekauft. Dort werden wir Orangen anbauen. Kommt mit uns. Dann werde ich dort Grund und Boden für euch kaufen.«
»Aber Nachman, willst du dich wirklich im Lande Israel niederlassen?«
Niemals hätten sich die Rabinovitch-Kinder so etwas vorstellen können. Vor der Revolution gehörte ihr Vater der Ersten Kaufmannsgilde an, das heißt, er war einer der wenigen Juden, die sich frei im Land bewegen durften. Es war ein unerhörtes Privileg, dass Nachman in Russland wie ein Russe leben konnte. Er hat sich einen guten Platz in der Gesellschaft erarbeitet, den er nun aufgeben will, um ans andere Ende der Welt zu emigrieren, in ein Wüstenland mit unwirtlichem Klima, um dort Orangen anzubauen? Was für eine seltsame Idee! Wo er doch nicht mal eine Birne schälen kann ohne die Hilfe der Köchin!
Nachman nimmt einen kleinen Bleistift und feuchtet ihn mit spitzen Lippen an. Er lässt den Blick über seine Nachkommenschaft schweifen und setzt hinzu:
»Also gut. Ich werde um den Tisch die Runde machen. Und aufgepasst, ich verlange, dass jeder Einzelne von euch mir ein Ziel nennt. Ich werde für jeden eine Schiffspassage kaufen. Ihr verlasst das Land innerhalb der nächsten drei Monate, ist das klar? Bella, ich fange bei dir an, das ist einfach, du kommst mit uns. Ich notiere also: Bella, Haifa, Palästina. Ephraïm?«
»Ich warte, bis meine Brüder sich geäußert haben«, antwortet Ephraïm.
»Ich würde gern nach Paris gehen«, sagt Emmanuel, der Jüngste unter den Geschwistern, und wippt lässig mit seinem Stuhl.
»Paris, Berlin und Prag meidet ihr besser«, antwortet Ephraïm ernst. »In diesen Städten sind die guten Plätze seit Generationen besetzt. Ihr werdet dort nicht Fuß fassen können. Man wird euch entweder für zu brillant oder für nicht brillant genug halten.«
»Da mache ich mir keine Sorgen, ich habe dort schon eine Verlobte, die auf mich wartet«, antwortet Emmanuel, um den ganzen Tisch zum Lachen zu bringen.
»Mein armer Sohn«, ereifert sich Nachman, »du wirst ein Leben wie ein Schwein führen. Dumm und kurz.«
»Ich sterbe lieber in Paris als am Arsch der Welt, Papa!«
»Ohhhhh«, antwortet Nachman und wedelt drohend mit der Hand vor seinem Gesicht. »Yeder nar iz klug un komish far zikh: Jeder Dummkopf hält sich für lustig und schlau. Ich meine es wirklich ernst. Los, weiter. Wenn ihr nicht mit mir kommen wollt, versucht euer Glück in Amerika, das dürfte auch gut funktionieren«, fügt er seufzend hinzu.
Cowboys und Indianer. Amerika. Nein danke, denken die Rabinovitch-Kinder. Die Landschaften sind zu verschwommen. Bei Palästina wissen wir wenigstens, wie es aussieht, denn es steht in der Bibel: ein Haufen Steine.
»Schau dir das an«, sagt Nachman zu seiner Frau. »Eine Bande Koteletts mit Augen, könnte man meinen! Denkt mal ein bisschen nach! In Europa werdet ihr nichts finden. Nichts. Nichts Gutes jedenfalls. Während ihr in Amerika, in Palästina, leicht Arbeit bekommen werdet!«
»Papa, du sorgst dich immer wegen nichts. Das Schlimmste, was dir hier passieren kann, ist, dass dein Schneider Sozialist wird!«
Und tatsächlich, wenn man Nachman und Esther da nebeneinandersitzen sieht wie zwei kleine Kuchen in der Vitrine eines Konditors, fällt es schwer, sie sich als Farmer einer neuen Welt vorzustellen. Sie halten sich gerade, sind tadellos zurechtgemacht. Esther achtet trotz ihrer weißen, zu einem niedrigen Dutt gesteckten Haare immer noch sehr auf ihr Äußeres. Sie verschmäht weder Perlenreihen noch Kameen. Nachman trägt stets seine berühmten Dreiteiler, die er sich bei den besten französischen Couturiers von Moskau machen lässt. Sein Bart ist weiß wie Watte, und sein besonderer Geschmack zeigt sich in den gepunkteten Krawatten, die er passend zu seinen Taschentüchern wählt.
Verärgert über seine Kinder, steht Nachman vom Tisch auf. Die Ader an seinem Hals ist so stark geschwollen, dass sie droht, Esthers schöne Tischdecke vollzuspritzen. Er muss sich hinlegen, um sein rasendes Herz zu beruhigen. Bevor Nachman das Esszimmer verlässt, bittet er alle, gut nachzudenken, und schließt mit den Worten:
»Ihr müsst eines begreifen: Irgendwann werden sie alle wollen, dass wir verschwinden.«
Nach diesem theatralischen Abgang geht es am Tisch mit fröhlichen Gesprächen bis spät in die Nacht weiter. Emma setzt sich ans Klavier und rückt wegen ihres Bauches den Hocker ein wenig ab. Die junge Frau ist Absolventin des renommierten Nationalen Musikkonservatoriums. Dabei wäre sie gerne Physikerin geworden. Wegen des Numerus clausus war ihr das jedoch nicht vergönnt. Sie hofft von ganzem Herzen, dass das Kind, das in ihr heranwächst, in einer Welt leben wird, in der es sein Studium frei wählen kann.
Zum sanften Klang der Musikstücke, die seine Frau im Wohnzimmer spielt, unterhält sich Ephraïm mit seinen Brüdern und Schwestern am Kaminfeuer über Politik. Dieser Abend ist so angenehm, die Geschwister sind sich einig und machen sich dabei auf nette Art über den Patriarchen lustig. Die Rabinovitchs ahnen nicht, dass dies die letzten Stunden sein sollen, in denen sie alle zusammen sind.
Am folgenden Tag verlassen Emma und Ephraïm die Familiendatscha. Alle nehmen gut gelaunt voneinander Abschied, man verspricht, sich bald wiederzusehen, noch vor dem Sommer.
Emma betrachtet die Landschaft, die vor dem Fenster ihrer Droschke vorbeizieht. Sie fragt sich, ob ihr Schwiegervater nicht doch recht hat, vielleicht wäre es klüger, nach Palästina zu gehen. Der Name ihres Mannes steht auf einer Liste. Die Polizei kann jederzeit bei ihm vorbeikommen und ihn verhaften.
»Was ist das für eine Liste? Warum wird Ephraïm verfolgt? Weil er Jude ist?«
»Nein, damals noch nicht. Ich habe dir doch gesagt, mein Großvater war ein Sozialrevolutionär. Und nach der Oktoberrevolution begannen die Bolschewiken mit der Eliminierung ihrer ehemaligen Waffenbrüder: Menschewiki und die Sozialrevolutionäre werden gejagt.«
In Moskau muss Ephraïm daher untertauchen. Er findet ein Versteck in der Nähe ihrer Wohnung, sodass er seine Frau ab und zu besuchen kann.
Eines Abends will er sich gerade waschen, bevor er wieder geht. Um das Geräusch des Wassers auf der Zinkwanne in der Küche zu übertönen, setzt sich Emma ans Klavier und greift lautstark in die Tasten. Sie misstraut den Nachbarn und fürchtet Denunzianten.
Plötzlich klopft es an der Tür. Harte Schläge. Autoritär. Emma geht in den Flur, die Hand auf ihrem dicken Bauch.
»Wer ist da?«
»Wir suchen deinen Mann, Emma Rabinovitch.«
Emma lässt die Polizisten im Treppenhaus warten, damit ihr Mann Zeit hat, seine Sachen zusammenzuraffen und sich in einem selbst gebastelten Versteck, einem doppelten Boden im Schrank hinter Decken und Wäsche, zu verkriechen.
»Er ist nicht da.«
»Lass uns rein.«
»Ich habe gerade gebadet, warten Sie, bis ich mich angezogen habe.«
»Hol deinen Mann!«, befehlen die Polizisten, die langsam die Geduld verlieren.
»Ich habe seit über einem Monat nichts mehr von ihm gehört.«
»Weißt du, wo er sich versteckt?«
»Nein, ich habe keine Ahnung.«
»Wir werden die Tür eintreten und die Wohnung durchsuchen.«
»Na dann, wenn Sie ihn finden, grüßen Sie ihn von mir!«
Emma öffnet die Tür und streckt dabei ihren dicken Bauch vor, hält ihn den Polizisten unter die Nase.
»Sehen Sie, wie er mich zurückgelassen hat – in diesem Zustand!«
Die Polizisten betreten die Wohnung. Emma sieht, dass Ephraïms Schirmmütze noch auf dem großen Sessel im Wohnzimmer liegt. Daher täuscht sie ein Unwohlsein vor. Sie spürt, wie die Mütze unter ihrem Gewicht zerdrückt wird. Ihr Herz rast.
»Deine Großmutter Myriam war noch nicht auf der Welt, da hat sie schon am eigenen Leib erfahren, was es heißt, Angst im Bauch zu haben. Emmas Organe ziehen sich um den Fötus zusammen.«
Als sie mit der Hausdurchsuchung fertig sind, sagt die junge Frau bleich, aber unerschütterlich zu den Polizisten: »Ich bringe Sie nicht zur Tür, sonst platzt mir noch die Fruchtblase. Und dann müssten Sie mir bei der Entbindung helfen.«
Die Polizisten ziehen ab und schimpfen auf die schwangeren Weiber. Nach langen Minuten der Stille kommt Ephraïm aus seinem Versteck heraus und findet seine Frau zusammengekrümmt auf dem Teppich vor dem Kamin – der Bauch tut ihr so weh, dass sie nicht wieder aufstehen kann. Ephraïm befürchtet schon das Schlimmste. Er gibt Emma ein Versprechen: Wenn das Kind überlebt, werden sie nach Lettland gehen, nach Riga.
»Warum nach Lettland?«
»Weil das Land gerade seine Unabhängigkeit erlangt hatte. Und weil die Juden sich dort niederlassen können, ohne den Handelsgesetzen unterworfen zu sein.«
Deine Großmutter Myriam – Mirotshka war ihr Spitzname – wurde laut dem Flüchtlingsamt, das in Paris ihre Papiere ausstellen sollte, am 7. August 1919 in Moskau geboren. Aufgrund der Abweichungen zwischen dem gregorianischen und dem julianischen Kalender ist jedoch ungewiss, ob das Datum stimmt. So wird Myriam niemals ihr genaues Geburtsdatum kennen.
Sie kommt im warmen, strahlenden Leto auf die Welt, was auf Russisch Sommer heißt. Sie wird quasi in einem Koffer geboren, während ihre Eltern die große Abreise nach Riga vorbereiten. Ephraïm hat sich mit dem Kaviarhandel beschäftigt und wittert darin ein profitables Geschäft. Um sich in Lettland niederzulassen, haben Ephraïm und Emma alles verkauft, was sie besitzen, die Möbel, das Geschirr, die Teppiche. Nur den Samowar nicht.
»Ist das der, der im Wohnzimmer steht?«
»Ganz genau. Der hat mehr Grenzen überquert als du und ich zusammen.«
Die Rabinovitchs verlassen Moskau mitten in der Nacht, um über Landstraßen heimlich die Grenze zu erreichen – zusammen mit dem Säugling in einem klapprigen Karren. Die Reise ist lang und beschwerlich, fast tausend Kilometer, aber sie bringt sie weit weg von der bolschewistischen Polizei. Emma lenkt ihre kleine Mirotshka ab, flüstert ihr Geschichten ins Ohr, wenn sie abends Angst bekommt, hebt die Decken an, um ihr etwas über dem Karren zu zeigen:
»Man sagt, die Nacht senkt sich herab, aber das stimmt nicht, schau nur, die Nacht kriecht langsam aus der Erde …«
In der letzten Nacht, wenige Stunden vor Erreichen der Grenze, hat Ephraïm ein seltsames Gefühl: Das Gespann ist so leicht. Er dreht sich um und bemerkt, dass der Karren verschwunden ist.
Als Emma gemerkt hat, dass der Karren sich löst, konnte sie nicht schreien, aus Angst, entdeckt zu werden. Sie wartet darauf, dass ihr Mann umkehrt, ohne zu wissen, was sie mehr fürchtet: die Bolschewiken oder die Wölfe. Doch Ephraïm kommt schließlich zurück. Und das Gespann schafft es noch vor Tagesanbruch über die Grenze.
»Schau mal«, sagt Lélia zu mir. »Nach Myriams Tod habe ich Papiere in ihrem Büro gefunden. Textentwürfe, angefangene Briefe – und dabei habe ich die Geschichte vom Karren wiedergefunden. Sie endet wie folgt: Alles läuft gut bei Tagesanbruch, in der grauen Stunde vor dem Morgenrot. Denn nachdem wir in Lettland angekommen waren, verbrachten wir einige Tage wegen Verwaltungsformalitäten im Gefängnis. Meine Mutter hat mich noch gestillt, daher habe ich keine schlechten Erinnerungen an ihre Milch, die in jenen Tagen nach Roggen und Buchweizen schmeckte.«
»Die folgenden Sätze sind fast unverständlich …«
»Das ist ihr beginnender Alzheimer. Manchmal habe ich stundenlang versucht zu verstehen, was sich hinter einem bestimmten grammatikalischen Fehler verbarg. Die Sprache ist ein Labyrinth, in dem die Erinnerung sich verirrt.«
»Die Geschichte von der Mütze, die man unbedingt vor der Polizei verstecken musste, kannte ich schon. Myriam hatte sie mir als Kindergeschichte aufgeschrieben, als ich noch klein war. Sie hieß ›Was mit der Mütze geschah‹. Ich wusste jedoch nicht, dass sie das selbst erlebt hat. Ich dachte, sie hätte sich das ausgedacht.«
»Die etwas traurigen Geschichten, die eure Großmutter euch zum Geburtstag schrieb, das waren alles Ereignisse aus ihrem Leben. Sie waren sehr wertvoll für mich, denn mit ihrer Hilfe konnte ich einiges aus Myriams Kindheit nachvollziehen.«
»Aber alles andere: Wie konntest du diese ganze Geschichte so genau rekonstruieren?«
»Ich habe mit fast nichts angefangen, mit ein paar nahezu unleserlich beschrifteten Fotos, bruchstückhaften persönlichen Notizen, von deiner Großmutter auf Zetteln festgehalten, die ich nach ihrem Tod gefunden habe. Um die Jahrtausendwende bekam ich Zugang zu französischen Archiven, ich las die Berichte von Yad Vashem und die der Überlebenden der Lager, und so konnte ich das Leben dieser Menschen nachzeichnen. Allerdings sind diese Dokumente nicht alle verlässlich und können einen auf seltsame Weise in die Irre führen. Manchmal hat die französische Verwaltung Fehler gemacht. Nur der ständige und sorgfältige Abgleich der Schriftstücke ermöglichte es mir, mithilfe der Archivare die Fakten und Daten zu ermitteln.«
Ich sah auf und betrachtete die riesige Bibliothek. Die Archivschachteln meiner Mutter, die mir früher Angst gemacht hatten, schienen mir plötzlich die Arkana eines Wissens zu sein, so groß wie ein Kontinent. Lélia hatte die Geschichte erkundet wie eine Forschungsreisende, als wäre sie durch Länder gereist. Ihre Reiseberichte kartografierten innere Landschaften, die ich auch besuchen sollte. Ich legte die Hand auf meinen Bauch und bat meine Tochter still darum, zusammen mit mir aufmerksam anzuhören, wie die alte, ihr so neues Leben betreffende Geschichte denn nun weiterging.
In Riga zieht die kleine Familie in ein hübsches Holzhaus, gelegen in Alexandra iela, Nr. 60/66, dz 2156. Emma ist beliebt bei den Bewohnern des Viertels und findet sich gut ein. Sie bewundert ihren Mann, der erfolgreich in den Kaviarhandel eingestiegen ist.
Mein Mann hat eine Unternehmerseele und ein gutes Gespür für Beziehungen, schreibt sie stolz ihren Eltern in Łódź. Er hat mir ein Klavier gekauft, damit ich meine eingerosteten Finger wieder aufwecken kann. Er gibt mir alles Geld, das ich brauche, und ermuntert mich, den kleinen Mädchen in der Nachbarschaft Musikunterricht zu geben.
Dank des Kaviarabsatzes kann das Paar eine Datscha in Bilderlingshof erstehen, wie die Familien der guten lettischen Gesellschaft. Ephraïm bietet seiner Frau den Luxus eines Kindermädchens aus Deutschland, das Emma bei den häuslichen Pflichten unterstützt.
»So kannst du mehr unterrichten. Frauen müssen unabhängig sein.«
Emma nutzt die Gelegenheit, um die große Synagoge in Riga zu besuchen, die für ihre Kantoren und vor allem für ihre Chöre bekannt ist. Ihrem Mann versichert sie, es gehe nur darum, neue Schülerinnen zu werben. Beten wolle sie dort nicht. Als sie zum Ende des Gottesdienstes ankommt, rührt es sie, die polnische Sprache zu hören. Sie begegnet alten Łódźer Familien und der provinziellen Atmosphäre ihrer Heimatstadt wieder. Es ist, als könnte sie Krumen ihrer Kindheit auflesen.
Emma erfährt von den Klatschtanten in der Synagoge, dass Cousine Aniouta einen deutschen Juden geheiratet hat und seither in Berlin lebt.
»Erzähle deinem Mann nichts davon, und wecke vor allem nicht die Erinnerung an deine ehemalige Rivalin«, empfiehlt ihr die rebetsin – die Frau des Rabbiners, deren Aufgabe es ist, den Ehefrauen der Gemeinde Ratschläge zu erteilen.
Ephraïm erhält seinerseits sehr ermutigende Nachrichten von seinen Eltern. Ihre Orangenplantage gedeiht. Bella arbeitet als Kostümbildnerin in einem Theater in Haifa. Die Brüder, die in ganz Europa verstreut sind, haben gute Anstellungen gefunden. Nur der Jüngste nicht, Emmanuel. Er wollte Filmschauspieler in Paris werden. Bis jetzt, schreibt sein Bruder Boris, hat er noch keine Rolle bekommen. Er ist schon dreißig, und ich mache mir Sorgen um ihn. Aber er ist ja noch jung, ich hoffe, er schafft den Durchbruch. Ich habe ihn schon bei einigen Probeaufnahmen beobachtet. Er ist begabt, er wird Fortschritte machen.
Ephraïm kauft sich einen Fotoapparat, um Myriams Gesicht für immer festzuhalten. Er putzt seine Tochter heraus wie eine Puppe im Sonntagsstaat, mit den feinsten Bändern im Haar. In seinen weißen Kleidern ist das kleine Mädchen die Prinzessin des Königreichs Riga. Sie ist ein stolzes und eroberungslustiges Kind und sich ihrer Bedeutung in den Augen ihrer Eltern – und damit in den Augen der ganzen Welt – sehr bewusst.
Wenn man am Haus der Rabinovitchs in der Alexandrastraße vorbeigeht, hört man Klavierspiel – die Nachbarn beschweren sich nie, im Gegenteil, sie genießen die Musik. Die Wochen vergehen glücklich, als wäre alles ganz leicht geworden. An einem Pessach-Abend bittet Emma Ephraïm, für das Abendessen einen Teller herzurichten.
»Sei so lieb. Du musst ja die Gebete nicht sprechen, aber lies wenigstens den Auszug aus Ägypten.«
Ephraïm willigt schließlich ein und zeigt Myriam, wie man das Ei, die bitteren Kräuter, die Apfelstücke mit Honig, das Salzwasser und den Lammknochen auf dem Sederteller anordnet. Für diesen einen Abend spielt er das Spiel mit und erzählt die Geschichte von Moses, ganz wie sein Vater es früher getan hat.
»Wie unterscheidet sich diese Nacht von anderen? Warum essen wir bittere Kräuter? Meine Kleine, Pessach lehrt uns, dass das jüdische Volk ein freies Volk ist. Aber die Freiheit hat einen Preis. Schweiß und Tränen.«
Für dieses Pessach-Essen hat Emma nach dem Rezept von Katerina, der alten Köchin ihrer Schwiegereltern, Matze gebacken. Sie möchte, dass ihr Mann die köstliche Fadheit der Mahlzeiten seiner Kindheit wiederfindet. An diesem Abend ist Ephraïm bester Laune und bringt die Kleine zum Lachen, indem er ihren Großvater nachahmt:
»Gehackte Leber ist das beste Heilmittel gegen all die verflixten Probleme des Lebens«, sagt er mit Nachmans russischem Akzent, bevor er sich Geflügelpastetchen in den Hals stopft.
Doch mitten im Lachen spürt Ephraïm plötzlich einen Stich in der Brust – Aniouta. Ein Bild geht ihm durch den Kopf, das seiner Cousine, er stellt sich vor, wie sie zur selben Zeit mit ihrer Familie Pessach feiert, mit einem Ehemann, vielleicht einem Baby, an einem von Kerzen beleuchteten Tisch über das Gebetbuch gebeugt. Wie schön sie jetzt sein muss, als reife Frau, denkt er. Noch schöner als früher! Ein Schatten legt sich über sein Gesicht, den Emma sofort bemerkt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt sie.
»Was meinst du, sollten wir noch ein Kind bekommen?«, antwortet Ephraïm.
Zehn Monate später, am 15. Februar 1923, wird Noémie – die Noémie von der Postkarte – in Riga geboren. Die kleine Schwester stößt Myriam vom Thron ihres Königreichs, sie hat das runde Gesicht der Mutter, rund wie der Mond.
Mit dem durch den Verkauf von Störeiern erwirtschafteten Geld erwirbt sich Ephraïm Räumlichkeiten, in denen er ein Versuchslabor einrichtet. Er möchte neue Maschinen entwickeln. Ganze Abende lang erklärt Ephraïm seiner Frau mit leuchtenden Augen seine Erfindungen.
»Die Maschinen werden alles revolutionieren. Sie werden die Frauen von ihrer anstrengenden Hausarbeit befreien. Hör dir das an: ›Der Mann ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat‹, stimmst du dem nicht auch zu?«, fragt Ephraïm, der immer noch Marx und Engels liest, auch wenn er jetzt an der Spitze eines florierenden Unternehmens steht.
Mein Mann ist wie die Elektrizität, schreibt Emma ihren Eltern. Er reist überallhin, um das Licht des Fortschritts zu bringen.
Aber Ephraïm, der Ingenieur, der Progressive, der Kosmopolit, hat vergessen, dass jemand, der von anderswo kommt, für immer derjenige bleiben wird, der von anderswo kommt. Der schreckliche Fehler, den Ephraïm begeht, ist der Glaube, seinem Glück irgendwo eine Heimat geben zu können. Im Jahr darauf, 1924, stürzt ein Fass mit verdorbenem Kaviar sein kleines Unternehmen in den Bankrott. Pech oder geschicktes Manöver eines Neiders? Diese Zuwanderer, die mit dem Karren ankamen, sind zu schnell zu ehrbaren Bürgern aufgestiegen. Die Rabinovitchs werden im Riga der Gojs zu personae non gratae. Die Nachbarn in Bilderlingshof bitten Emma, die Leute im Viertel nicht länger mit dem Kommen und Gehen ihrer Schüler zu belästigen. Von ihren Bekannten in der Synagoge erfährt sie, dass Letten ihren Mann ins Visier genommen haben und ihn so lange schikanieren werden, bis er keine andere Wahl mehr haben wird, als zu gehen. Sie versteht, dass sie wieder einmal die Koffer packen müssen. Aber wohin sollen sie ziehen?
Emma schreibt ihren Eltern, doch aus Polen erreichen sie keine guten Nachrichten. Ihr Vater, Maurice Wolf, scheint besorgt wegen der Streiks, die überall im Land ausbrechen.
Meine Tochter, Du weißt, es wäre mein größtes Glück, Dich in meiner Nähe zu haben. Aber ich darf nicht egoistisch sein, und meine Pflicht als Vater ist es, Dir zu sagen, dass Dein Mann und Du vielleicht darüber nachdenken solltet, mit Euren Kindern noch weiter wegzuziehen.
Ephraïm schickt ein Telegramm an seinen jüngeren Bruder Emmanuel. Doch leider wohnt dieser in Paris in der Wohnung von Malerfreunden, Robert und Sonia Delaunay mit ihrem kleinen Sohn. Ephraïm schreibt daraufhin an Boris, seinen älteren Bruder, der wie viele andere Mitglieder der Sozialrevolutionären Partei nach Prag geflohen ist. Dort ist die politische Lage jedoch zu instabil, und Boris rät Ephraïm davon ab, sich dort niederzulassen.
Ephraïm hat kein Geld und keine Wahl mehr. Schweren Herzens schickt er ein Telegramm nach Palästina: Wir kommen.
Als Emma beim Verlassen des Passagierschiffes ihre Schwiegereltern wiedersieht, ist sie ein wenig befremdet.
Wo sind die dreiteiligen Anzüge geblieben? Die Perlencolliers? Die Spitzenkragen und die gepunkteten Krawatten? Esther trägt eine unförmige Weste, Nachman eine ausgebeulte Hose über alten, kaputten Schuhen.
Emma schaut ihren Mann an: Was ist passiert?
Ihre Schwiegereltern haben sich sehr verändert, das bäuerliche Leben hat ihre Körper gezeichnet. Sie haben sowohl an Bauch als auch an Muskeln zugelegt. Ihre Gesichtszüge sind jetzt gröber, und die sonnengebräunte Haut ist faltig geworden.
Sie sehen aus wie Indianer, denkt Emma.
Nachmans Lachen schallt durch die Küche, während er verzweifelt nach der Flasche sucht, die er für ihre Ankunft in Migdal besorgt hat.
»›Staub ist der Mensch, und zum Staub kehrt er zurück‹«, sagt er und nimmt Emma am Arm, »aber in der Zwischenzeit ist es gut, Wodka zu trinken! Ich hoffe, ihr habt meine Essiggurken nicht vergessen!«
Das Glasgefäß hat vier Grenzen überquert, ohne zu zerbrechen. Emma holt die Malosólnye, was auf Russisch »leicht Gesalzene« bedeutet, aus ihrem Koffer. Diese in Salzwasser eingelegten, mit Nelken und Fenchel gewürzten Gurken mag Nachman am liebsten.
Mein Vater hat sich sehr verändert, denkt Ephraïm bei sich. Er ist dicker geworden, aber auch weicher, er lacht gerne … Milch reift zu Käse heran …
Dann schaut er sich im Haus seiner Eltern um. Darin gibt es nur das Allernotwendigste.
»Ich zeige euch den Orangenhain!«, sagt Nachman voller Stolz. »Kommt schon! Kommt!«
Die kleinen Mädchen rennen zu den sich schlängelnden Kanälen, Miniaturflüsse durch endlose Orangenhaine. Auf den Mäuerchen setzen sie gewissenhaft einen Fuß vor den anderen, die Arme ausgebreitet wie Seiltänzerinnen, um nicht in den Wassergraben zu fallen.
Die Landarbeiter wundern sich, als sie die Enkelinnen des Chefs vorbeilaufen sehen, die ihre Schuhe auf den staubigen Wegen zwischen den Baumreihen verschrammen. Zur Mittagszeit ruhen sie sich im Schatten der Johannisbrotbäume aus, deren breite Stämme krumm und rau sind und deren karminrote Blüten die Kleidung beflecken – Myriam wird sich erinnern, dass ihre Samenkörner ein Mehl gaben, das nach Schokolade schmeckte.
Nachman erklärt, dass die Orangen nach dem Pflücken in große Schuppen gekarrt werden, wo Frauen auf dem Boden sitzen und sie einwickeln. Eine nach der anderen. Das ist eine lange und mühselige Arbeit. Sie befeuchten ihre Finger, um schnell ein »Orangenpapier« aufzunehmen, dieses japanische Papier, das so dünn ist wie ein Zigarettenblättchen.
Ephraïm und Emma haben immer noch dieses komische Gefühl, das sie seit ihrer Ankunft nicht loslässt. Sie hatten neue, glänzende Gebäude erwartet. Aber alles ist irgendwie zusammengewürfelt. Sie stellen fest, dass die Geschäfte nicht so gut laufen, wie es die Eltern in ihren Briefen geschildert hatten. Palästina ist für die Rabinovitchs kein Land des Überflusses. Die Wahrheit ist, dass Nachman und Esther Schwierigkeiten haben, ihre Orangenplantage in Schwung zu bringen.
Ephraïm hatte bei seiner Ankunft Entwürfe im Gepäck. Pläne für Maschinen. Hoffnungen auf Patente. Er hatte sich vorgestellt, sein Vater könnte die Entwicklung seiner Ideen auf der Stelle finanzieren. Leider zwingen ihn die materiellen Schwierigkeiten seiner Eltern nun, sich Arbeit zu suchen.
Er findet umgehend eine Anstellung in Haifa, bei einem Elektrizitätsunternehmen, der Palestine Electric Corporation, was er der jüdischen Gemeinde zu verdanken hat, die fest zusammenhält.
»Ja, jetzt bin ich Zionist!«, verkündet Nachman seinem Sohn mit großem Stolz.
Nachman holt ein Buch, das er immer wieder gelesen und mit Anmerkungen versehen hat, und reicht es Ephraïm.
»Da ist sie, die wahre Revolution.«
Das Buch trägt den Titel Der Judenstaat. Der Autor, Theodor Herzl, erläutert darin die Grundlagen für die Gründung eines unabhängigen Staates.
Ephraïm liest das Buch nicht. Er teilt seine Zeit ein zwischen der Orangenplantage seiner Eltern, auf der er kräftig mit anpacken muss, und seiner Arbeit als Ingenieur bei der P. E. C. Es bleiben ihm nur wenige Abende, an denen er sich in seine persönlichen Projekte vertiefen kann. Oft schläft er über den Plänen ein.
Emma leidet mit ihrem Mann, dessen Träume ausgebremst werden und zerplatzen. Sie selbst spielt nicht länger Klavier, weil sie kein Instrument besitzt. Um es nicht ganz zu vergessen, bittet sie Nachman, ihr aus Holzresten eine Tastatur zu bauen. Die kleinen Mädchen lernen auf dieser stummen Klavierattrappe spielen.
Ephraïm und Emma trösten sich damit, zu sehen, wie glücklich Myriam und Noémie mit ihrem neuen Leben an der frischen Luft sind. Die beiden lieben es, unter Palmen herumzulaufen und ihre Großeltern am Ärmel zu ziehen. Myriam geht in Haifa in den Kindergarten und lernt, hebräisch zu sprechen, Noémie auch. Die zionistische Bewegung setzt sich für den Gebrauch dieser Sprache ein.
»Heißt das, dass die Juden früher in ihrem Alltag nicht hebräisch gesprochen haben?«
»Nein. Die hebräische Sprache war ausschließlich die Sprache der Schriften.«
»Ein bisschen so, als hätte Pascal, anstatt die Bibel ins Französische zu übersetzen, die Menschen dazu ermutigt, Latein zu sprechen?«
»Genau so ist es. Hebräisch war also das dritte Alphabet, das Myriam lesen und schreiben lernte. Im Alter von sechs Jahren kann sich Myriam bereits auf Russisch ausdrücken, auf Deutsch dank ihrer Kinderfrau in Riga, auf Hebräisch, sie spricht ein paar Brocken Arabisch … und versteht Jiddisch. Aber sie kann kein einziges Wort Französisch.«
Im Dezember, zu Chanukka, dem Lichterfest, lernen die beiden Schwestern, aus Orangen Kerzen zu basteln, mit dem Stiel in der ausgehöhlten Schale der Frucht als Docht. Man muss sie nur noch mit Olivenöl füllen. Für die Kinder vergeht das Jahr im Rhythmus liturgischer Riten: Chanukka, Pessach, Sukkot, Jom Kippur … Und dann ereignet sich wieder etwas Neues, am 14. Dezember 1925 bekommen sie einen kleinen Bruder, Itzhak.
Nach der Geburt ihres Sohnes kehrt Emma offen zur Religion zurück. Ephraïm hat nicht die Kraft, sich zu widersetzen – er protestiert auf seine Weise, indem er sich an Jom Kippur rasiert. Früher stieß seine Mutter Seufzer aus, wenn ihr Sohn Gott provozierte. Doch jetzt macht sie ihm keine Vorwürfe mehr. Jeder merkt, dass es Ephraïm nicht gut geht, denn die Hitze und das Hin und Her zwischen Migdal und Haifa erschöpfen ihn. Er scheint immer weniger er selbst zu sein.
Auf diese Weise vergehen fünf Jahre ihres Lebens. Es sind Zyklen. Etwas mehr als vier Jahre in Lettland. Fast fünf Jahre in Palästina. Anders als in Riga, wo ihr Niedergang schnell und brutal erfolgte, verschlechtert sich ihre Situation in Migdal langsam, aber stetig, von Jahr zu Jahr.
»Am 10. Januar 1929 schreibt Ephraïm seinem älteren Bruder Boris einen Brief, den ich dir zeigen werde. Ein Brief, in dem er die Katastrophe gesteht, die das palästinensische Abenteuer für ihre Eltern und für ihn selbst bedeutet. Er sagt von sich, er habe keinen Cent und keinerlei Perspektive mehr, weiß nicht, wohin ich gehe, was ich morgen zu essen haben werde, und auch nicht, wie ich meinen Kindern Brot geben soll. Er sagt auch: Der Betrieb unserer Eltern erstickt in Schulden.«