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Dies ist die illustrierte Version dieses Klassikers. Nach einem Unfall bei ihrer Reise von San Francisco nach San Diego suchen die vier französischen Musiker Yvernes, Frascolin, Pinchinat und Zorn nach einem Nachtquartier. Dieses wird ihnen in einer nahegelegenen Stadt angeboten. Sie gelangen in eine elegante Stadtanlage, die sie in der umgebenden Einöde nicht erwartet hätten. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass sich die Musiker auf einer künstlichen Insel aus Stahl befinden, die von amerikanischen Milliardären erbaut wurde .... (aus wikipedia.de)
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Seitenzahl: 553
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Die Propeller-Insel
Jules Verne
Inhalt:
Jules Verne – Biografie und Bibliografie
Die Propeller-Insel
Erster Theil.
Erstes Capitel. Das Quartett.
Zweites Capitel. Die Wirkung einer kakophonischen Sonate.
Drittes Capitel. Ein redseliger Cicerone.
Viertes Capitel. Das verblüffte Concert-Quartett.
Fünftes Capitel. Standard-Island und Milliard-City.
Sechstes Capitel. Eingeladene.... Inviti.
Siebentes Capitel. Hinaus nach Westen.
Achtes Capitel. Unterwegs.
Neuntes Capitel. Die Gruppe der Sandwich-Inseln.
Zehntes Capitel. Die Passage der Linie.
Elftes Capitel. Die Marquisen-Inseln.
Zwölftes Capitel. Drei Wochen auf Pomoton.
Dreizehntes Capitel. Auf Tahiti.
Vierzehntes Capitel. Von einem Fest zum andern.
Zweiter Theil.
Erstes Capitel. Auf den Cooks-Inseln.
Zweites Capitel. Von Insel zu Insel.
Drittes Capitel. Ein Hofconcert.
Viertes Capitel. Ein britisches Ultimatum.
Fünftes Capitel. Das Tabu von Tonga-Tabelu.
Sechstes Capitel. Eine Sammlung von Raubthieren.
Siebentes Capitel. Treibjagden.
Achtes Capitel. Fidschi und seine Bewohner.
Neuntes Capitel. Ein Casus Belli.
Zehntes Capitel. Wechsel der Besitzer.
Elftes Capitel. Angriff und Abwehr.
Zwölftes Capitel. Steuerbord gegen Backbord.
Dreizehntes Capitel. Ein Schlagwort Pinchinat's.
Vierzehntes Capitel. Der schließliche Ausgang.
Die Propeller-Insel, Jules Verne
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849613556
www.jazzybee-verlag.de
Cover Design: © Can Stock Photo Inc. / Angelique
Franz. Schriftsteller, geb. 8. Febr. 1828 in Nantes, gest. 24. März 1905 in Amiens, studierte in Paris die Rechte, muß sich aber schon früh auch den Naturwissenschaften zugewandt haben, denn gleich sein erster Roman, der die Reihe jener originellen, eine völlig neue Gattung begründenden Produkte Vernes eröffnete: »Cinq semainesen ballon« (1863), zeugt von jenem Studium. Der Erfolg, dessen sich diese Schöpfung erfreute, bestimmte ihn, die dramatische Laufbahn, mit der er sich bereits durch mehrere »Comédies« und Operntexte vertraut gemacht hatte, zu verlassen und sich ausschließlich dem phantastisch-naturwissenschaftlichen Roman zu widmen. V. führt seine Leser auf den abenteuerlichsten, stets aber physikalisch motivierten Fahrten nach dem Monde, um den Mond, nach dem Mittelpunkte der Erde, »20,000 Meilen« unter das Meer, auf das Eis des Nordens, auf den Schnee des Montblanc, durch die Sonnenwelt etc., und man kann nicht leugnen, daß er es verstand, die ernste Lehre, wenigstens die große Fülle seiner realen Kenntnisse, mit dem Faden der poetischen Fiktion geschickt zu verweben und dem unkundigen Leser eine gewisse Anschauung von naturwissenschaftlichen Dingen und Fragen spielend beizubringen. Wir nennen hier seine »Aventures du capitaine Hatteras« (1867), »Les enfants du capitaine Grant«, »La découverte de la terre« (1870), »Voyage autour du monde en 80 jours« (1872), »Le docteur Ox« (1874), »Un hivernage dans le glâces«, »Michel Strogoff (Moscou, Ireoutsk)«, »Un capitaine de 15 aus«, »Les Indes noires« (1875), »La maison à vapeur«, »Mathias Sandorf« (1887), »Claudius Bombarnai«, »Le Château des Carpathes« (1892), alle bereits in vielen Ausgaben erschienen und von der Lesewelt verschlungen, auch meist ins Deutsche übersetzt und in Form von Ausstattungsstücken mit nicht geringem Erfolg auf die Bühne gebracht (vgl. »Les voyages an théâtre« von V. und A.Dennery). Die »Œuvres complètes« Vernes erschienen 1878 in 34 Bänden (illustrierte Ausg. 15 Bde.).
Romane:
Fünf Wochen im Ballon. 1875
Reise zum Mittelpunkt der Erde. 1873
Von der Erde zum Mond. 1873
Abenteuer des Kapitän Hatteras. 1875
Die Kinder des Kapitän Grant. 1875
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer. 1874
Reise um den Mond. 1873
Eine schwimmende Stadt. 1875
Abenteuer von drei Russen und drei Engländern in Südafrika. 1875
Das Land der Pelze. 1875
Reise um die Erde in 80 Tagen. 1873
Die geheimnisvolle Insel. 1875 und 1876
Der Chancellor. 1875
Der Kurier des Zaren. 1876
Reise durch die Sonnenwelt. 1878
Die Stadt unter der Erde. 1878
Ein Kapitän von 15 Jahren. 1879
Die 500 Millionen der Begum. 1880
Die Leiden eines Chinesen in China. 1880
Das Dampfhaus. 1881
Die „Jangada“. 1882
Die Schule der Robinsons. 1885
Der grüne Strahl. 1885
Keraban der Starrkopf. 1885
Der Südstern oder Das Land der Diamanten. 1886
Der Archipel in Flammen. 1886
Mathias Sandorf. 1887
Ein Lotterie-Los. 1887
Robur der Sieger. 1887
Nord gegen Süd. 1888
Zwei Jahre Ferien. 1889
Die Familie ohne Namen. 1891
Kein Durcheinander. 1891
Cäsar Cascabel. 1891
Mistress Branican. 1891
Das Karpatenschloss. 1893
Claudius Bombarnac. 1893
Der Findling. 1894
Meister Antifers wunderbare Abenteuer. 1894
Die Propellerinsel. 1895
Vor der Flagge des Vaterlandes. 1896
Clovis Dardentor. 1896
Die Eissphinx. 1897
Der stolze Orinoco. 1898
Das Testament eines Exzentrischen. 1899
Das zweite Vaterland. 1901
Das Dorf in den Lüften.1901
Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin.1901
Die Gebrüder Kip 1903
Reisestipendien. 1903
Ein Drama in Livland. 1904
Der Herr der Welt. 1904
Der Einbruch des Meeres. 1905
Wenn eine Reise schlecht anfängt, nimmt sie gewöhnlich auch kein gutes Ende. Diesen Glaubenssatz hätten wenigstens die vier Musiker unterschreiben können, deren Instrumente hier auf der Erde umherlagen. Die Coach, worin sie an der letzten Eisenbahnstation hatten Platz nehmen müssen, war nämlich soeben gegen die Böschung des Weges hier plötzlich umgestürzt.
»Es ist doch keiner verwundet? fragte der Erste, der sich schon, wenn auch mühsam, wieder aufgerichtet hatte.
– Ich bin mit einem Ritz in der Haut davongekommen, antwortete der Zweite, indem er sich die durch eine gesprungene Kutschenscheibe verletzte Wange abwischte.
– Und ich mit einer Hautabschürfung!« erwiderte der Dritte, von dessen Wade ein Tröpfchen Blut hervorquoll.
Niemand hatte also ernstlichen Schaden genommen.
»Doch mein Violoncell! rief der Vierte. Wenn nur mit meinem Violoncell nichts passirt ist!«
Zum Glück erweisen sich die Instrumentenkästen alle unversehrt. Weder das Violoncell, noch die Bratsche oder die beiden Violinen hatten von dem Stoße gelitten, ja es war sogar kaum nöthig, sie neu zu stimmen. Eine vortreffliche Sorte Instrumente, nicht wahr?
»Verwünschte Eisenbahn, die uns auf halbem Wege sitzen läßt! beginnt der Eine wieder.
– Verwünschte Kutsche, die mit uns mitten in der Wildniß umwirft! setzt der Zweite hinzu.
– Und gerade zur Zeit, wo es anfängt dunkel zu werden! jammert der Dritte.
– Zum Glück ist unser Concert erst für übermorgen angezeigt!« bemerkt der Vierte.
Dann folgen einige drollige Wechselreden zwischen den Künstlern, die ihr Mißgeschick von der lustigen Seite aufgenommen haben. Der eine entlehnt seine Kalauer nach eingewurzelter Gewohnheit der musiktechnischen Sprache und sagt:
»Na, da wäre ja unsre Coach glücklich »auf den Rücken gelegt!«1
– Au, Pinchinat! ruft einer seiner Gefährten.
– Und ich meine, fährt Pinchinat fort, wir haben umgeworfen, weil wir die Vorzeichnung (Schlüssel) der Straße unbeachtet ließen.
– Wirst Du schweigen lernen?
– Und wir werden gut thun, unsre Stücke in eine andre Coach zu transponieren!« wagt Pinchinat noch hinzuzusetzen.
Ja, es handelte sich um einen tüchtigen Unfall und Umfall, wie der Leser sofort erkennen wird.
Die angeführten Worte wurden französisch gesprochen; es hätte dies aber auch englisch erfolgen können, denn das Quartett beherrschte die Sprache Walter Scott's und Cooper's – Dank vielfachen Kunstreisen in Ländern angelsächsischen Ursprungs – ebenso wie die eigne Muttersprache. So verhandeln sie denn auch nur auf englisch mit dem Führer der Coach.
Dieser brave Mann hat am schlimmsten zu leiden, da er, als die Vorderachse des Wagens brach, von seinem erhöhten Sitz heruntergeschleudert wurde. Zum Glück beschränkte sich das auf verschiedne mehr schmerzhafte als ernste Contusionen. Immerhin kann er in Folge einer Verstauchung nicht auftreten und also nicht gehen, und daraus ergibt sich die Nothwendigkeit, ein Hilfsmittel zu finden, um den Mann wenigstens bis ins nächste Dorf zu schaffen.
Es ist wirklich ein Wunder zu nennen, daß bei dem Unfall niemand das Leben eingebüßt hat. Der Weg schlängelt sich nämlich durch eine sehr bergige Gegend, streift da und dort an schroffe Abgründe oder wird von rauschenden Bergströmen begleitet und häufig durch kaum zu passirende Furthen unterbrochen. Wäre der Bruch am Vordertheil des Wagens nur eine kurze Strecke weiter oben erfolgt, so wäre das Gefährt ohne Zweifel über das Felsengeröll des Abhangs hinuntergestürzt und vielleicht wäre bei dieser Katastrophe keiner mit dem Leben davongekommen.
Jedenfalls war die Coach jetzt aber nicht weiter zu benutzen. Dazu liegt eines der beiden Pferde, das sich mit dem Kopfe an einen spitzen Stein gestoßen hat, röchelnd am Boden. Das andre ist an der Hanke ziemlich schwer verletzt. Da fehlte es nun an einem Wagen ebenso wie an einem Gespann dafür.
Die vier Künstler waren auf dem Boden Nieder-Californiens überhaupt von einem seltenen Pech verfolgt worden und hatten binnen vierundzwanzig Stunden nun zwei Unfälle erlitten. Wenn man da aber nicht gerade Philosoph ist...
Zu jener Zeit stand San Francisco, die Hauptstadt des Staates, schon durch einen Schienenstrang in unmittelbarer Verbindung mit San Diego, das fast an der Grenze der alten Provinz Californien liegt. Nach dieser bedeutenden Stadt begaben sich die vier Künstler, die dort am übernächsten Tage ein vielfach angezeigtes und mit Spannung erwartetes Concert geben sollten. Am Tage vorher von San Francisco abgefahren, befand sich der Zug kaum noch fünfzig (amerikanische) Meilen von San Diego, als sich zuerst ein »aus dem Tempo kommen« ereignete.
Jawohl, ein aus dem Tempo kommen, wie der Lustigste der kleinen Gesellschaft sagte, und diesen Ausdruck wird man einem alten Schüler des Noten-abc schon freundlich nachsehen.
An der Station Paschal hatte es einen unfreiwilligen Aufenthalt, nämlich deshalb gegeben, weil der Bahndamm durch ein plötzliches Hochwasser auf eine Strecke von drei bis vier Meilen zerstört worden war. Erst zwei Meilen weiter hin konnte man die Eisenbahn wieder besteigen, und eine Ueberführung der Reisenden war auch noch nicht eingerichtet, weil sich der Unfall erst vor wenigen Stunden ereignet hatte.
Nun gab es nur eine Wahl: entweder zu warten, bis die Bahn wieder fahrbar war, oder in der nächsten Ortschaft einen Wagen bis San Diego zu miethen.
Das Quartett hatte den zweiten Ausweg gewählt. In einem benachbarten Dorfe entdeckten sie glücklich eine Art alten Landauers mit rasselndem Eisenwerk, dessen Inneres von Motten zerfressen und alles andre als einladend war. Mit dem Besitzer um den Fahrpreis einig geworden, hatten sie den Kutscher noch durch das Versprechen eines reichlichen Trinkgeldes bestochen und waren nur mit den Instrumenten, ohne das übrige Reisegepäck, wohlgemuth davongerollt. Das war gegen zwei Uhr Nachmittag, und bis sieben Uhr ging die Fahrt auch ohne große Schwierigkeit und Anstrengung von statten. Dann sollten sie aber zum zweiten Male »aus dem Tempo kommen«, indem die alte Kutsche umstürzte, und zwar so unglücklich, daß sich eine Weiterbenutzung derselben ganz von selbst verbot.
Jetzt befand sich das Quartett noch reichlich zwanzig Meilen von San Diego entfernt.
Ja, warum hatten sich denn die vier Musiker – von Nation Franzosen und, was noch mehr sagen will, von Geburt Pariser – in diese unwirthlichen Gebiete Nieder-Californiens verirrt?
Warum?... Das werden wir sofort kurz mittheilen und werden dabei mit einigen Zügen die vier Virtuosen abmalen, die der Zufall, der phantastische Rollenvertheiler, den Persönlichkeiten der nachfolgenden merkwürdigen Geschichte zugesellen sollte.
Im Laufe des betreffenden Jahres – wir können es nur auf etwa dreißig Jahre genau bestimmen – hatten die Vereinigten Staaten von Amerika die Zahl der Sterne in ihrer Bundesflagge verdoppelt. Sie stehen in der vollen Entfaltung ihrer industriellen und commerciellen Macht, nachdem sie das Dominium von Canada bis zur äußersten Grenze am Polarmeere, doch auch die Gebiete von Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Costarica bis zum Panamacanale ihrem Bundesstaate einverleibt hatten. Gleichzeitig hatte sich bei den länderraubenden Yankees die Neigung für die Kunst entwickelt, und wenn auch ihr eignes Schaffen im Gebiete des Schönen noch recht beschränkt blieb, wenn der Nationalgeist sich gegen die Malerei, die Bildhauerkunst und die Musik noch etwas widerstrebend erwies, so hatte sich der Geschmack an den Werken der schönen Künste bei ihnen doch allgemein verbreitet. Dadurch, daß sie die Gemälde alter und neuer Meister mit Gold aufwogen, um private oder öffentliche Sammlungen zu füllen, und daß sie berühmte lyrische oder dramatische Künstler, ebenso wie die besten Instrumentalisten oft für unerhörte Preise heranzogen, hatten sie sich endlich den ihnen so lange mangelnden Sinn für schöne und edle Dinge allmählich eingeimpft.
Was die Musik betrifft, begeisterten sich die Dilettanten der Neuen Welt anfänglich an den Werken eines Meyerbeer, Halévy, Gounod, Berlioz, Wagner, Verdi, Massé, Saint-Saëns, Reyer, Massenet und Delibes, der berühmten Tonsetzer der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Dann gelangten sie nach und nach zum Verständniß der tiefsinnigeren Arbeiten eines Mozart, Beethoven und Haydn und strebten den Quellen jener höchsten Kunst entgegen, die im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts so reichlich flossen. Da folgten den Opern die lyrischen Dramen, den lyrischen Dramen die Symphonien, Sonaten und die Orchestersuiten. Zur Zeit, von der wir sprechen, machten gerade die Sonaten in den verschiedenen Staaten der Union gewaltiges Aufsehen. Man bezahlte sie willig Note für Note, die halbe mit zwanzig, die viertel mit zehn, die achtel Note mit fünf Dollars.
Von dieser Modetollheit unterrichtet, unternahmen es vier hochangesehene Instrumentalisten, sich in den Vereinigten Staaten von Amerika Ruhm und Schätze zu erringen. Es waren vier gute Kameraden, frühere Schüler des Pariser Conservatoriums und in der französischen Hauptstadt sehr bekannte Leute, die vorzüglich von den Liebhabern der in Amerika noch wenig verbreiteten sogenannten »Kammermusik« besonders geschätzt wurden. Mit welch seltener Vollendung, welch herrlichem Zusammenspiel und tiefem Verständniß brachten sie aber auch die Werke eines Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Haydn und Chopin zu Gehör, diese unsterblichen Compositionen, die für vier Streichinstrumente, eine erste und eine zweite Geige, eine Bratsche und ein Violoncell, geschrieben sind! Da gab es keinen Lärm, nichts Geschäftsmäßiges, wohl aber eine tadellose Ausführung, eine unvergleichliche Virtuosität! Die Erfolge des Quartetts erscheinen um so begreiflicher, als man jener Zeit gerade anfing, der ungeheuern harmonischen und symphonischen Orchester müde zu werden. Ist die Musik auch immer eine aus kunstvoll combinirten sonoren Wellen erzeugte Seelenerschütterung, so braucht man diese Wellen doch nicht zu betäubenden Sturmfluthen zu entfesseln.
Kurz, unsre vier Musiker beschlossen, die Amerikaner in die sanften und unaussprechlichen Genüsse der Kammermusik einzuführen. Sie reisten zusammen nach der Neuen Welt, und seit zwei Jahren sparten ihnen gegenüber die Yankee-Dilettanten auch in keiner Weise, weder mit Hurrahs, noch mit ebenso erhebend klingenden Dollars. Ihre musikalischen Matinéen oder Soiréen waren außerordentlich begehrt. Das »Concert-Quartett« – so lautete die übliche Bezeichnung – war kaum im Stande, den Einladungen der reichen Leute nachzukommen. Ohne jenes gab es kein Fest, keine Réunion, keinen Raout, keinen Five o'clock-Thee, ja keine Gardenparties, die der öffentlichen Aufmerksamkeit empfohlen zu werden verdient hätten. Bei dieser allgemeinen Begeisterung hatte genanntes Quartett schon ganz gewaltige Summen eingeheimst, die, wenn sie sich in den Panzerschränken der Bank von New-York aufgesammelt hätten, schon ein recht hübsches Capital dargestellt haben würden. Doch – warum sollten wir es verheimlichen? – unsre amerikanischen Pariser streuten das Geld auch mit vollen Händen wieder aus. Die Fürsten des Bogens, die Könige von vier Saiten dachten gar nicht ans Aufspeichern von Schätzen. Sie hatten an ihrem etwas abenteuerlichen Leben Geschmack gefunden in der Gewißheit, überall gute Aufnahme und reichlichen Verdienst zu finden, und so flatterten sie von New-York nach San Francisco, von Quebec nach Neu-Orléans, von Neu-Schottland nach Texas – vielleicht etwas à la Bohème, aber in der Bohème der Jugend, die ja die älteste, liebenswürdigste und beneidenswertheste überall auf Erden ist.
Wenn wir uns nicht arg täuschen, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Leutchen persönlich und mit Namen denen unsrer freundlichen Leser vorzustellen, die das Vergnügen, jene zu hören, weder gehabt haben, noch je haben werden.
Yvernes – die erste Violine – zweiunddreißig Jahre alt, von etwas übermittler Statur, bestrebt mager zu bleiben, hat blondes, unten etwas gelocktes Haar, glattes Gesicht, große dunkle Augen, lange Hände, die dazu geschaffen scheinen, auf seiner Guarnerio alles mögliche zu greifen, zeigt elegantes Auftreten, liebt es, sich in einen dunkelfarbigen Mantel zu hüllen, trägt gern einen hochköpfigen Seidenhut, ist vielleicht etwas schauspielerischer »Poseur«, doch jedenfalls der Harmloseste der Gesellschaft, der sich um Geldangelegenheiten nicht kümmert sondern vor allem andern Künstler, begeisterter Bewunderer alles Schönen und Virtuose von großem Talent und glänzender Zukunft ist.
Frascolin – die zweite Violine – dreißig Jahre alt, klein, mit Neigung zu Fettleibigkeit, worüber er oft in helle Wuth geräth, braun von Bart- und Kopfhaar, mit starkem Kopf, dunkeln Augen, langer Nase mit sehr beweglichen Flügeln und gerötheten Flecken an den Stellen, wo die Federn seines goldgefaßten Lorgnons mit stark concaven Gläsern, das er leider nicht entbehren kann, aufsitzen. Uebrigens ein gutmüthiger, zuvorkommender, dienstwilliger Mann, der sich jeder Mühewaltung unterzieht, um sie seinen Collegen zu ersparen, führt er die Casse für das Quartett und empfiehlt immer äußerste Sparsamkeit, freilich ohne damit je Gehör zu finden. Ohne jeden Neid auf den Erfolg seines Collegen Yvernes und ohne den Ehrgeiz, das Pult der ersten Violine jemals für sich zu erobern, ist er doch ein vortrefflicher Künstler. Ueber dem Reiseanzug trägt er stets einen weiten Staubmantel.
Pinchinat – die Bratsche – gewöhnlich »Seine Hoheit«2 genannt, siebenundzwanzig Jahre alt, der jüngste der Truppe und auch der witzigste, lustigste Patron derselben, einer jener unverbesserlichen Typen, die ihr Leben lang übermüthige Straßenjungen bleiben, mit seinem Kopf, geistvollen, stets aufmerksamen Augen, ins Röthliche spielendem Haar und mit spitz auslaufendem Schnurrbart. Er schnalzt gern mit der Zunge an den weißen, scharfen Zähnen und ist eingefleischter Liebhaber von Kalauern und Calembours, ebenso bereit zum Angriff wie zur Abwehr, das Gehirn voller Schnurren – »eine vollständige Ausstattung«, sagt er – von unverwüstlichem Humor, immer Possen treibend und ohne sich deshalb, weil sie seine Collegen zuweilen in Verlegenheit bringen, ein graues Haar wachsen zu lassen. Darum treffen ihn auch häufig die Vorwürfe und väterlichen Strafpredigten des Führers und Oberhauptes des Quartetts.
Es giebt hier natürlich auch einen Führer, den Violoncellisten Sebastian Zorn, ein Oberhaupt ebenso durch sein Talent wie durch sein Alter – er zählt bereits zweiundfünfzig Sommer – dieser ist klein, dick und fett, blond, mit reichlichem, den Schläfen mit Herzenshäkchen anliegendem Haar und starrem Schnurrbart, der sich im Gewirr des spitz auslaufenden Backenbartes verliert. Sein Teint spielt ins Backsteinfarbige und seine Augen glänzen durch die Gläser der Brille, die er beim Lesen u. dgl. noch durch eine Lorgnette verschärft. Dabei hat er fleischige, runde Hände, von denen die rechte, der man die Gewohnheit an die wiegenden Bogenbewegungen anmerkt, am Gold- und am kleinen Finger mit großen Ringen geschmückt ist.
Diese flüchtige Skizze genügt wohl, den Mann und den Künstler zu kennzeichnen. Man hält aber nicht ungestraft vierzig Jahre hindurch einen klingenden Kasten zwischen den Knieen. Das beeinflußt das ganze Leben und modelt den Charakter. Die allermeisten Violoncellspieler sind redselig und auffahrend, haben gern das große Wort und reden über allerlei – übrigens nicht ohne Geist. Ein solches Exemplar ist auch Sebastian Zorn, dem Yvernes, Frascolin und Pinchinat die Leitung ihrer musikalischen Streifzüge willig überlassen haben. Sie lassen ihn reden und nach Gutdünken handeln, denn er versteht sich auf's Geschäft. An sein etwas befehlerisches Wesen gewöhnt, lachen sie darüber nur, wenn er einmal »über den Steg hinausgreift«, was für einen Streichinstrumentenspieler, wie Pinchinat respectlos bemerkte, sehr bedauerlich ist. Die Zusammenstellung, der Programme, die Leitung der Reisen, die schriftlichen Verhandlungen mit den Impresarios... alle diese vielfachen Arbeiten lagen auf seinen Schultern und gaben ihm vollauf Gelegenheit, sein aggressives Temperament zu bethätigen. Nur um die Einnahmen bekümmerte er sich nicht, ebensowenig wie um die Verwaltung der gemeinschaftlichen Casse, die der Obhut des zweiten Violinisten und in erster Linie haftbaren, des sorgsamen und peinlich ordentlichen Frascolin anvertraut war.
Das Quartett wäre nun vorgestellt, als stände es am Rande eines Podiums vor unsern Augen. Der Leser kennt die Einzelnen, die zwar nicht sehr originelle, doch mindestens scharf von einander getrennte Typen bilden, und er gestatte freundlichst, diese Erzählung sich abspielen zu lassen, wobei er sehen wird, welche Rolle darin zu spielen die vier Pariser Kinder berufen sind, sie, die nach so reichlich in den Staaten des amerikanischen Bundes geerntetem Beifall jetzt auf dem Wege waren nach... Doch greifen wir nicht voraus, »überstürzen wir den Takt nicht!« würde Seine Hoheit rufen, und fassen wir uns in Geduld.
Die vier Pariser befanden sich also gegen acht Uhr des Abends auf einer verlassenen Straße – wenn man dem Weg so schmeicheln darf – Nieder-Californiens neben den Trümmern ihres »umgestürzten Wagens«... Musik von Boieldieu, hat Pinchinat gesagt. Wenn Frascolin, Yvernes und er das kleine Abenteuer mit philosophischem Gleichmuth hingenommen hatten und sich sogar mit einigen Scherzreden darüber wegzuhelfen suchten, so liegt es doch auf der Hand, daß wenigstens der Anführer des Quartetts Ursache genug hatte, in hellen »Zorn« zu gerathen. Wir wissen ja, der Violoncellist hat eine leicht kochende Galle und, wie man zu sagen pflegt, Blut unter den Nägeln. Yvernes behauptet von ihm auch steif und fest, daß er aus der Familie eines Ajax oder Achilles abstamme, die auch nicht gerade sanftmüthiger Natur waren.
Um nichts zu vergessen, fügen wir jedoch hinzu, daß, wenn Sebastian Zorn cholerisch, Yvernes phlegmatisch, Frascolin friedlich und Pinchinat von übersprudelnder Lustigkeit war, doch alle gute Kameradschaft hielten und für einander eine wahrhaft brüderliche Freundschaft hegten. Sie fühlten sich vereinigt durch ein Band, das keine Meinungsverschiedenheit, keine Eigenliebe zu zerreißen vermochte, durch eine Uebereinstimmung der Neigungen und des Geschmacks, die ein und derselben Quelle entstammte. Ihre Herzen bewahrten wie gute Instrumente stets eine ungestörte Harmonie.
Während Sebastian Zorn darauf loswettert, indem er seinen Violoncellkasten betastet, um sich zu versichern, daß er noch heil und ganz ist, tritt Frascolin an den Wagenführer heran.
»Nun, lieber Freund, fragt er, was meint Ihr denn, was wir jetzt beginnen?
– Beginnen? antwortet der Mann. Wenn man weder Pferde noch Wagen mehr hat... da wartet man eben...
– Warten, bis zufällig einer kommt! ruft Pinchinat. Und wenn nun keiner käme...
– Da sucht man nach einem, bemerkt Frascolin, den sein praktischer Sinn niemals verläßt.
– Doch wo? poltert Zorn hervor, der wüthend auf der Straße hin- und herläuft.
– Wo?... Ei da, wo sich einer befindet, erwidert der Rosselenker.
– Sapperment, Sie Kutschenbockbewohner, fährt der Violoncellist mit einer Stimme auf, die schon allmählich in die höchsten Register übergeht, soll das etwa eine Antwort sein? So ein ungeschickter Mensch, der uns umwirft, seinen Wagen zertrümmert und die Pferde zu Krüppeln macht, und der begnügt sich zu erklären: »Ziehen Sie sich aus der Klemme, so gut und so schlecht es eben angeht!«
Von seiner angebornen Zungenfertigkeit fortgerissen, verirrt sich Sebastian Zorn in eine endlose Reihe mindestens nutzloser Verwünschungen, bis Frascolin ihn unterbricht mit den Worten:
»Na, überlass' das nur mir, alter Freund!«
Dann wendet er sich nochmals an den Wagenführer.
»Wo befinden wir uns denn jetzt, guter Mann?
– Fünf (amerikanische) Meilen von Freschal.
– Ist das etwa Eisenbahnstation?
– Nein... ein Dorf in der Nähe der Küste.
– Würden wir dort einen Wagen finden?
– Einen Wagen wohl nicht, vielleicht aber einen Karren...
– Einen Ochsenkarren, wie zur Zeit der Merowinger! ruft Pinchinat.
– Das kann uns auch gleichgiltig sein, meint Frascolin.
– Frage lieber, nimmt Sebastian Zorn wieder das Wort, ob sich in dem Neste, dem Freschal, ein Gasthaus vorfindet.
– Ja wohl, das giebt's; dort hätten wir einen kurzen Halt gemacht.
– Und um nach diesem Dorfe zu gelangen, brauchen wir nur der Landstraße zu folgen?
– Ganz gradeaus.
– Dann also marsch! befiehlt der Violoncellist.
– Es wäre doch grausam, den wackern Mann hier in seiner Noth liegen zu lassen, bemerkt Pinchinat. He, guter Freund, wenn wir Sie nun unterstützten, könnten Sie dann nicht...
– Ganz unmöglich! antwortet der Kutscher. Uebrigens ziehe ich es vor, hier, bei meinem Wagen zu bleiben. Wenn's erst wieder Tag wird, werd' ich schon sehen, wie ich fortkomme.
– Wenn wir in Freschal sind, bemerkt Frascolin, könnten wir Ihnen ja Hilfe schicken.
– Ja, der dortige Gastwirth kennt mich und wird mich nicht in der Noth sitzen lassen.
– Geht's nun fort? mahnt der Violoncellist, der seinen Instrumentenkasten schon aufgerichtet hat.
– Sofort, erwidert Pinchinat. Vorher wollen wir unsern Kutscher nur dort an die Erdwand hinüberschaffen.«
Natürlich war es einfache Menschenpflicht, den Mann von der Landstraße wegzubringen, und da er sich seiner schwerverletzten Beine nicht bedienen konnte, hoben Pinchinat und Frascolin ihn auf, trugen ihn nach der Seite des Weges und lagerten ihn zwischen die oberirdischen Wurzeln eines dicken Baumes, dessen herabhängende, unterste Zweige fast eine Blätterlaube bildeten.
»Na, wird's nun endlich? drängt Sebastian Zorn zum dritten Male, nachdem er sich den Violoncellkasten schon mittelst mehrerer Riemen so gut wie möglich auf den Rücken geschnallt hatte.
– So, das wäre geschehen,« sagte Frascolin gelassen.
Dann wendet er sich noch einmal an den Wagenführer.
»Es bleibt also dabei; der Gastwirth von Freschal sendet Ihnen Hilfe. Haben Sie bis dahin vielleicht noch ein besonderes Bedürfniß, guter Freund?
– Ach ja, antwortet der Mann, nach einem tüchtigen Schluck Gin, wenn in Ihren Korbflaschen davon noch etwas übrig ist.«
Pinchinat's Flasche ist noch ganz voll, und Seine Hoheit bringt willig das kleine Opfer.
»Nun, Männchen, sagt er lächelnd, damit werden Sie die Nacht über wenigstens innerlich nicht frieren!«
Eine letzte dringliche Mahnung des Violoncellisten bestimmt seine Gefährten endlich, sich in Bewegung zu setzen. Es ist ein Glück, daß deren sonstiges Gepäck im Güterwagen des Zugs geblieben ist, statt daß sie es mit auf die Coach verladen hätten. Trifft dasselbe in San Diego auch mit einiger Verspätung ein, so bleibt unsern Musikern doch die Beschwerde erspart, es jetzt nach dem Dorfe Freschal zu befördern. Es ist schon genug an den Violinenkästen, und an dem Violoncellkasten mehr als genug. Ein seines Namens würdiger Instrumentalist trennt sich freilich niemals von seinem Instrumente – so wenig, wie ein Soldat von seinen Waffen oder eine Schnecke von ihrem Hause.
Fußnoten
1 Im Original »mi sur le do«, ein deutsch nicht wiederzugebendes Wortspiel, da mi und do die Noten C und E bedeuten, ohne Rücksicht auf Rechtschreibung aber auch als »gelegt« und »Rücken« verstanden werden können.
Anm. d. Uebersetzers.
2 Französisch »Son Altesse«, hier als unübertragbares Wortspiel von »alto« (Bratsche) abgeleitet.
Anm. d. Uebersetzers.
Im Finstern und zu Fuß auf unbekannter Straße hinzuziehen, obendrein inmitten einer fast öden Gegend, wo Uebelthäter im allgemeinen weniger selten sind als Reisende, hat immer etwas Beunruhigendes an sich. In dieser Lage befand sich nun unser Quartett. Franzosen sind ja am Ende muthig, und die hier sind es in besonderm Maße. Doch zwischen dem Muthe und der Furchtsamkeit verläuft noch eine Scheidelinie, die von der gesunden Vernunft nicht übersehen werden darf. Wäre die Eisenbahn nicht durch eine von plötzlichem Hochwasser überfluthete Gegend verlaufen und wäre die Coach fünf Meilen vor Freschal nicht umgestürzt, so hätte sich unsre kleine Künstlerschaar nicht in die Zwangslage versetzt gesehen, des Nachts auf dieser verdächtigen Straße hinzuwandern. Hoffen wir indeß, daß ihr dabei kein Unheil zustößt.
Es ist etwa um acht Uhr, wo Sebastian Zorn und seine Kameraden, den Weisungen des Wagenführers entsprechend, die Richtung nach der Küste zu einschlagen. Da die Violinen nur in leichten, wenig umfänglichen Lederetuis stecken, haben die Geiger keine besondre Ursache, sich zu beklagen. Sie thun das auch nicht, weder der weise Frascolin, noch der lustige Pinchinat oder der idealistisch angehauchte Yvernes. Der Violoncellist aber mit seinem umfänglichen Instrumentenkasten, der hat etwas wie einen Schrank auf dem Rücken. Bei seinem uns bekannten Charakter ist es nicht zu verwundern, daß er darüber weidlich wettert und schimpft. Daneben ächzt und stöhnt der Mann, was sich unter der onomatopoetischen Form von Ahs! Ohs! und Uffs! hörbar macht.
Schon herrscht eine tiefe Finsterniß. Dicke Wolken jagen über das Himmelsgewölbe, die manchmal da und dort etwas zerreißen und dann eine spöttische Mondsichel kaum im ersten Viertel hindurchscheinen lassen. Man weiß nicht, warum – wenn nicht deswegen, weil er einmal in bissiger, reizbarer Stimmung ist – die blonde Phöbe nicht das Glück hat, unserm Sebastian Zorn zu gefallen. Er streckt ihr aber die geballte Faust entgegen und ruft:
»Na, was hast denn Du mit Deinem einfältigen Gesichte vor?... Nein, wirklich, ich kenne nichts alberneres, als diese Schnitte einer unreifen Melone, die da oben hinspaziert!
– Es wäre freilich besser, wenn der Mond uns das volle Gesicht zukehrte, meinte Frascolin.
– Und warum das? fragte Pinchinat.
– Weil wir da besser sehen könnten.
– O, Du keusche Diana, Du friedliche Nachtwandlerin, Du bleicher Satellit der Erde, o Du angebetetes Ideal des anbetungswürdigen Endymion...
– Bist Du fertig mit Deiner Verhimmelung? ruft der Violoncellist. Wenn diese ersten Geigen erst anfangen, weit auf der Quinte herunter zu rutschen....
– Etwas schneller vorwärts, fiel Frascolin ein, sonst haben wir das Vergnügen, noch unter freiem Himmel zu übernachten....
– Wenn freier Himmel wäre... und dazu noch unser Concert in San Diego zu versäumen! bemerkt Pinchinat.
– Wahrhaftig, ein hübscher Gedanke! ruft Sebastian Zorn, der seinen Kasten schüttelt, daß er einen kläglichen Ton von sich giebt.
– Doch dieser Gedanke, mein alter Kamerad, sagt Pinchinat, rührt ursprünglich von Dir her...
– Von mir?...
– Gewiß! Warum sind wir nicht in San Francisco geblieben, wo wir Gelegenheit hatten, eine ganze Sammlung californischer Ohren zu ergötzen!
– Nun, fragt der Violoncellist, warum sind wir dann fortgegangen?
– Weil Du es so wolltest.
– Dann muß ich gestehen, eine beklagenswerthe Eingebung gehabt zu haben, und wenn...
– Ah, seht einmal da! fällt Yvernes ein, der mit der Hand nach einem bestimmten Punkte des Himmels weist, wo ein dünner Mondstrahl die Ränder einer Wolke mit weißlicher Einfassung säumt.
– Was giebt es denn, Yvernes?
– Zeigt jene Wolke nicht ganz die Gestalt eines Drachen mit ausgebreiteten Flügeln und einem Pfauenschwanze mit hundert Argusaugen darauf?«
Jedenfalls ist Sebastian Zorn nicht mit der Fähigkeit, hundertfältig zu sehen, ausgerüstet, die den Hüter der Tochter des Inachos auszeichnete, denn er bemerkt nicht ein tief ausgefahrenes Geleise, worin er unglücklicherweise mit dem Fuße hängen bleibt. Dadurch fällt er platt auf den Leib, so daß er mit seinem Kasten auf dem Rücken einer großen Coleoptere gleicht, die auf der Erde hinkröche.
Natürlich kommt der Instrumentalist wieder in Wuth – er hat ja auch alle Ursache dazu – und schimpft auf die erste Violine wegen deren Bewunderung ihres in der Luft schwebenden Ungeheuers.
»Da ist nur der Yvernes dran schuld! fährt Sebastian Zorn auf. Hätte ich nicht nach seinem verwünschten Drachen gesehen...
– Es ist gar kein Drache mehr, liebe Freunde, sondern jetzt nur noch eine Amphora! Mit einigermaßen entwickelter Phantasie bemerkt man sie in der Hand der Nektar einschänkenden Hebe...
– Doch denken wir daran, daß in jenem Nektar verteufelt viel Wasser ist, ruft Pinchinat, und hüten wir uns, daß Deine reizende Göttin der Jugend nicht ein Sturzbad über uns ausgießt!«
Das hätte die Lage der Wandrer freilich noch verschlimmert, und thatsächlich fängt das Wetter an, mit Regen zu drohen. Die Vorsicht treibt also zur Eile, um in Freschal rechtzeitig Schutz zu finden.
Man hebt den zornschnaubenden Violoncellisten auf und stellt den Brummbär wieder auf die Füße. Der gefällige Frascolin erbietet sich, ihm seinen Kasten abzunehmen. Sebastian Zorn will das zuerst nicht zugeben... er, sich von seinem Instrumente trennen... einem Violoncell von Gaud und Bernardel... das heißt ja, von einer Hälfte seines Selbst... Er muß sich aber fügen, und somit geht diese kostbare Hälfte auf den Rücken des dienstwilligen Frascolin über, der dafür sein leichtes Etui genanntem Zorn anvertraut. Nun geht es weiter und raschen Schrittes zwei Meilen vorwärts, ohne daß sich etwas Besonderes ereignet. Die mit Regen drohende Nacht wird immer finstrer. Schon fallen einige große Tropfen, der Beweis, daß sie aus hochziehenden, gewitterhaften Wolken stammen. Die Amphora der hübschen Hebe unsers Yvernes entleert sich jedoch nicht weiter, und die vier Nachtwandler dürfen hoffen, Freschal im Zustande vollständiger Trockenheit zu erreichen.
Immerhin bedarf es noch peinlichster Aufmerksamkeit, um auf dieser finstern Straße nicht zu Fall zu kommen, denn abgesehen von den tiefen Wagenspuren verläuft sie oft in scharfen Krümmungen um vorspringende Felsmassen oder führt neben düstern Schluchten hin, aus denen der Trompetenton der Berggewässer heraufschallt. Wenn Yvernes das bei seiner Sinnesveranlagung poetisch findet, so nennt es Frascolin bei der seinigen mindestens beunruhigend.
Daneben waren noch unliebsame Begegnungen zu fürchten, die die Sicherheit aller Reisenden auf den Landstraßen Niedercaliforniens sehr zweifelhaft machen. Das Quartett besaß an Waffen aber nur die drei Violin- und den einen Violoncellbogen, die in einem Lande, wo der Colt'sche Revolver erfunden und damals noch erheblich verbessert worden war, doch als etwas unzureichend erscheinen dürften. Wären Sebastian Zorn und seine Kameraden Amerikaner gewesen, so würden sie sich jedenfalls mit dieser handlichen Schutzwaffe versehen haben, die man dort zu Lande immer in einer besondern kleinen Hosentasche bei sich trägt. Um auch nur auf der Bahn von San Francisco nach San Diego zu fahren, würde sich kein waschechter Yankee ohne diesen sechsschüssigen Begleiter auf die Reise begeben haben. Unsre Franzosen hatten das freilich nicht für nöthig erachtet. Fügen wir hinzu, daß sie daran gar nicht gedacht und es doch vielleicht zu bereuen haben dürften.
Pinchinat marschiert an der Spitze und behält die Böschungen der Straße scharf im Auge. Wo diese von rechts und links her sehr eingeengt erscheint, ist ein unerwarteter Ueberfall weniger zu fürchten. Als Bruder Lustig wandelt ihn immer einmal das Verlangen an, seinen Kameraden »einen gelinden Schrecken einzujagen«, z. B. dadurch, daß er plötzlich stehen bleibt und mit vor Schreck bebender Stimme murmelt:
»Halt!... Da unten... was seh' ich da?... Halten wir uns fertig, Feuer zu geben!«
Wenn der Weg sich aber durch einen dichten Wald hinzieht, inmitten der Mammuthbäume, der hundertfünfzig Fuß hohen Sequoias, jener Pflanzenriesen des californischen Landes... dann vergeht ihm selbst die Lust zum Scherzen. Hinter jedem dieser ungeheuern Stämme können sich bequem zehn Mann verbergen. Sollten sie hier nicht das Aufblitzen eines hellen Scheines, dem ein trockner Knall folgt, zu sehen, nicht das schnelle Pfeifen einer Kugel zu hören bekommen? An solchen, für einen nächtlichen Ueberfall wie geschaffenen Stellen heißt es die Augen offen halten. Und wenn man zum Glück nicht mit Banditen zusammenstößt, so rührt das daher, daß diese ehrsame Zunft aus dem Westen Amerikas ganz verschwunden ist, oder sich jetzt nur noch Finanzoperationen an den Märkten der Alten und der Neuen Welt widmet. Welches Ende für die Nachkommen eines Karl Moor, eines Johann Sbogar! Und wem sollten derlei Gedanken kommen, wenn nicht unserm Yvernes? Entschieden – – meint er – ist das Stück der Decoration nicht werth!
Plötzlich bleibt Pinchinat wie angewurzelt stehen.
Frascolin thut desgleichen.
Sebastian Zorn und Yvernes gesellen sich sofort zu beiden.
»Was giebt es? fragt die zweite Violine.
– Ich glaubte, etwas zu sehen,...« antwortet die Bratsche.
Diesmal handelt es sich nicht um einen Scherz seinerseits. Offenbar bewegt sich eine Gestalt zwischen den Bäumen hin.
»Eine menschliche oder thierische? erkundigt sich Frascolin.
– Das weiß ich selbst nicht.«
Was jetzt am besten zu thun sei, das unterfing sich niemand zu sagen. Dicht aneinander gedrängt, starren alle laut- und bewegungslos vor sich hin.
Durch einen Wolkenspalt fließen die Strahlen des Mondes auf den Dom des dunkeln Waldes herab, dringen durch die Aeste der Sequoias und erreichen noch den Erdboden. Im Umkreis von hundert Schritten ist dieser etwas sichtbar.
Pinchinat hat sich nicht getäuscht. Zu groß für einen Menschen, kann diese Masse nur einem gewaltigen Vierfüßler angehören. Doch welchem Vierfüßler?... Einem Raubthiere?... Jedenfalls einem solchen... doch welchem Raubthiere?
»Ein Plantigrade! sagt Yvernes.
– Zum Teufel mit dem Vieh, murmelt Sebastian Zorn mit verhaltener, aber grimmiger Stimme, und mit dem Vieh meine ich mehr Dich, Yvernes!... Kannst Du nicht wie andre vernünftige Menschen reden? Was ist denn das, ein Plantigrade?
– Ein Thier, das auf vier Tatzen, und zwar auf den ganzen Sohlen läuft, erklärt Pinchinat.
– Ein Bär!« setzt Frascolin hinzu.
Es war in der That ein Bär, und zwar ein ganz mächtiges Exemplar. Löwen, Tigern oder Panthern begegnet man in den Wäldern Nieder-Californiens nicht. Deren gewöhnliche Bewohner sind nur die Bären, mit denen, wie man zu sagen pflegt, nicht gut Kirschen essen ist.
Man wird sich nicht verwundern, daß unsre Pariser in voller Uebereinstimmung den Gedanken hatten, diesem Plantigraden den Platz zu überlassen, der ja eigentlich »bei sich zu Hause« war. So drängt sich unsre Gruppe denn noch dichter zusammen und marschiert langsam, doch in strammer Haltung und das Aussehen von Fliehenden vermeidend, mit dem Gesicht nach dem Raubthiere gewendet rückwärts.
Der Bär trottet kurzen Schrittes den Männern nach, wobei er die Vordertatzen gleich Telegraphenarmen bewegt und in den Pranken schwerfällig hin- und herschwankt. Allmählich kommt er näher heran und sein Verhalten wird etwas feindseliger... sein heiseres Brummen und das Klappen der Kinnladen sind ziemlich beunruhigend.
»Wenn wir nun alle nach verschiednen Seiten Fersengeld gäben? schlägt Seine Hoheit vor.
– Nein, das lassen wir bleiben, antwortet Frascolin. Einer von uns würde doch von dem Burschen gehascht und müßte allein für die andern zahlen.«
Diese Unklugheit wurde nicht begangen, und es liegt auch auf der Hand, daß sie hätte schlimme Folgen haben können.
Das Quartett gelangt so als »Bündel« an die Grenze einer minder dunkeln Waldparcelle. Der Bär hat sich jetzt bis auf zehn Schritte genähert. Sollte er den Ort für günstig zu einem Angriff halten?... Fast scheint es so, denn er verdoppelt sein Brummen und beschleunigt seinen Schritt noch mehr.
Die kleine Gruppe weicht deshalb noch schneller zurück, und die zweite Violine mahnt dringend:
»Kaltes Blut!... Den Kopf nicht verlieren!«
Die Lichtung ist überschritten und der Schutz der Bäume wieder erreicht. Vermindert ist die Gefahr hierdurch doch eigentlich nicht. Von einem Stamme zum andern schleichend, kann das Thier die Verfolgten plötzlich anspringen, ohne daß diese seinem Angriffe zuvorzukommen vermögen, und das mochte der Bär wohl auch vorhaben, als er sein Brummen einstellte und sich etwas zusammenkrümmend fast still hielt....
Da ertönt eine laute Musik in der dicken Finsterniß, ein ausdrucksvolles Largo, in dem die ganze Seele des Künstlers aufzugehen scheint.
Yvernes ist es, der die Violine aus dem Etui gezogen hat und sie unter mächtigem Bogenstriche erklingen läßt. Wahrlich, ein Geniestreich! Warum sollten auch Musiker ihr Heil nicht bei der Musik gesucht haben? Sammelten sich die von den Accorden Amphions bewegten Steine nicht freiwillig um Theben an? Legten sich nicht die mit lyrischem Sinne begabten wilden Thiere besänftigt zu Orpheus' Füßen nieder? Nun, hier kam man zu dem Glauben, daß dieser californische Bär unter atavistischer Beeinflussung ebenso künstlerisch beanlagt gewesen sei, wie seine Kameraden aus der Sage, denn seine Wildheit erlischt unter der hervortretenden Neigung für Melodien, und ganz entsprechend dem Zurückweichen des Quartetts folgt er diesem in gleichem Tempo nach und läßt wiederholt ein leises Zeichen dilettantischer Befriedigung hören. Es fehlte gar nicht viel, daß er »Bravo!« gerufen hätte.
Eine Viertelstunde später befindet sich Sebastian Zorn mit seinen Gefährten am Saume der Waldung. Sie überschreiten ihn, während Yvernes immer flott drauf losgeigt.
Das Thier hat Halt gemacht. Es scheint keine Lust zu haben, noch weiter mitzutrotten; dagegen schlägt es die plumpen Vordertatzen aneinander.
Da ergreift auch Pinchinat sein Instrument und ruft:
»Den Bärentanz! Und in flottem Tempo!«
Während nun die erste Violine die weitbekannte Melodie in Dur mit vollen Bogenstrichen heruntergeigt, begleitet sie die Bratsche scharf und falsch in Moll...
Da fängt das Thier zu tanzen an, hebt einmal die rechte, einmal die linke Tatze hoch auf, dreht und schwenkt sich hin und her und läßt die kleine Gesellschaft unbehelligt sich weiter auf der Straße entfernen.
»Bah! stößt Pinchinat hervor, das war nur ein Circusbär!
– Thut nichts, antwortet Frascolin, der Teufelskerl, der Yvernes, hat doch eine famose Idee gehabt.
– Nun trabt aber davon... allegretto, mahnt der Violoncellist, und ohne Euch umzusehen.«
Es ist gegen neun Uhr abends, wo die vier Jünger Apolls heil und gesund in Freschal eintreffen. Sie haben die letzte Wegstrecke in stark beschleunigtem Schritte zurückgelegt, obgleich der Bär ihnen nicht mehr folgte.
Etwa vierzig Häuschen oder richtiger Hütten aus Holz rund um einen mit Buchen bestandnen Platz... das ist Freschal, ein vereinsamtes Dorf, das gegen zwei Meilen von der Küste liegt.
Unsre Künstler schlüpfen zwischen zwei, von großen Bäumen beschatteten Wohnstätten hindurch, gelangen damit nach einem freien Platze, in dessen Hintergrunde sich der bescheidne Glockenthurm eines Kirchleins erhebt, sie treten zusammen, als wollten sie ein Musikstück aus dem Stegreif vortragen, und bleiben an der Stelle stehen, um zu berathschlagen.
»Das... das soll ein Dorf sein? fragt Pinchinat.
– Na, Du hast doch nicht erwartet, hier eine Stadt von der Art New-Yorks oder Philadelphias zu finden? erwidert Frascolin.
– Unser Dorf liegt aber bereits im Bett! bemerkt Sebastian Zorn wegwerfend.
– O, wir wollen ein schlummerndes Dorf ja nicht erwecken! seufzt Yvernes melodisch.
– Im Gegentheil, laßt es uns munter machen!« ruft Pinchinat.
Freilich, wenn sie die Nacht nicht unter freiem Himmel zubringen wollten, blieb ihnen am Ende nichts anders übrig.
Im übrigen ist der Ort völlig verlassen und todtenstill – kein Laden geöffnet, kein Licht hinter einem Fenster. Für das Schloß Dornröschens wären hier alle Vorbedingungen ungestörtester Ruhe gegeben gewesen.
»Wo ist denn nun das Gasthaus? fragt Frascolin.
– Ja, das Gasthaus, von dem der Kutscher sprach, wo seine verunglückten Fahrgäste freundliche Aufnahme und gutes Nachtlager finden sollten?«...
Und der Gastwirth, der sich beeilen würde, dem noch schlimmer verunglückten Coachman Hilfe zu senden?... Sollte der arme Kerl das alles nur geträumt haben?... Oder – eine andre Hypothese – sollten sich Sebastian Zorn und seine Gesellschaft verirrt haben?... Wäre das gar nicht die Dorfschaft Freschal?...
Diese verschiednen Fragen verlangen schleunige Beantwortung. Es ergiebt sich also die Nothwendigkeit, einen der Landesbewohner zu befragen und, um das zu können, an die Thür eines der kleinen Häuser zu klopfen... womöglich an die des Gasthofs, wenn ein glücklicher Zufall diesen entdecken läßt.
Die vier Musiker beginnen also eine Untersuchung der finstern Ortschaft und streifen an den Häuserfronten hin, um vielleicht irgendwo ein heraushängendes Schankzeichen zu erspähen. Von einem Gasthofe findet sich aber keine Spur.
Giebt es auch keine Herberge, so ist doch gar nicht anzunehmen, daß sich nicht wenigstens eine gastfreundliche Hütte fände, und da man hier nicht in Schottland ist, kann man auf amerikanische Weise vorgehen. Welcher Eingeborene von Freschal würde es wohl abschlagen, ein oder auch zwei Dollars für die Person für ein Abendessen und ein Nachtlager anzunehmen?
»Also vorwärts, wir klopfen, sagte Frascolin.
– Doch im Takte, setzte Pinchinat hinzu, und zwar im Sechsachteltakte!«
Hätten sie auch im Drei- oder Viervierteltakte gepocht, der Erfolg wäre doch derselbe gewesen. Keine Thür, kein Fenster öffnet sich, und das Concert-Quartett hatte schon ein Dutzend Häuser in gleicher Weise um Antwort ersucht.
»Wir haben uns getäuscht, erklärt Yvernes. Das ist gar kein Dorf, sondern ein Friedhof, und was man hier schläft, ist der ewige Schlaf... Vox clamantis in deserto.
– Amen!« antwortet Seine Hoheit mit der tiefen Stimme eines Kirchencantors.
Was war nun zu thun, da dieses Grabesschweigen beharrlich fortdauert? Etwa nach San Diego zu weiter zu marschieren? Die Musiker kommen vor Hunger und Erschöpfung bald um. Und dann, welchen Weg sollten sie, ohne Führer und in stockfinstrer Nacht, einschlagen?... Sollten sie vielleicht versuchen, ein andres Dorf zu erreichen?... Ja, welches denn? Nach Aussage des Coachman lag kein weiteres an der Küste. Voraussichtlich verirrten sie sich dabei nur noch mehr. Am rathsamsten erschien es, den Tag abzuwarten. Und doch, ein halbes Dutzend Stunden ohne Obdach hinzubringen, unter einem Himmel, der sich mit dicken Wolken überzieht, die früher oder später mit einer Sündfluth drohen, das kann man doch niemand, auch nicht Künstlern, zumuthen.
Da kam Pinchinat auf einen Gedanken. Seine Gedanken sind zwar nicht immer die besten, sprudeln aber massenhaft in seinem Gehirn auf. Der jetzige hatte sich übrigens der Zustimmung des weisen Frascolin zu erfreuen.
»Kameraden, sagte er, warum sollte das Mittel, das gegen einen wilden Bären von Erfolg war, nicht auch gegenüber einem californischen Dorfe erfolgreich sein? Wir haben jenen Plantigraden durch ein bischen Musik gezähmt... erwecken wir nun das Landvolk hier durch ein lärmendes Concert, wobei wir's an einem Forte und einem Allegro nicht fehlen lassen...
– Das wäre des Versuchs werth,« meinte Frascolin.
Sebastian Zorn hat Pinchinat nicht einmal seine Worte vollenden lassen, sondern bereits das Violoncell aus dem Kasten geholt, es auf der eisernen Spitze aufgerichtet vor sich hingestellt, und steht, da er keinen Sitz zur Verfügung hat, mit dem Bogen in der Hand schon bereit, dessen klingendem Bauche alle darin aufgespeicherten Töne zu entlocken.
Fast gleichzeitig sind seine Kameraden fertig, seinem Beispiele, wohin es sei, zu folgen.
»Das H-moll-Quartett von Onslow, ruster. Anfangen! Ein paar Takte umsonst!«
Dieses Quartett von Onslow kannten sie auswendig, und geübte Streichmusikanten brauchten gewiß auch keine Beleuchtung dazu, ihre geschickten Finger über das Griffbrett eines Violoncells, zweier Violinen und einer Bratsche gleiten zu lassen.
So folgen sie denn alle ihrer künstlerischen Eingebung. Noch nie haben sie wohl in den Casinos oder auf den Bühnen des amerikanischen Bundesstaates mit mehr Talent und Innigkeit gespielt. Da ertönt eine wahrhaft himmlische Harmonie, der menschliche Wesen, wenn sie nicht gerade mit Taubheit geschlagen sind, unmöglich widerstehen können. Ja, befanden sie sich auch, wie Yvernes vermuthete, auf einem Kirchhof, so hätten sich die Gräber öffnen, die Todten aufrichten müssen und die Skelette hätten gewiß die Hände zusammengeschlagen....
Und dennoch bleiben die Häuser geschlossen, die Schläfer erwachen auch jetzt nicht. Das Musikstück endigt mit den Prachtsätzen seines mächtigen Finale, ohne daß Freschal ein Lebenszeichen von sich giebt.
»Da sitzt doch der Teufel drin! polterte Sebastian Zorn auf dem Gipfel der Wuth hervor. Bedarf es denn für die Ohren dieser Wilden eines Charivari, wie für den Bären?... Auch gut, wir fangen noch einmal von vorne an, doch Du, Yvernes spielst in D-, Du, Frascolin in E. und Pinchinat in G-dur. Ich selbst bleibe in H-moll, und nun aus Leibeskräften los!«
Das gab aber einen Mißklang zum Trommelfellzersprengen! Es erinnerte an das improvisierte Orchester, das der Prinz von Joinville dereinst in einem unbekannten Dorfe des brasilianischen Gebietes dirigierte. Es klang, als ob man auf »Essigkannen« eine entsetzliche Symphonie mit verkehrtem Bogenstrich executiert hätte.
Pinchinat's Gedanke erwies sich übrigens als vortrefflich. Was ein ganz ausgezeichneter musikalischer Vortrag nicht erzielte, das erzielte dieses gräuliche Durcheinander. Freschal fängt an aufzuwachen. Da und dort erhellen sich die Fenster. Die Bewohner des Dorfes sind also nicht todt, da sie jetzt Lebenszeichen verrathen. Sie sind auch nicht taub, da sie hören und lauschen.
»Die Leute werden uns mit Aepfeln bombardieren, sagt Pinchinat während einer Pause, denn trotz mangelndem Einklang des Tonstücks ist dessen Takt doch eingehalten worden.
– O, desto besser; dann essen wir sie;« antwortet der praktische Frascolin.
Und auf Commando Sebastian Zorn's beginnt das kakophonische Concert von neuem. Nach Beendigung desselben mit einem mächtigen »Dis«-Accord in vier verschiedenen Tonlagen halten die Musiker ein.
Nein, mit Aepfeln wirft hier keiner aus den zwanzig oder dreißig geöffneten Fenstern, sondern laute Beifallsbezeugungen, kräftige Hurrahs und scharftönende Hips schallen daraus hervor. Die freschalischen Ohren haben sich jedenfalls noch niemals eines solchen musikalischen Hochgenusses erfreut, und es unterliegt keinem Zweifel, daß jetzt jedes Haus willig ist, so unvergleichliche Virtuosen gastlich aufzunehmen.
Doch während diese sich ihrer musikalischen Verzückung völlig hingaben, ist ein Zuschauer und Zuhörer, ohne daß sie seine Annäherung bemerkten, bis auf wenige Schritte herangetreten. Diese aus einer Art elektrischen Kremsers ausgestiegene Persönlichkeit wartet an einer Ecke des Platzes. Es ist ein hochgewachsener, wohlbeleibter Mann, soweit das bei der Dunkelheit zu erkennen war.
Während sich dann unsre Pariser Kinder noch fragen, ob sich nach den Fenstern auch die Thüren der Häuser öffnen werden, um sie aufzunehmen – was mindestens noch ungewiß ist – nähert sich der neue Ankömmling noch weiter und spricht in liebenswürdigstem Tone und im reinsten Französisch:
»Ich bin Kunstliebhaber, meine Herren, und eben jetzt so glücklich gewesen, Ihnen Beifall zollen zu dürfen.
– Während unsres letzten Musikstücks? erwidert Pinchinat ironisch.
– Nein, meine Herren, während des ersten; ich habe das Quartett von Onslow selten in so vollendeter Weise spielen hören.«
Der Mann ist offenbar ein Kenner.
»Mein Herr, antwortet ihm Pinchinat im Namen seiner Gefährten, wir sind Ihnen für Ihre Anerkennung sehr verbunden. Hat unsre zweite Nummer Ihre Ohren zerrissen, so kommt das daher...
– Mein Herr, fällt ihm der Unbekannte ins Wort und schneidet damit einen Satz ab, der jedenfalls sehr lang geworden wäre, ich habe niemals mit gleicher Vollendung so falsch spielen hören. Ich durchschaue es aber, weshalb Sie zu diesem Auswege griffen: Sie wollten die wackern Bewohner von Freschal, die schon im tiefsten Schlafe liegen, aufwecken. Nun, meine Herren, gestatten Sie mir, Ihnen das anzubieten, was Sie mit jenem seltsamen Mittel erstrebten...
– Gastliche Aufnahme? fragt Frascolin.
– Gewiß, eine ultraschottische Gastfreundschaft. Irre ich mich nicht, so steht vor mir das Concert-Quartett, das in unserm herrlichen Amerika überall berühmt ist, und gegen das letzteres mit seinem Enthusiasmus nicht gegeizt hat...
– Verehrter Herr, glaubt Frascolin hier einflechten zu müssen, wir fühlen uns aufs höchste geschmeichelt. Doch... die gastliche Aufnahme... wo könnten wir die durch Ihre Güte finden?
– Zwei Meilen von hier.
– In einem andern Dorfe?
– Nein... nein, in einer Stadt.
– Einer bedeutenderen Stadt?...
– Gewiß.
– Erlauben Sie, man hat uns gesagt, daß hier und vor San Diego keine Stadt liege...
– Ein Irrthum... wirklich ein Irrthum, den ich nicht zu erklären vermag.
– Ein Irrthum?... wiederholt Frascolin.
– Ja, meine Herren, und wenn Sie mir nur folgen wollen, verspreche ich Ihnen einen Empfang, wie er sich für solch hervorragende Künstler gebührt.
– Ich denke, das erschiene annehmbar, ließ sich Yvernes vernehmen.
– Ganz meine Ansicht, bestätigt Pinchinat.
– Halt, halt... noch einen Augenblick, ruft Frascolin; niemals schneller, als der Leiter des Orchesters.
– Das bedeutet?... fragt der Amerikaner.
– Daß wir in San Diego erwartet werden, antwortet Frascolin.
– In San Diego, fügt der Violoncellist hinzu, wo die Stadt uns zu einer Reihe von musikalischen Matinées engagirt hat, deren erste bereits übermorgen Sonntag stattfinden soll.
– Ah so!« versetzt der Fremde mit dem Ausdruck der Enttäuschung.
Gleich darauf ergreift er jedoch wieder das Wort:
»Nun, das thut nichts, meine Herren, setzt er hinzu. Binnen eines Tages werden Sie Zeit genug haben, eine Stadt zu sehen, die des Besuches werth ist, und ich verpflichte mich, Sie bis zur nächsten Station zurückzubefördern, so daß Sie am Sonntag in San Diego sein können.«
In der That, das Anerbieten ist ebenso verführerisch, wie unter den gegebenen Umständen willkommen. Das Quartett kann sicher sein, in einem guten Hôtel ein treffliches Zimmer zu finden, ohne von den weitern Vortheilen zu reden, die sie von und durch diesen zuvorkommenden Herrn erwarten dürfen.
»Nehmen Sie meinen Vorschlag an, meine Herren?
– Mit Vergnügen, versichert jetzt Sebastian Zorn, den der Hunger und die Ermüdung bestimmen, eine derartige Einladung nicht abzuweisen.
– Also abgemacht! erwidert der Amerikaner. Wir brechen sofort auf, sind binnen zwanzig Minuten am Ziele, und ich weiß, daß Sie mir dafür Dank wissen werden.«
Selbstverständlich hatten sich nach den Hurrahs, die der executierten Katzenmusik folgten, die Fenster der Häuser sogleich wieder geschlossen. Die Lichter erloschen und Freschal verfiel aufs neue in tiefen Schlaf.
Von dem Amerikaner geführt, begeben sich die Musiker nach dem Kremser, bringen darauf ihre Instrumente unter und nehmen im hintern Theile des Gefährtes Platz, während sich ihr gefälliger Führer ganz vornhin neben den Mechaniker setzt. Dann wird ein Hebel umgelegt, die elektrischen Accumulatoren treten in Wirkung, der Wagen rückt von der Stelle und kommt sehr bald in rasche Bewegung nach Westen hinaus.
Nach einer Viertelstunde leuchtet ein ausgebreiteter weißlicher Schein auf, ein die Augen blendendes Durcheinander von leuchtenden Strahlen. Da liegt also eine Stadt, von deren Vorhandensein unsre Pariser gar keine Ahnung hatten.
Der Kremser hält an und Frascolin sagt:
»Aha, da wären wir ja an der Küste.
– An der Küste... nein, entgegnet der Amerikaner. Das ist nur ein Strom, den wir zu überschreiten haben.
– Doch auf welche Weise? fragt Pinchinat.
– Mittelst der Fähre hier, die gleich unsern Wagen aufnimmt.«
In der That liegt vor ihnen eines der in den Vereinigten Staaten so häufigen Ferry-boats, auf das der Wagen sammt Insassen hinüberrollt. Ohne Zweifel wird dieses Ferry-boat durch Elektricität angetrieben, denn es stößt keinen Dampf aus, und schon zwei Minuten später legt es nach Ueberschreitung des Wassers an der Quaimauer eines Bassins im Hintergrunde eines Hafens an.
Der Kremser rollt nun durch über Land führende Alleen weiter und dringt in eine Parkanlage ein, über die hoch oben angebrachte elektrische Lampen helles Licht ausgießen.
Am Gitter dieses Parks öffnet sich ein Thor, der Zugang zu einer breiten und langen, mit tönenden Platten belegten Straße. Fünf Minuten später steigen unsre Künstler am Vorbau eines eleganten Hôtels aus, wo sie auf ein Wort des Amerikaners hin mit vielversprechender Zuvorkommenheit empfangen werden. Man geleitet sie sofort nach einer luxuriös ausgestatteten Tafel, und sie nehmen – wie sich wohl voraussetzen läßt, mit bestem Appetit – ein reichliches Abendessen ein.
Nach Beendigung desselben führt sie der Oberkellner nach einem sehr geräumigen Zimmer mit mehreren Glühlampen, die durch niederzulassende Schirme in mild leuchtende Nachtlampen verwandelt werden können. Die Erklärung aller dieser Wunder von dem kommenden Morgen erwartend, schlummern sie endlich in den die vier Zimmerecken einnehmenden bequemen Betten ein und schnarchen mit der außergewöhnlichen Uebereinstimmung, der das Concert-Quartett seinen künstlerischen Ruhm verdankt.
Am frühen Morgen, gegen sieben Uhr, erschallen nach täuschender Nachahmung des Tones einer Trompete – gleich dem ersten Signal bei der Reveille eines Regiments – im gemeinschaftlichen Zimmer folgende Worte oder richtiger Rufe:
»Allons!... Hopp!... Auf die Füße... und in zwei Tempos!«... womit Pinchinat den jungen Tag einleitet.
Yvernes, das bequemste Mitglied des Quartetts, hätte gewiß drei, oder noch lieber vier, Tempos vorgezogen, um sich aus den molligen Hüllen des Bettes zu schälen. Doch auch er muß dem Beispiele seiner Kameraden folgen und die horizontale Lage gegen die verticale Haltung vertauschen.
»Wir haben keine einzige Minute zu verlieren! bemerkt Seine Hoheit.
– Freilich, schließt Sebastian Zorn sich ihm an, denn morgen müssen wir unbedingt in San Diego sein.
– Schon recht, erwidert Yvernes, ein halber Tag wird ja ausreichen, die Stadt unsers liebenswürdigen Amerikaners zu besuchen.
– Was mich verwundert, läßt sich Frascolin vernehmen, ist, daß überhaupt eine so bedeutende Stadt in der Nähe von Freschal liegt!... Wie mocht' es nur kommen, daß unser Coachman davon kein Sterbenswörtchen gesagt hat?
– Die Hauptsache bleibt doch, daß wir hier sind, alter G-Schlüssel,« bemerkt Pinchinat.
Durch zwei große Fenster dringt reichliches Licht ins Zimmer, das auf etwa eine Meile Länge Aussicht nach einer schönen, mit doppelter Baumreihe geschmückten Straße bietet.
Die vier Freunde beginnen nun in einem behaglichen Nebenraume ihre Toilette, übrigens eine kurze und leichte Arbeit, denn alles ist hier nach den neuesten Verbesserungen eingerichtet: Drehhähne für warmes und kaltes Wasser zur beliebigen Mischung, Waschgeschirre, die sich durch Achsendrehung selbstthätig entleeren, Fuß- und Handwärmer, Zerstäuber mit wohlriechenden Flüssigkeiten, die nach Belieben in Function treten, durch den elektrischen Strom bewegte Ventilatoren, mechanisch bewegte Bürsten, so daß man an die einen nur den Kopf, an die andern die Kleidung oder die Stiefeln zu halten braucht, um erstere gereinigt, letztere blank gewichst zu bekommen.
Des weiteren, ohne die elektrische Uhr und die elektrischen Oelfläschchen, die sich durch einen Fingerdruck nach Bedarf ergießen, zu rechnen, setzen Klingeltasten oder Telephone die verschiednen Theile der ganzen Anlage mit dem Zimmer in sofortige Verbindung.
Und Sebastian Zorn nebst seinen Kameraden kann von hier aus nicht allein mit dem Hôtel sprechen, sondern auch mit den verschiednen Theilen der Stadt, ja vielleicht gar – das ist wenigstens Pinchinat's Ansicht – mit jeder beliebigen Stadt der Vereinigten Staaten.
»Wenn nicht der beiden Welten,« setzt Yvernes hinzu.
In der Erwartung, sich hiervon noch später zu überzeugen, läßt sich zwei Minuten nach drei Viertel acht Uhr in englischer Sprache folgende telephonische Mittheilung vernehmen:
»Calistus Munbar entbietet seinen Guten Morgen allen verehrlichen Mitgliedern des Concert-Quartetts und ersucht sie, sobald sie dazu fertig sind, herunter zu kommen, um im Dining-room des Excelsior-Hôtels das erste Frühstück einzunehmen.
– Excelsior-Hôtel! rief Yvernes. Der Name dieser Caravanserei klingt vielversprechend!
– Calistus Munbar, das ist unser so ungemein zuvorkommender Amerikaner, bemerkt Pinchinat, und der Name ist großartig!
– Liebe Freunde, ruft der Violoncellist, dessen Magen ebenso selbstwillig ist wie sein Eigenthümer, da der Morgenimbiß aufgetragen ist, wollen wir frühstücken, und nachher...
– Nachher... spazieren wir durch die Stadt, fällt Frascolin ein. Doch welche Stadt in aller Welt kann das sein?«
Da unsre Pariser ihre Morgentoilette schon so ziemlich vollendet haben, antwortet Pinchinat telephonisch, daß sie sich binnen fünf Minuten die Ehre geben werden, Herrn Calistus Munbar's Einladung nachzukommen.
Bald darauf begeben sie sich nach dem Personenaufzug, der sich sofort in Bewegung setzt und sie in die monumentale Vorhalle des Hôtels hinunter befördert. An der Rückseite der Flur liegt die Thür nach dem Dining-room, einem großen, in reichem Goldschmuck erglänzenden Saale.
»Ganz zu Ihren Diensten, meine Herren, ganz zu Ihrem Befehl!«
Der Herr vom vorigen Abend ist es, der diesen Satz von zehn Wörtern ausspricht. Er gehört dem Typus von Persönlichkeiten an, von denen man sagen kann, daß sie sich gleich selbst vorstellen. Erscheint es nicht, als ob man mit ihnen schon lange oder richtiger, schon »von jeher« bekannt wäre?
Calistus Munbar kann zwischen fünfzig und sechzig Jahre zählen, sieht aber höchstens wie ein mittlerer Vierziger aus. Er ist über mittelgroß, ziemlich beleibt und hat starke Gliedmaßen. Gesund und kräftig, zeigt er sichre Bewegungen – kurz, er »platzt« vor Gesundheit, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist.
Dem Sebastian Zorn und seinen Collegen sind solche Leute – deren giebt es ja in den Vereinigten Staaten nicht so wenige – schon oft in den Weg gelaufen. Der gewaltige, kugelrunde Kopf Calistus Munbar's strotzt von noch blondem, üppigem Haar, das auf-und abschwankt, wie Baumlaub unter dem Winde; sein Teint ist recht frisch; der ziemlich lange, rothgelbe Bart läuft in zwei Spitzen aus; den Schnurrbart hat er wegrasiert; der an den Lippenwinkeln etwas hinausgezogene Mund erscheint lächelnd, sogar scherzhaft; die Zähne gleichen blendendweißem Elfenbein; die an der Spitze etwas verdickte Nase, mit leicht beweglichen Flügeln und mit zwei lothrechten Falten unter der Stirn solid befestigt, trägt einen Klemmer, der von einer seinen, gleich einem Seidenfaden schmiegsamen silbernen Schnur gehalten wird. Hinter den Gläsern des Klemmers blitzt ein bewegliches Auge mit grünlicher Iris auf, deren Pupille wie von Kohlengluth erleuchtet aussieht. Dieser Kopf ist mit den Schultern durch einen wirklichen Stiernacken verbunden und der Rumpf auf fleischigen Ober-, nebst tüchtigen Unterschenkeln über etwas großen Füßen aufgebaut.
Calistus Munbar trägt ein weites, katechufarbenes Jacket von Diagonalstoff. Aus der Tasche an der Seite lugt der Zipfel des Taschentuchs hervor. Die stark ausgeschnittne Weste wird von drei goldnen Knöpfen geschlossen gehalten. Von einer Tasche derselben zur andern hängt bogenförmig eine schwere Kette, die an dem einen Ende einen Chronometer, am andern einen Pedometer trägt, ohne die Breloques, die in ihrer Mitte klimpern und klirren. Dieser Goldschmuck wird noch vervollständigt durch einen wahren Rosenkranz von Ringen, womit die vollen, rosenrothen Finger verziert sind. Das tadellos weiße, steife und glanzgeplättete Hemd läßt drei schöne Diamanten sehen und läuft in einen breit zurückgeschlagenen Kragen aus, unter dem eine nicht recht zu bezeichnende Cravatte, mehr nur ein braunrother Galon, herabhängt. Das Beinkleid aus streifigem Stoffe mit weiten Falten verengert sich nur über den mit Aluminiumagraffen geschlossenen Schuhen.
Die Physiognomie dieses Yankee ist im höchsten Maße ausdrucksvoll – die Physiognomie der Leute, die an nichts zweifeln und »die noch ganz andre Dinge gesehen haben«, wie man zu sagen pflegt. Der brave Mann weiß offenbar, was er will, und ist obendrein energisch, was man an der Spannkraft seiner Muskeln und an der sichtbaren Zusammenziehung seines Masseters erkennt. Endlich lacht er gern, und das recht laut, doch mehr durch die Nase als durch den Mund, also in einer Art Kichern, einem hennitus, wie es die Physiologen nennen.
Das ist dieser Calistus Munbar. Beim Eintritt des Quartetts lüftet er den breitkrämpigen Hut, dem eine Feder à la