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Ist gegen die Liebe selbst der fanatischste Glaube machtlos? Mateo, ein Archäologiestudent mit portugiesischen Wurzeln, wird für ein Forschungssemester in Lissabon auserwählt. Er macht sich auf, die Unterwelt Lissabons zu ergründen. Dort aber erwartet ihn eine Forschungsreise der ganz anderen Art. Mit Hilfe einer lyrischen Weisheit aus dem Mittelalter soll er eine alte und leidvolle Wunde Portugals heilen. Im Land seiner Vorfahren findet Mateo eine Seelenverwandte. Aber wird es ihm auch gelingen, seine Pflicht zu erfüllen und ein großes Unrecht ungeschehen zu machen? Altersempfehlung: ab 14 Jahren
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Seitenzahl: 393
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Mateo hat keine Ahnung, worauf er sich einlässt, als er von München nach Lissabon reist, um an der archäologischen Erforschung der Galerias Romanas mitzuwirken. Ein zwielichtiger Glaubensorden erwirkt die Einstellung der wissenschaftlichen Arbeiten, ein Fremder steckt Mateo eine geheimnisvolle Schriftrolle zu und fällt daraufhin einem Unglück zum Opfer. Mateo ist gezwungen, sich auf eine gefährliche Reise in eine Zeit zu begeben, die vom Glauben, dem König und der Pest regiert wird. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit ist er auf der Suche und zugleich auf der Flucht, wobei er nicht nur von seiner treuen Kollegin Lena, sondern auch vom Bischof höchstpersönlich unterstützt wird. Und als wäre das nicht genug, sucht auch noch seine Familie mit südländischem Herzblut nach ihm – dem verlorenen Sohn.
Astrid Rodrigues, 1967 in Siegen geboren, lebt heute nahe Stuttgart. Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie in verschiedenen kaufmännischen Berufen. Mit der Geburt ihrer Kinder entdeckte sie das Interesse am Schreiben. Sie verfasste zwei Bücher mit heiteren Familiengeschichten und schrieb Gedichte für eine örtliche Tageszeitung.
Die Quelle der Tränen ist ihr erster Roman. Er entstand aus ihrem Interesse an der portugiesischen Geschichte und den Eindrücken, die sie bei ihren Reisen durch Portugal sammelte.
Astrid Rodrigues
Roman
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2014 Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe Lektorat: Tatjana Weiß & Lutz Brien Korrektorat: Beatrice Hildebrand Umschlaggestaltung: Manuela Wirtz, www.manuwirtz.de Satz & Layout: Beatrice Hildebrand Druck: PRESSEL, D-73630 Remshalden
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.
eISBN: 978-3-942637-74-9
Dieser Titel ist auch als gedrucktes Buch erschienen:ISBN: 978-3-942637-67-1
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für Alice para Alice
Da stand es, schwarz auf weiß. Das Schreiben der IGESPAR war heute mit der Post gekommen. Festes Papier, links oben die portugiesische Flagge, daneben in großen Lettern GOVERNO PORTUGAL, ganz rechts, auf gleicher Höhe das Emblem der IGESPAR.
Mateo las sich den Brief zum wiederholten Male laut vor, Wort für Wort.
SenhorMateo Manuel Ferreira Santos Gräfelinstr. 118 81377 München
Irrtum ausgeschlossen, der Brief war wirklich für ihn.
Sehr geehrter Herr Ferreira Santos,
wir möchten Sie einladen, an einem praxisbezogenen Semester im Fach Archäologie in Lissabon teilzunehmen.
Im Rahmen der erneuten Forschungen in den altrömischen Gewölben unter der Stadt Lissabon sehen wir uns in der Lage, Ihnen ab dem 01. Juni 2013 einen Studienplatz für ein Semester anbieten zu können.
Wir bitten um Ihre schriftliche Zusage bis zum 05. Mai 2013. Nach Ablauf dieser Frist entscheidet das Los über die weitere Vergabe des Studienplatzes.
Nach erfolgter Zusage erhalten Sie von uns ein Flugticket, voraussichtlich für den 26. Mai 2013. Die Kosten für den Rückflug werden ebenfalls von uns, im Rahmen der Europäischen Studienförderung, übernommen. Für Kost und Logis haben Sie selbst Sorge zu tragen.
Im Bedarfsfall können Sie einen Antrag auf Auslands-BAföG bei den zuständigen Behörden in Deutschland stellen.
Wir freuen uns auf eine konstruktive Zusammenarbeit.
Mit freundlichen GrüßenProf. Eduardo Alvares DominguesLeitender Forschungsdirektor
Die schwungvolle Unterschrift des Professors und der amtliche Stempel bestätigten die Echtheit des Schreibens und unterstrichen dessen Wichtigkeit. Mateo hatte es geschafft!
Aufgeregt und erleichtert zugleich setzte er sich auf das Schlafsofa in seinem WG-Zimmer in München und sah sich um. Er musste unbedingt mal wieder aufräumen. Der Kleiderschrank stand offen. Auf dem Sessel lagen Pullover und T-Shirts zwischen Jeans und Socken. Der kleine Couchtisch war zugemüllt mit Pizzakartons und leeren Getränkedosen.
Mateos Blick wanderte zu seinem Schreibtisch. Aus dem Durcheinander ragte nur der Bildschirm des Laptops kerzengerade hervor.
Am Fenster dahinter vollführten die Regentropfen ihren Parcours die Scheiben herunter. Das zweiflügelige Sprossenfenster reichte fast bis zum Boden. Der April machte seinem Ruf alle Ehre. Vor nicht einmal zehn Minuten hatte noch die Sonne durchs Fenster auf den alten Parkettboden geschienen und nun regnete es in Strömen.
Er stand auf, ging zum Fenster und blickte in den Garten. Er wurde ein wenig melancholisch, bald würde er zu neuen Ufern aufbrechen. Das WG-Zimmer war nun die längste Zeit sein Zuhause gewesen. Er überflog noch einmal das Chaos in seinem Zimmer. Er musste sofort seine Mutter anrufen. Noch immer hielt er das Schreiben der IGESPAR in seiner Hand. Umständlich kramte er mit der anderen Hand in seiner Hosentasche nach dem Handy. Als er es endlich herausgeholt hatte, ließ er sich auf das Sofa fallen und wählte die Nummer seiner Mutter. Als sie schließlich den Hörer abnahm, hörte sie sich gehetzt an. Mateo platzte gleich mit der guten Nachricht heraus.
„Mãe, ich hab’s geschafft! Die IGESPAR nimmt mich für ein Praxissemester!“ Schweigen. Dann ein Räuspern.
„Mateo, was ist los? Du rufst doch sonst nie um diese Zeit an. Ich hab doch keine Zeit, ich muss zur Arbeit!“ Mateos Mutter arbeitete seit dem Tod ihres Mannes halbtags in einer Großbäckerei; ihre Schicht würde in einer halben Stunde beginnen.
„Mãe, ich gehe für ein halbes Jahr nach Portugal. Die Denkmalschutzbehörde hat mich angenommen. Dein Sohn wird bei der Erforschung der Galerias von Lissabon dabei sein.“ Nicht ohne Stolz waren Mateo diese Worte über die Lippen gekommen. Doch seine Mutter zog ihm gleich den Stecker.
„Schön. Dann kannst du ja bei deinen Großeltern in Malveira wohnen. Die freuen sich, wenn du kommst, dann sind sie nicht so alleine und dein ganzes Studieren hat doch noch etwas Gutes.“ Kein Wort zu seinem großen Erfolg. Immerhin hatte er einen der begehrtesten Plätze seines Studiengangs in ganz Europa bekommen. Doch er kannte seine Mutter. Sie hatte nie verstehen können, warum er studieren wollte. Sie schob die Schuld dafür auf Onkel Nevio, den Bruder ihres verstorbenen Mannes Carlos. Genau wie er legte Nevio Wert auf eine gute Ausbildung der Kinder.
„Mãe, das ist meine Chance. Ich gehe nicht nach Portugal, um die Großeltern zu unterhalten. Ich werde viel arbeiten müssen. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, bei deinen Eltern zu wohnen.“
Doch Maria ließ seinen Einwand nicht gelten: „Schließlich sind es auch deine Großeltern! Sie haben mich groß gezogen, ohne zu studieren. Und ich habe auch nicht studiert. Ich hatte immer schlechte Noten in der Schule. Na und? Alle meine Vorfahren waren einfache Arbeiter und haben ihre Familien immer ernähren können, auch wenn es nicht immer einfach war.“ Nun ging das wieder los. Mateo kannte die alte Leier.
„Mãe, musst du nicht zur Arbeit?“
„Meu Deus! Hoffentlich kriege ich noch meinen Bus! Ich muss los. Mach’s gut und melde dich wieder. Gott beschütze dich!“ Das Telefon verstummte.
Geschickt hatte sich Mateo einer Diskussion entzogen, doch er wusste, dass das Thema noch nicht ausgestanden war. Er sah sich schon in den Fängen der Großeltern. Sah die seltsame Welt der alten Herrschaften, die sie um sich herum errichtet hatten. Sah den Großvater in Gedanken vor sich, der, im Fernsehsessel sitzend, seine Füße in einer Waschschüssel badete und Zeitungen auf einen Stapel daneben schichtete, der dem Turmbau von Babel in keinster Weise nachstand. Warum er diese Zeitungen sammelte, hatte sich seinem Enkel nie erschlossen und Opa Matias hatte es ihm auch nie erklärt. Es war eben so.
Für seine Mutter war Portugal das gelobte Land. Maria verstand nicht, dass Mateo nur wegen des Studiums nach Portugal gehen wollte. Für sie war es selbstverständlich, dass Heimweh einer der Beweggründe für sein Vorhaben sein musste.
Mateo schälte sich aus dem Sofa und streckte sich. Zu lange hatte er schon dort gesessen. Er brauchte Bewegung. Vielleicht würde es helfen, sein Zimmer aufzuräumen. Onkel Nevio war noch bei der Arbeit, Tante Paula ebenso. Er konnte also genauso gut Ordnung schaffen.
Wo anfangen? Umständlich faltete er ein paar Pullover zusammen und versuchte sie in den Kleiderschrank zu bugsieren. Der Spiegel an der Innentüre zeigte einen jungen, schlanken Mann, der erwartungsvoll in die Zukunft schaute. Er wurde meist jünger geschätzt als 24 Jahre und musste in den meisten Clubs seinen Ausweis vorzeigen, damit man ihn einließ. Er war hoch gewachsen, lag mit seinen 1,80 Meter über der durchschnittlichen Größe in seiner Familie. Oma Alice brachte es gerade mal auf 1,38 Meter, was Mateo schon beinahe zu einem Gulliver machte.
Seine kastanienbraunen Locken reichten fast bis zu seinen Schultern. Ich muss dringend zum Friseur. Wenn meine Mutter mich so sieht, krieg ich was zu hören, dachte er.
Die T-Shirts waren alle schmutzig und landeten mit Socken und Unterwäsche in einem Wäschesack. Ganz unten im Sessel fand er einen bordeauxfarbenen BH in Körbchengröße B. Er konnte dem Spitzendessous keine Trägerin zuordnen und warf es in den Mülleimer. Ohne Zweifel hatte er gute Zeiten in München gehabt.
Mateo schloss den Kleiderschrank und entsorgte die Pizzakartons und Dosen in einer Abfalltüte. Noch immer prasselte der Regen gegen das Fenster. Es begann zu dämmern, als er den Laptop einschaltete. Mateo ließ sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen und schaltete die kleine Lampe an, die gleich hinter seinem Computer stand. Es war fast siebzehn Uhr. Sein Onkel würde bald nach Hause kommen. Seine Tante wartete bestimmt schon auf ihn.
Nevios und Paulas Meinung war ihm ungeheuer wichtig. Ohne die beiden wäre er nie nach München gegangen, hätte nie studiert und wäre wahrscheinlich heute gar nicht mehr am Leben. Er verdrängte die trüben Gedanken, schaute sich die Weltkarte an, die er als Bildschirmhintergrund eingestellt hatte und dachte: Genau da will ich hin.
Dann griff er zum Telefon. Es dauerte ein wenig, bis Paula hörbar atmend den Hörer abnahm.
„Ferreira?“, schnaufte sie laut. Sie hatte wohl mal wieder erst in der ganzen Wohnung nach dem Apparat suchen müssen.
„Hallo Tante, hier ist Mateo.“
„Hi Großer. Wie geht’s dir? Ich komme gerade zur Haustür herein. Musste heute länger arbeiten. Was machst du? Was gibt’s Neues? Wie läuft’s? Was macht die Liebe? Wie weit ist das Studium?“
„Tante, du wirst es nicht glauben! Ich habe es! Ich habe das Praxissemester in Lissabon.“
„Hey, Wahnsinn, jippie, super!“, jubelte sie ins Telefon. „Ich bin so stolz auf dich! Dein Onkel wird Luftsprünge machen, wenn er das hört. Mateo, das darfst du nicht versauen, verstehst du!? Damit hättest du gute Chancen auf einen Job dort. Ich habe gehört, die Professoren suchen ihren Nachwuchs immer über die Praxissemester aus.“
„Ja, das wäre schon toll. Lissabon war ja schon immer ein Tor zur Welt. Und ich könnte bei meinen Großeltern wohnen. Sie haben Platz genug und es ist nicht weit in die Stadt.“
„Ist das dein Ernst?“ Mateo wusste genau, was seine Tante damit meinte. Ihm war klar, dass er nie die Erwartungen seines Großvaters erfüllt hatte und auch in Zukunft nicht erfüllen würde.
„Mateo, dir ist schon klar, dass jede kleinste Verfehlung deiner Mutter sofort auf dem Silbertablett serviert wird. Und die Arme sich vor Informationen über dein Leben kaum noch wird retten können.“
„Ach Tante, ich mach das schon!“
„Wenn du noch einmal Tante zu mir sagst, reiche ich die Rente ein und du kannst deine Probleme alleine lösen!“
„Ist gut, Tante.“ Mateo konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken.
„Mateo, wenn du das wirklich machen willst, dann freut sich dein Opa darauf, dass du jeden Abend mit ihm isst und danach sein Fußbad einlässt. Und deine Oma schlägt drei Kreuze, weil er dich hat, um sich zu unterhalten und sie in Ruhe ihre Telenovela ansehen kann, ohne das Avó ihr das Ende verrät.“ Mateo blickte genervt an die Zimmerdecke. Seine Tante übertrieb sicherlich.
„Ich rede nochmal mit Mama. Sie muss ihnen klar machen, dass ich nur zum Schlafen zu ihnen komme und sonst immer unterwegs bin. Ich will alles mitnehmen, was sich bietet. So eine Gelegenheit bekomme ich nie mehr wieder.“
„Das weiß ich“, sagte Paula. „Ich werde auch nochmal mit deiner Mutter sprechen. Sie muss die Großeltern einfach ein bisschen bearbeiten und ihre Erwartungen herunterschrauben. Wann geht es denn los?“ Mateo fuhr mit dem Finger über den Kalender, der an der Wand hing.
„Ich fliege am 26. Mai. Oh mein Gott, das ist ja gerade mal noch ein Monat. Oh je, ich muss noch so viel erledigen.“ Eine ungewohnte Hektik klang aus Mateos Stimme.
„Großer, mach dich nicht verrückt. Es wird alles gut, und wenn du Hilfe brauchst, dann ruf uns einfach an. Ich muss jetzt den Hund raus lassen, sonst geschieht noch ein Unglück. Ich drück dich ganz fest, mach’s gut. Wir hören uns, Tschüssi.“ Paula drückte die rote Taste am Telefon und legte es beiseite. Endlich konnte sie ihre Jacke ausziehen. Bastard jammerte, weil er dringend hinaus musste. Sie öffnete die Haustür und ließ ihn in den Innenhof. Für einen Spaziergang war erst später Zeit. Während er jeden Passanten lautstark über den Gartenzaun hinweg begrüßte, eilte Paula in den Keller, um die Hähnchenschenkel aus der Tiefkühltruhe zu holen, die sie morgens vergessen hatte aufzutauen. Sie liebte ihr kleines Häuschen in der Altstadt, doch das Gekläffe des Hundes ging ihr auf die Nerven. Seit Jahren versuchte sie erfolglos ihm abzugewöhnen, jeden Fußgänger als seinen persönlichen Feind zu betrachten. Sie rechnete immer damit, dass irgendwann jemand vor Schreck einem Herzinfarkt auf dem Bürgersteig erliegen könnte.
Während sie kopfüber in den eiskalten Tiefen der Kühltruhe stöberte, dachte sie noch einmal über das Gespräch mit Mateo nach. Sie freute sich, dass er so erfolgreich war und sein Leben offensichtlich wieder im Griff hatte.
Carlos war jetzt zehn Jahre tot. Nach dem schrecklichen Autounfall war es Mateo gar nicht gut gegangen. Eigentlich hatte er mit seinem Vater in den Baumarkt fahren wollen. Doch dann war alles anders gekommen. Zum Glück war es anders gekommen, dachte Paula und räumte Pommes und Spinat auf die Seite. Jedoch hatte Mateo lange mit Schuldgefühlen zu kämpfen gehabt.
Weil Mateo seine Hausaufgaben noch nicht gemacht hatte, durfte er nicht mitfahren. Da war Carlos streng. Mateo saß gerade an seinem Schreibtisch, als er den Rettungswagen hörte und kurz darauf durch sein Fenster einen Hubschrauber vorbei fliegen sah, der ganz in der Nähe landete. Carlos war auf die Umgehungsstraße gefahren und ein lebensmüder Geisterfahrer hatte ihn frontal gerammt, keine 500 Meter von zu Hause weg. Er starb eingeklemmt in seinem Auto.
Paula hatte endlich die Hähnchenkeulen gefunden und schloss die Truhe. Ihre Hände waren ganz kalt geworden. Sie eilte in die Waschküche, befüllte die Waschmaschine und schaltete sie ein. Dann stieg sie mit ihrem Gefriergut die Treppe hinauf und rief den Hund herein. Die Mischung aus Leonberger und Bobtail holte sich in der Küche einen Hundekuchen ab und verschwand damit in seinem Korb, der den halben Flur versperrte.
Paula nahm die Hühnerbeine aus der Packung und schob sie auf einem Teller bei Auftauautomatik in die Mikrowelle.
Der Tod ihres Schwagers hatte damals die Säulen der Familie stark erschüttert. Maria war völlig zusammengebrochen und nicht in der Lage gewesen, überhaupt irgendwie zu reagieren. Nevio hatte die Dinge in die Hand nehmen müssen. Linda, die Kleinste, war fünf Jahre alt und Cristiano wurde acht. Mateo war mit vierzehn Jahren der Älteste. Fortan suchte Mateo immer die Extreme. In dieser Zeit vergrub er sich entweder hinter seinen Büchern oder war die ganze Nacht mit seinen Freunden unterwegs. Er machte sein Abitur mit Auszeichnung, der Verdienst von übertriebenem Fleiß, weil er wusste, wie wichtig seinem Vater die Bildung seiner Kinder gewesen war. Das war er ihm schuldig.
Doch dann ließ er sich auf Drogenexperimente ein und kam nächtelang nicht nach Hause. Als er seinen Führerschein hatte, bekam er von Opa Matias etwas Geld und kaufte sich ein gebrauchtes Auto. Gemeinsam mit seinen italienischen Freunden brach er nach Italien auf und war monatelang verschwunden. Maria war krank vor Sorge um ihren Ältesten. Er war weder auf seinem Handy zu erreichen noch gab er sonst irgendein Lebenszeichen von sich. Sie ging zur Polizei und meldete ihn als vermisst.
Leider war es dann auch die Polizei, die Nevio anrief, um ihm mitzuteilen, dass sein Neffe in einem italienischen Gefängnis saß und auf eine Anklage wegen Beihilfe zu einem Raubüberfall wartete. Der deutsche Polizist hatte mit Engelszungen auf den italienischen Kollegen eingeredet und darum gebeten, dass zuerst der Onkel des Jungen gehört würde. Nevio war daraufhin nach Italien gefahren und hatte die ganze Wahrheit erfahren. Mateo hatte in seinem Auto vor einem Geschäft auf seine Freunde gewartet. Er ahnte nicht dass seine Kumpels den Laden ausraubten, um ihre Drogen zu finanzieren. Mitgefangen, mitgehangen. Aber Nevio schaffte es, die Staatsanwaltschaft von Mateos Unschuld zu überzeugen. Nach zwei Wochen kam er frei. Ausschlaggebend dafür war, dass Mateo bis dahin noch nie strafrechtlich aufgefallen war. Zurück in Deutschland kehrte aber zunächst noch keine Ruhe ein. Denn auch seine Freunde waren auf wundersame Weise ihrer gerechten Strafe entkommen und wieder in Deutschland.
Am 11. November, kurz vor Mateos 20. Geburtstag, geriet er mit seinem Auto in eine Verkehrskontrolle und wurde zum Drogentest gebeten. Der Test war positiv und der Führerschein weg. Dies war bis dato der absolute Tiefpunkt in Mateos Leben. Sein Onkel bestimmte, dass nur ein Tapetenwechsel eine Veränderung in das Leben seines Neffen bringen konnte und dass er das selbst in die Hand nehmen musste.
Schon sein ganzes Leben hatte Mateo sich für Geschichte und Antiquitäten interessiert. Vielleicht war das die Gelegenheit, etwas aus seinem Leben zu machen und doch noch die Kurve zu kriegen. So schlug Nevio ihm eines Tages vor, Architektur an der Universität in München zu studieren. Bis Mateo von einem Studium als dem richtigen Weg für sich überzeugt war, dauerte es eine ganze Weile. Doch als er sich schließlich einschrieb, tat er es gleich für zwei Studiengänge: nämlich für Geschichte und Archäologie. Vor drei Jahren war er zum Studium aus der beschaulichen schwäbischen Kleinstadt ins pulsierende München gezogen.
Paula wurde von Samantha aus ihren Gedanken gerissen. Ihre Tochter stürmte in die Wohnung, warf ihre Schultasche ins Treppenhaus und stapfte durch den Flur in die Küche.
„Die Judt hat sie nicht mehr alle! Die hat mir heute eine vier in Mathe gegeben!“
„Dann wird sie wohl ihre Gründe dafür haben! Im Übrigen wünsche ich dir auch einen schönen Tag.“ Samantha, vor Wut mehr den Tränen als den Worten nahe, spuckte Feuer und Asche! Der 15-jährige Vesuv konnte alles vertragen, nur keine Ungerechtigkeit.
Paula hörte sich geduldig die Vorwürfe in allen Einzelheiten bis zum Schluss an. Währenddessen putzte sie den Kopfsalat, wusch die Tomaten und schnippelte Zwiebeln. Als Samantha ihre Schimpftirade beendet hatte, standen Paula Tränen in ihren blauen Augen, die nun einen verschwommenen, grünen Schimmer annahmen.
„Mama, deswegen musst du nicht weinen! Ich kläre das schon. Die Dumme hat bestimmt nur etwas verwechselt!“ Paula gab nicht zu, dass ihr Tränenfluss lediglich auf das Zwiebelschneiden zurückzuführen war, nahm ein Stück Küchenpapier und schnäuzte sich lautstark. Ihre Tochter hatte ihrem Unmut Luft gemacht und verschwand mit einer Flasche Cola und einem Glas in ihrem Zimmer im ersten Stock.
Samanthas Interesse galt allem, was entweder ganz alt oder brandneu war wie Computer zum Beispiel. Allem voran galt ihre unendliche Liebe aber Vierbeinern. Die Weinbergschnecke, die Samantha ein paar Jahre zuvor bei einem Spaziergang gefunden hatte, gehörte allerdings nicht dazu. Sie lebte in einem Gurkenglas und wurde jeden Tag mit frischem Salat gefüttert. Paula konnte sie nicht überzeugen, dass eine Schnecke alleine doch ziemlich einsam sein müsste und so war Samantha nicht bereit gewesen, dem Schleimer die Freiheit wiederzugeben.
Wenn Paula ihre Tochter kurz beschreiben sollte, nannte sie sie gerne eine geschichtlich interessierte, intellektuelle Zicke mit Tierschützerherz und Faultierallüren, was die Sache exakt auf den Punkt brachte. Der blonde Engel konnte ganz schön anstrengend sein.
Paula ertränkte die Kartoffeln im Küchenwaschbecken und überließ sie ihrem Schicksal, während sie ins Wohnzimmer ging und die Überreste des gestrigen Abends entsorgte. Sie beeilte sich, denn sie wollte vor dem Essen unbedingt noch mit Bastard in die Felder gehen, um ihm etwas Bewegung zu verschaffen und sich selbst auch. Sie saß den ganzen Tag im Büro und war froh, wenn sie mal raus kam. Nevio würde heute später nach Hause kommen. Wie so oft in letzter Zeit war kurz vor Feierabend noch ein Auftrag hereingekommen und der musste unbedingt noch erledigt werden. Er arbeitete als Elektriker für einen Stuttgarter Autohersteller, man erwartete von ihm Flexibilität. David war ebenfalls noch nicht zu Hause, er hatte Nachhilfeunterricht.
Noch bevor sie die Hundeleine von der Garderobe nahm, stand Bastard bereits vor der Haustür. Paula zog mit dem Hund los oder er mit ihr, dies war bei der Größe des Tieres nicht mit Gewissheit zu sagen. Als sie die Felder außerhalb der Stadt erreichten, gab Paula dem sanften Riesen die Freiheit und ließ ihn von der Leine. Er rannte gleich los und folgte seiner Nase.
Nach gut einer Stunde war der Hund bedient. Hechelnd und sabbernd nahm er in seinem Hundekorb im Flur Platz und wollte nur noch seine Ruhe haben. Paula gab ihm frisches Wasser und füllte den anderen Napf mit Hundefutter auf. Ihre Pflichten hatte sie für heute fast erledigt.
David war mittlerweile auch zu Hause eingetroffen und legte zerknirscht den Aufsatz vor, den er heute wiederbekommen hatte. Eine Fünf – nicht die erste. Er war am Boden zerstört. Im Nachhilfeunterricht machte er so gute Fortschritte, aber in der Schule merkte man nichts davon. Paula versuchte ihn zu trösten.
„Du musst das lockerer nehmen. Je verbissener du da ran gehst, desto schwerer machst du es dir.“ Für David war das kein Trost. In Mathe war er ganz gut, auch die anderen Fächer waren kein großes Problem für ihn, nur Deutsch und Englisch konnten ihm gestohlen bleiben. Paula unterschrieb die leidige Fünf und bat ihren Sohn, sein Zimmer aufzuräumen.
David mochte alles, was man auf einem Bildschirm spielen konnte oder was vier Räder hatte. Hauptsache, er musste dafür das Haus nicht verlassen. Er war ein 13-jähriger, lichtscheuer, technikinteressierter und zuckersüchtiger Hardcorezocker mit Multiallergie gegen Bücher, Bildung und Sauerstoff.
Es wurde Zeit, dass Paula das Abendessen fertig machte. Es dauerte nicht lange und sie schob die Kartoffeln mit dem Hähnchen in den Ofen. Nun hatte sie Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Sie setzte sich ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Irgendwo würden sicherlich Nachrichten kommen. Mit dem Strickzeug in der Hand zappte sie durch die Programme.
Ihr Handy klingelte. Es war Nevio, der sich zum Abendessen ankündigte. Paula erzählte kurz von Mateos Anruf. Ihr Mann freute sich.
„Er muss aber vernünftig bleiben und die Sache ernst nehmen.“ Paula sah das ganz genauso.
„Der einzige Haken an der Sache ist nur, dass er bei den Großeltern in Malveira wohnen wird.“
„Oh je! Dann ist Marias nächster Nervenzusammenbruch ja schon absehbar.“ Er kannte die Schwiegereltern seines Bruders zu gut. Nevio wollte auf jeden Fall mit Maria noch ein paar warme Worte wechseln. Da sie gleich um die Ecke wohnte, würde sich am Wochenende sicherlich eine Gelegenheit bieten vorbeizuschauen. Damit reihte er sich als Dritter in die Riege der Vorsprecher ein.
Paula rief die Kinder und deckte den Tisch. Kurz darauf traf Nevio ein. Nachdem er Paula mit einem Kuss begrüßt hatte, setzte er sich kurz aufs Sofa und schnappte sich den Laptop, um seine E-Mails zu lesen.
Beim Abendessen wurden dann die wichtigen und weniger wichtigen Dinge des Tages diskutiert. Die Palette reichte von A wie Aufsatz bis hin zu Z wie Zwischenzeugnis. Und last but not least: Mateo. Paula war voll des Lobes.
„Irgendwas muss er richtig gemacht haben, dass der Professor ausgerechnet ihn nimmt. Die Flut der Bewerbungen auf solche Angebote muss enorm sein.“
„Aber hätte es denn nicht Timbuktu sein können? Muss er denn ausgerechnet nach Lissabon gehen? Wo er den Großeltern hilflos ausgeliefert ist?“, dämpfte Nevio das Lob seiner Frau.
Das mag sein, der Ort ist nicht ideal, dachte Paula, aber das konnte ihre Freude über Mateos Erfolg nicht trüben – sie lächelte und schwieg.
Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, rief Mateo seinen Professor an der Uni an, um einen Termin mit ihm zu vereinbaren. Er wollte einfach sicher sein, alles richtig zu machen und erhoffte sich von Professor Kruell noch ein paar gute Tipps.
Der Professor war immer hilfsbereit. Kein Mann der großen Worte, doch was er sagte, hatte Hand und Fuß.
Gleich am nächsten Morgen hatte Mateo einen Termin bekommen und war schon früh zur Universität aufgebrochen. Das Büro des Professors war im ersten Stock des Verwaltungsgebäudes.
„Guten Morgen Mateo. Schön Sie zu sehen. Wo drückt der Schuh?“
„Eigentlich gar nicht. Guten Morgen Herr Professor.“ Mateo reichte dem Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches die Hand zum Gruß. Der Professor bot ihm mit einer Handbewegung einen Stuhl an und Mateo nahm Platz.
„Nun, was kann ich für Sie tun?“
„Ich wollte Ihnen nur persönlich mitteilen, dass ich das Praxissemester bei der IGESPAR bekommen habe und Ihnen danken, dass Sie mich in den letzten Jahren so unterstützt haben.“
„Das freut mich zu hören. Professor Alvares von der IGESPAR ist ein langjähriger Freund von mir. Von ihm können Sie viel lernen. Hören Sie nur immer gut zu und beobachten Sie, wie er arbeitet. Es könnte keinen besseren Lehrmeister geben.“
Professor Kruells einst dunkle Haare waren bereits grau meliert, ebenso wie sein gepflegter Vollbart. Er trug eine rahmenlose Brille und zum Anzug stets eine Weste. Jedoch sah man ihn nie mit einer Krawatte oder Ähnlichem. Er war ein sportlicher Typ.
„Ich bin sehr dankbar für diese Chance und werde sie nutzen, so gut ich nur kann. Es überrascht mich nur, dass ausgerechnet ich diese Möglichkeit bekomme.“ Der Professor schmunzelte.
„Mateo, Professor Alvares ist zwar mein Freund, aber das heißt nicht, dass ich Einfluss auf seine Entscheidungen habe.“ Mateo wusste nicht, ob er das glauben sollte. Er bedankte sich noch einmal und verabschiedete sich. Nun musste er noch seine Mitbewohner von seinem bevorstehenden Auszug in Kenntnis setzen. Er war ihnen, seit er den Brief erhalten hatte, nicht mehr über den Weg gelaufen.
Bis zur WG war es nicht weit. Er konnte immer noch nicht recht fassen, was für ein Glückspilz er war. Lächelnd lief er die Straßen entlang, vorbei an alten Häusern, die schon Anfang des letzten Jahrhunderts erbaut worden waren. Sie hatten den letzten Weltkrieg einigermaßen unbeschadet überstanden und waren nun liebevoll restauriert worden. München hatte einfach Charme und Mateo hoffte, einen solchen Charme auch in Lissabon zu finden.
Gut gelaunt spazierte er ins Treppenhaus und lief grinsend die Treppen hinauf in den dritten Stock. Er schloss die alte, weiß gestrichene Eingangstür zur WG auf und trat in den Flur, wo er schnell seine Jacke auszog und auf einen hölzernen Kleiderständer warf. Mateo folgte den Geräuschen, die eindeutig aus der Küche kamen und wurde fündig.
Annemarie, zu der alle nur Anne sagten, stand in Pyjamahose, T-Shirt und dicken Wollsocken auf dem Dielenboden und rührte in einem Topf, der auf dem alten Elektroherd stand. Ihre blonden Haare hatte sie locker zu einem Pferdeschwanz gebunden. Einzelne Strähnen hingen unordentlich heraus und das war auch ihre Absicht – sie mochte den Gammel-Look. Es war nicht lange her, dass auch Mateo darauf abgefahren war. Ihre Beziehung war kurz, aber heftig gewesen, sodass es nahezu an ein Wunder grenzte, dass sie sich noch in die Augen sehen konnten. Doch beiden war von Anfang an klar gewesen, dass ihre Liaison lediglich ein Zwischenspiel war.
Kai hockte wie immer in seinem Zimmer vor dem Computer. Mateo begrüßte Anne mit einem kurzen „Hallo“, um dann Kai in die Küche zu rufen. Automatisch zog Mateo den Kopf ein, als Kai den Türrahmen passierte. Er rechnete immer damit, dass sein 1,96 Meter großer Mitbewohner nicht durch die Tür passen könnte.
Mit Kai konnte man gut feiern, die übrige Zeit verbrachte er vor dem Computer. Er war ein Genie, und die international tätige Firma Interglobal Technologies hatte ihm längst einen gut bezahlten Job angeboten. Kai scheute aber davor zurück, ins Ausland zu gehen. Er mied Veränderungen. Für ihn war klar, dass er für immer in der WG wohnen würde.
So unterschiedlich die Ziele und Interessen der drei auch waren – Kai studierte Informatik, Anne wollte Lehrerin werden und Mateo hatte sich gleich mehrere Ziele gesteckt –, so gut hatten sie sich dennoch verstanden. Kai und Anne hatten erwartungsvoll am Küchentisch Platz genommen, während Mateo am Herd lehnte und einmal tief durchatmete, bevor er begann: „Leute, ich ziehe aus!“
Kai und Anne sahen sich an und brachen in lautes Gelächter aus. Als Mateo jedoch schwieg, war klar, dass er das ernst meinte.
Kai fand als erster die Worte wieder: „Dann vergiss aber nicht, deinen Mädels die neue Adresse mitzuteilen, sonst rennen die uns weiterhin die Bude ein!“ Hörte Mateo da etwa Neid heraus? Nun, wenn der gute Knabe auch niemals aus seinem Kabuff kam, woher sollten die Mädels dann wissen, dass er zu haben war?
Mateo ignorierte die Spitze und fügte stolz hinzu: „Meine neue Adresse lautet IGESPAR, Lissabon!“ Und dann etwas kleinlaut: „Aber eigentlich wohne ich bei meinen Großeltern.“
Anne und Kai verstummten. Es war also ernst. Anne stand auf und gratulierte Mateo mit einem Händedruck, um dann einen herzhaften Schmatzer auf die Wange hinterher zu schicken, während Kai weiterhin ungläubig dreinschaute.
„Wie hast du das geschafft? Ich dachte, der Professor konnte dich nicht leiden. Hat er dich für das Semester vorgeschlagen?“
„Ich habe keinen blassen Schimmer, ich weiß nur, dass das eine einmalige Chance ist.“
„Das muss gefeiert werden!“
Nicht nur Kai, auch Anne war schnell dabei, wenn es ums Feiern ging. Doch nach den ersten Gläsern wurde allen klar, dass es auch ein Abschied war und sie einen neuen Mitbewohner suchen mussten.
„Der muss auf jeden Fall kochen können!“, sagte Kai bestimmt. „Wäre eine gute Gelegenheit, meine Fastfood-Gewohnheiten zu ändern. Was meinst du, Anne?“
„Ja schon, aber der sollte auch die Waschmaschine bedienen können. Ich habe keine Lust, wieder einen Crashkurs geben zu müssen und trotzdem nur noch rosa Unterwäsche im Schrank zu haben“, monierte Anne.
Mateo ging gar nicht auf die Zwei ein und meinte nur: „Der Neue muss euch aber auch ertragen können!“
„Wenn der trinkfest ist, kann er alles ertragen!“, konterte Anne. Sie holte ihre Nudelsuppe vom Herd und löffelte die Nudeln aus dem Topf heraus. Die anderen zwei bekamen ebenfalls Hunger und fielen über den Inhalt des Kühlschranks her. Im Nu sah die Küche aus wie ein Schlachtfeld.
Annes Gesicht verfinsterte sich.
„Leute, meine Tage hier sind auch gezählt. Letzte Woche hat mich mein Vater angerufen. Der dreht mir demnächst den Geldhahn zu und mein Job im Café reicht nicht aus, um mir weiterhin ein schönes studentisches Lotterleben zu machen. Ich muss mein Studium nämlich zu Ende bringen und kann es mir nicht erlauben, mal eben ein Semester im Ausland Urlaub zu machen.“
„Anne, jetzt sei nicht ungerecht. Mateo hat viel Arbeit vor sich, da ist an Urlaub nicht zu denken. Aber mal ’ne andere Frage: Wie lange studierst du eigentlich schon auf Lehramt?“, fragte Kai provozierend.
Anne errötete und antwortete schnippisch: „Ich werde im nächsten März mein Staatsexamen machen.“
Kai gab nur ein „Aha“ von sich und wechselte das Thema: „Hey Mateo, wann fliegst du nach Portugal? Bist du zu Annes Geburtstag im Juni noch da?“
„Leider nicht, da suche ich schon nach Schätzen unter den Fundamenten Lissabons.“
„Ich beneide dich. Aber wenn ich es mir recht überlege, habe ich gar keine Lust, hier auszuziehen und was Anderes zu machen, als zu studieren“, sinnierte Kai und meinte dann an Anne gewandt: „So wie ich das sehe, geht es Anne genauso. Feiern wir dann deinen 29. Geburtstag trotzdem?“
„Erinnere mich bloß nicht daran! Ich stehe kurz vor der 30. Ich habe einen Aushilfsjob und ein Studium, von dem ich nicht mal weiß, ob ich jemals in dem Beruf arbeiten will. Könnt ihr euch mich als Lehrerin vorstellen?“ Die Antwort umging Kai geschickt, indem er aufstand und jedem ein Bier aus dem Kühlschrank holte.
„Auf Annes endendes Lotterleben und auf eine gute Zeit für Mateo in Lissabon“, sagte Kai und erhob seine Flasche.
Nach dem Bier zog sich jeder in sein Zimmer zurück. Mateo gab im Internet eine Anzeige für das WG-Zimmer auf. Sein Praxissemester in Lissabon sollte ja schon am 1. Juni beginnen. Ihm blieb also nicht mehr viel Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Außerdem wollte er am Wochenende nach Hause zu seiner Mutter fahren. Doch in Gedanken war er bereits in Lissabon.
Sein Professor hatte ihm nur vage beschrieben, um was für eine Stelle es sich handelte. Die IGESPAR, das Instituto de Gestão do Património Arquitectónico e Arqueológico, die staatliche Denkmalschutzbehörde, hatte begonnen, die römische Unterstadt Lissabons erneut zu erforschen. Kaum jemand wusste davon, dass große Teile der Stadt förmlich unterkellert waren. Die Römer hatten dort eine riesige Stadt errichtet, mit allen kulturellen Einrichtungen der damaligen Zeit, und die waren noch bestens erhalten. Nach dem Erdbeben von 1755 hatte man diese Gewölbe zum ersten Mal entdeckt. Während Lissabon in Schutt und Asche lag, stiegen die Galerias durch das Erdbeben in die Höhe und wurden zum ersten Mal seit Jahrhunderten sichtbar. Sie wurden für den erneuten Aufbau der Stadt als Fundamente genutzt. Man ging davon aus, dass es sich lediglich um Thermen handeln konnte, doch einige Forscher waren mittlerweile anderer Meinung und hatten in langwieriger Beantragung erreicht, die Keller der Baixa noch einmal untersuchen zu dürfen. Allein das Teatro Romano, aus dem Jahre 58 nach Christus, bot 5000 Besuchern Platz und war bei Weitem noch nicht vollständig erforscht oder gar vermessen worden. Klar war nur, dass dort keine Löwen- oder Gladiatorenkämpfe stattgefunden hatten, man sich stattdessen den schönen Künsten hingegeben hatte.
Mateo konnte sich gut vorstellen, in den Galerias nach Schätzen zu suchen. In seiner Phantasie sah er sich bereits als gefeierten Archäologen, dessen Fund in der ganzen Welt bewundert wurde. Alle bekannten Institute rissen sich nun um seine Mitarbeit und man bot ihm die nötigen Mittel, um seine eigenen Forschungen zu verwirklichen. Doch noch war es nicht soweit, noch war alles ein Traum und er ein unbedeutender Student.
In den nächsten Tagen war Mateo damit beschäftigt, einen Nachmieter zu finden. Zu seiner Glückssträhne schien es geradezu zu passen, dass er schon nach kurzer Zeit eine Nachmieterin finden sollte, der es zudem auch noch gelegen kam, ihm seine Möbel abzukaufen.
Zusammen mit der schlanken Rothaarigen, die ihn fast um einen Kopf überragte, klopfte Mateo an Kais Tür, um Katharina vorzustellen. Schließlich mussten die anderen WG-Bewohner auch ihr Okay zur neuen Mitbewohnerin geben und sie hatten schon einige zuvor abgelehnt. Vorsichtig öffnete Mateo die Tür einen Spaltbreit und spähte hinein. Kai saß wie gewohnt am Schreibtisch vor seinem Computer.
„Hi Kai. Darf ich dir Katharina vorstellen? Sie wäre gerne ab nächsten Monat eure neue Mitbewohnerin, wenn ihr damit einverstanden seid. Sie fängt gerade ihr Informatikstudium an.“ Er wusste, dass ihn das interessieren würde. Kai stand auf und eilte zur Tür.
Stotternd begrüßte er Katharina: „Hallo, ich bin Kai. Ich würde mich freuen, wenn du hier wohnst.“ Wie blöd war das denn? Mateo grinste seinen Freund belustigt an, der nervös vom einen zum anderen Fuß wippte. Anne hatte sich für die Auswahl des Neuen nicht interessiert. Doch Mateo stellte auch ihr die neue Mitbewohnerin kurz vor.
„Willkommen in der Chaos-WG. Hier geht’s gerade drunter und drüber. Einer geht, einer kommt und so geht’s munter weiter“, stöhnte Anne genervt.
„Und was studierst du?“, fragte sie wenig interessiert.
„Ich fange jetzt mit Informatik an.“
„Oh, ja, schön. Dann kannst du dich ja mit Kai austauschen. Ich kann mit euch Computerfuzzies nichts anfangen. Ihr seid mir suspekt. Ständig dieses logische Denken. Sorry, ich muss los.“ Mit diesen Worten ließ sie Mateo und Katharina stehen, schnappte sich ihre Jacke vom Haken und machte sich auf den Weg in ihre Stammkneipe.
„Mensch Anne“, rief ihr Kai hinterher, der immer noch im Rahmen seiner Zimmertür lehnte, „sei doch nicht so unhöflich.“ Doch da fiel schon die Haustür ins Schloss. Verlegen lächelte Kai die Neue an und Katharina lächelte achselzuckend zurück. Die beiden hatten ein gemeinsames Thema, ihr Studienfach, und so ging Mateo in sein Zimmer und fing an, die ersten Umzugskartons zu packen.
Wehmütig blickte er aus dem Fenster in den Garten mit den alten Bäumen. Die ersten Knospen ließen erahnen, dass die Bäume bald in ein grünes Blättermeer verwandelt würden. So schnell ist meine Zeit hier vorbeigegangen, dachte Mateo. Ein Kribbeln im Bauch holte ihn schnell aus seiner beginnenden Traurigkeit. Er freute sich auf das, was kam. Schon immer hatte Mateo von anderen Ländern geträumt, nach seiner Zeit in Lissabon würde ihm die Welt offen stehen.
Madalena, kurz Lena genannt, war seit fast einem Jahr die persönliche Assistentin von Professor Alvares und immer an seiner Seite. Sie brachte ihm eine Tasse Kaffee an den Schreibtisch.
„Suchen Sie etwas Bestimmtes? Vielleicht kann ich helfen?“
„Nein danke, Lena. Ich wollte nur noch einmal schnell die Telefonnummer von der Vermessungsfirma wissen“, antwortete der Professor gewohnt höflich.
„Die hab ich drüben in meinem Büro. Ich hol sie Ihnen.“ Mit einem kleinen gelben Zettel, auf dem die Nummer notiert war, kam sie zurück. Sie drückte ihn ihrem Chef in die Hand, dann öffnete sie die Post.
Der Palácio, in dem die Denkmalbehörde untergebracht war, war Anfang des 19. Jahrhunderts fertiggestellt worden. Einige Räume waren prachtvoll ausgestattet und wurden ab und zu für Staatsempfänge genutzt. Die Möblierung der Büros hingegen war praktisch und modern. Die Denkmalbehörde war keine verstaubte Einrichtung. Hier wurde etwas bewegt, auch wenn das schon mal länger dauern konnte. Jedes Vorhaben musste schließlich genehmigt werden. So auch die Idee, die Galerias von Lissabon noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Professor hatte viel Zeit damit verbracht, war oft dort unten gewesen und hatte nach Hinweisen gesucht, die eine erneute Untersuchung erlauben würden. 1968 hatte man einen ersten Teil des Theatersaals gefunden und freigelegt. Lena hatte ihm vorgeschlagen, dort anzusetzen und nach Verbindungen zwischen dem Teatro Romano und den Galerias Romanas zu suchen.
Lena bewunderte ihren Chef. Er gab nie auf, suchte immer nach neuen Wegen, um seine Ideen in die Tat umzusetzen und neue Forschungen zu ermöglichen. Die Kollegen nannten ihn scherzhaft den Antonio Banderas der IGESPAR. Sicher, sein attraktives Äußeres, die mittellangen Haare und dunklen Augen, verliehen ihm schon etwas spitzbübisch Verwegenes.
Lena und er waren ein gutes Team, dennoch hatte sie andere Ziele. Sie wollte weiter kommen, Karriere machen und Erfahrungen sammeln. Für Männer war zur Zeit kein Platz in ihrem Leben. Sicher hatte sie von Zeit zu Zeit eine Affäre, schließlich war sie eine attraktive junge Frau, doch etwas Festes wurde nie daraus. Ihr Traumziel war das Metropolitan Museum of Modern Art in New York. Hier wollte sie irgendwann durch die heiligen Hallen wandeln und Teil des Ganzen sein. Darauf arbeitete sie jeden Tag aufs Neue hin. Professor Alvares wusste von ihren Zielen und unterstützte ihren Ehrgeiz. Lena war im Gegenzug die Einzige, die es schaffte, ihn aus seinen depressiven Stimmungen herauszuholen, wenn ihm der Verlust seiner Frau Marianna wieder zu schaffen machte. Mit fachlichen Fragen lenkte sie ihn dann von seinem Schmerz ab und ließ sich von seinen Forschungen in fremden Ländern erzählen.
Mittlerweile hatte sie die Post geöffnet und sortiert. Nicht jeder Brief an den Professor war auch für ihn bestimmt. Lena hatte geübt eine Vorauswahl getroffen und alles andere an die entsprechenden Stellen weitergeleitet. Ganz oben auf den Stapel hatte sie einen Brief gelegt, der ihn besonders freuen würde. Zwar kannte Lena den Absender nicht persönlich, aber der Inhalt des Briefes reichte aus. Es war eine Karte für das Fußballspiel Benfica gegen Porto in Lissabon. Leider hatte der Professor keine mehr bekommen.
Lena war bereits in ihr Büro zurückgekehrt, als sie den freudigen Ausruf ihres Chefs vernahm.
„Meu deus! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Wie hat er das denn wieder geschafft?“
„Das muss wirklich ein guter Freund sein, der Ihnen eine so begehrte Eintrittskarte schenkt.“ Lena steckte erfreut ihren Kopf durch die Tür.
„Oh ja, das kann man wohl sagen. Wir sind schon zusammen zur Schule gegangen, haben dann das Lyzeum besucht. Heute ist er Bischof von Lissabon. Mein Gott, sind wir alt geworden.“ Der Professor seufzte und wedelte mit der Eintrittskarte vor seiner Nase herum.
„Na ja, so alt sind Sie ja nun auch noch nicht. Aber eine so lange Freundschaft ist wirklich selten. Die muss man pflegen.“
„Da haben Sie recht, Lena. Eine Hand wäscht die andere, sage ich immer.“ Grinsend legte er die Karte in seine Schreibtischschublade und widmete sich der restlichen Post. Auch Lena ging wieder an die Arbeit.
Kais alter Renault stöhnte unter der Last, die er zu befördern hatte. Das Auto war bis in den letzten Winkel vollgestopft. Mateo hatte nicht gedacht, dass er so viele Sachen in München angehäuft hatte. Er war davon ausgegangen, dass alles schnell zusammengepackt wäre, denn die Möbel hatte er ja an Katharina verkauft.
Mit dem Geld würde Mateo sich in den ersten Wochen in Portugal über Wasser halten können. Den Flug zahlte zum Glück die portugiesische Denkmalschutzbehörde, doch sonstige Zahlungen seitens der IGESPAR hatte Mateo nicht zu erwarten. Er hoffte insgeheim auf die Unterstützung seiner Großeltern.
Kai lenkte den Wagen auf die Autobahn Richtung Stuttgart.
„Ich kann nicht fassen, dass unsere gemeinsame Zeit in München vorbei ist. Schön war’s. Wirklich!“ Nachdenklich zückte Mateo sein Mobiltelefon, um nachzusehen, ob er irgendwelche Nachrichten erhalten hatte.
„Alter, lass den Kopf nicht hängen. Viele würden sonst was geben, um nach Lissabon gehen zu können. Du bist ein absoluter Glückpilz“, meinte Kai.
„Eigentlich schon, aber die Sache mit meinen Großeltern wird nicht einfach. Mein Opa ist ziemlich bestimmend. Der verplant gerne die ganze Familie. Und meine Oma, die ist immer so fürsorglich. Pah, schrecklich.“ Mateo holte tief Luft, bevor er seine Oma gestikulierend nachäffte. „Hast du genug zu essen dabei? Wann kommst nach Hause? Trink keinen Alkohol. Du darfst nicht rauchen. Das T-Shirt kannst du doch so nicht anziehen, das muss man erst bügeln.“ Er schüttelte genervt den Kopf.
Verständnisvoll nickend gab Kai ihm Recht: „Ja klar. Mit dem Leben in der WG kannst du das nicht vergleichen. Vielleicht wird es ja nicht so schlimm. Außerdem lassen die Großeltern auch immer mal was springen.“ Mateo sah ihn fragend an. „Kohle, Schotter, Bares, Alter! Dafür kann man auch mal Linsensuppe von Oma löffeln.“ Mateo hoffte, dass es bei der Suppe bleiben würde.
„Und, wie findest du Katharina?“, wollte Mateo wissen. Diese Frage hätte er besser nicht gestellt. Kai kam so sehr ins Schwärmen, dass er gar nicht mehr aufhören konnte.
„Ich hab noch nie so eine Frau kennengelernt. Ich denke, bei ihr sind die beiden Gehirnhälften vertauscht. Die ist so was von logisch und intelligent. Sie ist die erste Frau, mit der ich stundenlang über Dinge reden kann, die mich wirklich interessieren. Und vor allem versteht sie, was ich ihr erzähle. Sie kann mir folgen und weiß, worauf ich hinaus will. Ich wünschte, sie würde die Mutter meiner Kinder werden!“
„Hui. Dich hat es aber erwischt!“ Mateo musste grinsen. Noch nie hatte er seinen Freund so leidenschaftlich von einem Mädchen reden hören.
Mateos Handy klingelte, es war Anne. Kaum war er eine Stunde von München weg, musste sie ihm die Neuigkeit überbringen, dass Kai sich in Kathi verliebt hatte.
„Anne, ich weiß das schon. Kai sitzt neben mir, wir fahren zusammen nach Stuttgart. Er hat mir schon erzählt, dass er sich in Katharina verliebt hat.“ Kai wurde ganz rot im Gesicht. Vorwurfsvoll blickte er seinen Freund auf dem Beifahrersitz an und hörte aus Mateos Telefon so etwas wie „du Arsch“.
„Ja, Anne, ist okay. Wir haben dich auch lieb. Du musst nicht eifersüchtig sein“, trieb es Mateo wahrlich auf die Spitze. Ungläubig starrte er sein Handy an: „Weg! Sie hat einfach aufgelegt.“
Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus. Mateo hatte Anne ganz schön vorgeführt. Nur allmählich fanden sie zu einer normalen Unterhaltung zurück.
„Das ist neu für Anne, ein Mal steht sie nicht im Mittelpunkt“, meinte Kai zögerlich.
„Um die musst du dir keine Sorgen machen. Die hat ständig irgendwelche Kerle, die kommt schon nicht zu kurz.“ Mateo wusste, wovon er sprach. Schließlich hatte er auch bereits das Vergnügen gehabt.
„Ich hoffe nur, es gibt keinen Zickenkrieg. Kathi ist meine erste Freundin. Noch nie hat sich ein Mädchen für mich interessiert. Sieh mich doch an! Mit Schokoriegeln und Fastfood wird man nicht zum Adonis“, jammerte Kai.
„Noch ist es nicht zur spät, mein Freund“, posaunte Mateo lautstark, „jetzt fängt das Leben an! Du hast ’ne tolle Freundin, Jobangebote ohne Ende. Mensch, greif zu und mach was draus!“
Gut gelaunt verließen sie die Autobahn und hatten schon bald Mateos Elternhaus erreicht. Vor dem Eingang sahen sie Maria bereits auf sie warten. Sie hatte Freudentränen in den Augen und umarmte ihren Sohn herzlich. Dann begrüßte sie Kai. Während sie das Auto ausräumten, begann sie, Kai alte Geschichten aus Mateos Kindheit zu erzählen.
„Ich habe sein Kinderzimmer so gelassen, wie es war, als er nach München ging. Ach, du hättest das Zimmer mal sehen sollen, als er zehn war.“
Mateo unterbrach seine Mutter: „Mama, das interessiert doch niemanden!“ Maria drehte sich auf dem Absatz um und verschwand im Haus. „Mãe, nun sei doch nicht beleidigt! Was gibt es denn zu essen?“, lenkte Mateo beschwichtigend vom Thema ab.
„Es gibt Paella“, antwortete Maria kurz, und an Kai gerichtet fügte sie hinzu: „Weißt du, eine gute Paella lebt von ihren Zutaten. Ich fahre immer extra zu einem portugiesischen Geschäft, um die Meeresfrüchte zu kaufen, die kommen nämlich ganz frisch aus Portugal.“
Mateo unterbrach sie schon wieder: „Die kommen nicht aus Portugal, die kommen aus der Nordsee. Die gleichen bekommst du auch im Supermarkt.“ Wortlos ging Maria in die Küche und überließ Mateo und Kai den Umzugskisten.
Nach dem Essen fuhr Kai zurück nach München. Mateo folgte seiner Mutter ins Wohnzimmer, wo sie die portugiesischen Nachrichten im Fernsehen ansehen wollte. Mateo ließ sich in den Sessel fallen.
„Mama, ich werde auch bald wieder weg sein ... Hab mich mit den Jungs verabredet.“
„Ach Mateo, ich dachte, wir verbringen den Nachmittag gemeinsam. Wo willst du denn schon wieder hin? Du bist doch gerade erst gekommen.“ Mateo sah seiner Mutter die Enttäuschung an, aber er hatte keine Lust, mit ihr vor dem Fernseher abzuhängen. Er freute sich auf zwei freie Wochen mit der alten Clique.
Im Fernsehen liefen die 14-Uhr-Nachrichten. Der Premierminister drohte mit Rücktritt, und die Arbeitslosenzahlen machten wenig Hoffnung. Danach folgten die Fußballergebnisse. Maria schaltete den Fernseher aus, um ihre Eltern anzurufen.
„Mama, lass doch jetzt, die essen bestimmt gerade“, warf Mateo ein, aber seine Mutter ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen und schaltete auch gleich den Lautsprecher an.
„Hallo mein Kind, wie geht es dir? Ist Mateo schon da?“, wollte Carlotta mit vollem Mund wissen. Sie war kaum zu verstehen.
„Ja, Mama, er ist hier. Er hört mit. Wie geht es euch? Seid ihr gesund?“