2,99 €
Eine hinreißend böse Gesellschaftskomödie! Sie sind zwei Frauen voller Gegensätze, aber sie sind einander dennoch verbunden wie Pech und Schwefel: Kara Oswald, die gefeierte Programmmacherin mit dem Riecher für das, was beim Publikum "geht", und Antonia Salbach, die schöne Moderatorin und Fernsehjournalistin, der Liebling des Publikums. Beide verbinden harte Zeiten in ihrem Beruf, beide hat der tägliche Überlebenskampf in der Machowelt des Fernsehens zu Freundinnen zusammengeschweißt. Doch dann wittert Antonia die einmalige Chance zum ganz großen Karrieresprung. Sie weiß, sie muss zugreifen, auch wenn sie dafür ihre beste Freundin opfern muss. Sie hat keine andere Wahl - denn sie will nichts anderes als Karas Job ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 392
Karin Dietl-Wichmann
Die Quoten-Queen
Roman
Edel:eBooks
Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.
Copyright © 2012 by Karin Dietl-Wichmann
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-190-3
edel.comfacebook.com/edel.ebooks
Vorbemerkung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Epilog
Die Handlung dieses Romans und alle beschriebenen Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden
Eines habe ich in meinem Leben bitter gelernt: Vertraue niemals bedingungslos deinen Freunden. Ich habe mich meiner Feinde bedient – und bin damit gut gefahren!
AL CAPONE
Mein Ziel war es, mit »Die Quoten-Queen« eine Gesellschaftssatire zu schreiben. Angeregt durch Erlebnisse und Erfahrungen in meinem beruflichen und persönlichen Umfeld sowie durch literarische und filmische Werke und Reportagen über die Medienszene, habe ich die gesamte Handlung und alle Romanfiguren frei erfunden. Jede eventuelle Ähnlichkeit der imaginären Figuren mit lebenden Personen wäre rein zufällig. Zwar werden in dem Buch etliche bekannte reale Personen erwähnt, und einige kommen sogar zu Wort, doch die ihnen zugeschriebenen Handlungen und Dialoge sind frei erfunden. Außerdem tauchen immer wieder zwischen imaginären Produkten und Firmen auch reale auf, doch viele der mit ihnen in Verbindung gebrachten Geschehnisse und Figuren sind rein fiktiv und sollten unter keinen Umständen als Darstellungen von realen Ereignissen, Personen oder Dingen aufgefasst werden.
München, im Juni 2000
Karin Dietl-Wichmann
Er überfiel sie jeden Sonntagnachmittag aufs Neue: der ›sunday afternoon blues‹. Dieses nagende Gefühl der Einsamkeit. Die Wochenendausgaben der FAZ und der Süddeutschen waren gelesen, das Frühstücksgeschirr weggeräumt, die nächste Verabredung erst am Abend. Kara Oswald tigerte durch das plötzlich so große und leere Appartement. Es war 14 Uhr, und es gab niemanden, den sie um diese Zeit anrufen konnte. Die Freunde, die verheiratet waren, kümmerten sich um Kind und Kegel. Die Singles tauchten gerade aus den alkoholisierten Umarmungen der ›last night stands‹ auf. Ihre eigene Familie war in alle Welt verstreut. Die Tochter im Internat, der Vater mit seiner neuen Liebe auf Weltreise, und zu keinem ihrer Ex-Ehemänner gab es besonders herzliche Kontakte. Ihren letzten Lover, einen sanftmütigen Versager, hatte sie an ihre Freundin Antonia Salbach abgetreten, und der gegenwärtige, ein manisch-depressiver Bildhauer, erpresste sie ständig emotional. Die Stunden zwischen zwei und sieben Uhr schienen vom Teufel gemacht. Alte Ängste krochen wie Kröten übers Gemüt. Beginnende Depressionen hatten den besten Nährboden.
Die Situation bei TV6, dem Sender, bei dem Kara als Programmchefin engagiert war, machte ihr zu schaffen. Die Zahlen waren seit ein paar Wochen ein Horror, und ob ihre Idee einer neuen Show, die sie gleich am Montag Horst Köhler, ihrem Partner in der Geschäftsführung vortragen wollte, wirklich der dringend benötigte Hit war – Kara wusste es nicht. Seit Wochen wachte sie schweißgebadet auf. Es war immer der gleiche Alptraum. Wie eine Kriminelle war sie entdeckt worden. Sie stand vor einem Gericht, und alle ihre Fehler wurden aufgezählt. Es waren schrecklich viele. Immer wieder versuchte sie etwas zu ihrer Verteidigung zu sagen. Die Richter ließen sie nicht. Dann sprach einer das Urteil. »Sie sind«, sagte der Mann im Traum, »eine Hochstaplerin. Sie haben Fähigkeiten vorgetäuscht, die Sie nicht besitzen. Sie sind ein Nichts. Eine Versagerin!« Mein Gott, dachte Kara im Traum, jetzt wissen es alle. Jetzt wissen alle, dass ich immer nur geblendet habe. Dass ich tatsächlich eine Falschspielerin bin. Sie schämte sich, und die Gewissheit, nicht mehr geliebt und bewundert zu werden, setzte ihr schmerzlich zu. Das war stets die Stelle, an der sie aufwachte. Sie lag dann den Rest der Nacht wach. Fragte sich, wovor sie solche Angst hatte. Ob sie tatsächlich nur täuschte und trickste. Ob es nur Glück gewesen war, dass sie in ihrem Job so hoch gekommen war. Unheimliches Glück. Und dass nun eben dieses Glück sie verlassen hatte. Sich anderen zuwandte.
»Ich muss raus aus dieser Depression«, sagte sie halblaut vor sich hin. Sie probierte es mit Atemübungen. Nach ein paar Versuchen gab sie auch das auf. Ihr Kopf schien zerspringen zu wollen. Sie konnte nicht einen einzigen ihrer jagenden Gedanken festhalten. Das blanke Chaos war ausgebrochen. In diesem wilden Durcheinander versuchte sie den Anfang oder wenigstens das Ende einer Idee zu erhaschen. Sie bemühte sich, einen Satz zu denken, ihn laut auszusprechen.
»Ich darf jetzt nicht durchdrehen«, sagte sie. »Ich muss die Nerven behalten. Es gibt keine unlösbaren Probleme.« Sie schwieg und lauschte ihren Worten hinterher. Sie hallten in ihrem Schädel nach. Kara versuchte dem Rat von Antonia zu folgen. »Denk positiv«, hatte die ihr vor Monaten geraten, als sie einmal nachts in einer ähnlichen Stimmung bei ihr angerufen hatte. »Stell dir Dinge vor, die dich glücklich gemacht haben. Lass dich nicht hineinziehen in diese abgrundtiefen Löcher!«
Verzweifelt durchstöberte sie ihr Hirn nach glücklichen Erlebnissen. Nichts, rein gar nichts fiel ihr ein. Dafür begann sie mit geradezu masochistischer Lust in ihren Wunden zu wühlen. Sie sprang auf, lief zu ihrem Schreibtisch, griff sich das kleine Diktafon und begann mit stockender Stimme zu sprechen: »Es ist Sonntagnachmittag. Einer dieser schrecklichen Nachmittage, die mich eines Tages umbringen werden. Die mir meine Existenz zur Qual machen. Die mich zweifeln lassen an dem, was ich tue. Die mich die Banalität meines Lebens schmerzhaft spüren lassen. Wer bin ich eigentlich? Was habe ich erreicht mit meinen 39 Jahren? Nicht einmal eine funktionierende Ehe habe ich fertig gebracht. Dreimal geschieden, ohne familiäre Bindungen.«
Kara legte das Tonband aus der Hand. Sie ging in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. »Scheiße«, sagte sie halblaut vor sich hin. »Alles Scheiße!« Sie erinnerte sich an ihre drei Ehemänner. Der Erste, den sie mit Anfang zwanzig geheiratet hatte: ein konservativer Schwachkopf. Der Zweite, zu dessen Werbung sie aus Übermut Ja gesagt hatte: ein aufgeblasener Dandy. Und der Dritte, von dem sie gar nicht mehr wusste, weshalb sie ihn überhaupt geheiratet hatte: ein intellektueller Schwätzer. Allesamt Männer, die ihr die Luft zum Atmen nahmen. Von denen sie sich mit brachialer Gewalt befreit hatte. Die Lover, die folgten? Kara lachte bitter auf. Da gab es Alexander, dessen künstlerische Arbeit sie faszinierte. Der sie mit seinen Visionen mitreißen konnte, wie selten ein Mensch zuvor. Der ein wunderbarer Liebhaber war, dessen Schattenseiten sie aber unendlich viel Kraft kosteten. Der in seiner manischen Phase vor Kreativität sprühte. Jeden Kulturreferenten von der Einzigartigkeit einer seiner monumentalen Skulpturen überzeugte, um sich dann in seiner depressiven Phase wie ein Wurm im Erdreich zu verkriechen. Kara machte diese Zyklen seit fast zwei Jahren mit. Immer wieder hatte sie versucht, Alexander in die Wüste zu schicken. Hatte auf seine Anrufe nicht geantwortet, seine Briefe nicht geöffnet. Und dann stand er unangemeldet vor ihrer Tür. Und sie hatte ihm alles verziehen, wohl wissend, dass sich diese Szenen immer wiederholen würden.
»Warum tust du das?«, hatte Antonia sie beschworen. »Dieser Mann ist ein Vampir. Er wird dich aussaugen und dann wegwerfen. Mach Schluss, solange es noch Zeit ist!«
Kara hatte sich oft nach solchen Vorhaltungen einen aus der Schar ihrer Höflinge gepickt. Hatte ihre Nummer: ›wenn du artig bist, darfst du auch zur Königin aufs Lager‹ durchgespielt. Am Schluss kam sie stets zu der Überzeugung, dass diese Art von Affären nur Zeitverschwendung waren.
»Nichts als käufliche, eingebildete Parasiten«, sagte sie dann zu Antonia, die die Brauen hochzog, was so viel hieß wie: Das hab ich dir doch schon vorher gesagt.
Selbst ihr Vater, den sie als Kind so bewundert hatte, entpuppte sich als eitler, selbstgefälliger Schwadroneur, der auf seine alten Tage noch den Sugar-Daddy spielte.
Irgendwie scheine ich kein Händchen für Männer zu haben, überlegte sie, als sie sich den Kaffee eingoss. Die, die sie bewunderten und sich um sie bemühten, gefielen ihr nicht. Alle anderen betrachtete sie voller Misstrauen. So war sie dazu übergegangen, die Männer, die sich unvorsichtigerweise in ihren Umkreis wagten, zu erniedrigen. Sie schlecht zu behandeln. Sie zu korrumpieren und zu kaufen. Sie zeigte ihre ›trophy men‹ herum wie andere eine neue Handtasche. Auf diese Weise konnte sie bei Beendigung einer Affäre voller Verachtung auf die Wichte hinunterschauen. Sie verabscheuen dafür, dass sie ihr Spiel mitgemacht hatten. Dass sie mit sich geschehen ließen, was sie dann letztlich in Karas Augen zu den Lemuren degradierte, die sie im Grunde gar nicht waren.
Kara durchschaute ihr grausames Spiel zwar – konnte es aber nicht stoppen. Sie wusste, dass die negativen Erfahrungen mit Männern selbst inszeniert waren.
»Du hast Angst vor ihnen«, hatte Antonia einmal gesagt. »Du traust deiner Attraktivität nicht. Deshalb kaufst du sie dir. Und auch nur deshalb reagierst du so menschenverachtend. Wenn du das nicht bleiben lässt, wirst du nie eine befriedigende Beziehung haben!«
Kara war zornig gewesen, weil die Freundin in ihrer klaren Art den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Sie hatte sich damals sehr elend gefühlt. Hatte herzzerreißend geschluchzt, beschlossen, ab sofort alles anders zu machen, und schließlich genauso weitergelebt wie bisher. Sie tröstete sich damit, dass die ›richtigen‹, die ›wirklich guten‹ Männer so etwas wie sie gar nicht ertragen könnten. Dass solch ein Mann sie beschneiden würde in ihrer Freiheit, dass er etwas gegen ihren Job hätte und folgerichtig nicht in Frage käme.
»Wir benutzen die Kerle«, gab Antonia immer als Parole aus. »Wir machen es einfach so, wie sie es immer mit den Frauen getan haben: ex und hopp!«
Meistens fühlte sich Kara von solchen Sätzen getröstet. Was will ich eigentlich? fragte sie sich dann. Sie hatte einen Job, der sie forderte, ein dutzend Freunde, von denen sie sich verstanden fühlte, und sie hatte Antonia. Ihr vertraute sie bedingungslos. Sie war ihr Alter Ego. Ihre beste Freundin, ihre Schwester und – seitdem sie Chefin von TV6 war – auch ihre bevorzugte Mitarbeiterin. Zwischen ihnen gab es keine Geheimnisse, keinen Neid, keine bösen Gedanken. Antonia war aufrichtig und loyal. Ohne sich mit ihr zu besprechen, würde Kara keine wichtige Entscheidung mehr treffen.
Kara, die keine Geschwister hatte, sehnte sich nach familiärer Wärme. Nie würde sie die Zeit vergessen, als Antonia und sie zusammenlebten. Diese gemeinsamen Abende, an denen sie beim Wein auf dem Sofa kuschelten und über ihre Pläne sprachen. An denen Antonia sie liebevoll aufrichtete, wenn sie eine Reportage neu schreiben musste oder ein Kerl sich ihren Reizen entzog. Antonia gab ihr immer das Gefühl, die Beste zu sein. Vielleicht nur noch ein Treppchen weit vom großen Sieg entfernt zu sein. Niemals meldete sie Zweifel an Karas Fähigkeiten an. Niemals an ihrem Draufgängertum. Im Gegenteil: »Du bist die geborene Macha«, bestärkte sie die Freundin, wenn diese wie Hans Albers in ›Hoppla jetzt komm ich‹-Manier auf den Kriegspfad ging. Als sie ihre erste Chefposition angeboten bekam und zweifelte, ob sie der Sache überhaupt gewachsen sei, meinte Antonia: »Du kannst das. Und wenn nicht, hast du wenigstens die Chance ergriffen!« Manchmal dachte Kara, Antonia war so etwas wie die stets beschworene ›kluge Frau‹, die angeblich hinter jedem erfolgreichen Mann steht. Und auch als Kara endlich ganz oben angekommen war, konnte sie auf Antonia nicht verzichten. Sie beschäftigte die Freundin als Reporterin und Moderatorin in ihrem Sender. Antonia war das einzige menschliche Regulativ, das sie in ihrem Höhenrausch noch hatte. Nach dem sie gierte, weil es sie in der Kälte ihrer Position mit Wärme versorgte. Weil auf ein hysterisches »Ich schaff das nicht mehr« ihrerseits ein liebevolles »Das wäre doch gelacht« von der Freundin kam. Kara fühlte sich verlassen, wenn Antonia auf Reisen war. Sie wartete ungeduldig auf deren Rückkehr.
Bei Antonia musste sie keine Rolle spielen. Musste nicht klug, nicht fabelhaft, nicht amüsant sein. Sie konnte von banalen Träumen sprechen, ohne Verrat fürchten zu müssen.
Antonia war gescheit und diskret. Sie war nicht wie Kara darauf angewiesen, geliebt zu werden. Niemals liebte sie so wie Kara: so leidenschaftlich und maßlos. Antonia ließ sich lieben. Huldvoll und sehr fern – für den, der sich nach ihr verzehrte. Ein flüchtig benutzter Liebhaber hatte ein Buch über seine Beziehung zu Antonia geschrieben. Er gab ihm den Titel ›Tiefgefroren‹.
Als Antonia, der das Werk gewidmet war, das Buch las, lachte sie spöttisch: »Tiefgefroren, wie klug er das erkannt hat!«, sagte sie.
Trotz dieser Vereisungen von Antonia war Kara sicher, dass sie selbst zu den wenigen Menschen gehörte, die ihre Freundin liebte. Für die ihre kühle Freundin ein ebenso familiäres Gefühl entwickelte wie sie. Diese Sicherheit, dass ihr, egal was auch immer geschähe, Antonias Zuneigung gewiss wäre, ließ Kara ihren einsamen Job besser ertragen.
Und jetzt war ihr danach, mit Antonia zu sprechen. Jetzt sofort. Sie wählte Antonias Nummer. »Geh schon ran«, dachte Kara. »Sei wenigstens zu Hause!«
Als Antonia antwortete, wurde ihr sofort wohler. Sie liebte diese helle, mädchenhafte Stimme. Jetzt mit Antonia zu sprechen, hieß die Dämonen zu bannen, nicht verloren zu sein. Das rettende Ufer erreicht zu haben.
Antonia schien ihren Anruf erwartet zu haben.
»Diesmal hast du deine Isolationshaft eine Stunde länger ertragen«, sagte sie und hatte ein Kieksen in der Stimme, das sie immer dann bekam, wenn sie etwas sehr amüsierte.
»Spotte nur«, sagte Kara, »mich haben schon wieder alle Sonntagsmörder gewürgt. An irgendeinem dieser grässlichen Sonntagnachmittage werde ich verrückt werden. Lach nicht, ich weiß das genau. Dann werde ich schreiend und nackt auf die Straße laufen und endlich meinen dröhnenden Kopf nicht mehr spüren!«
»Was macht dich eigentlich so kirre, Kara?«, fragte Antonia, noch immer belustigt. »Du könntest doch bei einer Tasse Tee in einem deiner teuren Sessel sitzen, Musik hören und dich deines Lebens freuen!«
Kara hörte, wie Antonia sich eine Zigarette anzündete. Die Freundin war ihr so nah, dass sie glaubte, den süßlichen Geruch dieser schrecklichen orientalischen Dinger zu riechen. Sie wusste, dass Antonia, wahrscheinlich in einem Kimono gehüllt, auf dem einzigen Sessel ihrer völlig improvisierten Wohnung kauerte. In den fast zwanzig Jahren ihrer Freundschaft hatte Antonia es noch nie fertig gebracht, sich ein Zuhause zu schaffen.
Sie war von einer Stadt in die andere gewechselt. Hatte Wohnungen, kaum dass sie bezogen waren, wieder verlassen, um sich schließlich mit ihrem wenigen Mobiliar in einem wahllos ausgesuchten Appartement neu zu installieren. Wenn Kara sich über diese Unrast wunderte, entgegnete Antonia meist: »Ich bin noch nicht angekommen. Am liebsten würde ich mit einem Wohnwagen durch die Welt ziehen. Heute hier – morgen dort!«
Kara kam sich bei solchen Gesprächen mit ihrem Drang, sich in jeder Stadt, die sie liebte, heimisch einzurichten, spießig vor. Sie reagierte dann genauso aggressiv wie jetzt auf die Vorhaltung von Antonia.
»Was willst du?«, fragte sie mit erhobener Stimme. »Dass ich mir, nur weil mir hin und wieder die Decke auf den Kopf fällt, einen Kerl anlache, der sich bei mir breit macht? Der abends lauert, bis ich aus dem Sender komme, um mich mit dümmlich erwartungsvollem Lächeln und einer Flasche Sekt empfängt?«
»Würde dir Jahrgangschampagner besser gefallen?«, fragte Antonia leicht süffisant.
»Ach komm!« Kara mochte nicht auf den lockeren Tonfall der Freundin eingehen. »Du weißt doch genau, was die Schwierigkeit ist. Ich habe zu lange allein gelebt und kann mich nicht mehr anpassen. Auf der anderen Seite werde ich hundsordinär neidisch, wenn ich glückliche Paare sehe. Unter der Woche geht’s ja. Da kann ich kaum schnaufen vor Arbeit. Aber wehe, ich hab mal eine Stunde Freizeit – dann laufen meine sämtlichen unerfüllten Hoffnungen Amok!«
»Schau mal«, sagte Antonia, »allein bist du doch wirklich nicht. Du hast eine Menge guter Freunde. Und du hast mich. Ich bin doch wirklich immer für dich da! Und nun sag schon: Gibt es einen aktuellen Grund, weshalb du dich mies fühlst?«
»Na ja – was heißt aktuell?« Kara spürte, dass ihr allein vom Reden leichter wurde. »Du weißt ja, wie es um den Sender steht. Wir brauchen einen Hit, und das sehr schnell! Sonst drehen uns die zauberhaften Eigner den Strom ab.«
»Und?«, fragte Antonia, »ist dir etwas eingefallen?«
»Ich denke schon. Können wir uns nicht treffen? Ich möchte hören, was du darüber denkst!«
Kara hörte, wie Antonia leise stöhnte. Sofort war dieses beklemmende Gefühl wieder da.
»Manchmal bist du wie ein trotziges Kind«, seufzte Antonia. »Ich bin verabredet. Jetzt werde nur nicht gleich wieder sauer. Ich will mit Roswitha ins Kino gehen. Komm doch einfach mit.«
»Ich habe andere Probleme«, sagte Kara gereizt. »Ich muss mir etwas einfallen lassen. Hast du nicht vorher Zeit? Ich meine jetzt! Wir könnten einen Kaffee im Hofgarten trinken. Du hörst dir meine Idee an und sagst, wie sie dir gefällt. In einer halben Stunde? Okay?«
Kara war sich nicht bewusst, welchen Druck sie auf die Freundin ausübte. Es wäre ihr auch gleichgültig gewesen. Sie konnte keine Minute mehr allein sein. Sie wollte Antonia sehen, mit ihr reden und danach, am Abend, hatte sie selbst wieder eine Verabredung. Dann wäre die grauenvolle Leere überstanden.
Und Antonia beugte sich wie immer dieser Nötigung.
Die Frau auf dem Großbildmonitor weinte mit hässlich verzogenem Mund. Sie presste ein kleines, ebenfalls heulendes Mädchen an sich. Die Stimme aus dem Off sagte mit schwer erträglichem Pathos: »Beide werden die grausame Tat des Vaters nie verwinden können. Wo waren die Nachbarn, wo war die Sozialbehörde, als das Unfassbare geschah…«
»Stopp! Erspart mir den Rest!« Kara Oswalds Stimme war eisig. »Dieser Bericht ist Schrott! Mir ist völlig rätselhaft, wie die solch ein Gesülze abnehmen konnten!«
Kara drehte sich zu Rainer Heigel, dem Chef des Aktuellen, um. »Was haben Sie sonst noch für das Magazin am Dienstagabend?«
Heigel, ein hagerer Mann um die Vierzig, seit einem Jahr bei dem Frauensender und vorher Redakteur in der Nachrichtenredaktion von RTL, zuckte mit dem Schultern.
»Nichts Aufregendes. Vielleicht noch die Story über die Scheidung von Anke Seitz. Sonst ist im Moment tote Hose!«
In dem viel zu kleinen Konferenzraum war es heiß, und es stank zum Gotteserbarmen, eine Mischung aus Schweiß, Parfüm und Zigarettenrauch. Die fünfzehn Redakteure hingen in ihren Sesseln. Erschöpft, aggressiv oder einfach nur desinteressiert.
Wenn Montagmittag die Quoten vom Wochenende vorlagen, bedeutete das, zumindest in den letzten Monaten, Krieg. Jeder schoss auf jeden. Alte Grabenkämpfe wurden neu eröffnet, Schuldzuweisungen verteilt. Ganz selten gab einer zu: Ich habe Mist gebaut. Die meisten argumentierten auf dem Niveau von Kindergartenzöglingen. Kara bekam dann Sachen zu hören wie: Der Sendeplatz war eindeutig falsch gewählt. Der Vorfilm so schlecht, dass gerade bei diesem Beitrag die Zuschauer abschalteten. Aus dem Sujet war nicht mehr rauszuholen. Die Konkurrenz, und das war jeder verdammte Sender im Lande, hatte einfach die besseren Themen.
Kara Oswald kannte alle diese Ausreden. Langsam begann sie ihre Mannschaft für deren infantiles Verhalten zu hassen. Warum war dieser Crew nicht beizubringen, dass sie alle an einem Strang ziehen mussten? Dass ein miserabler Film nicht wettgemacht werden konnte durch einen anderen, der vielleicht nur um eine Nuance besser war. Weshalb kapierten sie nicht, dass die Eigner des Senders, diese Herde von ignoranten Geldsäcken, längst begonnen hatten mit den Hufen zu scharren.
Und dass es in erster Linie nicht darum ging, sie, Kara Oswald, auszuwechseln, sondern den ganzen Sender dichtzumachen? Oder lag es an ihr? Konnte sie nicht mehr motivieren? War sie selbst schon so weich gekocht, dass sich ihre Stimmung auf den Rest der Truppe übertrug? Sie würde sich mit Antonia bereden müssen.
»Warum machen wir nichts über Maren Kroiter?« Hanno Fengler, ein eher törichter Endzwanziger, dessen massiger, rasierter Schädel ihn wie einen Fascho aussehen ließ, kannte die Spielregeln in den Konferenzen noch nicht. Dem Neuling in der Magazinredaktion war nicht klar, dass bloßes Name-dropping bei der Chefin einen sofortigen Wutanfall zur Folge hatte. »Ich will Storys und keine Namen«, lautete ihr ständiger Spruch.
»Wer soll das denn sein?« Kara Oswald blickte in die Runde. Als niemand antwortete, fragte sie schärfer: »Kann mir vielleicht freundlicherweise jemand sagen, wer die Frau ist und was es von ihr Sensationelles zu berichten gibt?«
»Die Kroiter ist einer der Stars aus ›Kein Stein auf dem anderen‹, der Soap auf SATI. Und sie hat während der Dreharbeiten einen Herzanfall gehabt und brauchte blitzartig ein Spenderherz…«
»Und?« Kara sah Fengler kopfschüttelnd an. »Hat sie das Herz bekommen?«
Hanno Fenglers haarloser Schädel leuchtete hellrot. Er schwitzte und meinte nur ziemlich verlegen: »Ja, hat sie!«
»Und was ist die Story? Können wir bei der Operation dabei sein? Hat sie psychische Probleme? Wissen wir, von wem das Herz stammt?«
Kara, die nichts mehr hasste als solche gedankenlos hingeworfenen Themenvorschläge, die sich schließlich als Windeier herausstellten, ließ nicht locker.
»Fengler, Sie müssen sich doch was dabei gedacht haben? Heraus damit!«
Hanno Fengler war diesem Bombardement nicht gewachsen. Hilflos schaute er Gina Walter an, die neben ihm saß.
Gina, zynisch bis unter die Fingernägel, aber kein Kollegenschwein, sprang ihm zur Seite.
»Also, die Kroiter wurde vor einer Woche operiert, und das ZDF hat mit einem irrsinnigen Aufwand das Ganze gedreht. Aber vielleicht kann man die Story ja von der Psychoseite angehen. Ich meine, wenn wir rauskriegen, wem das Spenderherz gehört hat. Wie die Angehörigen darauf reagieren. Ob sie die Kroiter aus dem Fernsehen kennen. Ob sie vielleicht stolz darauf sind, dass das Herz ihrer Tochter oder ihres Sohnes jetzt in so einer prominenten Brust…«
»Hören Sie schon auf, Gina. Das klingt ja furchtbar. Das ist RTL-Schmonzes in Reinstform. Also nein, das haut mich nicht vom Hocker. Kein Aufmacher.«
Die Redakteure und Ressortleiter spürten förmlich, wie sich in Kara Oswald eine immer größere Aggression aufbaute. Sie hörten den bemüht sachlichen Tonfall von ›K. O.‹, wie die Chefin von TV6 intern hieß, und sie wussten, dass es sich allenfalls noch um Minuten handelte, bis ihr Zornpegel ausschlug.
»Ich hätte da einen Vorschlag«, mümmelte Janos, der Kulturredakteur, und schluckte hastig den Rest eines Kekses hinunter.
»Es gibt da eine neue, ziemlich schrille Frauenband, die a cappella Lieder aus den Dreißigern singt. Also die Damen…«
»Das klingt ja ungeheuer aufregend.« Kara Oswald beugte sich weit über den Konferenztisch. »Darauf sind unsere Zuschauerinnen sicher ganz scharf.« Sie richtete sich auf und sah sich um. »Was glaubt ihr eigentlich machen wir hier? Rentnerfernsehen? Fernsehen für Debile, für Randgruppen, Gehirnamputierte? Ich habe den Eindruck, euch ist nicht ganz klar, dass wir kurz vor dem Aus stehen! Dass unsere Quoten im Keller sind. Und warum sind sie im Keller? Weil ihr eure verdammten Ärsche nicht aus dem Sessel kriegt! Weil euch nichts einfällt. Weil ihr faul und bequem geworden seid. Weil ihr glaubt, dass nach unseren riesigen Anfangserfolgen der Karren von selber läuft! Nein, Herrschaften, wer hier läuft, das werdet bald ihr sein: nämlich aufs Arbeitsamt! Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Ich will diese verschlafenen Programmkonferenzen nicht mehr. Ich verlange, dass ihr euch vorbereitet. Dass da was anderes kommt, als die lahmen Beiträge, die ich heute zu sehen bekommen habe! Was ist mit der Story über die zahnige Ministergattin, Janos?«
Gina Walter sah Kara erstaunt an.
»Machen wir jetzt in Politik? Das haben wir doch bislang bewusst vermieden!«
Kara lachte genervt.
»Was ist denn Politik noch anderes als Showbiz? Also, Janos – was ist mit der Story?«
Janos wand sich in seinem Sessel. »Wir sind dran. Mehr kann ich nicht sagen. Sie will niemanden in ihr Haus lassen. Und auch sonst zickte sie rum!«
»Was heißt hier: Sie will niemanden in ihr Haus lassen?« Kara Oswald war aufgesprungen und tigerte um den Konferenztisch. Die rechte Hand hatte sie in der Jackentasche ihres schwarzen Seidenanzugs vergraben, mit der linken fuchtelte sie wild herum. Nervös strich sie sich die hellroten, halblangen Haare aus dem Gesicht. Seit drei Wochen sanken die Quoten für die aktuellen Sendungen unaufhörlich. Es musste ganz schnell etwas geschehen. Sie blieb hinter Janos stehen. Als sie den Kopf senkte, hatte Kara diesen Geruch in der Nase. Leicht böckelnd, brenzlich, registrierte ihr Gehirn. Also Angstschweiß mit einer Portion Aggression gemischt. Das erste Mal wurde Kara in der Pubertät auf ihre feine Nase aufmerksam. Wie andere die Wellen von Aggression, Hass, Liebe oder Angst spüren, so roch Kara in den kaum wahrnehmbaren Ausdünstungen ihrer Mitmenschen deren Befindlichkeit. Sie konnte erkennen, ob eine Person log, ob sie sich freute oder traurig war. Selbst Parfüm konnte Karas feines olfaktorisches Sensorium nicht täuschen. Manchmal hatte sie diese Gabe schon verflucht. Ein Liebesschwur, eine mit Nachdruck vorgetragene Versicherung, meistens erschnüffelte Kara den Wahrheitsgehalt des Gesagten. Er hat also Angst und kann mich nicht ausstehen, dachte sie. Ich ihn auch nicht. Mit Nachdruck bohrte sie ihren goldenen Füllfederhalter in seinen Rücken.
»Dann schießen wir sie im Garten ab. Oder stellt sie beim Einkaufen. Ich will sowieso keine Homestory. Ich will ein richtiges Interview. Ich will wissen, warum ihre erste Beziehung gescheitert ist. Wenn sie überhaupt nicht will, werden wir eben ihren verlassenen Mann ausquetschen. Der ist doch auch Journalist, oder? Dem könnte vielleicht etwas PR gut tun. Außerdem gibt’s da doch noch ein Kind. Ich habe noch nie Fotos von dem ›first kid‹ gesehen. Hat es vielleicht eine Macke? Weshalb wird es versteckt? Die Clintons haben ihr hässliches Entchen ja auch vorgezeigt. Und lasst endlich diese staatstragenden Töne, wenn die Rede auf das heilige Paar kommt. Schließlich waren es die Frauen, denen der Kerl seine Wahl verdankt. Also soll sich die Tussi nicht so haben!«
»Ja, aber wenn sie nicht will«, wandte Janos mit verzweifelter Miene ein und versuchte ihren Attacken auszuweichen. »Wir können sie doch nicht dazu zwingen. Schließlich ist sie ja die Gattin…!«
»Na und?«, fegte die Oswald ihn an. »Sie ist eine kleine Reporterin bei einem zweitklassigen Nachrichtenmagazin gewesen, bevor sie sich dem bewussten Herren an die Brust geworfen hat. Nun kriegen Sie sich mal wieder ein! Wir gehen die Geschichte völlig neu an. Wer hat die bisher in der Hand gehabt?«
»Hans Reiter. Ein ehemaliger Kollege der Dame. Hat die besten Kontakte zu ihr.«
»Wie man am Ergebnis sieht«, giftete Gina Walter. »Ich würde die Story gern machen!« Sie sah die Chefin auffordernd an, aber die hatte schon ihr Handy am Ohr.
»Antonia, hast du Lust einen Film über die Ministergattin zu machen? So mit allem Drum und Dran. Weißt schon, etwas Superfreches, womit wir zitiert werden. Komm morgen in die Redaktion, okay?«
Sie legte das Handy auf den Tisch. »Ich habe Antonia Salbach mit der Geschichte beauftragt. Die bringt das sicher. Wir brauchen keine ehemaligen Kollegen, die sind sowieso jetzt nur noch Wasserträger, weil sie sich ein Pöstchen erhoffen.«
Die Reaktion auf den Namen Antonia Salbach war gemischt. Gina Walter, die einiges für diesen Auftrag gegeben hätte, war wütend. Janos knurrte: »Die Frau wird überschätzt. Wann merkt das hier endlich mal jemand.«
Und Heigel meinte halblaut: »Wer die Chefin zur Freundin hat, macht eben den besten Stich!«
Kara, der keine dieser Bemerkungen entgangen war, ignorierte den Unmut ihrer Redakteure. Sie wusste, Antonia hatte kaum Freunde im Sender. Da half es auch wenig, dass Antonias wöchentliche Talkrunde die einzige Sendung war, die verlässliche Quoten brachte. Antonia, kühl und immer beherrscht, wurde von den meisten als kalte Karrieristin angesehen. Als Frau, die nur tat, was ihr nützte. Und so waren sich viele im Sender sicher, dass ihr die Freundschaft mit K. O. sehr nützte.
Kara kannte diese Meinungen. Aber genauso wie sie sich absolut sicher war, dass diese Verdächtigungen nicht stimmten, so war sie sich sicher, dass Antonia einfach um Klassen besser war als jedes einzelne Mitglied ihrer Crew.
»Also weiter im Programm. Hat denn niemand von euch eine Story mit drive?«
Gina schluckte ihren Hass auf Antonia Salbach hinunter.
»Wie wär’s, wenn wir mal den Frauengeschmack der G-8-Regierungschefs von einem Psychologen untersuchen lassen. Ich meine, so auf persönliche Defizite. Also ich denke da nicht nur an die Clintons, sondern auch an Mrs. Blair und natürlich unseren Kanzler. Der kanadische Regierungschef soll auch eine scharfe Tante…«
»Und was soll dabei rauskommen?«, Rainer Heigel schüttelte angewidert den Kopf. »Sexuelle Vorlieben? Sadomasoveranlagungen? Die Sehnsucht nach Unterwerfung? So nach dem Motto: Zeig mir deine Frau, und ich sage dir, was für eine Pottsau du bist? Außerdem tritt bei den G-8-Treffen nicht Putin, sondern Jelzin auf! Was an dessen Mutti erregend sein soll, wag ich mir gar nicht vorzustellen.«
»Anstatt sich zu mokieren – schlagen Sie doch etwas Besseres vor«, Kara konnte ihren Zorn auf diesen arroganten Menschen kaum zügeln. »Ich finde die Idee gar nicht so schlecht. Man muss daran feilen. Sie sollten einen überraschenden Aspekt herausarbeiten, Gina. Außerdem klären Sie doch vorher mit der Rechtsabteilung ab, wie weit wir gehen können! Was ist übrigens aus der Klage dieser grenzdebilen Moderatorin geworden, dieser Palermo Wagenknecht? Macht die immer noch Ärger?«
»Würden Sie keinen Zoff machen, wenn man einem Graphologen eine erschlichene Schriftprobe von Ihnen vorlegt und dieses nicht gerade wissenschaftliche Urteil, mit süffisanten Kommentaren versehen, sendet?« Christian Lages, verantwortlicher Redakteur für ›Peoples Storys‹ war eine der wenigen unabhängigen Figuren bei TV6. Er war intelligent, witzig und hatte zudem noch ein Gespür für wirklich gute Storys. Lages, ein lockerer Frauentyp, hatte drei Jahre lang bei ABC in New York gearbeitet. Nach Deutschland kehrte er wegen einer heißen Liebesgeschichte zurück. Das war vor einem Jahr. Aus der Lovestory war längst die Luft raus. Von Kara heftig umworben, war Lages schließlich bei TV6 gelandet.
»Es kam doch sowieso nur raus, was alle schon wussten: Die Frau ist strunzdumm, aber dabei immer noch schlau genug, sich gut zu verkaufen!« Kara Oswald mochte den jungen Lages und ertrug es sogar in ihrer gereizten Stimmung, als er nachtarockte:
»Eben – und das ist ja schon mehr, als mancher Intellektuelle von sich behaupten kann!«
»Schon gut, Christian. Dennoch hat uns dieser Beitrag nicht nur Quoten eingebracht, wir sind auch in fast allen Gazetten erwähnt worden!«
»Die kennt auch keinen Bahnhof mehr«, murmelte Sabine Karges, Ressortleiterin Eigenproduktionen. Karges, vormals Redakteurin beim SWR, konnte Kara Oswald nicht ausstehen. Zu TV6 war die militante Feministin nur gekommen, weil sie hoffte, in einem Frauensender ihre Ideen umsetzen zu können. Die ›Leitschnepfen‹, wie sie Kara und ihre Freundin Antonia heimlich nannte, hatten allerdings für ihre Begriffe wenig Frauenkämpferisches an sich. »Das sind weibliche Machos, die auch nicht vor einer Strapsstrategie zurückschrecken, wenn es ihnen nützlich erscheint«, schimpfte sie bei Gina Walter des Öfteren. Die Walter, die es liebte als society-proof zu gelten und sich mit den wichtigsten Leuten zu duzen, amüsierte sich prächtig über Sabine Karges. »Ein Sechzigerjahre Dino«, kicherte sie, wenn die Kollegin nicht dabei war.
Kara, der die Bemerkung ihrer Ressortleiterin nicht entgangen war und die wusste, wie wenig sie von Sabine Karges geschätzt wurde, lachte voller Verachtung.
»Wenn doch nur ein einziges Mal der Ansatz einer brauchbaren Idee von Ihnen käme, Sabine«, sagte sie. »Dann würde ich derartige Frechheiten gern ertragen. So aber kann ich Ihnen nur empfehlen, ihr Mundwerk zu hüten!«
Sigrid Kunze, die Assistentin von Kara, erschien im Konferenzraum. Sie hielt eine Kassette in der Hand.
»Das hier wurde gerade von einem Boten abgegeben. Es steht ›sehr dringend‹ drauf. Ihr wartet sicher schon?«
»Keine Ahnung.« Kara nahm die Kassette und hielt sie hoch.
»Vielleicht ist das ja der Knüller, auf den wir warten?«, versuchte sie zu scherzen. »Also, wem fehlt noch ein Beitrag?«
Als alle nur die Achseln hoben, gab Kara die Kassette an Sigrid zurück.
»Schauen wir’s uns an. Es soll ja noch Wunder geben!«
Auf dem Bildschirm erschien ein Mann Ende dreißig. Er hatte blondierte Haare, die ihm in dauergewellten Löckchen à la Thomas Gottschalk bis zu den Schultern reichten.
»Ich heiße Ernesto Cavallo«, sagte der Typ und schob den Oberkörper, der in einer Motorrad-Lederjacke steckte, schräg in die Kamera. »Weil es mir seit Monaten nicht gelingt mit Ihnen ins Gespräch zu kommen, habe ich diesen Weg gewählt. Ich möchte ihnen eine Erotikshow anbieten. Genau das Richtige für einen Frauensender. Nichts Pornografisches – eine delikate Sache.« Ernesto Cavallo lächelte viel sagend und sah dabei unendlich dümmlich aus. »Bitte schalten Sie jetzt nicht ab. Ich habe einen kleinen Pilotfilm gedreht. Schauen sie sich den Vorschlag wenigstens an!«
Hanno Fengler war aufgestanden.
»Soll ich den Schrott ausschalten?«, fragte er.
»Spinnst du?«, Gina Walter sah sich um. »Vielleicht genau das, was wir jetzt brauchen. Oder was meinen Sie?«, fragte sie Kara.
Kara war so verdattert über diesen frechen Vorstoß, dass sie nur nickte.
»Also gut, etwas Erotik hat ja noch nie geschadet!«
Was folgte, war eine Mischung aus Volkshochschule, pseudowissenschaftlichen Erklärungen im Stil von Oswald Kolle und primitivsten Pornos. Es wurde der Penis als solcher in Form und Funktion erklärt und anschließend in Aktion gezeigt. Es gab Interviews auf der Straße und im Puff. Alles bierernst und mit sehr bemühten Darstellern. Der Clou des Ganzen war aber, dass auch Ernesto Cavallo sich nicht geschont hatte. Man sah den Herrn Produzenten im wackeren Einsatz. Das Ganze nannte Cavallo einfallsreich ›Das ABC der Liebe‹ und meinte in seinem Schlusswort: »Ich bin sicher, liebe Frau Oswald, dass Sie und ihre Mitarbeiter jetzt so angeregt sind, dass sie nicht versäumen werden, mich zu kontakten!« Es folgte seine Adresse und sämtliche Telefonnummern.
»Wäre doch eigentlich ein Knaller für das Magazin. So unter dem Titel: Unverlangt eingesandt!« Christian Lages bog sich vor Lachen. Etwas konsterniert fragte Sabine Karges »Nicht dein Ernst, oder etwa doch?«
»Das, ›ABC der Liebe‹ heben wir uns für unseren Schwanengesang auf«, sagte Kara Oswald, sammelte ihre Notizen ein und stand auf, »und der wird unter den gegebenen Umständen sicher nicht lange auf sich warten lassen!«
»Mein Gott, die versteht aber auch gar keinen Spaß mehr«, stöhnte Gina Walter.
Es war Montag, 21 Uhr, und die Laune von sechzehn Menschen war total im Keller.
Kara Oswald, die im Grunde sowohl ihren Job als auch ihr Team liebte, spürte, dass sich die Stimmung immer mehr gegen sie zu kehren begann. Sie fühlte sich angeschlagen, und ihre Nerven lagen blank. Sie musste schleunigst zu ihrer alten Form zurückfinden. Wenn sie das Ruder nicht herumreißen konnte, wer sollte es verflucht noch mal dann tun. Sie hasste sich für ihre beständige Gereiztheit. Für die Art, wie sie ihre Redakteure abkanzelte ohne jeglichen Funken Humor, was doch eigentlich bisher ihr Stil gewesen war. Versöhnlich sagte sie deshalb: »Wer noch Lust auf einen Schluck hat nach diesem beschissenen Tag, es gibt noch ein paar Flaschen Champagner im Kühlschrank in meinem Büro. Bedient euch, ich hab noch ein Gespräch mit Köhler!«
Horst Köhler war ihr Partner in der Geschäftsführung. Während sie sich um die kreative Seite und ums Programm kümmerte, war er der Mann für die Finanzen und vor allem für die Vermarktung. Köhler und sie kamen gut miteinander aus. Selbst jetzt, wo die Lage nicht so rosig war, behielt der 35-jährige Senkrechtstarter die Nerven.
Im Gegensatz zu ihrem chaotischen Büro lag bei Köhler nie etwas herum. Sein Schreibtisch sah stets aus, als sei er gerade erst von einem Designerbüro angeliefert worden. Nicht einmal ein Notizblock lag darauf. Kara hatte in einer amerikanischen Zeitschrift gelesen, dass ein leerer Schreibtisch das Zeichen für einen guten Manager sei.
»Und?«, fragte Köhler, als sie hereinkam, »die montäglichen Peitschenhiebe verteilt?«
Horst Köhler war einer jener ruhigen, selbstsicheren Männer, die Kara normalerweise zur Weißglut trieben. Doch im Gegensatz zu anderen staubtrockenen Managern besaß er Humor. Keine Situation konnte so verfahren sein, dass Köhler sie nicht mit einer seiner sarkastischen Bemerkungen aufhellte.
»Hör bloß auf!«, Kara setzte sich an seinen Besprechungstisch. »Als Domina fühle ich mich nicht gerade wohl! Du hattest ein Gespräch mit dem Fahrenholz? Was moniert er? Sind ihm unsere Talkgäste zu schmuddelig? Hat seine Frau etwas gegen die neue Serie, oder was gibt’s sonst?«
Kurt Fahrenholz, Inhaber der größten europäischen Supermarktkette, war der Krämer geblieben, als der er vor fünfundzwanzig Jahren angefangen hatte. Weshalb er bei TV6 eingestiegen war, blieb Kara Oswald ein Rätsel. Die Vervielfachung seines auf eine Milliarde geschätzten Vermögens hätte er in anderen Geschäftszweigen sicherer haben können. »Vielleicht hofft seine Gattin auf etwas Sternenstaub«, hatte Antonia gemutmaßt, nachdem sie die beiden beim einjährigen Senderjubiläum kennen gelernt hatte.
»Ihn haben unsere miesen Quoten aufgeschreckt. Er meint, dass wir das falsche Programm machen. Wir sollten nicht so viele Spielfilme zeigen. Das würde das Publikum nicht schätzen und käme nur der Kasse von Hans-Georg Kleemann zugute!«
Kleemann, einer der großen Filmhändler, war Miteigner von TV6. So unklar die Gründe für das TV-Engagement von Fahrenholz waren, so einleuchtend waren diejenigen Kleemanns: Er verkaufte seine angestaubte Ware an den eigenen Sender.
Kara lachte erleichtert. Sie hatte schwerere Geschütze befürchtet. »Ausnahmsweise hat unser Gemüsehändler mal Recht. Wenn er jetzt auch noch bei unserer nächsten Sitzung mehr Geld für Eigenproduktionen locker macht, schmeiß ich direkt eine Party für ihn!«
»Besser für seine Gattin und natürlich mit Harald Juhnke als Stargast!«, grinste auch Köhler. »Aber im Ernst, ich muss dir ja nicht sagen, wie es um uns steht. Wie sollen wir bloß aus diesem Loch rauskommen?«
Kara, die seit Wochen nichts anderes tat, als sich nächtelang ausländische TV-Sendungen anzusehen, seufzte.
»Ich hätte schon eine Idee. Allerdings, fürchte ich, ist sie erstens nicht billig und zweitens wird sie auf einen Sturm von Entrüstung stoßen. Besonders bei den Männern!«
Köhler legte den Briefbeschwerer, mit dem er gespielt hatte, zur Seite.
»Nun sag schon, das klingt ja enorm spannend. Ist das eine Idee, die wir teuer kaufen müssen oder stammt sie von dir?«
»Erstens: Ja, es ist auf meinem Mist gewachsen, also keine Lizenzgebühren. Aber die Produktion wird nicht billig und, das ist die Schwierigkeit, es ist politisch nicht ganz korrekt. Aber gib mir erst mal ein Glas! Ich habe den Eindruck, mir platzt gleich der Kopf!«
Wenn sie Köhler für ihre Idee begeistern konnte, würde er alles daransetzen, das Geld von den Eignern zu bekommen. So viel war sicher. Ihr Kollege war ein Spaßtäter, einmal überzeugt, überrollte er jedes Hindernis.
»Weißt du«, sagte sie und schlürfte vom Champagner, den er ihr serviert hatte, »die Schwierigkeit bei diesem Format sind die Männer. Gegen die richtet sich nämlich meine Show. Ich meine, nicht gegen alle, aber wir werden da einige nicht sehr astreine Exemplare vorstellen. Wenn wir den Rest von ihnen auf unsere Seite ziehen und ihnen klarmachen können, dass dies die absolut miesen Typen sind, die rein gar nichts mit ihnen, den Otto Normalverbrauchern, zu tun haben…«
Köhler hob erschrocken die Hände.
»Um Himmels willen! Du willst doch hoffentlich keine vergewaltigten, geschlagenen Frauen zeigen!«
»Langsam – das wäre ja nicht neu. Ich werde süße kleine Kinder zeigen. Kinder, die jedes Zuschauerherz schmelzen lassen. Und dann werde ich deren Mütter erzählen lassen. Nämlich, dass die Väter dieser entzückenden Rotznasen, flüchtig sind. Auf der Flucht vor der Alimentenzahlung. Dass die Frauen sich und ihre Kleinen kaum durchbringen können, nur weil sich da jemand vor seinen Verpflichtungen drückt…«
»Ja und…?«
»TV6 wird die Väter finden und sie mit ihren Kindern konfrontieren. Wir sind ein Frauensender, also helfen wir den Frauen. Wir werden die Show auf riesigen Plakatwänden ankündigen. So nach dem Motto: Sie tun es nicht für sich – ihr Kind hat ein Recht auf sein Geld!«
Köhler lehnte sich zurück und nickte: »Genial. Das gefällt mir. Wie stellst du dir den Ablauf vor?«
»Es gibt nach meinen Recherchen in Deutschland rund 500 000 Väter, die sich vor den Unterhaltszahlungen zu drücken versuchen. Sie machen sich dünn, sie gehen ins Ausland oder tauchen sonst wo ab. Wir können, denke ich, mit der Unterstützung der Vormundschaftsbehörden rechnen. Denn die müssen ja finanziell für die Väter einspringen. Also, wir tun zwei Dinge: Wir beauftragen ein Detektivbüro, um die Drückeberger zu finden, und wir arbeiten mit den Behörden zusammen, damit sie ihr Geld für wirkliche Notfälle ausgeben können. Na?«
»Dir ist schon klar, dass die Sache einen riesigen Aufwand bedeutet? Lass uns doch mal kalkulieren!«
»Aber wir haben 90 Minuten Sendezeit erstklassig mit einem Fall gefüllt. Wir zeigen die Suche. Das Umfeld von Mutter und Kind. Reflexionen über die Ehe, die Beziehung. Wie sie sich kennen gelernt haben, ob das Kind gewollt war etc. Interviews mit Freunden, der Mutter oder Schwester des Verschwundenen.
Mit einer Person des Vormundschaftsamtes über den Fall. Dann das gestellte Opfer. Und die Ankündigung des nächsten Falles.«
»Wer soll die Geschichte präsentieren?«
»Die Salbach. Sie ist die Beste, die wir haben, und die Glaubwürdigste. Ich denke, sie hat auch genügend Distanz, damit die Sache nicht nur ein Tränendrüsensolo wird!«, sagte Kara.
Köhler wusste von der engen Freundschaft der beiden Frauen. Obwohl er Antonia Salbach nicht ausstehen konnte, musste er zugeben, dass sie mit ihrer wöchentlichen Talkrunde gute Quoten brachte.
»Deine Busenfreundin kommt mir immer vor wie eine Mischung aus Domina und Gouvernante. Weshalb du mit solch einem Eiszapfen befreundet bist, geht mir nicht in den Kopf. Woher kennst du sie eigentlich?«
Horst Köhler, der Kara Oswald auch deshalb schätzte, weil sie im Gegensatz zu Antonia Salbach Humor und Wärme ausstrahlte, fühlte sich in Antonias Gegenwart immer unwohl. Noch nie hatte er sie herzlich lachen sehen. Niemals fiel sie, wie Kara, in Stresszeiten fluchend aus der Rolle. Sie wirkte absolut zurückgenommen und perfekt.
Köhlers Faible für Kara war unübersehbar. Anfangs hatte er versucht, auf seine leicht linkische Art mit ihr zu flirten. Doch er war ganz und gar nicht ihr Typ. Klein, zur Dicklichkeit neigend, mit einer schon in seinen jungen Jahren beginnenden Glatze. Allerdings hatte er große, wunderbar dunkle Augen und eine Stimme, die Frauenherzen schneller schlagen ließ. Nur eben ihres nicht.
»Nun fall nicht schon wieder über die Arme her. Sie entspricht eben nicht deinem altmodischen Frauenbild«, sagte Kara abwehrend. »Antonia und ich haben gemeinsam bei einer Tageszeitung volontiert. Sie hat mich damals schon fasziniert. Ein junges Mädchen ohne jegliche Schulbildung und aus den schlechtesten sozialen Verhältnissen, die du dir vorstellen kannst – aber mit einem unglaublichen Drang nach oben. Egal, worum es ging. Antonia eignete sich blitzschnell alles an. Fremdwörter, Tischmanieren, Theater- oder Musikkenntnisse. Sie hat eine ungeheure Gier nach Neuem. Hellwach notierte sie alles, was um sie herum passiert.«
»Du lieber Himmel«, Köhler schüttelte sich. »Und so was findest du auch noch bemerkenswert. Die einzige Aussage, die ich unterschreiben würde: ihr manischer Drang, unbedingt Karriere zu machen!«
»Ach, komm«, sagte Kara. Sie hatte keine Lust, mit ihm weiter über Antonia zu sprechen. »Das ist doch eine sehr machohafte Art, die Dinge zu sehen. Wenn Männer nach oben wollen, ist das o. k. Aber bei Frauen wirkt es verdächtig! Antonia Salbach ist goldrichtig für diese Sendung. Mein Gespür hat mich da noch nie getrogen.«
Horst Köhler wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter in Kara zu dringen.
»Und was sagt die Rechtsabteilung dazu?« Köhler erinnerte sich an eine andere gloriose Idee Karas, bei der man eine ziemlich hohe Schadenersatzklage nicht mehr hatte abwenden können.
»Das lass ich gerade prüfen. Aber erst mal wollte ich hören, was du davon hältst!« Kara stellte ihr Glas auf den Beistelltisch und stand auf. Sie wusste, sie hatte es geschafft, Köhler von ihrer Idee zu überzeugen.
Das ist die halbe Miete, dachte sie und ging zur Tür. »Wann stellen wir die Sache unseren Herren vor? Oder wollen wir erst einen Piloten drehen?«
»Lass mich darüber nachdenken. Ein Pilot wäre vielleicht ganz gut. Wir reden morgen weiter!« Köhler war ebenfalls aufgestanden und angelte nach seiner Jacke.
»Ist dir eigentlich klar, dass es schon wieder nach zehn Uhr ist? Hast du kein Privatleben?«, fragte er, als er mit Kara in die Tiefgarage fuhr.
»Mir geht’s wie dem Zauberlehrling. Ich bring den Besen nicht mehr zur Ruhe!«, lachte sie und klang dabei nicht recht fröhlich. In der Handtasche schrillte ihr Handy. »’tschuldige«, sagte sie zu Köhler und nahm das Gespräch an. Er sah, wie ihr Gesicht erst blass und dann rot wurde vor Zorn. »Ja«, sagte sie. »Ich komme. In einer halben Stunde bin ich bei Ihnen!«
»Ärger?«, fragte Köhler. Kara nickte. »Ärger kann man das eigentlich nicht mehr nennen. Du kennst doch Alexander Sörres.«
»Deinen Freund?« Köhler sah Kara gespannt an. »Was hat der denn verbrochen?«
»Verbrochen?« Karas Stimme überschlug sich förmlich. »Alex ist manisch-depressiv. Man kriegt die Krankheit in den Griff, wenn man regelmäßig sein Lithium schluckt. Tut er aber nicht. Denkt, er könne das ohne Medikamente schaffen. Na ja, und regelmäßig dreht er dann durch. Je nachdem, ob er sich in der manischen Phase oder in der depressiven befindet. Zurzeit haben wir die depressive. Er hat begonnen, seine Möbel aus dem Fenster auf die Straße zu werfen.«
Köhler lachte, doch als er Karas entgeistertes Gesicht sah, entschuldigte er sich sofort dafür.
»Na ja, bei so einem aggressiven Anfall kommt jedes Mal die Polizei, und die bringen ihn in die Psychiatrie!«
»Und dann? Was sollst du tun? Ihn auslösen?«
»Er bleibt erst mal dort. Aber er verweigert jegliche Behandlung, wenn ich nicht sofort dort erscheine. Und das alle sechs Wochen. Langsam geht mir die Luft aus!«
»Tut mir Leid«, Köhler legte den Arm und Karas Schultern. »Ich wusste nicht, dass da auch noch die Kacke am Dampfen ist. Dabei brauchst du im Augenblick selbst Erholung!«
»Wenn’s dem Sender wieder gut geht, mach ich einen richtigen langen Urlaub – ohne Handy, Fax oder E-mail.« Kara steckte das Handy wieder in ihre Tasche.
»Wer’s glaubt!« Horst Köhler sah hinter ihr her wie sie sichtlich erschöpft zu ihrem Porsche Cabrio ging. »Eine richtig tolle Person«, dachte er. »Wenn sie nicht aufpasst, bringt sie dieser Job noch um!«
Das Hotel Carlton in Cannes war seit vielen Jahrzehnten die erste Adresse an der Côte d’Azur. Wer als Filmproduzent, Schauspieler oder Big Shot aus der Wirtschaft etwas auf sich hielt, stieg hier ab. In der Zeit der Filmfestspiele, der Midem oder der Film- und Fernsehmesse ›Mipcom‹ wurde an einem Nachmittag mehr Geld auf der Terrasse des Carlton hin und her geschoben als während eines ganzen Jahres an manchem Bankschalter in New York City. Das Haus, um die Jahrhundertwende im pompösen Zuckerbäckerstil erbaut, hatte unbeschadet zwei Weltkriege, diverse Börsenkräche und die totale Verarmung seiner Stammgäste nach den jeweiligen Kriegen und Inflationen überlebt. Einige der alten Oberkellner und Maîtres bedauerten, dass es mit den grandiosen Champagnerdiners des russischen Adels und den legendären Bällen der snobistischen Engländer nach dem Zweiten Weltkrieg vorbei war. Und auch, dass die allgemeinen Umgangsformen der neuen Gäste dem Glanz des Hauses in keiner Weise entsprachen. Doch diese Relikte einer besseren Zeit standen meist sowieso nur noch wie unbrauchbare Möbel zur Dekoration herum. Die flinken Emporkömmlinge hatten auch hier das Terrain erobert. Und ihnen waren die rauen Sitten der ungehobelten Amerikaner oder die rüden Ausfälle der Nouveaux riches aus Moskau oder Nowosibirsk völlig gleichgültig. Ihr Credo war der Dollar, und für möglichst viele davon erfüllten sie jeden, aber auch wirklich jeden Wunsch ihrer Klientel. Nichts brachte diese neue Garde der Portiers, Kellner oder Barkeeper aus der Ruhe. Weder eine nackt durch die Halle hopsende drogensüchtige Schauspielerin noch das zertrümmerte Mobiliar, wie nach einem Besuch des amerikanischen Superstars Jack Nicholson.
»Life ist a cabaret«, wehrte der weißhaarige Jean-Louis hinter der Bar allzu neugierige Reporter ab, um schließlich in Anbetracht eines saftigen Trinkgeldes listig hinzuzufügen: »Ich könnte Ihnen Sachen erzählen! Aber die Direktion verlangt von uns strikte Diskretion!«
Dass dann doch immer jede Menge Storys in der Boulevardpresse landeten – damit habe Jean-Louis, wie er regelmäßig beteuerte, prinzipiell nichts zu tun.
Im Carlton, diesem Umschlagplatz für ›absolut diskreten Klatsch‹, war für Kara und Antonia eine Suite mit zwei Schlafzimmern und einem großen Salon reserviert. Der Salon, so hatte Kara bei der Reservierung insistiert, musste geräumig genug sein, um darin den obligaten Champagnerempfang von TV6 geben zu können.