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Es soll eine Traumhochzeit mit allem Glanz und Gloria werden. Vier Tage hat Otto Bassiner, Besitzer eines Chemiekonzerns, für die Hochzeit seines Stiefsohnes Florian mit Gesine Sager angesetzt – vier Tage, in denen sich auf dem Gut »Erlenhof« in der Nähe von Hamburg neben Verwandten, Freunden und Bekannten auch die bessere Gesellschaft bei Champagner, Austern und Kaviar treffen soll. Doch als Florian, der Bräutigam, am Polterabend seine Jugendliebe Claire wieder trifft, wird ihm mit einem Schlag klar, dass er nur sie liebt – und nicht Gesine. Von da an gerät binnen kürzester Zeit das, was als heiteres Familienfest geplant war, gründlich aus den Fugen. Denn auch unter den Hochzeitsgästen, zwischen Ehepartnern und Ex-Ehepartnern, zwischen Müttern und Töchtern, flackern alsbald alte, nur mühsam übertünchte Konflikte wieder auf. Fast scheint es, als werde alles in Chaos und Streit enden. Doch als am Morgen des letzten Tages die Gäste die Abreise antreten, ist es, als sei ein reinigendes Gewitter über den »Erlenhof« hinweg gezogen ...
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Seitenzahl: 193
Karin Dietl-Wichmann
Florians Hochzeit
Roman
Edel:eBooks
Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.
Copyright © 2012 by Karin Dietl-Wichmann
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-191-0
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Prolog
Die Gäste
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Freitagabend
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Samstag Anreise der Braut
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Sonntag
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Abreise
Die Handlung dieses Romans und alle beschriebenen Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, lebenden oder toten Personen ist völlig unbeabsichtigt und rein zufällig.
Er saß auf dem Barhocker in der Mitte des leeren Studios und sah mich unverwandt an. Sein Blick war unverschämt. Er glitt über mein Gesicht, saugte sich an meinem Busen fest. Ich spürte, wie er meinen Hintern begutachtete, wenn ich mich umdrehte. Ich wurde verlegen.
»Bitte schauen Sie in die Kamera«, bat ich. »Ja, selbstverständlich!«, antwortete er. Er war nicht attraktiv. Aber er hatte diese Selbstsicherheit und die Gelassenheit von Menschen, die Macht besitzen. Ich weiß nicht genau, was mich bei diesem Shooting so verunsicherte. Es war nicht das erste Titelbild, das ich für das Wirtschaftsmagazin machte. Der Mann hier war einer der ganz Großen der deutschen Wirtschaft. Ich hatte auch schon Bankvorstände und andere Konzernchefs auf diesen Barhocker gesetzt. Hatte sie mit der Kargheit des Ambientes auf sich selbst reduziert. Manche machten dann ganz jämmerliche Figuren. Dieser hier nicht. Ich blickte durch die Kamera. Seine Augen waren jetzt ganz auf mich gerichtet. Mein Herz klopfte. Die Luft im Studio erschien mir drückend. Ich bemerkte, wie meine Hand unsicher wurde. Ich versuchte, kühl zu bleiben.
»Gut«, hörte ich mich sagen. »Schauen Sie mich weiter an! Drehen Sie sich jetzt. Ich will Sie im Profil. Nein, rechts herum! Ja, so. Gut, sehr gut!« Ich wechselte den Film und merkte nicht sofort, dass er aufgestanden war. Er stand hinter mir. Er war kräftig. Er schob mich in eine Ecke des Studios. Sein Mund war jetzt auf meinem. Er küsste mich, saugte an meinen Lippen. Ich schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Versuchte, ihm das Knie in den Unterleib zu rammen. Die Heftigkeit meiner Abwehr schien ihn zu reizen. In seinen Augen lag ein sadistisches Strahlen. Ich spürte sein Vergnügen, das er total auskosten wollte. Ich lag plötzlich auf dem Studioboden. Er öffnete meine Jeans, schob die Hand unter meinen Hintern und zog sie nach unten. Schnell, geübt, sicher. Er war überall. Mit der Linken hielt er mich auf den Boden gepresst, seine Rechte spreizte meine Schenkel. Seine Zunge in meiner Vagina. Seine Hände kneteten meinen Busen. Er richtete mich auf und zwang meinen Mund auf seinen erigierten Schwanz. Er roch nach Seife und Urin. Ich war erregt. Mein Herz raste. Ich begann zu keuchen.
Dann warf er mich wieder auf den harten Boden. Die Hände unter meinem Po, drückte er mich leicht nach oben und drang in mich ein. Er fickte gut. Mit langen, gleichmäßigen Stößen. Ich spürte den Schweiß, der von seiner Stirn auf mein Gesicht fiel. Ich klammerte mich an ihn. Halb bewusstlos vor Lust. Er stieß noch einmal sanft mit seinem halbsteifen Glied nach. Dann stand er auf, nahm ein Taschentuch aus seiner Jacke, wischte sich den Schwanz ab und zog den Reißverschluss hoch. Er half mir auf. Drehte sich um, damit ich meine Jeans anziehen konnte.
Ich war völlig verwirrt. Wusste nicht, was ich tun, was ich sagen sollte.
»Waren Sie mit mir zufrieden?«, fragte er ganz sachlich. Ich wusste, dass er von den Fotos sprach. Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern nahm seinen Regenmantel, der auf einem Stuhl lag, und ging. Ich setzte mich auf den Barhocker und zündete mir mit zittrigen Fingern eine Zigarette an. Er hatte mich vergewaltigt. Aber es war der beste Fick meines Lebens gewesen.
Sie hatten sich acht Jahre nicht gesehen. Als Heranwachsende hatten sie sich geschworen, für immer zusammenzubleiben.
Florian und Claire kannten sich, seit sie Kinder waren. Ihre Mütter waren Freundinnen. Für kurze Zeit hatten Claires Mutter Hanna, ihre jüngere Schwester Nadine, Florian und seine Mutter Simone sogar zusammen gewohnt. Damals hatte Claires Vater noch gelebt. Sie waren wie eine große Familie gewesen. Das war besonders für Florian wichtig, dessen Vater sich nach seiner Zeugung in die Büsche geschlagen hatte. Dann lernte Simone Otto Bassiner kennen. Sie zogen in seine große Villa an den Rhein. Florian hatte zwar jetzt einen Stiefvater, der ihn liebte, aber ihm fehlte Claire.
Gemeinsam verbrachten sie Ferien in Otto Bassiners Haus auf Capri. Als Claire sechzehn war, verliebte sie sich in ihren Kinderfreund. Florian ging es ebenso. Nadine verriet es allen. »Claire und Flo sind verliebt!«
Für Claire folgte eine Zeit, die sie noch heute als die schönste ihres Lebens bezeichnete. Mit Florian ertrug sie die Launen ihrer Mutter. Seine Liebe machte sie so stark, dass sie sogar Nadine, ihre kleine Schwester, auffangen konnte, die unter Hannas stets wechselnden Liebhabern litt. Wie es dann zum Bruch zwischen Claire und Florian gekommen war, wusste nicht einmal sie selbst. Einer von beiden hatte nicht wie verabredet zurückgerufen. Der andere war gekränkt. Zeit verging, und irgendwann war es zu spät. Weder Claire noch Florian hatten diesen Riss verwunden.
Als Claire am Hamburger Hauptbahnhof aus dem Zug stieg, fielen sie sich spontan um den Hals. Sie umarmten sich, als wollten sie sich nie mehr loslassen. Bis sich beide erinnerten, warum Florian Claire abholte: Sie waren auf dem Weg zu seiner Hochzeit. Plötzlich standen ihnen die Tränen in den Augen, und sie schwiegen verlegen.
Sie fuhren wortlos aus der Stadt heraus. Claire sah angestrengt aus dem Fenster. Ein Spätsommerabend. Die Sonne warf schon lange Schatten auf die abgeernteten Felder.
»Wie ist’s in Berlin?«, fragte Florian schließlich.
»Es ist okay. Nadine wohnt inzwischen bei mir.« Claire streckte sich und sah Florian an.
»Wieso musst du ausgerechnet in dieser langweiligen Gegend heiraten? Nicht einmal begraben möchte ich hier sein. Ich hoffe, diese Trostlosigkeit färbt nicht auf deine Ehe ab!«
Florian lachte. »Sei nicht so giftig. Gesine ist wirklich eine tolle Frau!«
»Wie kann man nur Gesine heißen!«, sagte Claire. »Gesine«, wiederholte sie und ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Und dann nochmals: »Gesine Steingerber!«
Sie sah wieder zum Fenster hinaus.
»Wie geht’s mit Hanna?«, fragte Florian nach einer Weile. »Immer noch Krieg?«
Claire lachte bitter. »Krieg total! Sie ist eine Schlampe!«
Ihr blasses Gesicht war leicht gerötet. Ihre Augen dunkel vor Hass. Sie blickte zu Florian. »Was ist, du wolltest es doch wissen! Schau nicht so entsetzt. Ich bin eben kein nettes Mädchen!«
»Aber sie ist doch deine Mutter!«
»Mein Gott«, antwortete Claire. »Jetzt nicht noch dieser Käse. Sie hat Nadine und mich unglücklich gemacht. Ich wollte, sie wäre tot!«
Otto Bassiner war ein hässlicher Mann. Fast zwei Meter groß und von einer Statur, die den ausgezehrten Figuren des Bildhauers Alberto Giacometti glich. Früher konnte er seine mangelnde Attraktivität durch einen gewissen Charme wettmachen. Im Laufe der Jahre hatte er, wie viele seiner guten Eigenschaften, auch diesen eingebüßt. Je weiter ihn sein Ehrgeiz nach oben katapultierte, desto arroganter und mürrischer wurde er.
Heute, mit siebenundfünfzig Jahren, als Vorstandsvorsitzender des bedeutendsten europäischen Chemiekonzerns, war er ein Ekelpaket sondergleichen. Er war überheblich, unduldsam und verschlossen. Sein Desinteresse an den Menschen verbarg er hinter einer Wand von Höflichkeiten und gesellschaftlichen Floskeln.
Simone Bassiner betrachtete ihren Mann, der angespannt am Steuer des Mercedes saß. Seit sie Hamburg in Richtung Stade verlassen hatten, brütete Otto Bassiner vor sich hin. Seine ohnehin blasse Hautfarbe war heute noch fahler. Die kleinen hellbraunen Augen hatte er zusammengekniffen. Die dünnen Lippen fest aufeinander gepresst. Trotz allem, Simone liebte ihren Mann noch immer. Sie wusste, dass er sie seit Jahren betrog. Anfangs hatte sie ihm Szenen gemacht. Und er hatte den reuigen Sünder markiert. Inzwischen war sie ihm so gleichgültig geworden, dass er sich nicht einmal mehr die Mühe machte, seine Liebschaften zu leugnen. Sie hätte sich scheiden lassen können. Doch ohne das Geld und das Renommee ihres Mannes war sie ein Nichts. Sicher auch deshalb hielt sie still. Otto Bassiner zahlte die Ausbildung seines Stiefsohnes Florian, zu dem er ein herzliches Verhältnis hatte. Und weil er großzügig war, begehrte Simone auch nicht auf, als ihr Mann immer seltener in der gemeinsamen Villa übernachtete und schließlich ganz wegblieb. Sie widmete sich dem Golfspielen und der Kunst. Wenn es galt zu repräsentieren, war sie an der Seite ihres Gatten. Die bürgerliche Fassade aufrechterhaltend, wie sie es von zu Hause kannte. Simone glaubte, Otto gut zu kennen. Wenn sie ihn einem Fremden hätte beschreiben sollen, hätte sie gesagt: Otto Bassiner ist ein korrekter, erfolgreicher Mann, der sich mehr für seinen Konzern als für seine Familie interessiert. Die Fahrt zur Hochzeit ihres einzigen Sohnes war seit Monaten die erste gemeinsame Unternehmung. Simone litt unter der gedrückten Stimmung.
»Otto«, sagte sie schließlich, nur um etwas Nettes zu sagen. »Ich finde es wunderbar, dass du Florian eine so große Hochzeit ausrichtest!« Sie hatte die Hand leicht auf seinen Arm gelegt und lächelte ihn an. Ohne sie auch nur anzublicken, antwortete Bassiner. »Das wird ja wohl von mir erwartet!«
Simone war schockiert über diese rüde Antwort. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Nach all den Jahren wurde sie in seiner Gegenwart immer noch unsicher. Was bedeute ich ihm überhaupt, fragte sich Simone. Sie schämte sich für ihre unterwürfige Haltung. Sie fühlte sich gedemütigt. Ein Hund, dachte sie manches Mal, hat es einfacher. Er nimmt, was man ihm gibt. Ich hingegen fühle mich erniedrigt. In einem Alter, in dem sie die Fürsorge und die Liebe ihres Ehemannes am meisten gebraucht hätte, war sie allein. Ohne Stolz, ohne Zukunft, abhängig von einem Mann, der sie nicht mehr liebte. Sie betrachtete ihn mit einer gewissen Neugierde und dachte: Wo sind sein Charme und sein spontanes Lachen geblieben? Sie vermisste seine tiefe, warme Stimme, mit der er ihr früher bei öffentlichen Anlässen freche Zärtlichkeiten ins Ohr geflüstert hatte. Und jedes Mal, wenn sie über all das nachdachte, kam sie zu dem Schluss, dass es, außer ihren sentimentalen Erinnerungen, keinen Grund mehr gab, diesen Mann noch zu lieben.
In den achtziger Jahren hatte Hanna Schubert das schönste Dekolleté zwischen Flensburg und München. Das war zumindest die Meinung der Boulevardjournalisten, die Hanna jedes Jahr, sobald es Sommer wurde, auf ihren Titelseiten abbildeten. Es war stets das gleiche Motiv. Hannas viel gepriesener Vorbau in einem aufreizend knappen Bikinioberteil. Das lachende Gesicht leicht zur Seite geneigt und keck dem Leser zugewandt. Wen dieses Foto nicht aus dem Winterschlaf riss, der wurde spätestens bei der deftigen Bildunterschrift wach.
Fünfzehn Jahre lang kündigte Hanna so den Sommer an. Hannas Modelkarriere allerdings fand nicht auf den Catwalks von Mailand und Paris statt. Sie lächelte jahrelang für ein Waschmittel und ein Hühneraugenpflaster. Inzwischen war Hanna Mitte vierzig und hatte ihr Verfallsdatum als Model längst überschritten. Obwohl ihre kastanienbraune Mähne noch immer ohne ein graues Haar war und die Jeans aus ihrer wilden Ibizazeit kein bisschen spannten, litt sie unter ihrem Alter.
In ihrem Badezimmer hing ein Vergrößerungsspiegel, vor dem sie allmorgendlich ihr Gesicht untersuchte. Entdeckte sie eine Falte oder die kleinste Unebenheit, war der Tag für sie gelaufen. Sie empfand es als ungerecht, dass sie, die genug Prüfungen in ihrem Leben zu überstehen gehabt hatte, nun auch noch den Verfall ihres Körpers ertragen musste. Ein Gefühl von Verzweiflung und Zorn stieg in ihr auf. Sie betastete ihre Oberschenkel, kniff sich in den leicht gewölbten Bauch und prüfte die Straffheit ihrer Oberarme. Nie würde sie vergessen, wie eine Freundin über eine gemeinsame Bekannte gesagt hatte: Die sollte keine ärmellosen Kleider mehr tragen. Das Fleisch ist so wabbelig und weiß wie ungebackene Brötchen. Gegen teigige Oberarme, Bauchspeck und welke Oberschenkel kämpfte Hanna wöchentlich zehn Stunden in einem Fitnessstudio. Wie eine Besessene arbeitete sie gegen den Verfall an. Dabei war ihr Gesicht so hart geworden wie ihr durch Bodybuilding gestählter Körper.
Hannas Gemütsverfassung hatte schon immer zwischen Euphorie und Depression geschwankt. Eine Mittellage kannte sie nicht. Sie war in beiden Phasen unerträglich. Als Jakob, ihr Mann, noch lebte, hatte er darauf geachtet, dass sie die verschriebenen Medikamente auch wirklich einnahm. Nach seinem plötzlichen Unfalltod vergaß sie es. Jakobs Tod war die größte Tragödie in Hannas Leben. Er war ihre große Liebe gewesen. Bei ihm hatte sie sich sicher und geborgen gefühlt. Alles, was er anpackte, war ein Erfolg geworden. Seine Forschungsarbeiten brachten ihm international höchste Anerkennung ein. Seine Sachbücher wurden Bestseller. Und Jakob war großzügig. An seinen Erfolgen ließ er alle teilhaben. Seine Freunde, seine Mitarbeiter und natürlich seine Familie. Sie feierten wunderbare Feste. Nichts konnte ihr Glück trüben.
Es war ihre Schuld, dass sie Jakob nach einem banalen Streit nicht aufgehalten, dass sie ihm nicht die Autoschlüssel weggenommen hatte. Wieder und wieder sah sie die hässliche Szene vor sich. Manchmal hatte Hanna Angst vor dem Schlaf. Dann kamen die Bilder, und sie war ihnen ausgesetzt.
In den ersten Monaten nach Jakobs Tod schien es, als würde Hanna ihr Leben gänzlich entgleiten. Sie begann zu trinken und verbrachte die Tage im Bett. Hanna hatte Angst vor der Zukunft. Sie hatte keine Berufsausbildung und keine Aussichten auf einen Job. Hanna fühlte sich überfordert und vom Leben betrogen. Sie sah sich allein und isoliert.
Vierunddreißig Jahre alt und Witwe mit zwei Kindern. »Mein Gott, warum musste ausgerechnet mir das passieren!«, dachte sie.
Claire war damals elf und Nadine acht Jahre alt. Abbilder ihrer schönen Mutter. Beide hatten sehr an ihrem Vater gehangen. Hanna spürte, dass die Töchter sie für seinen Tod verantwortlich machten. Und sie fühlte sich schuldig.
Als mitten in der Nacht die Polizei mit der Unfallmeldung vor der Tür gestanden hatte, hatte sie es nicht begriffen. »Das kann nicht mein Mann sein. Sie müssen sich täuschen!«, hatte sie immer wieder gesagt.
Hanna wurde mit einem Nervenzusammenbruch in ein Krankenhaus gebracht. Als Claire und Nadine von dem Unglück erfuhren, fühlten sie sich wie Waisen. Der geliebte Vater tot, die Mutter nicht ansprechbar in der Klinik.
Nachdem Hanna sich wieder gefangen hatte, entwickelte sie eine beängstigende Aktivität. Als Erstes kümmerte sie sich um die Finanzen. Nach Abzug aller Schulden blieb nicht viel übrig von Jakobs Lebensversicherung. Gerade so viel, dass sie Claire und Nadine in ein anständiges Internat schicken konnte.
Dann klapperte sie alle Agenturen ab. Ein Model mit vierunddreißig Jahren war nicht mehr gefragt. Es gab einige wenige Aufträge für zweitklassige Firmen. Hanna arbeitete als Bedienung in den Bars, in denen sie früher mit Jakob verkehrt hatte. Außer wunden Füßen brachte das wenig. Das Geld reichte kaum für die Miete der großen Altbauwohnung.
Simone, ihre Freundin aus Jugendtagen, die reich geheiratet hatte, lieh ihr immer wieder Geld. Hanna fühlte sich miserabel.
»So geht es nicht weiter«, sagte sie. »Ich muss einen Job finden, der mir zumindest meinen Lebensunterhalt sichert!« Hanna saß am Küchentisch, eine Flasche Rotwein neben sich. Ihr war zum Heulen.
»Was soll ich nur tun, um Geld zu verdienen?«, überlegte Hanna verbittert.
Der Bericht in einer Illustrierten über eine gewisse Madame E. und ihren boomenden Begleitservice war schließlich die Initialzündung. Hanna entsann sich der vielen Mädchen und jungen Männer, die bei den großen Agenturen regelmäßig abblitzten. Nach fünf Wochen hatte sie fünfzehn Mädchen und sechs Jungs engagiert. Alle gut aussehend, mehrsprachig und jung. Jetzt musste sie nur noch für ihr neues Unternehmen Reklame machen. Diskret, mit Charme und einigen Hundertern warb Hanna bei den Barkeepern und Hotelportiers der Stadt. Drei Monate später brummte das Geschäft. Hanna betrieb ihren Begleitservice mit viel Gespür für die Wünsche der Kunden. Sie wusste die Vorzüge eines jeden ihrer Schäfchen bestens zu schildern. Und dass sie sich über deren erotische Qualitäten oft nur in Andeutungen erging, gehörte zu ihrem Raffinement. Sie verkörperte für ihre Kunden die diskrete, etwas exzentrische Dame von Welt. Zu ihr kam man gern. Bei ihr fühlten sich die Kunden verstanden. Da gab es nichts Halbseidenes. Hanna, stets elegant gekleidet und perfekt aufgemacht, handelte die höchsten Preise aus. Dafür bekam sie von ihren Schützlingen ein Drittel des Honorars. Wenn sich mehr aus einem solchen Abend entwickelte, war dies nicht ihre Sache. Mit Prostitution wollte Hanna nichts zu tun haben.
Hanna machte es teuflischen Spaß, sich die Gesichter ihrer Freunde vorzustellen. »Schade«, sagte sie zu Simone, die Bescheid wusste. »Ich würde unsere ganze versnobte Clique so gern schockieren!« Hanna, so schien es nichts ahnenden Freunden, hatte ihr Leben wieder in den Griff bekommen.
So stark sie sich während des Tages gab, so sehr sank ihr Selbstwertgefühl, wenn sie allein war. Dann überfiel sie die Angst vor dem Alter und vor der Einsamkeit. Und sie begann wieder zu trinken. Nichts Hartes – Champagner, aber davon genügend. Sie sank immer öfter wie betäubt ins Bett.
Anfangs kamen Claire und Nadine noch jedes Wochenende nach Hause. Ohne zu ahnen, von welcher Art Hannas Agentur war, waren sie froh, dass ihre Mutter einen Job gefunden hatte, der sie wieder aufbaute. Bald aber merkten sie, dass Hanna trank. Dass sie dann ausfallend wurde. Dass sie sich wahllos Liebhaber ins Haus holte und alles andere als glücklich war. Als sie einmal einen besonders dümmlichen Kerl abgeschleppt hatte, verlangte Claire von ihrer Mutter, dass sie ihre Amouren dann ausleben solle, wenn sie allein zu Hause war. Hanna rastete völlig aus. Ihr Ton wurde schrill. Ihre Worte unflätig.
Danach blieben die Mädchen an den Wochenenden bei ihren Freunden. In den Ferien fuhren sie mit ihnen nach Italien oder Griechenland.
Einmal, als es Hanna besonders schlecht ging, als sie merkte, wie allein sie war, plante sie einen gemeinsamen Osterurlaub. Sie mietete ein Haus an der Côte d’Azur. Es sollte eine Überraschung werden. Es wurde ein Desaster. Claire und Nadine hatten ihre Ferien schon verplant. Als Hanna sie zwingen wollte, mit ihr zu reisen, fragten sie spöttisch: »Welchem Liebhaber willst du dich denn diesmal als gute Mutter präsentieren?«
Damals war Claire achtzehn Jahre alt und stand kurz vor ihrem Abitur. Hanna konnte die Abfälligkeit, mit der ihre Töchter sie behandelten, nicht fassen.
»Habt ihr denn gar keinen Respekt vor mir?«, fragte sie erregt. »Wie sprecht ihr bloß mit mir!«
Doch die beiden zuckten mit den Schultern und verließen das Haus. Simone jammerte sie vor, dass sie doch alles für ihre beiden Töchter täte. »Und jetzt das!« Sie weinte hysterisch: »Sie fordern ständig und denken nur an sich. Sie wollen, dass ihre Mutter Kuchen bäckt und Pflaster klebt. Ich soll da sein, wenn sie mich brauchen, und gefälligst unsichtbar werden, wenn ich sie störe. Ein eigenes Leben allerdings darf ich nicht führen! Das kann es doch nicht sein! Simone, sag: Sind alle Kinder so rücksichtslos?«
Simone, die Hanna seit der gemeinsamen Schulzeit kannte, wusste, dass es zwecklos war, der Freundin jetzt einen Rat geben zu wollen. Später, wenn ihr Zorn verraucht war, würde sie etwas dazu sagen.
Seit ihrem sechzehnten Geburtstag war Claire mit Simones Sohn Florian befreundet. Sie hatten sich, obwohl sie sich schon als Kleinkinder kannten, ineinander verliebt. Hanna, ohne Gespür für die Zerbrechlichkeit der ersten Liebe, fragte sie sofort, ob sie ›es‹ schon getan hätten. Dann wollte sie wissen, ob sie Präservative benutzten. Claire war zum Weinen, als sie spürte, wie wenig ihre Mutter sie verstand. Sie fand sie nur noch indiskret und aufdringlich.
Immer wieder versuchte Hanna, Claire und Nadine zu beweisen, wie viel sie ihr bedeuteten. Doch alles was sie anpackte, geriet zum Bestechungsversuch, lief auf den Tausch von Geld gegen Liebe hinaus. Sie kaufte Claire zum Abitur ein Auto. Nadine bekam zu ihrem achtzehnten Geburtstag einen Flug um die Welt geschenkt.
»Jetzt wissen wir endlich, wie viel du bereit bist, für unsere Liebe auszugeben«, spöttelte Claire, und Nadine sagte: »Was soll ich um die Welt fahren. Die Kaution für eine Wohnung hätte ich besser gebrauchen können!«
Doch es gab auch Zeiten, in denen die drei sich nahe waren. Jedes Jahr an Jakobs Todestag trafen sie sich in Hannas Wohnung. Sie bereiteten sein Lieblingsessen zu, spielten seine Platten und sprachen über ihn. Dann fielen sie sich weinend um den Hals. Fast schien es, als bedürfe es nur eines Zauberwortes und alle Streitereien würden sich als dumme Missverständnisse in Luft auflösen. In diesen Augenblicken spürte Hanna, wie sehr sich die beiden Mädchen nach ihrer Liebe sehnten. Glücklich schloss sie sie in die Arme. Sie hätte ihnen ihr Leben geben können. Aber solche Augenblicke vergingen schnell.
In Hannas Leben gab es keine Ziele. Ihre Träume hatte sie mit Jakob begraben. Jetzt wollte sie nur genügend Geld haben, um im Alter einigermaßen anständig leben zu können. Dabei hatte sie große Angst davor, diese Zeit mit einer konkreten Zahl festzuschreiben. »Irgendwann«, wischte sie den lästigen Gedanken weg, »wenn ich wirklich alt bin!«
Was ihre Töchter bewegte, davon hatte Hanna keine Ahnung. Sie versuchte sich manchmal ihre eigene Jugendzeit ins Gedächtnis zu rufen. »Was habe ich damals gefühlt, gedacht? Was hätte ich mir von meiner Mutter gewünscht? Wie war das, als ich zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen habe?« Das Ergebnis war kläglich. Die Vergangenheit lag für sie wie hinter einem Schleier. So, als habe sie die Jahre ihres Erwachsenwerdens gar nicht erlebt. Sie erinnerte sich an die ablehnende Haltung ihrer Mutter gegenüber jeder Art von Sexualität. Hanna hatte sich vorgenommen, mit ihren Töchtern nicht dieses Versteckspiel zu treiben. Sie wollte offen mit ihnen über alles reden. Aber sie fand keinen Zugang mehr zu ihnen. Claire und Nadine wurden ihr immer fremder.
Manchmal glaubte sie, so etwas wie Verachtung in ihrem Verhalten zu spüren. Sie verdrängte diese Beobachtung sofort. Warum sollten die Mädchen sie verachten? Sie tat doch alles für sie! Hanna erfuhr nicht, dass Claire Probleme mit Florian hatte. Sie sah nicht, dass Nadine immer mehr abmagerte. In den folgenden Jahren wurde es nicht besser. Manchmal näherten sich die drei einander an, dann wieder gab es Unfrieden, weil eine von ihnen ein falsches Wort gesagt hatte.
Zusammen wurden sie nirgends mehr eingeladen. Alle Freunde und Bekannten spürten die Spannung zwischen ihnen. Und niemand wollte sich Hannas unkontrollierten Zornesausbrüchen aussetzen, wenn sie zu viel getrunken hatte. Jetzt, fünfzehn Jahre nach Jakobs Tod, gab es doch wieder ein Fest, zu dem Hanna und ihre Töchter gebeten wurden: Florians Hochzeit.
Nadine stand nackt vor dem Spiegel. Neugierig betrachtete sie ihren mageren Körper. Die kleinen Brüste mit den kaum wahrnehmbaren Brustwarzen, die knochigen Hüften. Die Oberschenkel ihrer langen dünnen Beine standen weit auseinander. Der dunkle Busch ihrer Schamhaare wirkte fremd auf diesem hageren kindlichen Becken. Nadine drehte sich zur Seite. Sie fand ihre milchweiße Haut ekelhaft. Wie ein Erdwurm, farblos und so weich, dass jede feste Berührung Male hinterließ.