Die Rache des Lombarden - Petra Schier - E-Book + Hörbuch

Die Rache des Lombarden Hörbuch

Petra Schier

5,0

Beschreibung

Hat Liebe einen Preis? Köln, anno domini 1424: Im Haus von Aleydis de Bruinker zieht einfach keine Ruhe ein. Betrugsversuche in ihrer Wechselstube, übermütige Verehrer, das kriminelle Erbe ihres verstorbenen Mannes … mit all dem muss Aleydis sich fast täglich auseinandersetzen. Und trotz dieser Widrigkeiten kommt sie bestens zurecht, auch ohne Mann. Auch ohne Vinzenz van Cleve, obwohl sie zugeben muss, dass der gutaussehende Gewaltrichter bisweilen durchaus hilfreich sein kann. Doch dann erlebt Aleydis ihren schlimmsten Alptraum: Ihre Mündel Marlein und Ursel werden entführt. Aleydis setzt alles daran, die Mädchen zurückzubekommen. Koste es, was es wolle …

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Zeit:12 Std. 31 min

Sprecher:Brigitte Carlsen
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Petra Schier

Die Rache des Lombarden

Historischer Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Hat Liebe einen Preis?

 

Köln, anno domini 1424: Im Haus von Aleydis de Bruinker zieht einfach keine Ruhe ein. Betrugsversuche in ihrer Wechselstube, übermütige Verehrer, das kriminelle Erbe ihres verstorbenen Mannes … mit all dem muss Aleydis sich fast täglich auseinandersetzen. Und trotz dieser Widrigkeiten kommt sie bestens zurecht, auch ohne Mann. Auch ohne Vinzenz van Cleve, obwohl sie zugeben muss, dass der gutaussehende Gewaltrichter bisweilen durchaus hilfreich sein kann. Doch dann erlebt Aleydis ihren schlimmsten Albtraum: Ihre Mündel Marlein und Ursel werden entführt. Aleydis setzt alles daran, die Mädchen zurückzubekommen. Koste es, was es wolle …

Vita

Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet seit 2005 als freie Autorin. Ihre historischen Romane, darunter die Reihe um die Apothekerin Adelina, vereinen spannende Fiktion mit genau recherchierten Fakten. Petra Schier ist Mitglied des Vorstands der Autorenvereinigung DELIA.

 

Mehr Informationen sind unter www.petra-schier.de zu finden.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Elisabeth Mahler

Karte Copyright © Peter Palm, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Dorota Gorecka; Kate Woodman/Trevillion Images, Lukas-Art in Flanders VZW/Bridgeman Images, Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-40468-7

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Personenverzeichnis

Der Haushalt und die Familie von Aleydis de Bruinker

Aleydis Golatti Witwe des Lombarden Nicolai Golatti, Jorg de Bruinkers Tochter

Alessandro Venetto Halbbruder von Nicolai und Andrea Golatti, Geldwechsler in Frankfurt

Andrea Golatti Nicolai Golattis verstorbener jüngerer Bruder, Alessandro Venettos Halbbruder

Arnold Hürth Griselda Golattis Bruder, Cathrein Golattis Onkel

Augustin Wachknecht, ehemaliger Söldner

Brunhild Alba van Cleves Tochter

Cathrein Golatti Nicolai Golattis Tochter, Jacob de Piacenzas Witwe, ehemalige Begine, Ursels und Marleins Mutter

Edelgard Golatti Andrea Golattis Witwe

Ells Köchin

Gerlin Magd

Gilles Wachknecht, ehemaliger Stadtsoldat

Griselda Golatti Nicolai Golattis verstorbene Gemahlin, Cathreins Mutter

Hartlieb de Piacenza jüngerer Bruder von Cathrein Golattis verstorbenem Gemahl Jacob de Piacenza

Irmel Magd

Jorg de Bruinker Aleydis’ Vater, Tuchhändler

Krista de Bruinker Jorg de Bruinkers Gemahlin

Lutz Knecht

Marlein Cathrein Golattis Tochter, Ursels ältere Schwester

Matteo Golatti Andrea Golattis Sohn

Nicolai Golatti Aleydis’ verstorbener Gemahl, Lombarde, Geldwechsler und -verleiher, Cathrein Golattis Vater, Andrea Golattis Bruder, Alessandro Venettos Halbbruder

Robert de Piacenza Vetter von Cathrein Golattis verstorbenem Gemahl Jacob de Piacenza aus Bonn

Symon Knecht

Ursel Cathrein Golattis Tochter, Marleins jüngere Schwester

Wardo Knecht

Die Amtmänner der Stadt Köln

Cristan Reese einer der drei Kölner Gewaltrichter

Georg Hardefust einer der drei Kölner Gewaltrichter

Ewald von Odendorp Advocat und Gerichtsschreiber

Henns Halfemann Gerichtsschreiber

Richwin van Kneyart Schöffe, Thonnes’ Vater

Tilmann Greverode Hauptmann der Stadtsoldaten, Ratsherr

Vinzenz van Cleve einer der drei Kölner Gewaltrichter, Alba van Cleves Bruder, Gregor van Cleves Sohn, Geldwechsler und -verleiher

Weitere Personen

Adalbert Swanen Schöffe am Bonner Hochgericht

Adelheid Langhölm Tochter eines reisenden Topf- und Pfannenhändlers

Alba van Cleve Vinzenz van Cleves ältere Schwester, verwitwet

Andres Hemmelrich Sarwürker

Änne ehemalige Dirne, jetzt Magd im Haus Zur schönen Frau

Annelin Vinzenz van Cleves verstorbene Gemahlin

Appollonia Begine und Wehmutter im Beginenhof in der Glockengasse

Athanasius Laienbruder im Apostelnhospital

Balthasar Wardos Bruder, verstorben

Bele Köchin in Jorg de Bruinkers Haushalt

Bette Köchin in Vinzenz van Cleves Haushalt

Birgel Hafenarbeiter, Clentz’ älterer Bruder

Britti junge Bademagd und Hübschlerin im Haus Zur schönen Frau

Clentz Hafenarbeiter, Birgels jüngerer Bruder

Elsbeth Vorsteherin der Dirnen im Haus Zur schönen Frau in der Schwalbengasse auf dem Berlich

Franco Koch in Gregor van Cleves Haushalt

Fredo Knecht in Edelgard Golattis Haushalt

Frieder von dem Heydenriche Schöffe am Bonner Hochgericht

Giselle Dirne im Dirnenhaus Zur schönen Frau

Gregor van Cleve Vinzenz und Alba van Cleves Vater, Geldwechsler und -verleiher

Gregor van Cleve, der Jüngere Alba van Cleves Sohn

Hardwin Wardos Neffe, verstorben

Hedrich van Theynen Edelgard Golattis Schwager, Eisenhändler in Bonn

Hilda van Cleve Vinzenz und Alba van Cleves Mutter

Hulda Magd im Hospital in der Webergasse

Jan Overstolz Holzhändler

Jan Starkenberg Aleydis’ Nachbar, Weinhändler

Jannchen Magd in Vinzenz van Cleves Haushalt

Johann Starkenberg, der Jüngere Sohn des Jan Starkenberg

Jonata Hirzelin Beginenmeisterin in der Glockengasse

Lehnert von Bonn Waffenknecht bei Hartlieb de Piacenza

Lentz Gassenjunge, Gerlins kleiner Bruder

Ludger Wachknecht in Vinzenz van Cleves Haushalt

Meister Claiws Nikolaus van Bueren, 1380–1445, ab 1424/25 Dombaumeister in Köln (historisch verbriefte Person)

Meister Hans Scharfrichter

Meister Hellrich Zimmermann

Merle Gefährtin von Wardos verstorbenem Bruder Balthasar

Pater Ecarius Benediktinerpater, Gemeindepfarrer von St. Kolumba

Pater Simeon Gemeindepfarrer von St. Aposteln

Richard Begarde

Sigurt Knecht bei Gregor van Cleve

Thomas van der Burghe junger Patrizier aus Sinzig

Tybald Linde Waffenknecht bei Hartlieb de Piacenza

Wernher van Cleve Alba van Cleves Sohn

Wilhelm Richmodis Patrizier

Wolfram van der Buchtel Gefolgsmann des Kölner Erzbischofs

Prolog

Köln, 18. April, Anno Domini 1424

Mit einem unterdrückten Ächzen reckte Lutz sich und rieb sich mit beiden Händen über den Rücken. Das wechselhafte Aprilwetter machte seinen Knochen zu schaffen. Kein Wunder, ging er doch allmählich auf die fünfzig zu und hatte fast zeit seines Lebens die anstrengende Arbeit eines Knechts verrichtet. Während Sonne und Wolken sich abwechselten und ein kühler Wind um die Häuser in der Glockengasse pfiff, mistete Lutz zusammen mit Lentz, dem kleinen Bruder der Hausmagd Gerlin, den Viehstall aus. Mit langen Mistgabeln verfrachteten sie das schmutzige Stroh auf einen Handkarren, den sie später hinten neben dem Garten auf dem Misthaufen auskippen würden. Neue, frische Strohbündel lagen bereits als Einstreu neben dem Stalltor bereit.

«Komm, Jung, streng dich ein bisschen mehr an.» Mahnend deutete Lutz auf den Schweinekoben. «Da hinten in der Ecke hast du eine Menge Mist liegengelassen. Sieh zu, dass du den noch rauskratzt. Die Schweine wollen schließlich auch mal wieder gemütlich liegen und nicht in ihrem eigenen Dreck versiffen.»

«Ja, ja, schon gut. Mach ich doch.» Mit einem schiefen Grinsen betrat der Junge den Schweinekoben und versuchte, die beiden schweren Säue zur Seite zu schieben. «Geht aber nicht so einfach. Die Viecher scheinen sich in ihrem Matsch ziemlich wohlzufühlen.»

Kopfschüttelnd ging Lutz ebenfalls auf den Schweinekoben zu und musste grinsen, als er die Mienen der beiden Tiere sah. «Die nehmen dich nicht ernst, Lentz. Du musst ihnen schon zeigen, wer der Herr ist, sonst lachen die zwei dich aus.»

Lentz kicherte. «Ich hab noch nie eine Sau lachen gehört. Aber wie soll ich denn …» Abrupt brach er ab. «Was war das?»

Verwundert hob Lutz den Kopf. «Was meinst du?» Doch da hörte er es ebenfalls. Das Knirschen von schweren Stiefeln auf dem steinigen Untergrund im Hof und mehrere laute Männerstimmen. «Da ist jemand.»

Eilig verließ Lutz den Stall, dicht gefolgt von Lentz, der beim Anblick der Ankömmlinge erschrocken die Luft ausstieß.

«Aufmachen!», brüllte gerade eine wütende Männerstimme vor der Eingangstür zum Wohnhaus. Ein lautes Pochen an der Tür folgte. Gleichzeitig waren vier bewaffnete Knechte in den Hof eingedrungen. Einer von ihnen hämmerte heftig mit der Faust gegen die Hintertür, um sie gleich darauf einfach zu öffnen.

«Halt!» Erschrocken rannte Lutz auf die fremden Kerle zu. «Was wollt ihr hier?»

«Haltet ein!», vernahm er gleichzeitig die Stimme von Gilles, einem der beiden Waffenknechte, die das Anwesen vor Eindringlingen bewachten. «Was soll das? Unsere Herrin ist nicht zu sprechen.»

«Das interessiert mich einen Scheißdreck!» Der Anführer der Truppe, der noch immer vor der Haustür stand, klang zu allem entschlossen. «Lasst mich sofort ein, andernfalls verschaffe ich mir mit Gewalt Zutritt.»

«Lutz, wer sind die?» Lentz war neben Lutz aufgetaucht. «Was wollen die hier?»

«Ich weiß es nicht.» Ohne weiter auf den Jungen zu achten, folgte Lutz den Fremden ins Haus. Kaum hatte er die Schwelle übertreten, als er auch schon die Magd Gerlin zetern hörte.

«Halt, nein, nicht. Ihr dürft da nicht rein. Geht … Ah!» Ihre aufgebrachte Stimme ging in einen Schmerzensschrei über.

«Aufhören, sofort aufhören, sag ich!»

Das war Irmel, die zweite Magd. Gleich darauf vernahm Lutz ein Krachen und einen wüsten Fluch. Dann das Kreischen der beiden kleinen Mädchen, die in der Stube über ihren Handarbeiten gesessen hatten. Hastig eilte Lutz durch die Küche in den schmalen Gang, der den vorderen Bereich des Hauses, in dem sich die Münzwechselstube befand, mit den Wohnräumen verband. Inzwischen war der Anführer der Eindringlinge mit drei weiteren Männern zur Eingangstür hereingekommen. Einer von ihnen rang mit Gilles, zwei andere mit Augustin, dem zweiten Wachknecht. Aus der Stube drang ein wütendes Kreischen, das nur von der kleinen Ursel stammen konnte, dann ein lästerliches Fluchen, ein Klatschen, noch mehr Gekreisch und das entsetzte Weinen von Marlein, Ursels älterer Schwester.

«Die wollen Ursel und Marlein entführen!» Bevor Lutz es verhindern konnte, war Lentz an ihm vorbeigewischt und stürzte sich in das Getümmel in der Stube. «Weg da, weg! Ihr dürft das nicht. Lasst Ursel los und Mar… Aua!»

Lutz konnte sehen, jedoch nicht verhindern, dass der kleine Junge von einem der Eindringlinge getreten und von einem anderen mit einem brutalen Schlag gegen den Tisch geschleudert wurde. Die beiden Mädchen kreischten und weinten immer lauter, dann übertönte ein weiterer Schreckensschrei von der Treppe zum Obergeschoss den Tumult: Brunhild, die siebzehnjährige Jungfer, die von Aleydis in Haushaltsdingen ausgebildet wurde, war aschfahl, ihre Augen weit aufgerissen. «Wardo! O mein Gott, seht doch! Der arme Wardo! So helft ihm doch. Helft! Hilfe!» Brunhilds Stimme kippte vor Angst und wurde immer schriller. Als Lutz sah, was das Mädchen so entsetzte, wurde er ebenfalls blass. Der Hausknecht Wardo lag mit dem Gesicht nach unten vor der Treppe. Aus einer Wunde am Hinterkopf quoll Blut.

«Zurück! Raus hier, ihr nichtswürdiges Gezücht!» Augustin hatte sein Kurzschwert gezogen und versuchte, sich gegen die Übermacht an Waffenknechten zu behaupten. Derweil bemühte Gilles sich, die beiden Mädchen aus den Fängen der Männer zu befreien.

Brunhild schrie immer noch wie von Sinnen um Hilfe, sodass nun zwei der Eindringlinge auf sie aufmerksam wurden und aussahen, als wollten sie sich auf sie stürzen. Lutz’ Herz raste in seiner Brust. Er musste helfen, doch wie und wem zuerst? Als einer der Waffenknechte fluchend auf die Treppe zusteuerte, packte Lutz ihn beherzt am Arm, zerrte ihn zu sich herum und boxte ihn ins Gesicht. Der Mann taumelte rückwärts, sodass Lutz sich an ihm vorbeischieben konnte. Energisch umfasste er das Handgelenk der jungen Frau und zerrte sie mit sich aus dem wüsten Gemenge heraus.

«Kommt, Jungfer Brunhild, raus hier! Ich bringe Euch in Sicherheit.»

Kapitel 1

Köln, 14. April, Anno Domini 1424

Kaum hatte Pater Ecarius das Dominus vobiscum zum Ende der Ostermesse verkündet, als auch schon das Geläut der Glocken von St. Kolumba alle weiteren Worte des Geistlichen und das Stimmengewirr der sich dicht an dicht drängenden Gläubigen übertönte. Aleydis hätte gerne aufgeatmet, doch ihr war schon seit Beginn der Messe übel. Der übermäßige Gebrauch von Weihrauch anlässlich des höchsten christlichen Feiertags war ihr auf den Magen geschlagen. Zwar hatte sie mit ihrer Familie und dem Gesinde einen Platz recht weit vorne ergattert und ausnahmsweise einmal die gesamte Liturgie mit Augen und Ohren verfolgen können, dies jedoch mit dem jetzigen Unwohlsein bezahlt. Als sich nun die Menschenmassen gen Ausgang zu drängen begannen, stiegen ihr auch noch menschliche Ausdünstungen sowie der Geruch nasser Wolle in die Nase, hüllten sie ein und machten sie regelrecht schwindelig.

Nichts wie raus hier!, dachte sie, doch das war vorerst ein frommer Wunsch. Wer zuerst die Kirche betrat und sich einen vorzüglichen Platz in Altarnähe sicherte, verließ die heiligen Hallen als Letzter. Wäre sie doch nur schon mit ihrer Köchin Ells zusammen gegangen. Diese hatte die Messe bereits vor einer Weile verlassen, um sich um den Osterschmaus zu kümmern, den sie seit dem gestrigen Abend vorbereitete. Möglichst flach atmend, schob Aleydis ihre beiden Schützlinge Marlein und Ursel vor sich her. Die Mädchen, gerade zwölf und zehn Jahre alt, plapperten fröhlich miteinander, auch wenn sie bei dem Lärm, den das Geläut machte, kaum etwas vom Gesagten verstehen konnten. Rechts wurden sie flankiert vom Altknecht Lutz und links von Alessandro, Aleydis’ Schwager, der zu den Feiertagen aus Frankfurt herübergekommen war, wo er eine Münzwechselstube betrieb.

Ein Stück entfernt konnte Aleydis die Magd Irmel ausmachen sowie die siebzehnjährige Brunhild und den gleichaltrigen Matteo, die beide in ihrem Haushalt lebten. Allen voran schritt wie immer der bullige Eunuch Symon, ihr treuer Wachknecht. Er schob, mal sanft, mal unwirsch, die durcheinanderdrängelnden Menschen beiseite, um seiner Herrin und ihrer Familias ein einigermaßen unbehelligtes Durchkommen zu sichern.

Dennoch fühlte Aleydis sich nicht nur unwohl, sondern auch massiv bedrängt. Je näher sie dem Ausgang kamen, desto eiliger schienen es alle zu haben, in den nasskalten Aprilvormittag hinauszugelangen. Flach atmen konnte sie nun nicht mehr, weil ihr damit geradezu die Luft wegblieb. Ihre Übelkeit legte sich zwar ein wenig, je mehr sie sich von den rauchenden Weihrauchgefäßen entfernte, doch nun wehte ihr von rechts eine Knoblauchfahne entgegen, von links eine Bierfahne. Und dann … Sie schrak zusammen und erstarrte. Hatte ihr da jemand an den Hintern gefasst? Entrüstet warf sie einen Blick über die Schulter, konnte aber nicht ausmachen, welcher der Männer hinter ihr der Übeltäter gewesen sein mochte.

Nur wenige Augenblicke später spürte sie erneut eine Hand an ihrer Rückseite. Diesmal kniff sie jemand dreist in den Po. Erbost fuhr sie herum und blickte in das grinsende Gesicht eines ihr unbekannten Mannes im Zunftmantel der Sarwürker. Ihm fehlte ein Eckzahn, was seinem sonst recht einnehmenden Antlitz leichten Schaden zufügte. Als er ihr nun auch noch vielsagend zuzwinkerte, fuhr sie ihn an: «Lasst gefälligst Eure Hände bei Euch!»

Ringsum wurde widerwilliges Murren laut, weil sie den Strom gen Ausgang aufhielt. Der Kerl grinste nur und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Wütend drehte Aleydis sich um und drängte sich mit Ellenbogengewalt durch die Menschen näher zu Symon, was ihr weiteres Gezeter und ein paar unflätige Flüche einbrachte.

Wenig später stand sie endlich auf dem Vorplatz der Pfarrkirche St. Kolumba und sog gierig die feuchtkalte Luft ein. Bis vor zwei Tagen hatte der April sich von seiner frühlingshaften Seite gezeigt, doch dann war das Wetter umgeschlagen, hatte Sturm und Schneeregen mit sich gebracht. Am Morgen noch war der Himmel bedeckt gewesen, und ein feiner Nieselregen hatte sämtliche Kleider der zum Gottesdienst eilenden Gläubigen langsam, aber sicher durchfeuchtet. Inzwischen waren am Himmel einige Wolkenlücken zu erkennen; die Sonne tat ihr Bestes, sich ihren Platz am Frühlingshimmel zurückzuerobern. Gleichzeitig hatte jedoch der Wind wieder aufgefrischt und pfiff eisig durch die grünenden Büsche und Bäume am Wegesrand.

«Herrin, ist alles in Ordnung?» Symon musterte Aleydis besorgt. «Ihr seid ganz bleich! Ist etwas vorgefallen?» Wachsam hob er den Kopf und ließ seinen Blick über die Schar der aus dem Kirchenportal quellenden Menschen wandern.

«Nein, nein, schon gut.» Matt winkte Aleydis ab. Der Sarwürker war längst verschwunden, und was half es schon, sich bei ihrem Knecht zu beschweren? Symon hatte weder Augen im Hinterkopf noch den Auftrag gehabt, ihr lästige Mannsbilder vom Leib zu halten. Die wenigsten waren so dreist wie der Kerl eben und belästigten eine ehrbare Bürgersfrau. Und diejenigen, die es doch taten, ignorierte sie tunlichst. «Ich fühle mich nur nicht ganz wohl. Du weißt doch, dass ich den Weihrauchgeruch nicht gut vertrage.»

«Pater Ecarius hat es heute mal wieder ganz besonders gut gemeint.» Brunhild war neben sie getreten und lächelte sie mitfühlend an. «Ich mag Weihrauch eigentlich ganz gerne, aber selbst mir ist vorhin beinahe schlecht geworden. Der gute Pater hat das Rauchgefäß aber auch geschwenkt, als gelte es, böse Dämonen zu vertreiben.»

«Böse Dämonen?» Verblüfft blickte Aleydis das junge Mädchen an. «Wie kommst du denn auf so etwas?»

«Ells hat neulich erzählt …»

«Natürlich», unterbrach Aleydis sie und verdrehte die Augen. «Ells hat erzählt. Was denn diesmal? Nein, ich will es gar nicht hören. Du weißt doch, dass sie entsetzlich abergläubisch ist. Ich möchte nicht, dass du ihre Geschichten weiterverbreitest. Du glaubst doch wohl nicht etwa den Unsinn, den sie verzapft?»

Brunhild errötete. «N-nein, selbstverständlich nicht. Es war bloß so eine spannende Geschichte.»

«Aha.» Mit strengen Blicken maß Aleydis das junge Mädchen. «Inwiefern spannend?»

Die Röte auf Brunhilds Wangen vertiefte sich. «Ja, also … Ells hat erzählt, dass es vor vielen Jahren hier in Köln einen Teufelsanbeter gegeben hat, der Säuglinge opfern wollte und sich dazu in einem römischen Mausoleum drüben auf dem alten Gräberfeld am Severinstor versteckt hat. Zehn Priester mit Weihrauch hätten nicht ausgereicht, um die bösen Dämonen, die er gerufen hat, wieder in die höllische Unterwelt zurückzutreiben.»

«Das mag eine spannende Mär sein, aber ich bin sicher, dass nicht einmal die Hälfte der Wahrheit entspricht.» Aleydis seufzte innerlich, denn ihr war zufällig bekannt, dass zumindest ein Teil der Erzählung auf Tatsachen beruhte. Doch das würde sie nicht ausgerechnet Brunhild auf die Nase binden – ebenso wenig wie Ursel und Marlein, die sich inzwischen ebenfalls zu ihnen gesellt hatten. «Ells übertreibt immer ganz fürchterlich, wenn sie euch Gänschen mit ihren Geschichten in Angst und Schrecken versetzen will.»

«Was denn für Geschichten?» Ursel blickte mit großen, neugierigen Augen zwischen Brunhild und Aleydis hin und her.

Kopfschüttelnd strich Aleydis ihr über den blonden, struppigen Zopf. «Nichts, was dich oder deine Schwester angeht. Lasst uns zügig nach Hause gehen, denn Ells hat sich redlich Mühe gegeben, uns einen großartigen Osterschmaus zuzubereiten.»

«Au ja, ich habe schon riesigen Hunger!» Ursel strahlte von einem Ohr zum anderen.

«Du hast doch immer Hunger.» Marlein stieß ihrer Schwester lachend den Ellenbogen in die Seite. «‹Ein Fass ohne Boden› hat der werte Herr van Cleve mal gesagt.»

Unwillkürlich zuckte Aleydis zusammen. «Wann hat sich denn der Gewaltrichter bemüßigt gefühlt, Ursels Essgewohnheiten zu diskutieren?»

«An Weihnachten bei dem großen Zunftbankett.» Marlein kicherte. «Und noch mal beim Gastmahl am Tag vor Aschermittwoch, als wir bei ihm und Frau Alba eingeladen waren.»

Streng musterte Aleydis die kleine Ursel. «Hast du Anlass zu Unmut gegeben?»

Ursel schüttelte heftig den Kopf, sodass ihr Zopf wild hin und her schwang. «Gar nicht. Er hat jedes Mal gelacht, wenn er das gesagt hat.»

«Gelacht?» Verblüfft runzelte Aleydis die Stirn. Seit sie Vinzenz van Cleve kannte, hatte er nicht allzu oft gelacht – zumindest nicht in ihrer Gegenwart.

«Er macht sich gerne über das weibliche Gemüse lustig», schaltete Brunhild sich lächelnd ein. «So nennt er uns Mädchen gerne. Aber er meint es nicht bös. Er tut nur so schrecklich brummig, aber in Wahrheit ist er das gar nicht. Das sagt Mutter auch. Und sie kennt ihn schon, seit er auf der Welt ist, weil sie zwei Jahre älter ist als er.» Brunhild lächelte noch breiter. «Sie sagt, je mehr er jemanden mag, desto gewittriger wird sein Gebaren. Aber das kann nicht stimmen, weil er mich nämlich ganz sicher gernhat, und zu mir war er noch nie finster oder unfreundlich.»

«Habt ihr vor abzuwarten, bis sich die Sonne wieder versteckt und es zu regnen anfängt?» Alessandro Venetto, der uneheliche Halbbruder von Aleydis’ verstorbenem Gemahl Nicolai, trat zu ihnen und deutete gen Himmel, an dem sich inzwischen doch wieder dunkle Regenwolken versammelt hatten. «Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir patschnass. Der April macht seinem Namen derzeit alle Ehre, will mir scheinen.»

«Der April, der April, der macht, was er will», sang Marlein mit melodischer Jungmädchenstimme. «Aber nass werden will ich eigentlich nicht.»

«Dann sollten wir uns jetzt beeilen.» Noch während sie sprach, wurde Aleydis von einem ersten Regentropfen getroffen. Den Mädchen ging es ähnlich, und prompt kreischten sie los. Aleydis hatte alle Mühe, die drei zur Ruhe zu bringen und daran zu gemahnen, dass ihr Verhalten ausgesprochen unschicklich war.

Im Laufschritt eilten sie die Glockengasse hinauf.

***

Im Haus war es behaglich warm, da der große Hinterladeofen, der von der Küche aus befeuert wurde, ordentlich angeheizt worden war. Das große Anwesen, das Nicolai Aleydis hinterlassen hatte, bestand aus einem zweistöckigen Wohnhaus, in dessen Erdgeschoss neben Küche, Wohnstube und Schreibkammer auch die Münzwechselstube untergebracht war. Das Gebäude war voll unterkellert und besaß mehrere Nebengebäude, wie eine Remise, einen Pferde-, einen Vieh- und einen Hühnerstall. Zwischen Remise und Wohnhaus führte ein großes Tor in den Innenhof, an den sich ein Garten und eine kleine Obstwiese anschlossen. Der nächste Trinkwasserbrunnen war nur wenige Schritte entfernt. Insgesamt war das Anwesen einem der reichsten Bürger Kölns – wenn nicht gar dem reichsten, wie Aleydis argwöhnte – mehr als würdig.

Als sie der köstlichen Gerüche gewahr wurde, die aus der Küche drangen, legte sich endlich auch noch der letzte Rest von Aleydis’ Unwohlsein. Sie wies die Mädchen an, der Köchin zur Hand zu gehen, und Irmel, den Tisch zu decken. Gerade als Aleydis ihren Mantel in der Küche zum Trocknen aufgehängt hatte, pochte es mehrmals heftig an der Tür. Gleich darauf rief eine Jungenstimme: «Frau Aleydis? Frau Aleydis, seid Ihr da? Bitte sagt, dass Ihr schon aus der Kirche zurück seid!»

«Das ist Lentz!» Ehe Aleydis reagieren konnte, war Ursel bereits an ihr vorbei zur Haustür gehuscht. «Guten Tag, Lentz, und ein frohes Osterfest», begrüßte sie den ungefähr elfjährigen Gassenjungen mit den strohblonden Haaren. «Was schreist du denn so? Und warum bist du nicht zur Hintertür gekommen, wie sonst auch immer?»

«Dir auch ein frohes Osterfest.» Der Junge zappelte auf der Türschwelle herum. «Die Hintertür war mir zu weit. Ich soll ganz dringend und schnell die Frau Aleydis holen. Der Wardo schickt mich, weil der Merle ihre schwere Stunde gekommen ist und er nicht weiß, was er jetzt machen soll.»

«Ach herrje.» Aleydis hatte inzwischen ebenfalls die Tür erreicht. «Merle bekommt ausgerechnet heute ihr Kind?»

Lentz nickte heftig. «Wardo hat gesagt, er wollte ihr bloß was Gutes zu essen zu Ostern bringen, aber da ging es ihr schon nicht so gut, und sie hatte, also, na ja.» Er schielte verschämt auf Ursel.

«Wehen?», half Aleydis.

Der Junge wurde rot. «Äh, ja.»

«Warum hat Wardo nicht nach einer Wehmutter geschickt?»

Lentz hob die Schultern. «Hat er ja, aber die zwei, die er fragen wollte, waren beide schon bei anderen Geburten, und die teureren wollen der Merle nicht helfen, weil die sich ihre Hilfe gar nicht leisten kann.»

Das wunderte Aleydis wenig. Merle hatte einst mit Wardos Bruder Balthasar in wilder Ehe gelebt und war nun, nach dessen Ermordung, gänzlich auf sich gestellt. Sie hatte sich, soweit Aleydis wusste, als Tagelöhnerin durchgeschlagen. Hin und wieder bettelte sie wohl auch, wenn die anderen Bettler in der Stadt, die in einer Zunft zusammengeschlossen waren, sie nicht verjagten. Balthasar war ein Dieb und Halsabschneider gewesen, und auch sein halbwüchsiger Sohn Hardwin war nicht viel besser gewesen – im vergangenen Herbst war er auf einem Feld beim Severinstor an einem Baum aufgeknüpft aufgefunden worden. Aleydis konnte nur vermuten, dass jemand den Jungen auf diese Art für seine Missetaten bestraft hatte. Doch für Merle bedeutete dieser unglückselige Umstand, dass kaum ein ehrbarer Mensch sich noch mit ihr abgab. Sie hatte mit einem Mörder und einem Brandstifter zusammengelebt. Auch wenn sie sich selbst nichts hatte zuschulden kommen lassen, würden die Leute sie meiden.

Verunsichert blickte Aleydis durch die Tür in die Wechselstube, wo sich inzwischen auch Ells, Lutz und die Mädchen eingefunden hatten und dem Gespräch neugierig lauschten.

«Bitte, Frau Aleydis, könnt Ihr helfen? Wardo meinte, Ihr seid die Einzige, die das vielleicht kann.» Er hüstelte. «Weil Ihr doch so ein gutes Herz habt und so. Und die Merle kann doch nix dafür, dass der Balthasar so ein Schwein war und der Hardwin auch.»

Da hatte der Junge recht. Dennoch zögerte Aleydis. «Ich weiß nicht, wie genau ich Merle helfen soll, Lentz. Ich habe keinerlei Erfahrung mit Geburtshilfe.»

«Ihr könntet bei der neuen Wehmutter drüben im Beginenhof nachfragen», schlug Ells vor. «Mutter Appollonia heißt sie, nicht wahr? Die, die erst seit Anfang des Jahres dort wohnt? Die geht zwar sonst auch nur in die Patrizierhäuser, aber vielleicht könnt Ihr sie ja überreden, weil Ihr mit Frau Jonata auf gutem Fuß steht.»

«Das könnte ich versuchen.» Aleydis eilte in die Küche und holte ihren feuchten Mantel.

«Ich begleite Euch, Herrin.» Symon folgte ihr auf dem Fuße, als sie sich eilig auf den Weg zum nur etwa fünfzig Schritte entfernten Beginenhof machte. Seit Nicolais Tod legte sie nicht einmal mehr diese kurze Strecke, die sie zuvor so oft unbehelligt zurückgelegt hatte, ohne männliche Begleitung zurück. Es machte sie traurig, dass Nicolais Vermächtnis ihr Leben derart schwierig machte und sie, obgleich sie nun als eine der reichsten Witwen Kölns galt, mehr und mehr in ihren Freiheiten einschränkte. Sie hatte Nicolai von ganzem Herzen geliebt. Von seinen Missetaten und der unfassbaren Schattenwelt, die er sich aufgebaut hatte, hatten sie und ihre Familie bis zu seinem Tod nichts geahnt. Deshalb kannte sie ihn nur als weltoffenen, gewandten, höchst liebenswürdigen und großzügigen Mann, der, obgleich mehr als doppelt so alt wie sie, ihr in inniger Liebe zugeneigt gewesen und stets mit Zärtlichkeit und Achtung begegnet war.

Es dauerte nicht lange, bis auf ihr Klopfen hin die Beginenmeisterin höchstpersönlich die Tür des zweistöckigen Wohnhauses der frommen Frauen öffnete. Sie trug wie immer ihr graues Beginengewand und dazu heute einen offenbar frisch gewaschenen und gebleichten Schleier mit einem sehr dezenten Kruseler, der sich hübsch um ihr Gesicht schmiegte und ihre Erscheinung nicht ganz so streng wirken ließ, wie es normalerweise beabsichtigt war. Auf den Lippen der mütterlichen Frau zeichnete sich ein Lächeln ab, als sie die Besucherin erkannte. «Guten Tag, Frau Aleydis, und ein gesegnetes Osterfest Euch und Eurem gesamten Hausstand!»

Aleydis lächelte ebenfalls. «Auch ich wünsche Euch ein frohes und segensreiches Osterfest, Frau Jonata. Ich hoffe, ich störe Euch nicht beim Essen oder bei einer mittäglichen Andacht.»

«Nein, ganz und gar nicht.» Jonata Hirzelin machte einen Schritt auf sie zu. «Illa und Tringen sind noch in der Küche beschäftigt. Anscheinend will der Braten im Ofen nicht gar werden.» Sie lachte leise. «Aber nun haben wir uns vierzig Tage in strenger Askese geübt, da wird es auf eine halbe Stunde mehr nicht ankommen.» Sie warf Symon einen kurzen Blick zu, dann musterte sie Aleydis wieder aufmerksam. «Was kann ich für Euch tun? Ich hätte gedacht, dass Ells mit ihrer Kochkunst pünktlich zur Mittagszeit fertig ist und Euch einen wohlschmeckenden Braten aufgetischt hat.»

«Wir wollten tatsächlich gerade zu Tisch gehen, als Lentz bei uns vorsprach und um Hilfe bat.» Aleydis blickte die Straße hinauf in Richtung ihres Anwesens. «Merles schwere Stunde ist gekommen. Wardo hat sie besucht und ihr etwas zu essen gebracht und nun nach Hilfe ausgeschickt. Anscheinend sind alle verfügbaren Wehmütter anderweitig beschäftigt und die, die Zeit haben …, nun ja.»

«Wollen sie nicht betreuen», schloss Jonata. Das Lächeln war verschwunden. «Was verständlich ist, wenn man bedenkt, wer sie ist.»

«Sie ist eine einfache Frau, die sich nichts hat zuschulden kommen lassen.»

Jonata kräuselte die Lippen. «Sie hat mit einem Mörder zusammengelebt – und mit dessen verdorbenem Sohn, der Herr sei ihrer beider Seelen gnädig.» Sie bekreuzigte sich rasch.

«Dennoch benötigt sie nun eine Wehmutter, und da dachte ich …» Aleydis blickte die Beginenmeisterin eindringlich an. «Würde Mutter Appollonia sich möglicherweise erbarmen, mich zu Merle zu begleiten?»

Jonata hob die Schultern. «Appollonia hat ausschließlich Kundinnen in den höchsten Bürgerkreisen. Ich glaube kaum, dass sie sich einer abgerissenen Bettlerin annehmen wird.»

«Aber Ihr seid doch sonst auch wohltätig zu allen Menschen, die der Hilfe bedürfen», wandte Aleydis ein. «Jesus Christus selbst hat gesagt: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.»

Jonata seufzte. «Da habt Ihr natürlich recht, Frau Aleydis. Doch Ihr versteht sicher, dass ich Merle keine große Sympathie entgegenbringen kann.»

Aleydis nickte mit gesenktem Blick. «Sie hat mit Hardwin unter einem Dach gelebt, doch für seine Missetaten ist sie nicht verantwortlich.»

«Nun denn.» Die Beginenmeisterin rief über die Schulter nach der Hebamme. «Fragt am besten Appollonia selbst.»

Aleydis wappnete sich innerlich. Sie war der hageren grauhaarigen Hebamme bereits hin und wieder auf der Straße begegnet, hatte aber bisher noch keine Gelegenheit gehabt, sie näher kennenzulernen. Sie wusste nur, dass sie mit einem wohlhabenden Kaufmann aus Bonn verheiratet gewesen, kinderlos, seit einigen Jahren verwitwet und bereits an die sechzig Jahre alt war.

Als Appollonia aus den hinteren Wohnräumen des Beginenkonvents herbeikam und neben Jonata trat, lächelte sie Aleydis freundlich zu. «Guten Tag und frohe Ostern, gute Frau. Seid Ihr nicht unsere Nachbarin aus der Münzwechselstube? Braucht jemand aus Eurem Haus eine Wehmutter? Mir war gar nicht bewusst, dass sich eine Schwangere bei Euch aufhält. Oder habt Ihr gar Besuch?»

«Guten Tag, Mutter Appollonia, und gesegnete Ostern wünsche ich auch Euch. Ihr habt ganz recht geraten, eine Wehmutter wird benötigt. Jedoch nicht in meinem Hause, sondern bei einer … Bekannten von mir.»

Appollonia musterte sie aufmerksam aus ihren klugen, wasserblauen Augen. «Eurem Zögern entnehme ich, dass besagte Bekannte nicht zu Eurem engsten Freundeskreis zählt?»

«Nun ja …» Aleydis lächelte leicht gequält. «Ich zahle selbstverständlich für Eure Dienste.»

Die Brauen der Hebamme hoben sich. «Also ist sie arm?»

«Es handelt sich um die Frau des ermordeten Halsabschneiders Balthasar, der den guten Herrn Nicolai, Frau Aleydis’ Gemahl, gemeuchelt hat.» Jonata warf ihrer Mit-Begine einen vielsagenden Blick zu. «Ich hatte dir davon erzählt.»

Appollonia runzelte die Stirn. «Das Weib ist schwanger?»

«Ihre schwere Stunde ist gekommen, und sie hat niemanden außer meinem Knecht Wardo, der sich um sie kümmert. Nun ja, und außer mir. Ich habe ihr hin und wieder einen Korb mit Lebensmitteln zukommen lassen. Leider ist keine andere Hebamme abkömmlich.»

«Der Fluch des Feiertags.» Appollonia lachte trocken. «Aus irgendeinem seltsamen Grund kommen die meisten Kinder entweder mitten in der Nacht zur Welt oder an Sonn- und Feiertagen. Das macht meinen Beruf für manche Frau unattraktiv.» Sie wandte sich an Jonata. «Ich hole rasch meine Sachen und werde Euch zu der Frau begleiten.»

«Tatsächlich?» Überrascht blickte Jonata auf, denn Appollonia war einen guten halben Kopf größer als sie. Dann hüstelte sie. «Ich meine, natürlich. Ich dachte nur … Du wirst für gewöhnlich nur zu den besten Familien gerufen. Merle lebt in einer dreckigen Hütte drüben am Krummen Büchel. Nicht gerade eine gute Gegend für eine anständige Frau.»

«Und dennoch ist sie ein Kind Gottes.» Appollonia lächelte seltsam vieldeutig. «Und noch dazu heißt sie Merle? Ich kannte einst eine Merle, ein liebes Kind. Leider mit einem Vater gestraft, der des Namens nicht wert ist, und einer Mutter, die man täglich für ihre Dummheit und Gefühlskälte hätte auspeitschen müssen. Aber wie dem auch sei, keine Frau sollte in ihrer schweren Stunde ohne den Beistand einer Wehmutter sein. Wartet einen Moment, Frau Aleydis, ich bin gleich wieder da.» Schon verschwand sie wieder im Inneren des Hauses.

«Ja, nun …» Jonata blickte der Hebamme immer noch verdutzt nach. Ganz offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass diese so bereitwillig helfen würde. «Wird Symon Euch begleiten?»

«Ja, selbstverständlich.» Aleydis atmete erleichtert auf. «Und Wardo ist ja auch noch dort. Er oder Symon können Mutter Appollonia später zurück hierher begleiten.»

«Gut. Danke, Frau Aleydis.»

«Ich habe Euch zu danken. Immerhin störe ich Euch und Eure Mitschwestern an einem hohen Feiertag.»

«Ach was, ach was.» Appollonia war bereits zurück, trug einen grauen Mantel und hatte sich einen großen, mit einem Deckel verschlossenen Weidenkorb über den Arm gehängt. «Wie ich schon sagte, eine Hebamme hat schwerlich irgendwann einmal einen ruhigen Feiertag. Und falls doch einmal, fühlen wir uns auch nicht wohl und fragen uns, ob etwas nicht stimmt, weil kein Schreihals zur Unzeit auf die Welt zu kommen beschlossen hat. Also los, beeilen wir uns. Bis zum Krummen Büchel ist es ja ein gutes Stück des Wegs.»

***

«Oje, oje, oje. Nein, nein, das geht so schon mal gar nicht.» Nachdem Mutter Appollonia die winzige, windschiefe Hütte betreten hatte, in der Merle lebte, stellte sie den Korb neben sich auf den staubigen Boden und stemmte die Hände in die Hüften, sodass ihre Ellenbogen seitlich unter dem Mantel abstanden und ihr etwas von einer Fledermaus gaben. «Das hier ist kein Ort für eine werdende Mutter. Pfui Teufel!» Sie bekreuzigte sich halbherzig und trat auf das schmuddelige Lager aus Strohmatratze und mehreren zerschlissenen Wolldecken zu, auf dem Merle lag.

Wardo, der neben ihr auf einem Hocker gesessen hatte, sprang erschrocken auf. «Verzeiht, gute Frau. Ihr seid doch die Wehmutter aus dem Beginenhaus in der Glockengasse? Wie seid Ihr denn … Oh, Frau Aleydis.» Jetzt erkannte er auch seine Herrin, die hinter der Hebamme die Hütte betreten hatte. «Ihr habt Mutter Appollonia geholt.» Erleichterung und Sorge zugleich zeichneten sich auf seiner Miene ab. «Aber das kann sich Merle nicht leisten. Ich könnte was dazugeben, aber auch ich habe nicht genug.»

«Halt mal die Schnüss, Knecht», unterbrach Appollonia ihn resolut. «Wie heißt du noch mal?»

«Das ist mein Wachknecht Wardo», beeilte Aleydis sich schnell noch einmal zu erklären.

«Nicht der Kindsvater?»

«Äh, nee, der bin ich nich’.» Wardo wurde tatsächlich rot, was Aleydis schwer überraschte.

«Ah, ja, stimmt, das war ja dieser Halsabschneider.» Appollonia hüstelte. «Also gut, Wardo, dann mach mal ein bisschen Platz. Übers Bezahlen können wir reden, wenn das hier erledigt ist.» Sie beugte sich über Merle, die bisher noch gar nichts gesagt hatte, sondern die Hebamme nur mit großen Augen anstarrte. «Na, Mädchen, lass mich mal sehen.» Energisch zog die Hebamme der Schwangeren die graue Decke fort, die diese bis zum Hals hinaufgezogen hatte.

«A… Appollonia?» Merles Stimme krächzte ein wenig. «Bist du das? Das … kann doch nicht sein.»

«Was meinst du?» Die Hebamme hielt inne und sah Merle aufmerksam ins Gesicht. Dann stieß sie ein überraschtes Lachen aus. «Nein, da soll mich doch! Merle? Die Merle? Meine Merle? Na, also so was!»

«Tante … Appollonia! Ich dachte … Bist du nicht schon lange tot?» Umständlich und mit einem gequälten Ächzen versuchte Merle, sich auf dem schmutzigen Bettlager aufzurichten. «Alle haben gesagt, du wärst unter die Räder gekommen und längst tot.»

Aleydis trat nun ebenfalls an die Bettstatt heran. «Ihr kennt Euch?»

Appollonia lachte erneut. «Na, also kennen ist wohl untertrieben. Die gute Merle hier war das erste Kindchen, bei dessen Geburt ich jemals geholfen habe. Bei meiner Schwester, dieser nichtsnutzigen Nebelkrähe.» Die Hebamme richtete sich auf und rieb sich über die Stirn. «Das ist schon gute drei Jahrzehnte her.»

«Du warst doch … Du warst …» Merle stockte, blickte verunsichert zwischen Appollonia, Wardo und Aleydis hin und her. «Mutter hat immer gesagt, du warst eine …»

«Sprich es ruhig aus: Ich war eine von den Dirnen drüben in der Schwalbengasse.» Mit einem vielsagenden Blick wandte sie sich an Aleydis. «Und wenn Ihr vorhaben solltet, das weiterzutratschen, fände ich das ausgesprochen unhöflich.»

«Nein!» Erschrocken schluckte Aleydis. «Nein, natürlich nicht.»

«Nachdem Merle geboren wurde, habe ich mich für einen neuen Weg entschieden und bin bei einer Wehmutter namens Wiebke in die Lehre gegangen, hier in Köln, und später bin ich dann nach Bonn rüber, um nicht immer den Leuten von früher über den Weg zu laufen. Wer lässt schon eine ehemalige Dirne in sein Haus, damit die der eigenen Ehefrau Beistand in der schweren Stunde leistet? Womöglich eine Dirne, bei der man selbst zuvor schon Kunde gewesen ist.» Appollonia verdrehte vielsagend die Augen, doch gleich darauf zeichnete sich ein aufrichtiges Lächeln auf ihren Lippen ab. «Ein guter neuer Weg war das in Bonn, der mich zu meinem Bertram selig gebracht hat.»

«Du bist einfach fortgegangen.» Merles Stimme zitterte ein wenig. «Einfach so. Hast dich nicht mal verabschiedet.»

Appollonia nickte betrübt. «Ich hab dich alleingelassen, ich weiß. Aber ich hätte dich nicht mitnehmen können, obwohl ich’s gern gewollt hätte. Dein Vater und deine Brüder hätten das nicht erlaubt, und deine Mutter ist allein bei dem Vorschlag mit dem Walkholz auf mich losgegangen.»

«Sie hat gesagt, du wärst unter die Räder gekommen», wiederholte Merle vollkommen konsterniert. «Und das wär gut so, weil du nichts wert gewesen bist und der Familie Schande gemacht hast.» Sie war sehr blass geworden. Im nächsten Moment stöhnte sie qualvoll auf und krümmte sich zusammen.

«Na, na, immer ruhig atmen, Kindchen.» Sogleich war Appollonia an ihrer Seite. «Keine Angst, der Schmerz vergeht gleich wieder.» Sie warf Wardo, der immer noch wie angewachsen neben dem Bett stand, einen auffordernden Blick zu. «Wie oft kommen die Wehen?»

Wardo erschrak und wurde ebenfalls blass. «Das weiß ich doch nicht.»

«Wie oft kannst du ein Vaterunser aufsagen, bevor sie wieder vom Schmerz übermannt wird?»

Nervös schluckte Wardo. «Weiß nicht.» Er überlegte sichtlich angespannt. «Vielleicht zehn? Ich hab’s nicht ausprobiert.»

«Dann schlage ich vor, einer von uns, am besten Ihr, Frau Aleydis, zählt von jetzt an die Vaterunser. Zählt eines dazu für die Zeit von eben bis jetzt.» Dann wandte sie sich wieder an Wardo. «Du holst einen Karren her, mit dem wir Merle transportieren. Hier in diesem Drecksloch wird sie ihr Kindchen nicht gebären.» Als Wardo sie nur verblüfft anstarrte, trat sie einen Schritt auf ihn zu. «Na, was denn? Mach dich nützlich! Dumm herumstehen hilft deiner Merle nicht. Also setz deinen Hintern in Bewegung. Und danach halt dich von uns fern. Männer haben bei einer Geburt nichts verloren.»

Sichtlich verblüfft über den brüsken Ton und entsetzt darüber, dass Appollonia angedeutet hatte, Merle gehöre zu ihm, rannte Wardo zur Tür hinaus.

Zufrieden blickte Appollonia ihm nach. «Den hätten wir schon mal beschäftigt. Es gibt kaum etwas Schlimmeres bei einer Geburt als ängstliche Kindsväter – oder Liebhaber. Und du, Merle, stehst jetzt auf. Es wird noch ein gutes Weilchen dauern, bis es so weit ist. Oder ist dein Wasser schon gebrochen?»

«Äh, nein.» Unsicher blickte Merle an sich hinab. «Ich glaube nicht.»

«Keine Sorge, wenn das passiert, wirst du es sofort wissen.»

«Und Wardo ist nicht mein … ähm …» Erneut ächzte Merle und stand umständlich auf. «Er kümmert sich bloß um mich.»

«Hätte er mal früher tun sollen. Scheint ein aufrechter Kerl zu sein.» Rasch hob Appollonia den Korb auf und reichte ihn Aleydis. «Hier, nehmt den einstweilen. Merle, hilf mir, ein paar Kleider zusammenzusuchen. Hast du überhaupt saubere? Vermutlich werde ich sie alle waschen lassen müssen. So ein Mistloch! Hier bleibst du keinen Tag länger, so wahr mir Gott helfe.»

«Aber wo soll ich denn hin?» Entgeistert versuchte Merle, ihre Tante bei der Suche nach Kleidungsstücken zu unterstützen.

«Das lass mal meine Sorge sein.» Appollonia nickte mit grimmiger Miene, als Wardo den Kopf zur Tür hereinstreckte. «Ist der Wagen schon bereit?»

Wardo bestätigte dies, woraufhin Appollonia weitere Anweisungen gab. Mit strengem Blick, die Hände in die Hüften gestemmt, überwachte sie, wie Wardo und Symon den Karren mit den Decken von Merles Lager polsterten.

Als Merle schließlich mit einem Kleiderbündel aus der Hütte trat, stieß sie einen Schrei aus und krümmte sich zusammen. Sogleich stützte Appollonia sie und redete ruhig und besonnen auf sie ein. «Atmen, Merle, atmen. Ganz gleichmäßig ein und wieder aus. Alles wird gut. Alles wird gut. Sag das in deinem Geiste immer wieder auf: Ein. Alles wird gut. Aus. Alles wird gut. Siehst du, schon lässt der Schmerz nach.» Sie wandte sich an Aleydis. «Wie viele waren das?»

«Achtzehn.»

Die Hebamme nickte. «Wie ich mir dachte, das wird noch ein Weilchen dauern. Gut für uns, dann sind wir nicht allzu sehr in Eile.» Endlich saß Merle sicher auf dem Karren, und Appollonia bestimmte: «Nun bringen wir dich in die Glockengasse.»

Kapitel 2

«Nein, also was muss ich da hören?», rief Alba van Cleve statt einer Begrüßung, umarmte ihre Tochter Brunhild und küsste sie auf beide Wangen. «Ist es wahr, was man auf der Straße hört? Haben die Beginen in der Glockengasse wirklich dieses unglückselige Weibsbild bei sich aufgenommen?»

«Liebe Zeit, Alba, lass das Mädchen doch erst einmal hereinkommen, bevor du sie mit deiner Neugier überfällst.» Vinzenz van Cleve, der es sich mit einem Krug Würzwein hinter einem Stapel Urkunden an seinem Schreibpult bequem gemacht hatte, erhob sich seufzend und trat durch die Tür, die seine Schreibstube mit der Münzwechselstube verband. «Und schließt gefälligst die Haustür, damit der Wind nicht den Regen hereintreibt.»

Alba schloss pflichtschuldig die Tür, achtete aber nicht weiter auf ihren Bruder, sondern redete weiter auf ihre Tochter ein: «Nun sag schon, Brunhild, ist es wahr, was sich inzwischen halb Köln erzählt?»

Vinzenz hustete empört. «Halb Köln? Übertreibst du da nicht ein bisschen?»

«Nein, gar nicht.» Alba lächelte ihm liebenswürdig zu. «Ich habe es von Jonata Hirzelin höchstpersönlich bei meinem Besuch in St. Aposteln erfahren, und sie muss es ja wissen, denn in ihrem Beginenhof hat das Weib Unterschlupf gefunden. Aber als ich vorhin dann auf dem Rückweg unseren schönen Neumarkt überquert habe, war es dort schon in aller Munde. Mindestens drei oder sogar vier Leute haben mich darauf angesprochen.»

«Das ist wahrlich ein Indiz für die Verbreitung über die gesamte Kölner Stadtbevölkerung.» Tadelnd schüttelte Vinzenz den Kopf. «Und selbst wenn – was ist so interessant an der Tatsache, dass die Beginen einer Schwangeren helfen? Insbesondere wenn sie eine Wehmutter unter den Ihren haben.»

Vorwurfsvoll blickte Alba ihn an. «So kann auch nur ein Mann reden. Selbstverständlich ist es unerhört, wenn so etwas passiert, wenn es sich bei besagter Schwangerer um diese Merle handelt, die mit Golattis Mörder unter einem Dach gelebt hat. Von seinem missratenen, brandstiftenden Sohn ganz zu schweigen.» Wieder wandte sie sich ihrer Tochter zu. «Nun erzähl schon, wie ist es dazu gekommen?»

Brunhild nickte mit geröteten Wangen. «Es stimmt wirklich, Mutter.» Aufgeregt und mit vielen blumigen Worten erzählte sie, was sich am Tag zuvor zugetragen hatte, und schloss mit dem Satz: «Frau Aleydis hat Mutter Appollonia noch bezahlen wollen, heute Morgen ganz früh, weil die Geburt ja dann endlich überstanden war und Mutter und Kind wohlauf sind, aber die Wehmutter wollte nichts davon wissen.»

«Ist sie wirklich Merles Tante?»

Vinzenz schnaubte. «Alba, das ist doch wohl inzwischen erwiesen. Oder glaubst du Frau Jonatas Worten etwa nicht? Sie hat dir doch längst alles lang und breit berichtet.»

«Natürlich glaube ich ihr.» Alba hakte sich bei ihrer Tochter unter und führte sie hinüber in die Stube. «Dennoch kommt es mir so unwirklich vor. Ein seltsamer Zufall, oder etwa nicht?»

Da er sich von seinem ruhigen Nachmittag wohl verabschieden konnte, folgte Vinzenz den beiden und setzte sich zu ihnen an den Tisch. «Es ist ein Zufall, nicht mehr und nicht weniger.»

«Hoffentlich spricht sich das nicht herum.» Eine gewisse Besorgnis lag in Albas Stimme. «Das würde Mutter Appollonia ganz bestimmt nicht guttun. So viele reiche Bürgerhäuser, in denen sie ihre Dienste verrichtet. Wenn sich herumspricht, dass diese Wehmutter einst eine Unehrliche gewesen ist, wird niemand sie mehr beschäftigen wollen.»

«Dann halt tunlichst den Schnabel und sprich über etwas anderes.» Vielsagend musterte Vinzenz seine Schwester und schwenkte kurz den Weinkrug, der auf dem Tisch stand, bevor er den beiden Frauen und sich etwas davon einschenkte. Dann wandte er sich seiner Nichte zu: «Ich hoffe, du hast noch erbaulichere Geschichten mitgebracht als diesen lästigen Stadtklatsch.»

«Aber ja, Onkel Vinzenz.» Brunhild lächelte ihn strahlend an, und prompt weitete sich sein Herz ein wenig. Er gab es nicht gerne zu, aber seine Nichte war eines der wenigen weiblichen Wesen, mit denen er liebend gerne Zeit verbrachte. Und das, obwohl sie in Jungmädchenmanier stets viele Flausen im Kopf hatte und oftmals zu weit über dem harten Boden der Tatsachen und mit dem Kopf in den Wolken schwebte. Doch er konnte ihr einfach nicht böse sein. Von dem Moment an, da er sie zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, ganz kurz nach ihrer Geburt, hatte sie ihm das Herz gestohlen. Möglicherweise lag das daran, dass er keine eigenen Kinder hatte. Die kurze Ehe mit Annelin war unfruchtbar geblieben, und alles, was in jener Zeit geschehen war – und zu ihrem Tod geführt hatte –, war nicht dazu angetan, dass er an seinem ehe- wie kinderlosen Zustand etwas zu ändern gedachte. Was schadete es also, seine Nichte gernzuhaben und ein wenig zu verwöhnen? Natürlich nur ganz unauffällig, denn er wollte sich nicht nachsagen lassen, dass er ein zu weiches Herz hätte. Es entsprach einfach nicht seinem Wesen, und immer dann, wenn er sein Herz doch einmal geöffnet hatte, war er hinterher schwer dafür gestraft worden. Also war er vorsichtig geworden. Doch bei Brunhild war Vorsicht nicht angebracht. Umsicht ganz sicher, weil er das Bedürfnis verspürte, sie wie ein Kleinod zu beschützen, und sie dabei womöglich doch zu sehr verwöhnte, doch dass sie ihm jemals ein Herzeleid zufügen würde, bezweifelte er.

«Ells hat uns gestern Kapaune in Pastetenteig mit einer furchtbar leckeren Kräutersoße zubereitet. Die Kräuter hatte sie noch vom vergangenen Sommer getrocknet.» Brunhild verdrehte verzückt die Augen. «Dazu gab es kleine süße Wecken, den Teig hat sie schon am Vortag angesetzt, und Wurzelgemüse und Pfannkuchen mit einer Füllung aus Nüssen, Honig und Zimt. Und eine süße Creme mit Äpfeln drin und ebenfalls Zimt und gefärbt mit echtem Safran!»

Vinzenz runzelte die Stirn. «Ganz schön opulent, selbst für Ostern.» Natürlich war ihm bewusst, dass Aleydis sich die teuren Gewürze leisten konnte. Tatsächlich schauderte ihn gar manchmal, wenn er daran dachte, wie wohlhabend sie war. So wohlhabend, dass sie inzwischen auf Schritt und Tritt von bewaffneten Knechten begleitet wurde. Zu wohlhabend, wenn man ihn fragte. Zwar konnte sie nichts dafür, dass Nicolai Golatti sie zur Haupterbin seines geradezu grotesk riesigen Vermögens eingesetzt hatte, doch das änderte nichts daran, dass sie es nun zu verwalten hatte. Das Vermögen ebenso wie jene kaum greifbare Schattenwelt, deren Ausläufer sie hier und da bereits gestreift hatten. Sie lebte in ständiger Gefahr, doch glücklicherweise schien sich die Lage seit dem vergangenen November beruhigt zu haben. Zumindest war ihm seit dem Mord an Hardwin nichts Auffälliges mehr zu Ohren gekommen, was mit der Witwe Golatti zu tun hatte. Inzwischen hatte sie wieder den Namen ihres Vaters – de Bruinker – angenommen, um sich von den Untaten ihres Gemahls zu distanzieren. Ein kluger Schachzug, der dazu geführt hatte, dass die meisten Lästermäuler Ruhe gaben und sie unbehelligt ihre Wechselstube führen ließen.

Im Grunde hätte Aleydis ihrer Lebtage keinen Finger mehr krummzumachen brauchen, sondern allein von den Zinsen, die ihr Erbe abwarf, ein bequemes Leben führen können. Dass sie das nicht tat, sondern sich aufrichtig Mühe gab, die Wechselstube zu leiten und sogar ihren beiden Mündeln Ursel und Marlein dieses Gewerbe in einer Lehre nahezubringen, rang ihm Respekt ab. Sie war die Tochter eines Tuchhändlers, der ihr gestattet hatte, bis zu ihrer Hochzeit in seinem Geschäft mitzuarbeiten. Gänzlich unbedarft war sie also nicht, und wie man hörte, hatte Nicolai ihr schon sehr bald nach der Hochzeit gestattet, einen Teil seiner Bücher zu führen, und ihr wohl auch einiges über den Münzwechsel beigebracht. Andernfalls hätte die Zunft ihr kaum erlaubt, Lehrmädchen zu beschäftigen, geschweige denn unter ihrem eigenen Siegel das Gewerbe weiterzuführen.

Wie stets, wenn er bemerkte, dass er sich in Bewunderung einer ihrer Eigenschaften erging, suchte er rasch nach etwas, das ihn davon abhielt. «Zimt ist schon verflixt teuer. Aber Safran? Wen will sie denn damit beeindrucken?» Er gab seiner Stimme absichtlich einen ruppigen Ton.

Verwundert blickte Brunhild ihn an. «Niemanden. Es war doch außer uns nur Herr Alessandro da. Der ist schon am Karfreitag von Frankfurt herübergekommen, um mit uns Ostern zu feiern.»

«Ach was, tatsächlich?» Alba hob den Kopf. «Davon hat Aleydis mir bei unserem letzten Treffen gar nichts erzählt.»

«Es war eine Überraschung.» Brunhild erhob sich und huschte zur Tür, neben der sie einen großen Weidenkorb abgestellt hatte. «Er hat uns allen Geschenke mitgebracht. Schau her, Mutter. Er sagt, diese Anhänger seien sehr passend für Frauen aus einer Familie von Münzwechslern.» Sie zog ein Kästchen aus Kirschholz hervor und lüpfte den Deckel. «Siehst du, das sind Münzen aus Frankfurt, die schon so alt sind, dass man gar nicht mehr weiß, wer sie geprägt hat. Das muss schon Hunderte Jahre her sein. Herr Alessandro sagt, er habe sie auf einem Feld gefunden, als er noch ein Junge war. Da gab es wohl viele davon, die man entdecken konnte, nachdem die Bauern gepflügt hatten. An diese hier hat er Ösen anbringen lassen, damit man sie an einer Kette um den Hals tragen kann. Aleydis hat eine bekommen und ich auch. Diese hier.» Sie hielt eine der beiden Münzen ins Licht. «Und Ursel und Marlein hat er auch je eine geschenkt.»

«Tatsächlich.» Albas Blick war an der zweiten Münze hängengeblieben. «Wie überaus aufmerksam.»

«Und diese hier …» Brunhild nahm die zweite Münze in die Hand. «… soll ich dir geben. Er sagte, du wüsstest schon warum.»

«Oh.» Albas Wangen färbten sich leicht rosa.

Ein Anblick, der so gänzlich neu für Vinzenz war, dass er fast schon empört hüstelte. «Oh?», wiederholte er mit erhobenen Brauen. Mit einer raschen Bewegung nahm er Brunhild den Münzanhänger aus der Hand und betrachtete ihn eingehend. «Möchtest du uns erhellen, Alba, weshalb er auch dich mit einem dieser Flitterdinger zu beschenken gedachte?»

«Das ist … nun ja.» Ebenso flink wie zuvor er nahm seine Schwester ihm den Anhänger wieder ab. «Auf dem Zunftbankett zu Weihnachten, du weißt schon, da habe ich ihm erzählt, dass ich als Mädchen solch eine Münze besaß, aber eine aus Köln, die wohl auf die Zeit zurückging, in der die Römer ihre heidnischen Tempel hier erbaut haben. Du weißt doch, dass sie mir abhandengekommen ist, kurz nachdem ich geheiratet hatte.»

«Du meinst, dass Siegfried sie dir vermutlich gestohlen und versetzt hat, so wie das meiste deiner Mitgift.» Auf Albas verstorbenen Gatten war niemand in der Familie gut zu sprechen. Ihr Vater hatte ihn für Alba ausgesucht, und sie hatte sich in ihrem jugendlichen Leichtsinn auch prompt in ihn verliebt. Leider hatte sich herausgestellt, dass er ein Blender gewesen war, der noch dazu sein eigenes ererbtes Vermögen sowie die Mitgift seiner Frau verhurt und in dubiosen Geldgeschäften durchgebracht hatte. Dass er Alba darüber hinaus alles andere als gut behandelt hatte, war mehr als einmal Grund für Vinzenz gewesen, sich mit ihm anzulegen – leider ohne viel Erfolg. Am Ende waren alle mehr oder weniger erleichtert gewesen, als Siegfried während einer Reise nach Amsterdam einfach tot vom Pferd gekippt war. Woran genau er gestorben war, hatte der herbeigeholte Medicus nicht mit Sicherheit feststellen können. Vermutlich hatte ihn, der über die Jahre zunehmend Wein und üppigem Essen im Übermaß zugesprochen und inzwischen eine entsprechende Leibesfülle aufgewiesen hatte, schlicht und ergreifend der Schlag getroffen. Alba war mit drei Kindern zurückgeblieben, von denen Brunhild die Älteste war. Der fünfzehnjährige Gregor besuchte bereits seit Jahren eine Klosterschule und würde sich bald entscheiden müssen, ob er eine geistliche Laufbahn einschlagen wollte oder ein weltliches Studium an den großen Universitäten in Paris, Prag und natürlich auch hier in Köln vorzog. Der inzwischen dreizehnjährige Wernher war bei einem befreundeten Münzmeister in der Lehre.

Alba zuckte auf Vinzenz’ Bemerkung hin nur die Schultern und betrachtete die Münze von allen Seiten. «Wirklich sehr aufmerksam von Herrn Alessandro.» Energisch drückte sie den Anhänger Brunhild in die Hand. «Aber ich kann das nicht annehmen.»

Erstaunt runzelte ihre Tochter die Stirn. «Aber warum denn nicht? Ich bin sicher, er wollte dir damit eine Freude machen.»

«Ja, nun, vermutlich wollte er das.» Die rosige Farbe auf Albas Wangen vertiefte sich noch eine Spur. «Aber es wäre unschicklich, von einem … von … Also dies hier anzunehmen, wäre falsch.»

In Vinzenz regte sich Argwohn. «Hast du den Eindruck, er wollte damit», er deutete auf den Anhänger, «eine Botschaft senden?»

Erstaunt hob Brunhild den Kopf. «Was denn für eine Botschaft? Und warum sollte sie unschicklich sein?» Ihre Augen wurden groß. «Mutter, glaubst du, er will um dich werben?»

«Nein.» Albas Antwort kam schnell. Vielleicht eine Spur zu schnell. «Nein, natürlich nicht. Aber wenn ich dieses Geschenk annähme, würde es womöglich so aussehen, und das wiederum wäre höchst unschicklich.»

«Aber … Herr Alessandro ist so nett und stets freundlich und klug und … Wenn er, also vielleicht …»

«Nein, Kind, Schluss damit.» Energisch schüttelte Alba den Kopf. «Gib ihm die Münze zurück und sag ihm danke, aber nein danke.»

«Aber …»

«Ich will nichts mehr davon hören. Erzähl mir lieber, wie es Aleydis geht», fuhr Alba unbeirrt fort. «Kommen Ursel und Marlein mit ihren Handarbeiten gut voran?»

«Ich weiß nicht.» Ratlos blickte Brunhild ihre Mutter an und beschloss dann offenbar, dass es besser wäre, das Gebot, über die Münze zu schweigen, zu befolgen. «Ursel vielleicht, aber Marlein hat wirklich kein Talent, so sehr sie sich auch anstrengen mag. Aber du kannst sie doch selbst fragen, wenn du am Mittwoch zu uns kommst.»

«Ja, also … Diesen Mittwoch kann ich nicht kommen.» Alba räusperte sich umständlich. «Ich habe anderes zu tun.»

«Was denn anderes?» Verwundert musterte Brunhild sie.

«Ja, was denn anderes?», konnte Vinzenz sich nicht verkneifen zu sticheln. Das Verhalten seiner Schwester war allzu merkwürdig.

«Ich muss …» Sie wich seinem Blick aus. «Ich habe Mutter versprochen, sie zu besuchen.»

«Ach.» Er wollte gerade erwähnen, dass sie ihre Eltern zumeist freitags besuchte, doch sie sprach bereits weiter.

«Ja, sie … wir … Es ist wichtig.» Alba faltete die Hände auf dem Tisch und blickte ihn mit vollkommen gleichmütiger Miene an. «Lass gut sein, Vinzenz.» Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt, als sie sich wieder an Brunhild wandte. «Ich hoffe, Pater Ecarius hat gestern erbaulich gepredigt? Vater Anselm hat die Messe in St. Aposteln wieder überaus feierlich gestaltet und sehr schön über die Güte und das ewige Leben nach dem Tod erzählt. Höchst anschaulich, das muss ich schon sagen.»

Vinzenz wollte noch etwas hinzufügen, unterließ es dann aber und hörte den beiden Frauen zu, wie sie sich über die beiden Ostermessen unterhielten und die Predigten der Gemeindepfarrer miteinander verglichen. Dabei überlegte er, ob es sich lohnen würde, Brunhild später noch nach Hause zu begleiten. Die Mahnung seiner Schwester war zwar so knapp wie eindeutig gewesen, und normalerweise respektierte er ihren Wunsch, dass er sich aus ihren Angelegenheiten herauszuhalten habe. Doch in diesem Fall würde es ihm schwerfallen. Vinzenz liebte seine ältere Schwester von Herzen. Und wenn etwas – oder jemand – sie erröten ließ, dann wollte er verdammt noch mal wissen, was da vor sich ging.

***

«Hier, bitte sehr, Euer Wechsel.» Aleydis übergab Meister Hellrich, einem Zimmermann, die Wechselurkunde, die einer seiner Kunden in der vergangenen Woche bei ihr hinterlegt hatte, bevor er mit seiner Familie zu einem Osterbesuch außerhalb Kölns aufgebrochen war. «Oder möchtet Ihr, dass wir Euch das Geld in barer Münze auszahlen?»

«Nein, Frau Aleydis, ich habe die Urkunde bereits meinem Holzlieferanten versprochen. Soll er sie einlösen. Es handelt sich um Jan Overstolz. Ich bin nur hier, um ihm den Wechsel umzuwidmen.»

«Wie ihr wollt.» Aleydis legte die Urkunde vor Matteo auf den langen Tisch, an dem sie ihre Wechselgeschäfte betrieben. «Setz bitte Meister Hellrichs Anweisungen gemäß den neuen Empfängernamen ein.»

«Ja, sofort.» Matteo schob die Silberwaage ein wenig zur Seite, mit der er gerade Münzwerte ermittelte, und zog Tintenfass und Feder heran.

«Und ihr beide», wandte Aleydis sich an Ursel und Marlein, die gerade dabei waren, die Ecken der Wechselstube zu kehren, «holt die weichen Tücher und kümmert euch darum, dass die Waagen ordentlich poliert werden.»

Die Mädchen atmeten hörbar auf und eilten hinaus. Reinigungsarbeiten mochten sie nicht allzu gerne. Da war ihnen das Polieren der Waagen allemal lieber als schnödes Kehren von Fußböden. Denn beim Polieren konnten sie Aleydis und Matteo viel besser zusehen, wenn Kundschaft bedient wurde. Aleydis verstand die beiden nur zu gut. Als sie so alt wie die Mädchen gewesen war, hatte sie auch lieber ihrem Vater in dessen Kontor zugesehen, als langweilige Hausarbeiten zu verrichten.

Nachdem die Urkunde umgewidmet war, verabschiedete der Zimmermann sich und machte sich auf den Heimweg. Aleydis trat an die Tür und warf einen Blick auf den regen Betrieb von Kaufleuten, Handwerkern, Knechten und Mägden, die die Glockengasse bevölkerten. Gegenüber bei ihrem Nachbarn, dem Weinhändler Jan Starkenberg, wurde gerade ein Fuhrwerk mit Fässern beladen. Ein Haus weiter schepperten schon seit geraumer Weile Dachziegel zu Boden, weil der dortige Nachbar sein Haus neu eindecken lassen wollte. Eine Horde kleine Jungen im Alter von etwa sieben bis elf Jahren – unter ihnen auch der Lentz, ein blonder Frechdachs und Bruder von Aleydis’ Magd Gerlin – tollte zwischen den Leuten umher und jagte mit Stöcken einem ledernen Ball nach. Jauchzen und Gelächter ebenso wie für Kinderzungen schon beeindruckend unflätige Flüche flogen zwischen ihnen hin und her. Als Aleydis sich umdrehte, bemerkte sie, dass Ursel an ihr vorbei ebenfalls zur Tür hinausblickte, einen sehnsüchtigen Ausdruck auf dem Gesicht. Vermutlich wäre sie noch viel lieber als hier in der Münzwechselstube draußen bei den Buben.

«Ursel, Kind», mahnte Aleydis sie und trat neben das Mädchen an den Wechseltisch. «Nicht träumen, sondern arbeiten. Und wag es nicht, dir auch nur einen dieser schmutzigen Ausdrücke anzueignen. Ich glaube, ich muss einmal ein ernstes Wörtchen mit Lentz reden. Oder mit Gerlin, denn die ist seine ältere Schwester und hat vielleicht etwas mehr Einfluss auf den kleinen Tunichtgut.» Sie überlegte bereits, ob sie ihre junge Magd gleich herbeirufen sollte, doch die schweren Schritte eines Mannes, der die Wechselstube betrat, lenkten sie ab. Rasch drehte sie sich um … und erstarrte für einen kurzen Moment.

«Schönen Tag auch», grüßte der etwas beleibte Mann im Zunftmantel der Sarwürker sie und entblößte beim Lächeln einen fehlenden Eckzahn. «Bin ich hier richtig in Golattis Wechselstube?»

«Ja.» Aleydis schluckte den Ärger, der in ihr aufstieg, hinunter. «Golatti ist mein verstorbener Gemahl, der Herr hab ihn selig. Ich führe die Wechselstube als Aleydis de Bruinker weiter. Wie kann ich Euch helfen?»

«Ach?» Aus dem Lächeln wurde eine leicht irritierte Miene, dann ein Grinsen, als er sie wiedererkannte. «Ja, so was aber auch. Ihr seid das.»

Mit finsterer Miene stemmte Aleydis die Hände in die Seiten. «Ja, ich bin das. Seid Ihr hergekommen, um Euch zu entschuldigen?»

«Wofür?» Einen Moment lang schien der Mann verwirrt, dann lachte er. «Ach was, das war doch nur ein kleiner Spaß. Nicht wahr?»

«Ich würde es eher als unbotmäßiges Verhalten bezeichnen.»

Er grinste wieder. «Bisschen empfindlich, wie? Na, was soll’s. Ich bin bloß hier, weil Henns Halfemann, Ihr wisst schon, der Gerichtsschreiber, mir einen Wechsel ausgestellt hat, den ich hier einlösen soll. Mein Name ist Andres Hemmelrich.» Er zog unter seinem Mantel eine zerknitterte Wechselurkunde hervor und reichte sie ihr.

Aleydis las den Text und schauderte unwillkürlich. Mit Halfemann hatte Nicolai häufig Geschäfte gemacht und wohl auch immer wieder Geld für ihn eingelagert. Woher dieses stammte, war den Aufzeichnungen ihres Gemahls nicht zu entnehmen, weshalb sie vermutete, dass sie etwas mit Nicolais Schattenwelt zu tun hatten. Vielleicht handelte es sich um Bestechungsgelder, vielleicht auch um andere fragwürdige Transaktionen.

«Golattis Name steht auf dem Wechsel. Ich hoffe doch, dass er trotzdem noch gültig ist.» Lauernd blickte der Sarwürker sie an.

Aleydis nickte rasch. «Selbstverständlich. Wartet bitte einen Moment. Ich muss nur kurz eine Eintragung in meine Bücher machen, dann zahle ich Euch den Betrag abzüglich der vereinbarten Gebühr aus.» Mit großen Schritten floh sie in ihre Schreibstube und schloss die Tür hinter sich.

Symon, der neben der Tür gestanden hatte, öffnete sie und streckte den Kopf herein. «Ist alles in Ordnung, Herrin?» Seine ohnehin seltsam kindlich helle Stimme kiekste etwas vor Besorgnis. «Was war das mit dem unbotmäßigen Verhalten? Hat der Mann Euch belästigt?»

«Ja.» Aleydis hob, noch während sie sprach, beschwichtigend die Hand. «Nichts Wildes, Symon. Aber behalt ihn bitte im Auge.»

Der massige Knecht nickte pflichtschuldig. «Wenn ich ihm eine Abreibung verpassen soll, sagt Ihr Bescheid.»

Beinahe hätte Aleydis gelacht. Symon war eine treue Seele und hing mit Verehrung an ihr. Sie mochte ihn gern, doch sie täuschte sich auch nicht darüber hinweg, dass er seine Worte vollkommen ernst gemeint hatte. Für Nicolai hatte der bullige Eunuch nicht nur als Wachknecht gearbeitet, sondern auch als Eintreiber für Schulden – und das nicht selten mittels Anwendung von körperlicher Gewalt. Aleydis ahnte, dass dies dem sanftmütigen Riesen nicht leichtgefallen sein musste, doch an Nicolai hatte er mit tiefer Liebe gehangen, weil dieser ihn als Kind von einem brutalen Dienstherren gerettet hatte, der wohl auch dafür verantwortlich gewesen war, dass Symon ein Eunuch war. Aleydis hoffte jeden Tag bei Gott, dass sie Symon zukünftig ersparen konnte, sich erneut als brutaler Eintreiber von Verbindlichkeiten betätigen zu müssen. Zu ihrem Verdruss hatte Vinzenz van Cleve ihr in Aussicht gestellt, dass sie vielleicht keine andere Wahl haben würde, falls der eine oder andere von Nicolais heimlichen Kreditkunden säumig würde. Das Problem war allerdings, dass sie nach wie vor keinen vollständigen Überblick über die Schattengeschäfte ihres Mannes hatte. Einiges hatte sie sich in den vergangenen Monaten zusammenreimen können, doch nach wie vor tauchten alle paar Wochen irgendwelche Boten bei ihr auf, die ihr Geldbeträge aushändigten, manchmal zusammen mit mehr oder weniger verschlüsselten Botschaften, die Aleydis keinem der ihr bisher bekannten Schuldner zuordnen konnte.