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Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt: Teil I und Teil II Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik, gibt einen Überblick über die Entstehung des abendländischen Denkens. Ausgehend vom mythischen Bewusstsein der vorsokratischen Antike über die Epoche des Christentums bis hin zum Aufbruch in der Neuzeit und einer Hinwendung zur Natur, den markanten Umbrüchen Ende des 18. Jahrhunderts und den weltanschaulichen Diskrepanzen im 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert findet eine Rückbesinnung zum Geistigen statt und somit eine Rückkehr zum Ursprung.
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Seitenzahl: 774
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LUNATA
Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt
© 1914 by Rudolf Steiner
Umschlagbild: Wandtafelzeichnung von Rudolf Steiner
© Lunata Berlin 2020
Erster Band
Vorrede zur Neuauflage 1924
Vorrede zur Neuauflage 1918
Vorrede 1914
Zur Orientierung über die Leitlinien der Darstellung
Die Weltanschauung der griechischen Denker
Das Gedankenleben vom Beginn der christlichen Zeitrechnung bis zu Johannes Scotus oder Erigena
Die Weltanschauungen im Mittelalter
Die Weltanschauung des jüngsten Zeitalters der Gedankenentwicklung
Das Zeitalter Kants und Goethes
Die Klassiker der Welt- und Lebensanschauung
Reaktionäre Weltanschauungen
Die radikalen Weltanschauungen
Zweiter Band
Einleitende Bemerkungen zur Neuauflage 1914
Der Kampf um den Geist
Darwinismus und Weltanschauung
Die Welt als Illusion
Nachklänge der Kantschen Vorstellungsart
Weltanschauungen der wissenschaftlichen Tatsächlichkeit
Moderne idealistische Weltanschauungen
Der moderne Mensch und seine Weltanschauung
Skizzenhaft dargestellter Ausblick auf eine Anthroposophie
Über den Autor
Als ich 1914 mein Buch »Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert« beim Erscheinen der zweiten Auflage zu dem hier vorliegenden erweiterte, wollte ich zeigen, was von den geschichtlich aufgetretenen Weltanschauungen sich für den heutigen Beobachter so darstellt, dass dessen eigenes Empfinden beim Auftauchen der philosophischen Rätsel im Bewusstsein sich vertiefen kann an dem Empfinden, das die in der Zeitenfolge auftauchenden Denker über diese Rätsel gehabt haben. Eine solche Vertiefung hat für den philosophisch Ringenden etwas Befriedigendes. Was seine eigene Seele erstrebt, gewinnt an Kraft dadurch, dass er sieht, wie sich in Menschen, denen das Leben Gesichtspunkte angewiesen hat, die dem seinigen nahe oder fern liegen, dieses Streben gestaltet hat. In solcher Art wollte ich mit dem Buche denen dienen, die eine Darstellung des Werdens der Philosophie brauchen als Ergänzung der eigenen Gedankenwege.
Nach einer solchen Ergänzung wird derjenige verlangen, der sich auf dem eigenen Gedankenwege eins fühlen möchte mit der Geistesarbeit der Menschheit. Der sehen möchte, dass seine Gedankenarbeit ihre Wurzel in einem ganz allgemeinen menschlichen Seelenbedürfnis hat. Er kann das sehen, wenn das Wesentliche der geschichtlichen Weltanschauungen vor seinem Blicke aufsteigt.
Doch hat für viele Betrachter ein solches Aufsteigen etwas Beklemmendes. Es drängt ihnen Zweifel in die Seele. Sie sehen, wie die aufeinander folgenden Denker im Widerspruch mit vorangehenden oder nachfolgenden stehen. Ich wollte so darstellen, dass dieses Beklemmende durch ein anderes ausgelöscht wird. Man betrachtet zwei Denker. Für den ersten Blick fällt der Widerspruch, in dem sie stehen, peinlich auf. Man tritt ihren Gedanken näher. Man findet, dass der eine die Aufmerksamkeit auf ein ganz anderes Gebiet der Welt lenkt als der andere. Angenommen, der eine habe in sich die Seelenstimmung ausgebildet, die die Aufmerksamkeit auf die Art lenkt, wie Gedanken im inneren Weben der Seele sich entfalten. Für ihn wird es zum Rätsel, dass dieses innere Seelengeschehen im Erkennen entscheidend über das Wesen der Außenwelt werden soll. Dieser Ausgangspunkt gibt seinem ganzen Denken die Färbung. Er wird in kraftvoller Art von dem schöpferischen Gedankenwesen sprechen.
Das wird alles, was er sagt, in idealistischer Art färben. Ein anderer lenkt den Blick auf das äußere sinnenfällige Geschehen. Die Gedanken, durch die er dieses Geschehen erkennend erfasst, treten gar nicht in ihrer selbständigen Kraft in sein Bewusstsein. Er wird den Weltenrätseln eine Wendung geben, die sie in den Bereich führt, in dem die Weltgrundlage selbst ein an die Sinneswelt erinnerndes Aussehen hat.
Man kann, wenn man mit Voraussetzungen an das geschichtliche Werden der Weltanschauungen herangeht, die sich aus einer solchen Gedankenorientierung ergeben, über das Vernichtende, das diese Weltanschauungen füreinander zeigen, sich erheben und ein sich gegenseitig Tragendes in ihnen erblicken.
Hegel und Haeckel, nebeneinander betrachtet, stellen zunächst den vollkommensten Widerspruch dar. Vertieft man sich in Hegel, so kann man mit ihm den Weg gehen, der einem ganz in Gedanken lebenden Menschen vorgezeichnet ist. Er fühlt den Gedanken wie etwas, das ihm das eigene Wesen zu einem wirklichen macht. Sieht er sich der Natur gegenüber, so fragt er sich, welches Verhältnis hat sie zur Gedankenwelt? Man wird mitgehen können, wenn man das relativ Berechtigte und Fruchtbare einer solchen Seelenstimmung empfindet. Vertieft man sich in Haeckel, so kann man wieder ein Stück des Weges mit ihm gehen. Er kann nur sehen, wie das Sinnenfällige ist und sich wandelt. In diesem Sein und Sich-Wandeln fühlt er, was ihm Wirklichkeit sein kann. Er ist nur befriedigt, wenn er den ganzen Menschen bis herauf zur Denktätigkeit in dieses Sein und Sich-Wandeln einreihen kann. Mag nun Haeckel in Hegel einen Menschen sehen, der luftig-wesenlose Begriffe ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit spinnt; möchte Hegel, wenn er Haeckel erlebt hätte, in ihm eine Persönlichkeit gesehen haben, die gegenüber dem wahren Sein mit Blindheit geschlagen ist: wer sich in bei der Denkungsart vertiefen kann, wird bei Hegel die Möglichkeit finden, die Kraft des eigentätigen Denkens zu stärken, bei Haeckel die andere, zwischen entfernten Bildungen der Natur Beziehungen gewahrzuwerden, die bedeutungsvolle Fragen an das menschliche Denken stellen. So nebeneinander gestellt können Hegel und Haeckel, nicht aneinander gemessen, nicht in beklemmende Zweifel führen, sondern erkennen lassen, aus wie verschiedenen Ecken her das Leben sprießt und sprosst.
Aus solchen Untergründen heraus ist die Haltung meiner Darstellung geworden. Ich wollte die Widersprüche in der Entwicklungsgeschichte der Weltanschauungen nicht verdunkeln; aber ich wollte auch in dem Widersprechenden das Geltende aufzeigen.
Dass ich Hegel und Haeckel in diesem Buche so behandle, dass bei beiden das hervortritt, was positiv und nicht negativ wirkt, kann mir nach meiner Ansicht nur derjenige als eine Verirrung vorwerfen, der die Fruchtbarkeit einer solchen Behandlung des Positiven nicht einzusehen vermag.
Nun nur noch einige Worte über etwas, das sich zwar nicht auf das in dem Buche Dargestellte bezieht, das aber doch mit ihm zusammenhängt. Es ist dies Buch eine derjenigen meiner Arbeiten, die von Persönlichkeiten, welche in dem Fortgang meiner eigenen Weltanschauungsentwicklung Widersprüche finden wollen, als Beispiel angeführt wird. Obwohl ich weiß, dass diesen Vorwürfen zumeist etwas ganz anderes zugrunde liegt als das Suchen nach Wahrheit, so will ich doch weniges über sie sagen. Es wird behauptet, es sehe das Kapitel über Haeckel in diesem Buche so aus, als ob es ein orthodoxer Haeckelianer geschrieben hätte. Nun, wer das in demselben Buche über Hegel Gesagte liest, wird es zwar schwer haben, seine Behauptung aufrechtzuhalten. Aber es sieht, obenhin betrachtet, so aus, als ob ein Mensch, der so über Haeckel geschrieben hat wie ich in diesem Buche, später eine völlige Geisteswandlung durchgemacht haben müsste, wenn er dann Bücher veröffentlicht wie »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten«, »Geheimwissenschaft« usw.
Diese Sache wird aber nur richtig angesehen, wenn man bedenkt, dass die scheinbar den früheren widersprechenden späteren Werke aus einer geistigen Anschauung der geistigen Welt hervorgegangen sind. Wer eine solche Anschauung haben oder sich bewahren will, der muss die Fähigkeit entwickeln, sich in alles Betrachtete ganz objektiv, mit Unterdrückung der eigenen Sympathien und Antipathien, versetzen zu können. Er muss wirklich, wenn er die Haeckelsche Denkungsart darstellt, in dieser aufgehen können. Gerade aus diesem Aufgehen in anderes schöpft er die Fähigkeit der geistigen Anschauung. Die Art meiner Darstellung der einzelnen Weltanschauungen hat ihre Ursachen in meiner Orientierung nach einer geistigen Anschauung hin. Wer über den Geist nur theoretisieren will, der braucht nie in die materialistische Denkungsart sich versetzt zu haben. Er kann sich damit begnügen, alle berechtigten Gründe gegen den Materialismus vorzubringen und seine Darstellung dieser Denkungsart so zu halten, dass diese ihre unberechtigten Seiten enthüllt. Wer geistige Anschauung betätigen will, kann das nicht. Er muss mit dem Idealisten idealistisch, mit dem Materialisten materialistisch denken können.
Denn nur dadurch wird in ihm die Seelenfähigkeit rege, die sich in der geistigen Anschauung betätigen kann.
Nun könnte man noch sagen: durch eine solche Behandlungsart verliere der Inhalt eines Buches seine Einheitlichkeit. Es ist dies nicht meine Ansicht. Man stellt historisch um so treuer dar, je mehr man die Erscheinungen selbst sprechen lässt. Den Materialismus bekämpfen oder zum Zerrbild machen, kann nicht die Aufgabe einer geschichtlichen Darstellung sein. Denn er hat seine eingeschränkte Berechtigung. Man ist nicht auf falscher Fährte, wenn man die materiell bedingten Vorgänge der Welt materialistisch darstellt; man gelangt erst dahin, wenn man nicht zur Einsicht gelangt, dass die Verfolgung der materiellen Zusammenhänge zuletzt zur Anschauung des Geistes führt. Behaupten, das Gehirn sei nicht Bedingung des auf Sinnenfälliges sich beziehen den Denkens, ist eine Verirrung; eine weitere Verirrung ist, dass der Geist nicht der Schöpfer des Gehirns sei, durch das er in der physischen Welt sich in Gedankenbildung offenbart.
Goetheanum in Dornach bei Basel November 1923
Rudolf Steiner
Die Gedanken, aus denen die Darstellung dieses Buches entsprungen und von denen sie getragen ist, habe ich in der hier folgenden »Vorrede« angedeutet. Ich möchte dem damals Gesagten einiges hinzufügen, das mit einer Frage zusammenhängt, die bei demjenigen mehr oder weniger bewusst in der Seele lebt, der zu einem Buche über »Die Rätsel der Philosophie« greift. Es ist diejenige der Beziehung philosophischer Betrachtung zu dem unmittelbaren Leben. Jeder philosophische Gedanke, der nicht von diesem Leben selbst gefordert wird, ist zur Unfruchtbarkeit verurteilt, auch wenn er diesen oder jenen Menschen, der eine Neigung zum Nachsinnen hat, eine Weile anzieht. Ein fruchtbarer Gedanke muss seine Wurzel in den Entwicklungsvorgängen haben, die von der Menschheit im Verlaufe ihres geschichtlichen Werdens durchzumachen sind. Und wer die Geschichte der philosophischen Gedankenentwicklung von irgendeinem Gesichtspunkte aus darstellen will, der kann sich nur an solche vom Leben geforderte Gedanken halten. Es müssen das Gedanken sein, die übergeführt in die Lebenshaltung den Menschen so durchdringen, dass er an ihnen Kräfte hat, die seine Erkenntnis leiten, und die ihm bei den Aufgaben seines Daseins Berater und Helfer sein können. Weil die Menschheit solche Gedanken braucht, sind philosophische Weltanschauungen entstanden. Könnte man das Leben meistern ohne solche Gedanken, so hätte nie ein Mensch eine wahrhaft innere Berechtigung gehabt, an die »Rätsel der Philosophie« zu denken. Ein Zeitalter, das solchem Denken abgeneigt ist, zeigt dadurch nur, dass es kein Bedürfnis empfindet, das Menschenleben so zu gestalten, dass dieses wirklich nach allen Seiten seinen Aufgaben gemäß zur Erscheinung kommt. Aber diese Abneigung rächt sich im Laufe der menschlichen Entwicklung. Das Leben bleibt verkümmert in solchen Zeitaltern. Und die Menschen bemerken die Verkümmerung nicht, weil sie von den Forderungen nichts wissen wollen, die in den Tiefen des Menschenwesens doch vorhanden bleiben und die sie nur nicht erfüllen. Ein folgendes Zeitalter bringt die Nichterfüllung zum Vorschein. Die Enkel finden in der Gestaltung des verkümmerten Lebens etwas vor, das ihnen die Unterlassung der Großväter angerichtet hat. Diese Unterlassung der vorhergehenden Zeit ist zum unvollkommenen Leben der Folgezeit geworden, in das sich diese Enkel hineingestellt finden. Im Lebensganzen muss Philosophie walten; man kann gegen die Forderung sündigen; aber. die Sünde muss ihre Wirkungen hervorbringen. Den Gang der philosophischen Gedankenentwicklung, das Vorhandensein der »Rätsel der Philosophie« versteht man nur, wenn man die Aufgabe empfindet, welche die philosophische Weltbetrachtung für ein ganzes, volles Menschendasein hat. Und aus einer solchen Empfindung heraus habe ich über die Entwicklung der »Rätsel der Philosophie« geschrieben. Ich habe durch die Darstellung dieser Entwicklung versucht, anschaulich zu machen, dass diese Empfindung eine innerlich berechtigte ist. Von vornherein wird sich bei manchem gegen diese Empfindung etwas hemmend aufdrängen, das den Schein einer Tatsache an sich trägt. Die philosophische Betrachtung soll eine Lebensnotwendigkeit sein: und doch gibt das menschliche Denken im Laufe seiner Entwicklung nicht eindeutige, sondern vieldeutige, scheinbar sich ganz widersprechende Lösungen der »Rätsel der Philosophie«. Geschichtliche Betrachtungen, welche die sich aufdrängenden Widersprüche durch eine äußerliche Entwicklungsvorstellung begreiflich machen möchten, gibt es viele. Sie überzeugen nicht. Man muss die Entwicklung selbst viel ernster nehmen, als dies gewöhnlich der Fall ist, wenn man sich auf diesem Felde zurechtfinden will. Man muss zu der Einsicht kommen, dass es keinen Gedanken geben kann, der allumfassend die Weltenrätsel ein für allemal zu lösen imstande ist. Im menschlichen Denken ist es vielmehr so, dass eine gefundene Idee bald wieder zu einem neuen Rätsel wird. Und je bedeutungsvoller die Idee ist, je mehr sie Licht wirft für ein bestimmtes Zeitalter, desto rätselhafter, desto fragwürdiger wird sie in einem folgenden Zeitalter. Wer die Geschichte der menschlichen Gedankenentwicklung von einem wahrhaften Gesichtspunkte aus betrachten will, der muss die Größe der Idee eines Zeitalters bewundern können und imstande sein, die gleiche Begeisterung dafür aufzubringen, diese Idee in ihrer Unvollkommenheit in einem folgenden Zeitalter sich offenbaren zu sehen. Er muss auch imstande sein, von der Vorstellungsart, zu der er sich selbst bekennt, zu denken, dass sie in der Zukunft durch eine ganz andere abgelöst werden wird. Und dieser Gedanke darf ihn nicht beirren, die »Richtigkeit« der von ihm errungenen Anschauung voll anzuerkennen. Die Gesinnung, welche vorangegangene Gedanken als unvollkommene durch die in der Gegenwart zutage tretenden »vollkommenen« abgetan wähnt, taugt nicht zum Verstehen der philosophischen Entwicklung der Menschheit. Ich habe versucht, durch das Erfassen des Sinnes, den es hat, dass ein folgendes Zeitalter philosophisch das vorangehende widerlegt, den Gang der menschlichen Gedankenentwicklung zu begreifen. Welche Ideen ein solches Erfassen zeitigt, habe ich in den einleitenden Ausführungen »Zur Orientierung über die Leitlinien der Darstellung« ausgesprochen. Diese Ideen sind solche, die naturgemäß auf mannigfaltigen Widerstand stoßen müssen. Sie werden bei einer ersten Betrachtung so erscheinen, als ob ich sie als »Einfall« erlebt hätte und durch sie die ganze Darstellung der Philosophiegeschichte in phantastischer Art vergewaltigen wollte. Ich kann nur hoffen, dass man doch finden werde, diese Ideen seien nicht vorher ausgedacht und dann der Betrachtung des philosophischen Werdegangs aufgedrängt, sondern sie seien so gewonnen, wie der Naturforscher seine Gesetze findet. Sie sind aus der Beobachtung der philosophischen Gedankenentwicklung herausgeflossen. Und man hat nicht das Recht, die Ergebnisse einer Beobachtung zurückzuweisen, weil sie Vorstellungen widersprechen, die man aus irgendwelchen Gedankenneigungen ohne Beobachtung für richtig hält. Der Aberglaube denn als solcher zeigen sich solche Vorstellungen –, dass es im geschichtlichen Werden der Menschheit Kräfte nicht geben könne, die sich in zu begrenzenden Zeitaltern auf eine eigentümliche Art offenbaren und die in sinn- und gesetzgemäßer Weise das Werden der menschlichen Gedanken lebensvoll beherrschen, er wird meiner Darstellung entgegenstehen. Denn diese war mir aufgezwungen, weil mir die Beobachtung dieses Werdens das Vorhandensein solcher Kräfte bewiesen hat. Und weil diese Beobachtung mir gezeigt hat, dass Philosophiegeschichte erst dann eine Wissenschaft wird, wenn sie vor der Anerkennung solcher Kräfte nicht zurückschreckt. Mir scheint, dass nur möglich ist, in der Gegenwart eine Stellung zu den »Rätseln der Philosophie« zu gewinnen, die für das Leben fruchtbar ist, wenn man diese die vergangenen Zeitalter beherrschenden Kräfte kennt. Und mehr als bei einem anderen Zweige geschichtlicher Betrachtung ist es bei einer Geschichte der Gedanken das einzig Mögliche, die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorwachsen zu lassen. Denn in dem Ergreifen derjenigen Ideen, die den Anforderungen der Gegenwart entsprechen, liegt die Grundlage für diejenige Einsicht, die über das Vergangene das rechte Licht ausbreitet. Wer nicht vermag, einen den Triebkräften seines eigenen Zeitalters wahrhaft angemessenen Weltanschauungsgesichtspunkt zu gewinnen, dem muss auch der Sinn des vergangenen Geisteslebens verborgen bleiben. Ich will hier nicht entscheiden, ob auf einem anderen Gebiete geschichtlicher Betrachtung eine Darstellung fruchtbar sein kann, der nicht wenigstens eine Ansicht über die Verhältnisse der Gegenwart auf dem entsprechenden Gebiete zugrunde liegt. Auf dem Felde der Gedankengeschichte kann aber eine solche Darstellung nur unfruchtbar sein. Denn hier muss das Betrachtete unbedingt mit dem unmittelbaren Leben zusammenhängen. Und dieses Leben, in dem der Gedanke Lebenspraxis wird, kann nur dasjenige der Gegenwart sein. Damit möchte ich die Empfindungen gekennzeichnet haben, aus denen heraus diese Darstellung der »Rätsel der Philosophie« erwachsen ist. An dem Inhalte des Buches etwas zu ändern oder ihm etwas hinzuzufügen, dazu gibt der kurze Zeitraum seit dem Erscheinen der letzten Auflage keine Veranlassung.
Mai 1918
Rudolf Steiner
Es war nicht meine Empfindung, ein »Gelegenheitsbuch« zum Anfange des Jahrhunderts zu schreiben, als ich an die Darstellung der »Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert« ging, die 1901 erschienen ist. Die Einladung, diesen Beitrag zu einem Sammelwerke zu liefern, bildete für mich nur den äußeren Anstoß, Ergebnisse über die philosophische Entwicklung seit Kants Zeitalter zusammenzufassen, die ich seit lange für mich gewonnen hatte und deren Veröffentlichung ich anstrebte.
Als eine Neuauflage des Buches notwendig geworden war, und ich mir seinen Inhalt wieder vor die Seele treten ließ, drängte sich mir die Erkenntnis auf, dass durch eine wesentliche Erweiterung der damals gegebenen Darstellung erst völlig anschaulich werden kann, was durch sie hatte angestrebt werden sollen.
Ich beschränkte mich damals auf die Charakteristik der letzten hundertdreißig Jahre philosophischer Entwicklung. Eine solche Beschränkung ist gerechtfertigt, weil diese Entwicklung wirklich ein in sich geschlossenes Ganzes darstellt und gezeichnet werden könnte, auch wenn man nicht ein »Jahrhundert-Buch« schreibt. In meiner Seele aber lebten die philosophischen Anschauungen dieses letzten Zeitalters so, dass mir überall wie Untertöne bei Darstellung der philosophischen Fragen die Lösungsversuche der Weltansichtsentwicklung seit deren Beginn mitklangen. Diese Empfindung stellte sich in einem erhöhten Maße ein, als ich an die Bearbeitung einer neuen Auflage herantrat. Und damit ist der Grund angedeutet, warum nicht eigentlich eine neue Auflage des alten, sondern ein neues Buch entstanden ist. Zwar ist der Inhalt des alten Buches im wesentlichen wörtlich beibehalten worden; doch ist ihm vorangestellt worden eine kurze Darstellung der philosophischen Entwicklung seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert, und im zweiten Bande wird die Charakteristik der Philosophien bis zur Gegenwart fortgeführt werden. Außerdem werden die kurzen Bemerkungen am Schluss des zweiten Bandes, die früher mit dem Worte »Ausblick« überschrieben waren, zu einer ausführlichen Darstellung der Aussichten der philosophischen Erkenntnis in der Gegenwart umgestaltet. Man wird gegen die Komposition des Buches manches einwenden können, weil der Umfang der früheren Ausführungen nicht verkürzt worden, dagegen die Charakteristik der Philosophien vom sechsten vorchristlichen bis zum neunzehnten nachchristlichen Jahrhundert nur im kürzesten Umriss dargestellt worden ist. Da jedoch mein Ziel nicht nur das ist, einen kurzen Abriss der Geschichte der philosophischen Fragen zu geben, sondern über diese Fragen und ihre Lösungsversuche selbst durch ihre geschichtliche Betrachtung zu sprechen, so hielt ich es für richtig, die größere Ausführlichkeit für das letzte Zeitalter beizubehalten. So wie diese Fragen von den Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts angesehen und dargestellt worden sind, liegt den gewohnten Denkrichtungen und den philosophischen Bedürfnissen der Gegenwart noch nahe. Was vorangegangen ist, bedeutet dem gegenwärtigen Seelenleben nur insofern ein gleiches, als es Licht verbreitet über die letzte Zeitspanne. Demselben Bestreben an der Geschichte der Philosophien die Philosophie selbe zu entwickeln, entsprangen die »Ausblicke« am Ende des zweiten Bandes.
Man wird in diesem Buche manches vermissen, was man vielleicht in einer »Geschichte der Philosophie« suchen könnte, zum Beispiel die Ansichten Hobbes und vieler anderer. Mir kam es aber nicht an auf eine Anführung aller philosophischen Meinungen, sondern auf die Darstellung des Entwicklungsganges der philosophischen Fragen. Bei einer solchen Darstellung ist es unangebracht, eine geschichtlich auftretende philosophische Meinung zu verzeichnen, wenn das Wesentliche dieser Meinung in einem anderen Zusammenhang charakterisiert wird.
Wer auch in diesem Buche einen neuen Beweis wird erkennen wollen, dass ich meine eigenen Anschauungen im Laufe der Jahre »geändert« habe, den werde ich wohl von einer solchen »Meinung« auch nicht durch den Hinweis abbringen können, dass die Darstellung der philosophischen Ansichten, welche ich in der ersten Auflage der »Welt- und Lebensanschauungen« gegeben habe, zwar im einzelnen viel erweitert und ergänzt, dass aber der Inhalt des alten Buches in das neue im wesentlichen wörtlich unverändert übergegangen ist. Die geringfügigen Änderungen, die an einzelnen Stellen vorkommen, schienen mir notwendig, nicht weil ich das Bedürfnis hatte, das eine oder das andere nach fünfzehn Jahren anders darzustellen als früher, sondern weil ich fand, dass eine geänderte Ausdrucksweise durch den größeren Zusammenhang gefordert wird, in dem dieser oder jener Gedanke in dem neuen Buche erscheint, während im alten Buche von einem solchen Zusammenhang nicht die Rede war. Es wird aber sicherlich immer Menschen geben, die in den aufeinanderfolgenden Schriften einer Persönlichkeit gerne Widersprüche konstruieren möchten, weil sie die gewiss nicht unzulässige Erweiterung des Erkenntnisstrebens einer solchen Persönlichkeit nicht richtig ins Auge fassen können oder wollen. Dass man bei solcher Erweiterung in späteren Jahren manches anders als in früheren sagt, bedeutet sicher keinen Widerspruch, wenn man die Übereinstimmung des einen mit dem anderen nicht im Sinne des Abschreibens des Späteren vom Früheren, sondern im Sinne der lebendigen Entwicklung einer Persönlichkeit meint. Um bei Menschen, die dies außer acht lassen können, nicht der Änderung seiner Ansichten geziehen zu werden, müsste man eigentlich, wenn Gedanken in Betracht kommen, immer das gleiche wiederholen.
April 1914
Rudolf Steiner
Verfolgt man, was von Menschen an Geistesarbeit geleistet worden ist, um die Lösung der Welträtsel und Lebensfragen zu versuchen, so drängen sich der betrachtenden Seele immer wieder die Worte auf, die im Tempel Apollons wie ein Wahrspruch aufgezeichnet waren: »Erkenne dich selbst«. Dass die menschliche Seele beim Vorstellen dieser Worte eine gewisse Wirkung empfinden kann, darauf beruht das Verständnis für eine Weltanschauung. Das Wesen eines lebendigen Organismus führt die Notwendigkeit mit sich, Hunger zu empfinden; das Wesen der Menschenseele auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung erzeugt eine ähnliche Notwendigkeit. Diese drückt sich in dem Bedürfnisse aus, dem Leben ein geistiges Gut abzugewinnen, das wie die Nahrung dem Hunger, so der inneren Gemütsforderung entspricht: »Erkenne dich selbst«. Diese Empfindung kann die Seele so mächtig ergreifen, dass diese denken muss: Ich bin in wahrem Sinne des Wortes erst dann ganz Mensch, wenn ich in mir ein Verhältnis zur Welt ausbilde, das in dem »Erkenne dich selbst« seinen Grundcharakter hat. Die Seele kann so weit kommen, diese Empfindung wie ein Aufwachen aus dem Lebenstraum anzusehen, den sie vor dem Erlebnis geträumt hat, das sie mit dieser Empfindung durchmacht.
Der Mensch entwickelt sich in der ersten Zeit seines Lebens so, dass in ihm die Kraft des Gedächtnisses erstarkt, durch die er im späteren Leben sich zurückerinnert an seine Erfahrungen bis zu einem gewissen Zeitpunkte der Kindheit. Was vor diesem Zeitpunkte liegt, empfindet er als Lebenstraum, aus dem er erwacht ist. Die Menschenseele wäre nicht, was sie sein soll, wenn aus dem dumpfen Kindeserleben nicht diese Erinnerungskraft herauswüchse. In ähnlicher Art kann die Menschenseele auf einer weiteren Daseinsstufe von dem Erlebnisse mit dem »Erkenne dich selbst« denken. Sie kann empfinden, dass alles Seelenleben nicht seinen Anlagen entspricht, das nicht durch dieses Erlebnis aus dem Lebenstraum erwacht.
Philosophen haben oft betont, dass sie in Verlegenheit kommen, wenn sie sagen sollen, was Philosophie im wahren Sinne des Wortes ist. Gewiss aber ist, dass man in ihr eine besondere Form sehen muss, demjenigen menschlichen Seelenbedürfnisse Befriedigung zu geben, das in dem »Erkenne dich selbst« seine Forderung stellt. Und von dieser Forderung kann man wissen, wie man weiß, was Hunger ist, trotzdem man vielleicht in Verlegenheit käme, wenn man eine jedermann befriedigende Erklärung des Hungers geben sollte.
Ein Gedanke dieser Art lebte wohl in J. G. Fichtes Seele, als er aussprach, dass die Art der Philosophie, die man wähle, davon abhänge, was man für ein Mensch sei. Man kann, belebt von diesem Gedanken, an die Betrachtung der Versuche herantreten, welche im Verlaufe der Geschichte gemacht worden sind, den Rätseln der Philosophie Lösungen zu finden. Man wird in diesen Versuchen dann Offenbarungen der menschlichen Wesenheit selbst finden. Denn, obgleich der Mensch seine persönlichen Interessen völlig zum Schweigen zu bringen sucht, wenn er als Philosoph sprechen will, so erscheint doch in einer Philosophie ganz unmittelbar dasjenige, was die menschliche Persönlichkeit durch Entfaltung ihrer ureigensten Kräfte aus sich machen kann.
Von diesem Gesichtspunkte aus kann die Betrachtung der philosophischen Leistungen über die Welträtsel gewisse Erwartungen erregen. Man kann hoffen, dass sich aus dieser Betrachtung Ergebnisse gewinnen lassen über den Charakter der menschlichen Seelenentwicklung. Und der Schreiber dieses Buches glaubt, dass sich ihm beim Durchwandern der philosophischen Anschauungen des Abendlandes solche Ergebnisse dargeboten haben. Vier deutlich zu unterscheidende Epochen in der Entwicklung des philosophischen Menschheitsstrebens stellten sich ihm dar. Er musste die Unterschiede dieser Epochen so charakteristisch ausgedrückt finden, wie man die Unterschiede der Arten eines Naturreiches findet. Das brachte ihn dazu, anzuerkennen, dass die Geschichte der philosophischen Entwicklung der Menschheit den Beweis erbringe für das Vorhandensein objektiver von den Menschen ganz unabhängiger geistiger Impulse, welche sich im Zeitenlauf fortentwickeln. Und was die Menschen als Philosophen leisten, das erscheint als die Offenbarung der Entwicklung dieser Impulse, welche unter der Oberfläche der äußerlichen Geschichte walten. Es drängt sich die Überzeugung auf, dass ein solches Ergebnis aus der unbefangenen Betrachtung der geschichtlichen Tatsachen folge, wie ein Naturgesetz aus der Betrachtung der Naturtatsachen. Der Schreiber dieses Buches glaubt, dass ihn keine Art von Voreingenommenheit zu einer willkürlichen Konstruktion des geschichtlichen Werdens verführt habe, sondern dass die Tatsachen zwingen, Ergebnisse der angedeuteten Art anzuerkennen.
Es zeigt sich, dass der Entwicklungslauf des philosophischen Menschheitsstrebens Epochen unterscheiden lässt, deren jede eine Länge von sieben bis acht Jahrhunderten hat. In jeder dieser Epochen waltet unter der Oberfläche der äußeren Geschichte ein anderer geistiger Impuls, der gewissermaßen in die menschlichen Persönlichkeiten einstrahlt, und der mit seiner eigenen Fortentwicklung diejenige des menschlichen Philosophierens bewirkt.
Wie die Tatsachen für die Unterscheidung dieser Epochen sprechen, das soll sich aus dem vorliegenden Buche ergeben. Dessen Verfasser möchte, so gut er es kann, diese Tatsachen selbst sprechen lassen. Hier sollen nur einige Leitlinien vorangesetzt werden, von denen die Betrachtung nicht ausgegangen ist, welche zu diesem Buche geführt hat, sondern welche sich aus dieser Betrachtung als Ergebnis eingestellt haben.
Man kann die Ansicht haben, dass diese Leitlinien am Ende des Buches am richtigen Orte stünden, da ihre Wahrheit sich erst aus dem Inhalt des Dargestellten ergibt. Sie sollen aber als eine vorläufige Mitteilung vorangehen, weil sie die innere Gliederung der Darstellung rechtfertigen. Denn obgleich sie für den Verfasser des Buches als Ergebnis seiner Betrachtungen sich ergaben, so standen sie doch naturgemäß vor seinem Geiste vor der Darstellung und waren für diese maßgebend. Für den Leser kann es aber bedeutsam sein, nicht erst am Ende eines Buches zu erfahren, warum der Verfasser in einer gewissen Art darstellt, sondern schon während des Lesens über diese Art aus den Gesichtspunkten des Darstellenden sich ein Urteil bilden zu können. Doch soll nur dasjenige hier mitgeteilt werden, was für die innere Gliederung der Ausführungen in Betracht kommt.
Die erste Epoche der Entwicklung philosophischer Ansichten beginnt im griechischen Altertum.
Sie lässt sich deutlich geschichtlich zurückverfolgen bis zu Pherekydes von Syros und Thales von Milet. Sie endet mit den Zeiten, in welche die Begründung des Christentums fällt. Das geistige Streben der Menschheit zeigt in dieser Epoche einen wesentlich anderen Charakter als in früheren Zeiten. Es ist die Epoche des erwachenden Gedankenlebens. Vorher lebt die Menschenseele in bildlichen (sinnbildlichen) Vorstellungen über die Welt und das Dasein. Wie stark man sich auch bemühen möchte, denjenigen recht zu geben, welche das philosophische Gedankenleben schon in vorgriechischen Zeiten entwickelt sehen möchten: man kann es bei unbefangener Betrachtung nicht. Und man muss die echte, in Gedankenform auftretende Philosophie in Griechenland beginnen lassen. Was in orientalischen, in ägyptischen Weltbetrachtungen dem Elemente des Gedankens ähnlich ist, das ist vor echter Betrachtung doch nicht wahrer Gedanke, sondern Bild, Sinnbild. In Griechenland wird das Streben geboren, die Weltzusammenhänge durch dasjenige zu erkennen, was man gegenwärtig Gedanken nennen kann.
Solange die Menschenseele durch das Bild die Welterscheinungen vorstellt, fühlt sie sich mit diesen noch innig verbunden. Sie empfindet sich als ein Glied des Weltorganismus; sie denkt sich nicht als selbständige Wesenheit von diesem Organismus losgetrennt. Da der Gedanke in seiner Bildlosigkeit in ihr erwacht, fühlt sie die Trennung von Welt und Seele. Der Gedanke wird ihr Erzieher zur Selbständigkeit.
Nun aber erlebt der Grieche den Gedanken in einer anderen Art als der gegenwärtige Mensch. Dies ist eine Tatsache, die leicht außer acht gelassen werden kann. Doch ergibt sie sich für eine echte Einsicht in das griechische Denken. Der Grieche empfindet den Gedanken, wie man gegenwärtig eine Wahrnehmung empfindet, wie man »rot« oder »gelb« empfindet. Wie man jetzt eine Farben- oder eine Tonwahrnehmung einem »Dinge« zuschreibt, so schaut der Grieche den Gedanken in und an der Welt der Dinge.
Deshalb bleibt der Gedanke in dieser Zeit noch das Band, das die Seele mit der Welt verbindet. Die Loslösung der Seele von der Welt beginnt erst; sie ist noch nicht vollzogen. Die Seele erlebt zwar den Gedanken in sich; sie muss aber der Ansicht sein, dass sie ihn aus der Welt empfangen hat, daher kann sie von dem Gedankenerleben die Enthüllung der Welträtsel erwarten. In solchem Gedankenerleben vollzieht sich die philosophische Entwicklung, die mit Pherekydes und Thales einsetzt, in Plato und Aristoteles einen Höhepunkt erreicht, und dann abflutet, bis sie in der Zeit der Begründung des Christentums ihr Ende findet. Aus den Untergründen der geistigen Entwicklung flutet das Gedankenleben in die Menschenseelen herein und erzeugt in diesen Seelen Philosophien, welche die Seelen zum Erfühlen ihrer Selbständigkeit gegenüber der äußeren Welt erziehen.
In der Zeit des entstehenden Christentums setzt eine neue Epoche ein. Die Menschenseele kann nun nicht mehr den Gedanken wie eine Wahrnehmung aus der äußeren Welt empfinden. Sie fühlt ihn als Erzeugnis ihres eigenen (inneren) Wesens. Ein viel mächtigerer Impuls, als das Gedankenleben war, strahlt aus den Untergründen des geistigen Werdens in die Seele herein. Das Selbstbewusstsein erwacht erst jetzt in einer Art innerhalb der Menschheit, welche dem eigentlichen Wesen dieses Selbstbewusstseins entspricht. Was Menschen vorher erlebten, ,waren doch nur die Vorboten dessen, was man im tiefsten Sinne innerlich erlebtes Selbstbewusstsein nennen sollte. Man kann sich der Hoffnung hingeben, dass eine künftige Betrachtung der Geistesentwicklung die hier gemeinte Zeit diejenige des »Erwachens des Selbstbewusstseins« nennen wird. Es wird erst jetzt der Mensch im wahren Sinne des Wortes den ganzen Umfang seines Seelenlebens als »Ich« gewahr. Das ganze Gewicht dieser Tatsache wird von den philosophischen Geistern dieser Zeit mehr dunkel empfunden als deutlich gewusst. Diesen Charakter behält das philosophische Streben bis etwa zu Scotus Erigena (gest. 877 n. Chr.). Die Philosophen dieser Zeit tauchen mit dem philosophischen Denken ganz in das religiöse Vorstellen unter. Durch dieses Vorstellen sucht die Menschenseele, die sich im erwachten Selbstbewusstsein ganz auf sich gestellt sieht, das Bewusstsein ihrer Eingliederung in das Leben des Weltorganismus zu gewinnen. Der Gedanke wird ein bloßes Mittel, um die Anschauung auszudrücken, die man aus religiösen Quellen über das Verhältnis der Menschenseele zur Welt gewonnen hat. Eingebettet in diese Anschauung wächst das Gedankenleben, vom religiösen Vorstellen genährt, wie der Pflanzenkeim im Schoß der Erde, bis er aus diesem hervorbricht. In der griechischen Philosophie entfaltet das Gedankenleben seine Eigenkräfte; es führt die Menschenseele bis zum Erfühlen ihrer Selbständigkeit; dann bricht aus den Untergründen des Geisteslebens in die Menschheit herein, was wesentlich anderer Art ist als das Gedankenleben. Was die Seele erfüllt mit neuem inneren Erleben, was sie gewahr werden lässt, dass sie eine eigene, auf ihrem inneren Schwerpunkt ruhende Welt ist. Das Selbstbewusstsein wird zunächst erlebt, noch nicht gedanklich erfasst. Der Gedanke entwickelt sich weiter im Verborgenen in der Wärme des religiösen Bewusstseins. So verlaufen die ersten sieben bis acht Jahrhunderte nach der Begründung des Christentums.
Die nächste Epoche zeigt einen völlig anderen Charakter. Die führenden Philosophen fühlen die Kraft des Gedankenlebens wieder erwachen. Die Menschenseele hat die durch Jahrhunderte durchlebte Selbständigkeit innerlich befestigt. Sie beginnt zu suchen: was denn eigentlich ihr ureigenster Besitz ist. Sie findet, dass dies das Gedankenleben ist. Alles andere wird ihr von außen gegeben; den Gedanken erzeugt sie aus den Untergründen ihrer eigenen Wesenheit heraus, so dass sie bei diesem Erzeugen mit vollem Bewusstsein dabei ist. Der Trieb entsteht in ihr, in den Gedanken eine Erkenntnis zu gewinnen, durch die sie sich über ihr Verhältnis zur Welt aufklären kann. Wie kann in dem Gedankenleben sich etwas aussprechen, was nicht bloß von der Seele erdacht ist? Das wird die Frage der Philosophen dieses Zeitalters. Die Geistesströmungen des Nominalismus, des Realismus, der Scholastik, der mittelalterlichen Mystik, sie offenbaren diesen Grundcharakter der Philosophie dieses Zeitalters. Die Menschenseele versucht, das Gedankenleben auf seinen Wirklichkeitscharakter hin zu prüfen.
Mit dem Ablauf dieser dritten Epoche ändert sich der Charakter des philosophischen Strebens.
Das Selbstbewusstsein der Seele ist erstarkt durch die jahrhundertelange innere Arbeit, die in der Prüfung der Wirklichkeit des Gedankenlebens geleistet worden ist. Man hat gelernt, das Gedankenleben mit dem Wesen der Seele verbunden zu fühlen und in dieser Verbindung eine innere Sicherheit des Daseins zu empfinden. Wie ein mächtiger Stern leuchtet am Geisteshimmel als Wahrzeichen für diese Entwicklungsstufe das Wort »Ich denke, also bin ich«, das Descartes (1596-1650) ausspricht. Man fühlt das Wesen der Seele in dem Gedankenleben strömen; und in dem Wissen von diesem Strömen vermeint man das wahre Sein der Seele selbst zu erleben. So sicher fühlt man sich innerhalb dieses im Gedankenleben erschauten Daseins, dass man zu der Überzeugung kommt, wahre Erkenntnis könne nur diejenige sein, die so erlebt wird, wie in der Seele das auf sich selbst gebaute Gedankenleben erfahren werden muss. Dies wird der Gesichtspunkt Spinozas (1632-1677). Philosophien entstehen nunmehr, welche das Weltbild so gestalten, wie es vorgestellt werden muss, wenn die durch das Gedankenleben erfasste selbstbewusste Menschenseele in ihm den angemessenen Platz haben soll. Wie muss die Welt vorgestellt werden, damit in ihr die Menschenseele so gedacht werden kann, wie sie gedacht werden muss im Sinne dessen, was man über das Selbstbewusstsein vorzustellen hat? Das wird die Frage, welche bei unbefangener Betrachtung der Philosophie Giordano Brunos (1548 bis 1600) zugrunde liegt; und die ganz deutlich sich als diejenige ergibt, für welche Leibniz (1646-1716) die Antwort sucht.
Mit Vorstellungen eines Weltbildes, die aus solcher Frage entstehen, beginnt die vierte Epoche der Entwicklung der philosophischen Weltansichten. Unsere Gegenwart bildet erst ungefähr die Mitte dieses Zeitalters. Die Ausführungen dieses Buches sollen zeigen, wie weit die philosophische Erkenntnis im Erfassen eines Weltbildes gelangt ist, innerhalb dessen die selbstbewusste Seele für sich einen solch sicheren Platz findet, dass sie ihren Sinn und ihre Bedeutung im Dasein verstehen kann. Als in der ersten Epoche des philosophischen Strebens dieses aus dem erwachten Gedankenleben seine Kräfte empfing, da erstand ihm die Hoffnung, eine Erkenntnis zu gewinnen von einer Welt, der die Menschenseele mit ihrer wahren Wesenheit angehört; mit derjenigen Wesenheit, die nicht erschöpft ist mit dem Leben, das durch den Sinnenleib seine Offenbarung findet.
In der vierten Epoche setzen die aufblühenden Naturwissenschaften dem philosophischen Weltbild ein Naturbild an die Seite, das allmählich sich selbständig auf einen eigenen Boden stellt. In diesem Naturbilde findet sich mit fortschreitender Entwicklung nichts mehr von der Welt, welche das selbstbewusste Ich (die sich als selbstbewusste Wesenheit erlebende Menschenseele) in sich anerkennen muss. In der ersten Epoche beginnt die Menschenseele sich von der Außenwelt loszulösen und eine Erkenntnis zu entwickeln, welche sich dem seelischen Eigenleben zuwendet. Dieses seelische Eigenleben findet seine Kraft in dem erwachenden Gedankenelemente. In der vierten Epoche tritt ein Naturbild auf, das sich seinerseits von dem seelischen Eigenleben losgelöst hat. Es entsteht das Bestreben, die Natur so vorzustellen, dass in die Vorstellungen von ihr sich nichts von dem einmischt, was die Seele aus sich und nicht aus der Natur selbst schöpft. So findet sich in dieser Epoche die Seele mit ihrem inneren Erleben auf sich selbst zurückgewiesen. Es droht ihr, sich eingestehen zu müssen, dass alles, was sie von sich erkennen kann, auch nur für sie selbst eine Bedeutung habe und keinen Hinweis enthielte auf eine Welt, in der sie mit ihrem wahren Wesen wurzelt. Denn in dem Naturbilde kann sie von sich selbst nichts finden.
Die Entwicklung des Gedankenlebens ist durch vier Epochen fortgeschritten. In der ersten wirkt der Gedanke wie eine Wahrnehmung von außen. Er stellt die erkennende Menschenseele auf sich selbst.
In der zweiten hat er seine Kraft nach dieser Richtung erschöpft. Die Seele erstarkt in dem Selbsterleben ihres Eigenwesens; der Gedanke lebt im Untergrunde und verschmilzt mit der Selbsterkenntnis. Er kann nun nicht mehr wie eine Wahrnehmung von außen angesehen werden. Die Seele lernt ihn fühlen als ihr eigenes Erzeugnis. Sie muss dazu kommen, sich zu fragen: was hat dieses innere Seelenerzeugnis mit einer Außenwelt zu tun? Im Lichte dieser Frage läuft die dritte Epoche ab. Die Philosophen entwickeln ein Erkenntnisleben, das den Gedanken in Bezug auf seine innere Kraft erprobt. Die philosophische Stärke dieser Epoche offenbart sich als ein Einleben in das Gedankenelement, als Kraft, den Gedanken in seinem eigenen Wesen durchzuarbeiten. Im Verlauf dieser Epoche nimmt das philosophische Leben zu in der Fähigkeit, sich des Gedankens zu bedienen. Im Beginne der vierten Epoche will das erkennende Selbstbewusstsein, von seinem Gedankenbesitze aus, ein philosophisches Weltbild gestalten. Ihm tritt das Naturbild entgegen, das von diesem Selbstbewusstsein nichts aufnehmen will. Und die selbstbewusste Seele steht vor diesem Naturbilde mit der Empfindung: wie gelange ich zu einem Weltbilde, in dem die Innenwelt mit ihrer wahren Wesenheit und die Natur zugleich sicher verankert sind? Der Impuls, der aus dieser Frage stammt, beherrscht den Philosophen mehr oder weniger bewusst die philosophische Entwicklung seit dem Beginn der vierten Epoche. Und er ist der maßgebende Impuls im philosophischen Leben der Gegenwart. In diesem Buche sollen die einzelnen Tatsachen charakterisiert werden, welche das Walten dieses Impulses offenbaren. Der erste Band des Buches wird die philosophische Entwicklung bis zur Mitte des neunzehntes Jahrhunderts darstellen; der zweite wird diese Entwicklung bis zur Gegenwart verfolgen und am Schluss zeigen, wie die bisherige philosophische Entwicklung die Seele auf Ausblicke in ein werdendes menschliches Erkenntnisleben hinweist, durch welches die Seele ein Weltbild aus ihrem Selbstbewusstsein entfalten kann, in dem ihre eigene wahre Wesenheit zugleich mit dem Bilde der Natur, das die neuere Entwicklung gebracht hat, vorgestellt werden kann.
Ein der Gegenwart entsprechender philosophischer Ausblick sollte in diesem Buche aus der geschichtlichen Entwicklung der philosophischen Weltansichten heraus entfaltet werden.
In Pherekydes von Syros, der im sechsten vorchristlichen Jahrhundert lebte, erscheint innerhalb des griechischen Geisteslebens eine Persönlichkeit, an welcher man die Geburt dessen beobachten kann, was in den folgenden Ausführungen »Welt- und Lebensanschauungen« genannt wird.
Was er über die Weltenfragen zu sagen hat, gleicht auf der einen Seite noch den mythischen und bildhaften Darstellungen einer Zeit, die vor dem Streben nach wissenschaftlicher Weltanschauung liegt; auf der anderen Seite ringt sich bei ihm das Vorstellen durch das Bild, durch den Mythus, zu einer Betrachtung durch, die durch Gedanken die Rätsel des Daseins und der Stellung des Menschen in der Welt durchdringen will. Er stellt noch die Erde vor unter dem Bilde einer geflügelten Eiche, welcher Zeus die Oberfläche von Land, Meer, Flüssen usw. wie ein Gewebe umlegt; er denkt sich die Welt durchwirkt von Geistwesen, von welchen die griechische Mythologie spricht. Doch spricht er auch von drei Ursprüngen der Welt: von Chronos, von Zeus und von Chthon.
Es ist in der Geschichte der Philosophie viel darüber verhandelt worden, was unter diesen drei Ursprüngen des Pherekydes zu verstehen sei. Da sich die geschichtlichen Nachrichten über das, was er in seinem Werke »Heptamychos« habe darstellen wollen, widersprechen, so ist begreiflich, dass darüber auch gegenwärtig die Meinungen voneinander abweichen. Wer sich auf das geschichtlich über Pherekydes Überlieferte betrachtend einlässt, kann den Eindruck bekommen, dass allerdings an ihm der Anfang des philosophischen Nachdenkens beobachtet werden kann, dass aber diese Beobachtung schwierig ist, weil seine Worte in einem Sinne genommen werden müssen, welcher den Denkgewohnheiten der Gegenwart ferne liegt und der erst gesucht werden muss.
Den Ausführungen dieses Buches, das ein Bild der Welt- und Lebensanschauungen des neunzehnten Jahrhunderts geben soll, wird bei seiner zweiten Ausgabe eine kurze Darstellung der vorangehenden Welt- und Lebensanschauungen vorgesetzt, insofern diese Weltanschauungen auf gedanklicher Erfassung der Welt beruhen. Es geschieht dies aus dem Gefühle heraus, dass die Ideen des vorigen Jahrhunderts in ihrer inneren Bedeutung sich besser enthüllen, wenn sie nicht nur für sich genommen werden, sondern wenn auf sie die Gedankenlichter der vorangehenden Zeiten fallen.
Naturgemäß kann aber in einer solchen »Einleitung« nicht alles »Beweismaterial« verzeichnet werden, das der kurzen Skizze zur Unterlage dienen muss. (Wenn es dem Schreiber dieser Ausführungen einmal gegönnt sein wird, die Skizze zu einem selbständigen Buche zu machen, dann wird man ersehen, dass die entsprechende »Unterlage« durchaus vorhanden ist. Auch zweifelt der Verfasser nicht, dass andere, welche in dieser Skizze eine Anregung sehen wollen, in dem geschichtlich Überlieferten die »Beweise« finden werden.) Pherekydes kommt zu seinem Weltbilde auf andere Art, als man vor ihm zu einem solchen gekommen ist. Das Bedeutungsvolle bei ihm ist, dass er den Menschen als beseeltes Wesen anders empfindet, als dies vor ihm geschehen ist. Für das frühere Weltbild hat der Ausdruck »Seele« noch nicht den Sinn, welchen er für die späteren Lebensauffassungen erhalten hat. Auch bei Pherekydes ist die Idee der Seele noch nicht in der Art vorhanden wie bei den ihm folgenden Denkern. Er empfindet erst das Seelische des Menschen, wogegen die Späteren von ihm deutlich in Gedanken sprechen und es charakterisieren wollen. Die Menschen früher Zeiten trennen das eigene menschliche Seelen-Erleben noch nicht von dem Naturleben ab. Sie stellen sich nicht als ein besonderes Wesen neben die Natur hin; sie erleben sich in der Natur, wie sie in derselben Blitz und Donner, das Treiben der Wolken, den Gang der Sterne, das Wachsen der Pflanzen er leben. Was die Hand am eigenen Leibe bewegt, was den Fuß auf die Erde setzt und vorschreiten lässt, gehört für den vorgeschichtlichen Menschen einer Region von Weltenkräften an, die auch den Blitz und das Wolkentreiben, die alles äußere Geschehen bewirken. Was dieser Mensch empfindet, lässt sich etwa so aussprechen: Etwas lässt blitzen, donnern, regnen, bewegt meine Hand, lässt meinen Fuß vorwärtsschreiten, bewegt die Atemluft in mir, wendet meinen Kopf. Man muss, wenn man eine derartige Erkenntnis ausspricht, sich solcher Worte bedienen, welche auf den ersten Eindruck hin übertrieben scheinen können. Doch wird nur durch das scheinbar übertrieben klingende Wort die richtige Tatsache voll empfunden werden können. Ein Mensch, welcher ein Weltbild hat, wie es hier gemeint ist, empfindet in dem Regen, der zur Erde fällt, eine Kraft wirkend, die man gegenwärtig »geistig« nennen muss, und die gleichartig ist mit derjenigen, die er empfindet, wenn er sich zu dieser oder jener persönlichen Betätigung anschickt. Von Interesse kann es sein, diese Vorstellungsart bei Goethe, in dessen jüngeren Jahren, wiederzufinden, naturgemäß in jener Schattierung, welche sie bei einer Persönlichkeit des achtzehnten Jahrhunderts haben muss. Man kann in Goethes Aufsatz »Die Natur« lesen: »Sie (die Natur) hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ihr Verdienst.« So, wie Goethe spricht, kann man nur sprechen, wenn man das eigene Wesen innerhalb des Naturganzen fühlt und man dieses Gefühl durch die denkende Betrachtung zum Aus drucke bringt. Wie er dachte, empfand der Mensch der Vorzeit, ohne dass sich sein Seelenerlebnis zum Gedanken bildete. Er erlebte noch nicht den Gedanken; dafür aber gestaltete sich in seiner Seele, anstatt des Gedankens, das Bild (Sinnbild). Die Beobachtung der Menschheitsentwicklung führt in eine Zeit zurück, in welcher die gedanklichen Erlebnisse noch nicht geboren waren, in welcher aber im Innern des Menschen das Bild (Sinnbild) auflebte, wie beim später lebenden Menschen der Gedanke auflebt, wenn er die Weltenvorgänge betrachtet. Das Gedankenleben entsteht für den Menschen in einer bestimmten Zeit; es bringt das vorherige Erleben der Welt in Bildern zum Erlöschen.
Für die Denkgewohnheiten unserer Zeit erscheint es annehmbar, sich vorzustellen: in der Vorzeit haben die Menschen die Naturvorgänge, Wind und Wetter, das Keimen des Samens, den Gang der Sterne beobachtet und sich zu diesen Vorgängen geistige Wesenheiten, als die tätigen Bewirker, hinzuerdichtet; dagegen liegt es dem gegenwärtigen Bewusstsein ferne, anzuerkennen, dass der Mensch der Vorzeit die Bilder so erlebt hat, wie der spätere Mensch die Gedanken erlebte als seelische Wirklichkeit.
Man wird allmählich erkennen, dass im Laufe der Menschheitsentwicklung eine Umwandlung der menschlichen Organisation stattgefunden hat. Es gab eine Zeit, in der die feinen Organe in der menschlichen Natur noch nicht ausgebildet waren, welche ermöglichen, ein inneres abgesondertes Gedankenleben zu entwickeln; in dieser Zeit hatte dafür der Mensch die Organe, die ihm sein Mit-Erleben mit der Welt in Bildern vorstellten.
Wenn man dieses erkennen wird, wird ein neues Licht fallen auf die Bedeutung des Mythus einerseits und auch auf diejenige von Dichtung und Gedankenleben andererseits. Als das innerlich selbständige Gedanken-Erleben auftrat, brachte es das frühere Bild-Erleben zum Erlöschen. Es trat der Gedanke auf als das Werkzeug der Wahrheit. In ihm lebte aber nur ein Ast des alten Bild-Erlebens fort, das sich im Mythus seinen Ausdruck geschaffen hatte. In einem anderen Aste lebte das erloschene Bild-Erleben weiter, allerdings in abgeblasster Gestalt, in den Schöpfungen der Phantasie, der Dichtung.
Dichterische Phantasie und gedankliche Weltanschauung sind die beiden Kinder der einen Mutter, des alten Bild-Erlebens, das man nicht mit dem dichterischen Erleben verwechseln darf.
Das Wesentliche, worauf es ankommt, ist die Umwandlung der feineren Organisation des Menschen. Diese führte das Gedankenleben herbei. In der Kunst, in der Dichtung wirkt naturgemäß nicht der Gedanke als solcher; es wirkt das Bild weiter. Aber es hat nunmehr ein anderes Verhältnis zur menschlichen Seele, als es es hatte in der Gestalt, in welcher es sich auch noch als Erkenntnisbild formte.
Als Gedanke selbst tritt das seelische Erleben nur in der Weltanschauung auf; die anderen Zweige des menschlichen Lebens formen sich in anderer Art entsprechend, wenn im Erkenntnisgebiete der Gedanke herrschend wird.
Mit dem dadurch charakterisierten Fortschritt der menschlichen Entwicklung hängt zusammen, dass sich der Mensch vom Auftreten des Gedanken-Erlebens an in ganz anderem Sinne als abgesondertes Wesen, als »Seele« fühlen musste, als das früher der Fall war. Das »Bild« wurde so erlebt, dass man empfand: es ist in der Außenwelt als Wirklichkeit, und man erlebt diese Wirklichkeit mit, man ist mit ihr verbunden. Mit dem »Gedanken« wie auch mit dem dichterischen Bilde fühlt sich der Mensch von der Natur abgesondert; er fühlt sich im Gedanken-Erlebnis als etwas, was die Natur so nicht miterleben kann, wie er es erlebt. Es entsteht immer mehr die deutliche Empfindung des Gegensatzes von Natur und Seele.
In den verschiedenen Kulturen der Völker hat sich der Übergang von dem alten Bild-Erleben zum Gedanken-Erleben zu verschiedenen Zeitpunkten vollzogen. In Griechenland kann man diesen Übergang belauschen, wenn man den Blick auf die Persönlichkeit des Pherekydes wirft. Er lebt in einer Vorstellungswelt, an welcher das Bild-Erleben und der Gedanke noch gleichen Anteil haben. Es können seine drei Grundideen, Zeus, Chronos, Chthon, nur so vorgestellt werden, dass die Seele, indem sie sie erlebt, sich zugleich dem Geschehen der Außenwelt angehörig fühlt. Man hat es mit drei erlebten Bildern zu tun und kommt diesen nur bei, wenn man sich nicht beirren lässt von allem, was die gegenwärtigen Denkgewohnheiten dabei vorstellen möchten.
Chronos ist nicht die Zeit, wie man sie gegenwärtig vorstellt. Chronos ist ein Wesen, das man mit heutigem Sprachgebrauch »geistig« nennen kann, wenn man sich dabei bewusst ist, dass man den Sinn nicht erschöpft. Chronos lebt, und seine Tätigkeit ist das Verzehren, Verbrauchen des Lebens eines anderen Wesens, Chthon. In der Natur waltet Chronos, im Menschen waltet Chronos; in Natur und Mensch verbraucht Chronos Chthon. Es ist einerlei, ob man das Verzehren des Chthon durch Chronos innerlich erlebt oder äußerlich in den Naturvorgängen ansieht. Denn auf beiden Gebieten geschieht dasselbe.
Verbunden mit diesen beiden Wesen ist Zeus, den man sich im Sinne des Pherekydes ebensowenig als Götterwesen im Sinne der gegenwärtigen Auffassung von Mythologie vorstellen darf, wie als bloßen »Raum« in heutiger Bedeutung, obwohl er das Wesen ist, welches das, was zwischen Chronos und Chthon vorgeht, zur räumlichen, ausgedehnten Gestaltung schafft.
Das Zusammenwirken von Chronos, Chthon, Zeus im Sinne des Pherekydes wird unmittelbar im Bilde erlebt, wie die Vorstellung erlebt wird, dass man isst; es wird aber auch in der Außenwelt erlebt, wie die Vorstellung der blauen oder roten Farbe erlebt wird. Dies Erleben kann man in folgender Art vorstellen.
Man lenke den Blick auf das Feuer, welches die Dinge verzehrt. In der Tätigkeit des Feuers, der Wärme, lebt sich Chronos dar. Wer das Feuer in seiner Wirksamkeit anschaut und noch nicht den selbständigen Gedanken, sondern das Bild wirksam hat, der schaut Chronos. Er schaut mit der Feuerwirksamkeit nicht mit dem sinnlichen Feuer zugleich die »Zeit«. Eine andere Vorstellung von der Zeit gibt es vor der Geburt des Gedankens noch nicht. Was man gegenwärtig »Zeit« nennt, ist erst eine im Zeitalter der gedanklichen Weltanschauung ausgebildete Idee. Lenkt man den Blick auf das Wasser, nicht wie es als Wasser ist, sondern wie es sich in Luft oder Dampf verwandelt, oder auf die sich auflösenden Wolken, so erlebt man im Bilde die Kraft des »Zeus«, des räumlich wirksamen Verbreiterers; man könnte auch sagen: des sich »strahlig« Ausdehnenden. Und schaut man das Wasser, wie es zum Festen wird, oder das Feste, wie es sich in Flüssiges bildet, so schaut man Chthon. Chthon ist etwas, was dann später im Zeitalter der gedankenmäßigen Weltanschauungen zur »Materie«, zum »Stoffe« geworden ist; Zeus ist zum »Äther« oder auch zum »Raum« geworden; Chronos zur »Zeit«.
Durch das Zusammenwirken dieser drei Urgründe stellt sich im Sinne des Pherekydes die Welt her. Es entstehen durch dieses Zusammenwirken auf der einen Seite die sinnlichen Stoffwelten: Feuer, Luft, Wasser, Erde; auf der anderen Seite eine Summe von unsichtbaren, übersinnlichen Geistwesen, welche die vier Stoffwelten beleben. Zeus, Chronos, Chthon sind Wesenheiten, denen gegenüber die Ausdrücke »Geist, Seele, Stoff« wohl gebraucht werden können, doch wird die Bedeutung damit nur annähernd bezeichnet. Erst durch die Verbindung dieser drei Urwesen entstehen die mehr stofflichen Weltenreiche, das des Feuers, der Luft, des Wassers, der Erde und die mehr seelischen und geistigen (übersinnlichen) Wesenheiten. Mit einem Ausdruck der späteren Weltanschauungen kann man Zeus als »Raum-Äther«, Chronos als »Zeit-Schöpfer« und Chthon als »Stoff-Erbringer« die drei »Urmütter« der Welt nennen. Man sieht sie noch in Goethes »Faust« durchblicken, in der Szene des zweiten Teiles, wo Faust den Gang zu den »Müttern« antritt.
So wie bei Pherekydes diese drei Urwesen auftreten, weisen sie zurück auf Vorstellungen bei Vorgängern dieser Persönlichkeit, auf die sogenannten Orphiker. Diese sind Bekenner einer Vorstellungsart, welche noch ganz in der alten Bildhaftigkeit lebt. Bei ihnen finden sich auch drei Urwesen, Zeus, Chronos und das Chaos. Neben diesen drei »Urmüttern« sind diejenigen des Pherekydes um einen Grad weniger bildhaft. Pherekydes versucht eben schon mehr durch das Gedankenleben zu ergreifen, was die Orphiker noch völlig im Bilde hielten. Deshalb erscheint er als die Persönlichkeit, bei welcher man von der »Geburt des Gedankenlebens« sprechen kann. Dies drückt sich weniger durch die gedankliche Fassung der orphischen Vorstellungen bei Pherekydes aus, als durch eine gewisse Grundstimmung seiner Seele, die sich dann in einer ähnlichen Art bei manchem philosophierenden Nachfolger des Pherekydes in Griechenland wiederfindet. Pherekydes sieht sich nämlich gezwungen, den Ursprung der Dinge in dem »Guten« (Arizon) zu sehen. Mit den »mythischen Götterwelten« der alten Zeit konnte er diesen Begriff nicht verbinden. Den Wesen dieser Welt kamen Seeleneigenschaften zu, die mit diesem Begriffe nicht verträglich waren. In seine drei »Urgründe« konnte Pherekydes nur den Begriff des »Guten«, des Vollkommenen hineindenken.
Damit hängt zusammen, dass mit der Geburt des Gedankenlebens eine Erschütterung des seelischen Empfindens verbunden war. Man soll dieses seelische Erlebnis da nicht übersehen, wo die gedankliche Weltanschauung ihren Anfang hat. Man hätte in diesem Anfang nicht einen Fortschritt empfinden können, wenn man mit dem Gedanken nicht etwas Vollkommeneres hätte zu erfassen geglaubt, als mit dem alten Bild-Erleben erreicht war. Es ist ganz selbstverständlich, dass innerhalb dieser Stufe der Weltanschauungsentwicklung die hier gemeinte Empfindung nicht klar ausgesprochen wurde.
Empfunden aber wurde, was man jetzt rückblickend auf die alten griechischen Denker klar aussprechen darf. Man empfand: die von den unmittelbaren Vorfahren erlebten Bilder führten nicht zu den höchsten, den vollkommensten Urgründen. In diesen Bildern zeigten sich nur weniger vollkommene Urgründe. Der Gedanke müsse sich erheben zu den noch höheren Urgründen, von denen das in Bildern Geschaute nur die Geschöpfe sind.
Durch den Fortschritt zum Gedankenleben zerfiel die Welt für das Vorstellen in eine mehr natürliche und eine mehr geistige Sphäre. In dieser geistigen Sphäre, die man jetzt erst empfand, musste man das fühlen, was ehedem in Bildern erlebt worden war. Dazu kam jetzt noch die Vorstellung eines Höheren, was erhaben über dieser älteren geistigen Welt und über der Natur gedacht wird. Zu diesem Erhabenen wollte der Gedanke dringen. In der Region dieses Erhabenen sucht Pherekydes seine »drei Urmütter«. Ein Blick auf die Welterscheinungen kann veranschaulichen, von welcher Art die Vorstellungen waren, die bei einer Persönlichkeit wie Pherekydes Platz griffen. In seiner Umwelt findet der Mensch eine allen Erscheinungen zugrunde liegende Harmonie, wie sie sich in den Bewegungen der Gestirne, in dem Gang der Jahreszeiten mit den Segnungen des Pflanzenwachstums usw. zum Ausdrucke bringt. In diesen segensvollen Lauf der Dinge greifen die hemmenden, zerstörenden Mächte ein, wie sie sich in den schädlichen Wetterwirkungen, in Erdbeben usw. ausdrücken. Wer den Blick auf alles dieses wendet, kann auf eine Zweiheit der waltenden Mächte geführt werden. Doch bedarf die menschliche Seele der Annahme einer zugrunde liegenden Einheit. Sie empfindet naturgemäß: der verheerende Hagel, das zerstörende Erdbeben, sie müssen schließlich aus derselben Quelle stammen wie die segenbringende Ordnung der Jahreszeiten. Der Mensch blickt auf diese Art durch Gutes und Schlechtes hindurch auf ein Urgutes. In dem Erdbeben waltet dieselbe gute Kraft wie in dem Frühlingssegen. In der austrocknenden verödenden Sonnenhitze ist dieselbe Wesenheit tätig, welche das Samenkorn zur Reife bringt. Also auch in den schädlichen Tatsachen sind die »guten Urmütter«. Wenn der Mensch dieses fühlt, stellt sich ein gewaltiges Weltenrätsel vor seine Seele hin. Pherekydes blickt, um es sich zu lösen, zu seinem Ophioneus hin. Sich anlehnend an die alten Bildervorstellungen, erscheint ihm Ophioneus wie eine Art »Weltenschlange«. In Wirklichkeit ist dies ein Geistwesen, welches wie alle anderen Weltwesen zu den Kindern von Chronos, Zeus und Chthon gehört, jedoch sich nach seiner Entstehung so gewandelt hat, dass seine Wirkungen sich gegen die Wirkungen der »guten Urmütter« richten. Damit aber zerfällt die Welt in eine Dreiheit. Das erste sind die »Urmütter«, die als gut, als vollkommen dargestellt werden, das zweite sind die segensreichen Weltvorgänge, das dritte die zerstörenden oder nur unvollkommenen Weltvorgänge, welche sich als Ophioneus in die Segenswirkungen hineinwinden.
Bei Pherekydes ist Ophioneus nicht etwa eine bloße symbolische Idee für die hemmenden, zerstörenden Weltenmächte. Pherekydes steht mit seinem Vorstellen an der Grenze zwischen Bild und Gedanken. Er denkt nicht etwa: es gibt verheerende Mächte, ich stelle sie mir unter dem Bilde des Ophioneus vor. Solch ein Gedankenprozess ist bei ihm auch nicht als Phantasietätigkeit vorhanden. Er blickt auf die hemmenden Kräfte, und unmittelbar steht vor seiner Seele Ophioneus, wie die rote Farbe vor der Seele steht, wenn der Blick auf die Rose geworfen wird.
Wer die Welt nur sieht, wie sie sich der Bildwahrnehmung darbietet, der unterscheidet zunächst im Gedanken nicht die Vorgänge der »guten Urmütter« und diejenigen des Ophioneus. An der Grenze zur gedanklichen Weltanschauung hin wird die Notwendigkeit dieser Unterscheidung empfunden. Denn mit diesem Fortschritte erst fühlt sich die Seele als ein abgesondertes, selbständiges Wesen. Sie fühlt, dass sie sich fragen muss: Woher stamme ich selbst? Und sie muss ihren Ursprung suchen in Weltentiefen, wo Chronos, Zeus und Chthon noch nicht ihren Widersacher neben sich hatten. Doch fühlt die Seele auch, dass sie von diesem ihrem Ursprung zunächst nichts wissen kann. Denn sie sieht sich inmitten der Welt, in welcher die »guten Urmütter« mit Ophioneus zusammenwirken; sie fühlt sich in einer Welt, in der Vollkommenes und Unvollkommenes miteinander verbunden sind. Ophioneus ist in ihr eigenes Wesen mit hineinverschlungen.
Man fühlt, was in den Seelen einzelner Persönlichkeiten im sechsten vorchristlichen Jahrhundert vorgegangen ist, wenn man die charakterisierten Empfindungen auf sich wirken lässt. Mit den alten mythischen Götterwesen fühlten sich solche Seelen in die unvollkommene Welt hinein verstrickt. Diese Götterwesen gehörten derselben unvollkommenen Welt an wie sie selber. Aus solcher Stimmung heraus entstand ein Geistesbund wie der von Pythagoras aus Samos zwischen den Jahren 540 und 500 v. Chr. in Kroton in Großgriechenland gegründete. Pythagoras wollte die sich zu ihm bekennenden Menschen zum Empfinden der »guten Urmütter« zurückführen, in denen der Ursprung ihrer Seelen vorgestellt werden sollte. In dieser Beziehung kann gesagt werden, dass er und seine Schüler »anderen« Göttern dienen wollten als das Volk. Und damit war gegeben, was als der Bruch erscheinen muss zwischen solchen Geistern wie Pythagoras und dem Volke. Dieses fühlte sich mit seinen Göttern wohl; er musste diese Götter in das Reich des Unvollkommenen verweisen. Darin ist auch das »Geheimnis« zu suchen, von dem im Zusammenhang mit Pythagoras gesprochen wird, und das den nicht Eingeweihten nicht verraten werden durfte. Es bestand darinnen, dass sein Denken der Menschenseele einen anderen Ursprung zusprechen musste als den Götterseelen der Volksreligion. Auf dieses »Geheimnis« sind zuletzt die zahlreichen Angriffe zurückzuführen, welche Pythagoras erfahren hat. Wie sollte er anderen als denen, welche er erst sorgfältig für solche Erkenntnis vorbereitete, klarmachen, dass sie »als Seelen« sich sogar in einem gewissen Sinne als höherstehend ansehen dürften als die Volksgötter stehen. Und wie sollte sich anders als in einem Bunde mit streng geregelter Lebensweise durchführen lassen, dass sich die Seelen ihres hohen Ursprungs bewusst wurden und doch sich verstrickt in die Unvollkommenheit fühlten. Durch letzteres Fühlen sollte ja das Streben erzeugt werden, das Leben so einzurichten, dass es durch Selbstvervollkommnung zu seinem Ursprung zurückführte. Dass um solches Streben des Pythagoras sich Legenden und Mythen bilden mussten, ist verständlich. Und auch, dass über die wahre Bedeutung dieser Persönlichkeit so gut wie nichts geschichtlich überliefert ist. Wer jedoch die Legenden und sagenhaften Überlieferungen des Altertums über Pythagoras im Zusammenhang beobachtet, der wird aus ihnen das eben gegebene Bild doch erkennen.
In dem Bilde des Pythagoras fühlt das gegenwärtige Denken auch noch störend die Idee der sogenannten »Seelenwanderung«. Man empfindet es als kindlich, wenn Pythagoras sogar gesagt haben soll, er wisse, dass er in früheren Zeiten als anderes Menschenwesen bereits auf Erden war. Es darf erinnert werden daran, dass der große Vertreter der neueren Aufklärung, Lessing, in seiner »Erziehung des Menschengeschlechtes« aus einem ganz anderen Denken heraus, als das des Pythagoras war, diese Idee der wiederholten Erdenleben des Menschen erneuert hat. Lessing konnte sich den Fortschritt des Menschengeschlechtes nur so vorstellen, dass die menschlichen Seelen an dem Leben in den aufeinanderfolgenden Erdenzeiträumen wiederholt teilnehmen. Eine Seele bringt als Anlage usw. in das Leben eines späteren Zeitraumes mit, was ihr von dem Erleben in früheren Zeiträumen geblieben ist.
Lessing findet es naturgemäß, dass die Seele schon oft im Erdenleib da war und in Zukunft oft da sein werde und sich so von Leben zu Leben zu der ihr möglichen Vollkommenheit durchringt. Er macht darauf aufmerksam, dass diese Idee von den wiederholten Erdenleben nicht deshalb für unglaubwürdig angesehen werden müsse, weil sie in den ältesten Zeiten vorhanden war, »weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel«.