Die Räuber. Friedrich Schiller - Friedrich Schiller - E-Book

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Friedrich Schiller

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Beschreibung

Eine kommentierte Textausgabe als Lesetext und für die Textarbeit in der Schule mit über 1000 Wort- und Sacherklärungen »Die Räuber« ist das fulminante Erstlingswerk von Friedrich Schiller (1759–1805), das seinen Autoren quasi über Nacht berühmt machte. Es ist die Geschichte der ungleichen Brüder Karl und Franz von Moor. Karl ist ein talentierter und edelmutiger junger Mann, der in den Strudel von Exzessen gerät und sich in Schulden stürzt. Sein jüngerer Bruder Franz ist ein kaltbültiger, heimtückischer und tyrannischer Charakter, der alle Hebel in Gang setzt, um in die Rechte seines Bruders einzutreten und dessen Geliebte Amalia für sich zu besitzen. Die Aktivitäten beider setzen eine Kette von Katastrophen in Gang, die am Ende ihre ganze Welt zum Einsturz bringt. »Die Räuber« ist ein wortgewaltiges Bühnenwerk, das voller mundartlicher Begriffe und Redewendungen, Fremdwörtern und poetischer, bilderreicher Sprache steckt. Bei der ersten Lektüre aber bleiben oft viele der Wörter und Sachen unverstanden. Die vorliegende Ausgabe bringt daher mit über 1000 Wort- und Sacherklärungen Licht in dieses Dunkel und präsentiert diese Erklärungen in unmittelbarer Nähe zur Textstelle, damit der Lesefluss durch allzu häufiges Blättern nicht unnötig gestört wird. Die Ausgabe bietet: — Erläuterungen von schwäbischen Wörtern und Redewendungen — Übersetzung und Erklärung von französischen Begriffen und anderen Fremdwörtern — Erläuterungen zu Hintergründen verschiedener Ereignisse bzw. Literaturzitate — Erklärungen veralteter Begriffe — Erläuterungen in unmittelbarer Nähe zum Text ohne lästiges Umblättern — Schiller-Biographie und Werkverzeichnis — Anhang mit der unterdrückten Vorrede und dem unterdrückten Durckbogen B

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Friedrich Schiller

Die Räuber. Ein Schauspiel

Kommentierte Ausgabe mit Wort- und Sacherklärungen für die gymnasiale Oberstufe

Herstellung: Karl A. Fiedler

aionas

Der Text wurde den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst. Interpunktion, Lautstand und grammatikalische Eigenschaften wurden hierbei gewahrt.

aionas Verlag, Marstallstr. 1, Weimar

1. Auflage, 2014

ISBN (Print): 978-1505586251

Titel: © Fernando Cortés - Fotolia.com

Inhaltsverzeichnis

Personen
Vorrede
Erster Akt
Erste Szene
Zweite Szene
Dritte Szene
Zweiter Akt
Erste Szene
Zweite Szene
Dritte Szene
Dritter Akt
Erste Szene
Zweite Szene
Vierter Akt
Erste Szene
Zweite Szene
Dritte Szene
Vierte Szene
Fünfte Szene
Fünfter Akt
Erste Szene
Zweite Szene
Kurzbiographie
Werke Schillers (Übersicht)
Anhang
Die unterdrückte Vorrede (1781)
Unterdrückter Bogen B
Zweite Szene
Literaturverzeichnis
Wort- und Sacherklärungen

Die Räuber

Ein Schauspiel

Hippocrates1

Quae medicamenta non sanant, ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat.2

Personen

Maximilian, regierender Graf von Moor.

 

Karl,

Franz, seine Söhne.

 

Amalia, von Edelreich3.

 

Spiegelberg,

Schweizer,

Grimm,

Razmann,

Schufterle,

Roller,

Kosinsky,

Schwarz, Libertiner4, nachher Banditen.

 

Hermann, Bastard5von einem Edelmann.

Daniel, Hausknecht des Grafen von Moor.

Pastor Moser6.

Ein Pater.

Räuberbande.

Nebenpersonen.

 

(Der Ort der Geschichte ist Teutschland, die Zeit ohngefehr zwei Jahre.)

Vorrede7

Man nehme dieses Schauspiel für nichts anders als eine dramatische Geschichte, die die Vorteile der dramatischen Methode, die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen, benutzt, ohne sich übrigens in die Schranken eines Theaterstücks einzuzäunen, oder nach dem so zweifelhaften Gewinn bei theatralischer Verkörperung zu geizen. Man wird mir einräumen, daß es eine widersinnige Zumutung ist, binnen drei Stunden drei außerordentliche Menschen8 zu erschöpfen, deren Tätigkeit von vielleicht tausend Räderchen abhänget9, so wie es in der Natur der Dinge unmöglich kann gegründet sein, daß sich drei außerordentliche Menschen auch dem durchdringendsten Geisterkenner innerhalb vierundzwanzig Stunden entblößen. Hier war Fülle ineinandergedrungener Realitäten10 vorhanden, die ich unmöglich in die allzu engen Palisaden des Aristoteles und Batteux11 einkeilen konnte.

Nun ist es aber nicht sowohl die Masse meines Schauspiels als vielmehr sein Inhalt, der es von der Bühne verbannet. Die Ökonomie12 desselben machte es notwendig, daß mancher Charakter auftreten mußte, der das feinere Gefühl der Tugend beleidigt und die Zärtlichkeit13 unserer Sitten empört. Jeder Menschenmaler ist in diese Notwendigkeit gesetzt, wenn er anders eine Kopie der wirklichen Welt und keine idealische14 Affektationen15, keine Kompendienmenschen16 will geliefert haben. Es ist einmal so die Mode in der Welt, daß die Guten durch die Bösen schattiert17 werden und die Tugend im Kontrast mit dem Laster das lebendigste Kolorit18 erhält. Wer sich den Zweck vorgezeichnet hat, das Laster zu stürzen und Religion, Moral und bürgerliche Gesetze an ihren Feinden zu rächen, ein solcher muß das Laster in seiner nackten Abscheulichkeit enthüllen und in seiner kolossalischen19 Größe vor das Auge der Menschheit stellen — er selbst muß augenblicklich seine nächtlichen Labyrinthe20 durchwandern, — er muß sich in Empfindungen hineinzuzwingen wissen, unter deren Widernatürlichkeit sich seine Seele sträubt.

Das Laster wird hier mitsamt seinem ganzen innern Räderwerk entfaltet. Es löst in Franzen21 all die verworrenen Schauer des Gewissens in ohnmächtige Abstraktionen22 auf, skelettisiert die richtende Empfindung23 und scherzt die ernsthafte Stimme der Religion hinweg24. Wer es einmal so weit gebracht hat (ein Ruhm, den wir ihm nicht beneiden), seinen Verstand auf Unkosten seines Herzens zu verfeinern, dem ist das Heiligste nicht heilig mehr — dem ist die Menschheit, die Gottheit nichts — Beide Welten sind nichts in seinen Augen. Ich habe versucht, von einem Mißmenschen25 dieser Art ein treffendes lebendiges Konterfei26 hinzuwerfen, die vollständige Mechanik seines Lastersystems auseinanderzugliedern — und ihre Kraft an der Wahrheit zu prüfen. Man unterrichte sich demnach im Verfolg dieser Geschichte, wie weit ihrs gelungen hat — Ich denke, ich habe die Natur getroffen.

Nächst an diesem stehet ein anderer, der vielleicht nicht wenige meiner Leser in Verlegenheit setzen möchte. Ein Geist, den das äußerste Laster nur reizet um der Größe willen, die ihm anhänget, um der Kraft willen, die es erheischet27, um der Gefahren willen, die es begleiten. Ein merkwürdiger, wichtiger Mensch, ausgestattet mit aller Kraft, nach der Richtung, die diese bekömmt, notwendig entweder ein Brutus28 oder ein Catilina29 zu werden. Unglückliche Konjunkturen30 entscheiden für das zweite, und erst am Ende einer ungeheuren Verirrung gelangt er zu dem ersten. Falsche Begriffe von Tätigkeit und Einfluß, Fülle von Kraft, die alle Gesetze übersprudelt31, mußten sich natürlicherweise an bürgerlichen Verhältnissen zerschlagen, und zu diesen enthusiastischen Träumen von Größe und Wirksamkeit durfte sich nur eine Bitterkeit gegen die unidealische32 Welt gesellen, so war der seltsame Don Quixote33 fertig, den wir im Räuber Moor verabscheuen und lieben, bewundern und bedauern. Ich werde es hoffentlich nicht erst anmerken dörfen, daß ich dieses Gemälde so wenig nur allein Räubern vorhalte, als die Satire des Spaniers nur allein Ritter geißelt.

Auch ist itzo der große Geschmack, seinen Witz34 auf Kosten der Religion spielen zu lassen, daß man beinahe für kein Genie mehr passiert35, wenn man nicht seinen gottlosen Satyr36 auf ihren heiligsten Wahrheiten sich herumtummeln läßt. Die edle Einfalt der Schrift37 muß sich in alltäglichen Assembleen38 von den sogenannten witzigen Köpfen mißhandeln und ins Lächerliche verzerren lassen; denn was ist so heilig und ernsthaft, das, wenn man es falsch verdreht, nicht belacht werden kann? — Ich kann hoffen, daß ich der Religion und der wahren Moral keine gemeine39 Rache verschafft habe, wenn ich diese mutwillige Schriftverächter in der Person meiner schändlichsten Räuber dem Abscheu der Welt überliefere.

Aber noch mehr. Diese unmoralische Charaktere, von denen vorhin gesprochen wurde, mußten von gewissen Seiten glänzen, ja oft von seiten des Geistes gewinnen, was sie von seiten des Herzens verlieren. Hierin habe ich nur die Natur gleichsam wörtlich abgeschrieben. Jedem, auch dem Lasterhaftesten, ist gewissermaßen der Stempel des göttlichen Ebenbilds aufgedrückt, und vielleicht hat der große Bösewicht keinen so weiten Weg zum großen Rechtschaffenen als der kleine; denn die Moralität hält gleichen Gang mit den Kräften, und je weiter die Fähigkeit, desto weiter und ungeheurer ihre Verirrung, desto imputabler40 ihre Verfälschung.

Klopstocks Adramelech41 weckt in uns eine Empfindung, worin Bewunderung in Abscheu schmilzt42. Miltons Satan43 folgen wir mit schauderndem Erstaunen durch das unwegsame Chaos. Die Medea44 der alten Dramatiker bleibt bei all ihren Greueln noch ein großes, staunenswürdiges Weib, und Shakespeares Richard45 hat so gewiß am Leser einen Bewunderer, als er auch ihn hassen würde, wenn er ihm vor der Sonne stünde. Wenn es mir darum zu tun ist, ganze Menschen hinzustellen, so muß ich auch ihre Vollkommenheiten mitnehmen, die auch dem Bösesten nie ganz fehlen. Wenn ich vor dem Tiger gewarnt haben will, so darf ich seine schöne, blendende46 Fleckenhaut nicht übergehen, damit man nicht den Tiger beim Tiger vermisse. Auch ist ein Mensch, der ganz Bosheit ist, schlechterdings kein Gegenstand der Kunst und äußert eine zurückstoßende47 Kraft, statt daß er die Aufmerksamkeit der Leser fesseln sollte. Man würde umblättern, wenn er redet. Eine edle Seele erträgt so wenig anhaltende moralische Dissonanzen48, als das Ohr das Gekritzel eines Messers auf Glas.

Aber eben darum will ich selbst mißraten49 haben, dieses mein Schauspiel auf der Bühne zu wagen. Es gehört beiderseits, beim Dichter und seinem Leser, schon ein gewisser Gehalt von Geisteskraft dazu; bei jenem, daß er das Laster nicht ziere50, bei diesem, daß er sich nicht von einer schönen Seite bestechen lasse, auch den häßlichen Grund zu schätzen. Meinerseits entscheide ein Dritter — aber von meinen Lesern bin ich es nicht ganz versichert. Der Pöbel51, worunter ich keineswegs die Gassenkehrer allein will verstanden wissen, der Pöbel wurzelt (unter uns gesagt) weit um und gibt zum Unglück — den Ton an. Zu kurzsichtig, mein Ganzes auszureichen52, zu kleingeistisch, mein Großes zu begreifen, zu boshaft, mein Gutes wissen zu wollen, wird er, fürcht ich, fast meine Absicht vereiteln, wird vielleicht eine Apologie53 des Lasters, das ich stürze, darin zu finden meinen und seine eigene Einfalt den armen Dichter entgelten lassen, dem man gemeiniglich alles, nur nicht Gerechtigkeit widerfahren läßt.

Es ist das ewige Dacapo54 mit Abdera und Demokrit55, und unsre gute Hippokrate müßten ganze Plantagen Nieswurz erschöpfen56, wenn sie dem Unwesen durch ein heilsames Dekokt57 abhelfen wollten. Noch so viele Freunde der Wahrheit mögen zusammenstehen, ihren Mitbürgern auf Kanzel und Schaubühne Schule zu halten, der Pöbel hört nie auf, Pöbel zu sein, und wenn Sonne und Mond sich wandeln und Himmel und Erde veralten wie ein Kleid58. Vielleicht hätt ich, den Schwachherzigen zu frommen, der Natur minder getreu sein sollen; aber wenn jener Käfer, den wir alle kennen, auch den Mist aus den Perlen stört59, wenn man Exempel60 hat, daß Feuer verbrannt und Wasser ersäuft habe, soll darum Perle — Feuer — und Wasser konfisziert 61werden?

Ich darf meiner Schrift zufolge ihrer merkwürdigen62 Katastrophe mit Recht einen Platz unter den moralischen Büchern versprechen; das Laster nimmt den Ausgang, der seiner würdig ist. Der Verirrte tritt wieder in das Geleise der Gesetze. Die Tugend geht siegend davon. Wer nur so billig gegen mich handelt, mich ganz zu lesen, mich verstehen zu wollen, von dem kann ich erwarten, daß er — nicht den Dichter bewundere, aber den rechtschaffenen Mann in mir hochschätze.

Geschrieben in der Ostermesse. 1781. Der Herausgeber.

Erster Akt

Erste Szene

Franken. Saal im Moorischen Schloß. Franz. Der alte Moor.

FRANZ. Aber ist Euch auch wohl, Vater? Ihr seht so blaß.

DER ALTE MOOR. Ganz wohl, mein Sohn — was hattest du mir zu sagen?

FRANZ. Die Post ist angekommen — ein Brief von unserm Korrespondenten63 in Leipzig —

DER ALTE MOORbegierig. Nachrichten von meinem Sohne Karl?

FRANZ. Hm! Hm! — So ist es. Aber ich fürchte — ich weiß nicht — ob ich — Eurer Gesundheit? — Ist Euch wirklich ganz wohl, mein Vater?

DER ALTE MOOR. Wie dem Fisch im Wasser! Von meinem Sohne schreibt er? — Wie kommst du zu dieser Besorgnis? Du hast mich zweimal gefragt.

FRANZ. Wenn Ihr krank seid — nur die leiseste Ahndung64 habt, es zu werden, so laßt mich — ich will zu gelegnerer Zeit zu Euch reden. Halb vor sich. Diese Zeitung65 ist nicht für einen zerbrechlichen Körper.

DER ALTE MOOR. Gott! Gott! was werd ich hören?

FRANZ. Laßt mich vorerst auf die Seite gehn und eine Träne des Mitleids vergießen um meinen verlornen Bruder66 — ich sollte schweigen auf ewig — denn er ist Euer Sohn; ich sollte seine Schande verhüllen auf ewig — denn er ist mein Bruder. — Aber Euch gehorchen, ist meine erste, traurige Pflicht — darum vergebt mir.

DER ALTE MOOR. O Karl! Karl! Wüßtest du, wie deine Aufführung das Vaterherz foltert! Wie eine einzige frohe Nachricht von dir meinem Leben zehen Jahre zusetzen würde — mich zum Jüngling machen würde — da mich nun jede, ach! — einen Schritt näher ans Grab rückt!

FRANZ. Ist es das, alter Mann, so lebt wohl — wir alle würden noch heute die Haare ausraufen über Eurem Sarge.

DER ALTE MOOR. Bleib! — Es ist noch um den kleinen kurzen Schritt zu tun — laß ihm seinen Willen! Indem er sich niedersetzt. Die Sünden seiner Väter67 werden heimgesucht im dritten und vierten Glied — laß ihns vollenden.

FRANZnimmt den Brief aus der Tasche. Ihr kennt unsern Korrespondenten! Seht! Den Finger meiner rechten Hand wollt ich drum geben, dürft ich sagen, er ist ein Lügner, ein schwarzer, giftiger Lügner — — Faßt Euch! Ihr vergebt mir, wenn ich Euch den Brief nicht selbst lesen lasse — noch dörft Ihr nicht alles hören.

DER ALTE MOOR. Alles, alles — mein Sohn, du ersparst mir die Krücke68.

FRANZliest. »Leipzig, vom 1. Mai. — Verbände mich nicht eine unverbrüchliche Zusage, dir auch nicht das geringste zu verhehlen, was ich von den Schicksalen deines Bruders auffangen kann, liebster Freund, nimmermehr würde meine unschuldige Feder an dir zur Tyrannin geworden sein. Ich kann aus hundert Briefen von dir abnehmen69, wie Nachrichten dieser Art dein brüderliches Herz durchbohren müssen, mir ists, als säh ich dich schon um den Nichtswürdigen, den Abscheulichen« — — Der alte Moor verbirgt sein Gesicht. Seht, Vater! ich lese Euch nur das Glimpflichste — »den Abscheulichen in tausend Tränen ergossen«, — ach, sie flossen stürzten stromweis von dieser mitleidigen Wange — »mir ists, als säh ich schon deinen alten, frommen Vater totenbleich« — Jesus Maria! Ihr seids, eh Ihr noch das mindeste wisset?

DER ALTE MOOR. Weiter! Weiter!

FRANZ. »Totenbleich in seinen Stuhl zurücktaumeln und dem Tage fluchen, an dem ihm zum erstenmal Vater entgegengestammelt ward. Man hat mir nicht alles entdecken mögen, und von dem wenigen, das ich weiß, erfährst du nur weniges. Dein Bruder scheint nun das Maß seiner Schande gefüllt zu haben; ich wenigstens kenne nichts über dem, was er wirklich erreicht hat, wenn nicht sein Genie70 das meinige hierin übersteigt. Gestern um Mitternacht hatte er den großen Entschluß, nach vierzigtausend Dukaten71 Schulden« — ein hübsches Taschengeld, Vater! — »nachdem er zuvor die Tochter eines reichen Bankiers allhier entjungfert und ihren Galan72, einen braven Jungen von Stand, im Duell auf den Tod verwundet, mit sieben andern, die er mit in sein Luderleben gezogen, dem Arm der Justiz zu entlaufen« — Vater! Um Gotteswillen, Vater! Wie wird Euch?

DER ALTE MOOR. Es ist genug. — Laß ab, mein Sohn!

FRANZ. Ich schone Eurer — »Man hat ihm Steckbriefe nachgeschickt, die Beleidigte schreien laut um Genugtuung, ein Preis ist auf seinen Kopf gesetzt — der Name Moor« — Nein! meine arme Lippen sollen nimmermehr einen Vater ermorden! Zerreißt den Brief. Glaubt es nicht, Vater! Glaubt ihm keine Silbe!

DER ALTE MOORweint bitterlich. Mein Name! Mein ehrlicher Name!

FRANZfällt ihm um den Hals. Schändlicher, dreimal schändlicher Karl! Ahndete mirs nicht, da er, noch ein Knabe, den Mädels so nachschlenderte, mit Gassenjungen und elendem Gesindel auf Wiesen und Bergen sich herumhetzte, den Anblick der Kirche, wie ein Missetäter das Gefängnis, floh, und die Pfennige, die er Euch abquälte, dem ersten dem besten Bettler in den Hut warf, während daß wir daheim mit frommen Gebeten und heiligen Predigtbüchern uns erbauten? — Ahndete mirs nicht, da er die Abenteuer des Julius Cäsar73 und Alexander Magnus74 und anderer stockfinsterer Heiden lieber las als die Geschichte des bußfertigen Tobias75? — Hundertmal hab ichs Euch geweissagt, denn meine Liebe zu ihm war immer in den Schranken der kindlichen Pflicht, — der Junge wird uns alle noch in Elend und Schande stürzen! — O daß er Moors Namen nicht trüge! daß mein Herz nicht so warm für ihn schlüge! Die gottlose Liebe, die ich nicht vertilgen kann, wird mich noch einmal vor Gottes Richterstuhl anklagen.

DER ALTE MOOR. Oh — meine Aussichten! Meine goldenen Träume!

FRANZ. Das weiß ich wohl. Das ist es ja, was ich eben sagte. Der feurige Geist, der in dem Buben lodert, sagtet Ihr immer, der ihn für jeden Reiz von Größe und Schönheit so empfindlich macht; diese Offenheit, die seine Seele auf dem Auge spiegelt, diese Weichheit des Gefühls, die ihn bei jedem Leiden in weinende Sympathie dahinschmelzt, dieser männliche Mut, der ihn auf den Wipfel hundertjähriger Eichen treibet und über Gräber und Palisaden76 und reißende Flüsse jagt, dieser kindische Ehrgeiz, dieser unüberwindliche Starrsinn und alle diese schöne, glänzende Tugenden, die im Vatersöhnchen keimten, werden ihn dereinst zu einem warmen77 Freund eines Freundes, zu einem trefflichen Bürger, zu einem Helden, zu einem großen, großen Manne78 machen — Seht Ihrs nun, Vater! — der feurige Geist hat sich entwickelt, ausgebreitet, herrliche Früchte hat er getragen. Seht diese Offenheit, wie hübsch sie sich zur Frechheit herumgedreht hat; seht diese Weichheit, wie zärtlich sie für Koketten79 girret80, wie so empfindsam für die Reize einer Phryne81! Seht dieses feurige Genie, wie es das Öl seines Lebens in sechs Jährchen so rein weggebrannt hat, daß er bei lebendigem Leibe umgeht, und da kommen die Leute und sind so unverschämt und sagen: c‘est l‘amour qui a fait ça82! Ah! seht doch diesen kühnen, unternehmenden Kopf, wie er Plane schmiedet und ausführt, vor denen die Heldentaten eines Cartouches und Howards83 verschwinden! — Und wenn erst diese prächtigen Keime zur vollen Reife erwachsen, — was läßt sich auch von einem so zarten Alter Vollkommenes erwarten? — Vielleicht, Vater, erlebet Ihr noch die Freude, ihn an der Fronte84 eines Heeres zu erblicken, das in der heiligen Stille der Wälder residieret, und dem müden Wanderer seine Reise um die Hälfte der Bürde erleichtert — vielleicht könnt Ihr noch, eh Ihr zu Grabe geht, eine Wallfahrt nach seinem Monumente tun, das er sich zwischen Himmel und Erden errichtet — vielleicht, o Vater, Vater, Vater — seht Euch nach einem andern Namen um, sonst deuten Krämer und Gassenjungen mit Fingern auf Euch, die Euren Herrn Sohn auf dem Leipziger Marktplatz im Porträt85 gesehen haben.

DER ALTE MOOR. Und auch du, mein Franz, auch du? O meine Kinder! Wie sie nach meinem Herzen zielen!

FRANZ. Ihr seht, ich kann auch witzig sein; aber mein Witz86 ist Skorpionstich. — Und dann der trockne Alltagsmensch, der kalte, hölzerne Franz, und wie die Titelchen alle heißen mögen, die Euch der Kontrast zwischen ihm und mir mocht eingegeben haben, wenn er Euch auf dem Schoße saß oder in die Backen zwickte — der wird einmal zwischen seinen Grenzsteinen sterben, und modern und vergessen werden, wenn der Ruhm dieses Universalkopfs87 von einem Pole zum andern fliegt — Ha! mit gefaltnen Händen dankt dir, o Himmel! der kalte, trockne, hölzerne Franz — daß er nicht ist wie dieser!

DER ALTE MOOR. Vergib mir, mein Kind; zürne nicht auf einen Vater, der sich in seinen Planen88 betrogen findet. Der Gott, der mir durch Karln Tränen zusendet, wird sie durch dich, mein Franz, aus meinen Augen wischen.

FRANZ. Ja, Vater, aus Euren Augen soll er sie wischen. Euer Franz wird sein Leben dran setzen, das Eurige zu verlängern. Euer Leben ist das Orakel, das ich vor allem zu Rate ziehe über dem, was ich tun will, der Spiegel, durch den ich alles betrachte — keine Pflicht ist mir so heilig, die ich nicht zu brechen bereit bin, wenns um Euer kostbares Leben zu tun ist. — Ihr glaubt mir das?

DER ALTE MOOR. Du hast noch große Pflichten auf dir, mein Sohn — Gott segne dich für das, was du mir warst und sein wirst!

FRANZ. Nun sagt mir einmal — Wenn Ihr diesen Sohn nicht den Euren nennen müßtet, Ihr wärt ein glücklicher Mann?

DER ALTE MOOR. Stille! o stille! Da ihn die Wehmutter89 mir brachte, hub ich ihn gen Himmel und rief: Bin ich nicht ein glücklicher Mann?

FRANZ. Das sagtet Ihr. Nun habt Ihrs gefunden? Ihr beneidet den schlechtesten90 Eurer Bauren, daß er nicht Vater ist zu diesem — Ihr habt Kummer, solang Ihr diesen Sohn habt. Dieser Kummer wird wachsen mit Karln. Dieser Kummer wird Euer Leben untergraben.

DER ALTE MOOR. Oh! er hat mich zu einem achtzigjährigen Manne gemacht.

FRANZ. Nun also — wenn Ihr dieses Sohnes Euch entäußertet?

DER ALTE MOORauffahrend. Franz! Franz! was sagst du?

FRANZ. Ist es nicht diese Liebe zu ihm, die Euch all den Gram macht? Ohne diese Liebe ist er für Euch nicht da. Ohne diese strafbare, diese verdammliche Liebe ist er Euch gestorben — ist er Euch nie geboren. Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen. Liebt Ihr ihn nicht mehr, so ist diese Abart auch Euer Sohn nicht mehr, und wär er aus Eurem Fleische geschnitten. Er ist Euer Augapfel gewesen bisher, nun aber, ärgert dich dein Auge, sagt die Schrift, so reiß es aus91. Es ist besser, einäugig gen Himmel, als mit zwei Augen in die Hölle. Es ist besser, kinderlos gen Himmel, als wenn beide, Vater und Sohn, in die Hölle fahren. So spricht die Gottheit!

DER ALTE MOOR. Du willst, ich soll meinen Sohn verfluchen?

FRANZ. Nicht doch! nicht doch! — Euren Sohn sollt Ihr nicht verfluchen. Was heißt Ihr Euren Sohn? — dem Ihr das Leben gegeben habt, wenn er sich auch aller ersinnliche Mühe gibt, das Eurige zu verkürzen?

DER ALTE MOOR. Oh, das ist allzuwahr! das ist ein Gericht über mich. Der Herr hats ihm geheißen!

FRANZ. Seht Ihrs, wie kindlich Euer Busenkind92 an Euch handelt? Durch Eure väterliche Teilnehmung93 erwürgt er Euch, mordet Euch durch Eure Liebe, hat Euer Vaterherz selbst bestochen, Euch den Garaus zu machen. Seid Ihr einmal nicht mehr, so ist er Herr Eurer Güter, König seiner Triebe. Der Damm ist weg, und der Strom seiner Lüste94 kann itzt freier dahinbrausen. Denkt Euch einmal an seine Stelle! Wie oft muß er den Vater unter die Erde wünschen — wie oft den Bruder — die ihm im Lauf seiner Exzesse so unbarmherzig im Weg stehen. Ist das aber Liebe gegen Liebe? Ist das kindliche Dankbarkeit gegen väterliche Milde? Wenn er dem geilen Kitzel95 eines Augenblicks zehn Jahre Eures Lebens aufopfert? Wenn er den Ruhm seiner Väter, der sich schon sieben Jahrhunderte unbefleckt erhalten hat, in einer wollüstigen Minute aufs Spiel setzt? Heißt Ihr das Euren Sohn? Antwortet! Heißt Ihr das einen Sohn?

DER ALTE MOOR. Ein unzärtliches96 Kind! ach! aber mein Kind doch! mein Kind doch!

FRANZ. Ein allerliebstes, köstliches Kind, dessen ewiges Studium97 ist, keinen Vater zu haben — O daß Ihrs begreifen lerntet! daß Euch die Schuppen fielen vom Auge! Aber Eure Nachsicht muß ihn in seinen Liederlichkeiten befestigen; Euer Vorschub98 ihnen Rechtmäßigkeit geben. Ihr werdet freilich den Fluch von seinem Haupte laden, auf Euch, Vater, auf Euch wird der Fluch der Verdammnis fallen.

DER ALTE MOOR. Gerecht! sehr gerecht! — Mein, mein ist alle Schuld!

FRANZ. Wie viele Tausende, die voll sich gesoffen haben vom Becher der Wollust, sind durch Leiden gebessert worden. Und ist nicht der körperliche Schmerz, der jedes Übermaß begleitet, ein Fingerzeig des göttlichen Willens? Sollte ihn der Mensch durch seine grausame Zärtlichkeit99 verkehren100? Soll der Vater das ihm anvertraute Pfand auf ewig zu Grund richten? — Bedenkt, Vater, wenn Ihr ihn seinem Elend auf einige Zeit preisgeben werdet, wird er nicht entweder umkehren müssen und sich bessern? oder er wird auch in der großen Schule des Elends ein Schurke bleiben, und dann — wehe dem Vater, der die Ratschlüsse einer höheren Weisheit durch Verzärtlung zernichtet! — Nun, Vater?

DER ALTE MOOR. Ich will ihm schreiben, daß ich meine Hand von ihm wende.

FRANZ. Da tut Ihr recht und klug daran.

DER ALTE MOOR. Daß er nimmer vor meine Augen komme.

FRANZ. Das wird eine heilsame Wirkung tun.

DER ALTE MOORzärtlich. Bis er anders worden.

FRANZ. Schon recht, schon recht — Aber, wenn er nun kommt mit der Larve101 des Heuchlers, Euer Mitleid erweint, Eure Vergebung sich erschmeichelt und morgen hingeht und Eurer Schwachheit spottet im Arm seiner Huren? — Nein, Vater! Er wird freiwillig wiederkehren, wenn ihn sein Gewissen rein gesprochen hat.

DER ALTE MOOR. So will ich ihm das auf der Stelle schreiben.

FRANZ. Halt! noch ein Wort, Vater! Eure Entrüstung, fürchte ich, möchte Euch zu harte Worte in die Feder werfen, die ihm das Herz zerspalten würden — und dann — glaubt Ihr nicht, daß er das schon für Verzeihung nehmen werde, wenn Ihr ihn noch eines eigenhändigen Schreibens wert haltet? Darum wirds besser sein, Ihr überlaßt das Schreiben mir.

DER ALTE MOOR. Tu das, mein Sohn. — Ach! es hätte mir doch das Herz gebrochen! Schreib ihm — —

FRANZschnell. Dabei bleibts also?

DER ALTE MOOR. Schreib ihm, daß ich tausend blutige Tränen, tausend schlaflose Nächte — Aber bring meinen Sohn nicht zur Verzweiflung!

FRANZ. Wollt Ihr Euch nicht zu Bette legen, Vater? Es griff Euch hart an.

DER ALTE MOOR. Schreib ihm, daß die väterliche Brust — ich sage dir, bring meinen Sohn nicht zur Verzweiflung. Geht traurig ab.

FRANZmit Lachen ihm nachsehend102. Tröste dich, Alter, du wirst ihn nimmer an diese Brust drücken, der Weg dazu ist ihm verrammelt wie der Himmel der Hölle — Er war aus deinen Armen gerissen, ehe du wußtest, daß du es wollen könntest — da müßt ich ein erbärmlicher Stümper sein, wenn ichs nicht einmal so weit gebracht hätte, einen Sohn vom Herzen des Vaters loszulösen, und wenn er mit ehernen Banden daran geklammert wäre — Ich hab einen magischen Kreis von Flüchen um dich gezogen, den er nicht überspringen soll — Glück zu, Franz! Weg ist das Schoßkind103 — Der Wald ist heller. Ich muß diese Papiere vollends aufheben, wie leicht könnte jemand meine Handschrift kennen! Er liest die zerrissenen Briefstücke zusammen. — Und Gram wird auch den Alten bald fortschaffen — und ihr104 muß ich diesen Karl aus dem Herzen reißen, wenn auch ihr halbes Leben dran hängen bleiben sollte.

Ich habe große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein, und bei meiner Ehre! ich will sie geltend machen. — Warum bin ich nicht der erste aus Mutterleib gekrochen? Warum nicht der einzige? Warum mußte sie mir diese Bürde von Häßlichkeit aufladen? Gerade mir? Nicht anders, als ob sie bei meiner Geburt einen Rest gesetzt hätte105. Warum gerade mir die Lappländersnase? Gerade mir dieses Mohrenmaul? Diese Hottentottenaugen? Wirklich, ich glaube, sie hat von allen Menschensorten das Scheußliche auf einen Haufen geworfen und mich daraus gebacken. Mord und Tod! Wer hat ihr die Vollmacht gegeben, jenem dieses zu verleihen und mir vorzuenthalten? Könnte ihr jemand darum hofieren106, eh er entstund? Oder sie beleidigen, eh er selbst wurde? Warum ging sie so parteilich zu Werke?

Nein! nein! Ich tu ihr Unrecht. Gab sie uns doch Erfindungsgeist mit, setzte uns nackt und armselig ans Ufer dieses großen Ozeans Welt — Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, geh unter! Sie gab mir nichts mit; wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache. Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet107. Das Recht wohnet beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze.

Wohl gibt es gewisse gemeinschaftliche Pakta, die man geschlossen hat, die Pulse des Weltzirkels108 zu treiben. Ehrlicher Name! — Wahrhaftig, eine reichhaltige Münze, mit der sich meisterlich schachern109 läßt, wers versteht, sie gut auszugeben. Gewissen, — o ja freilich! ein tüchtiger Lumpenmann, Sperlinge von Kirschbäumen wegzuschröcken! — auch das ein gut geschriebener Wechselbrief110, mit dem auch der Bankerottierer111 zur Not noch hinauslangt112.

In der Tat, sehr lobenswürdige Anstalten, die Narren im Respekt113 und den Pöbel unter dem Pantoffel zu halten, damit die Gescheiten es desto bequemer haben. Ohne Anstand, recht schnackische114 Anstalten! Kommen mir für115 wie die Hecken, die meine Bauren gar schlau um ihre Felder herumführen, daß ja kein Hase drüber setzt, ja beileibe kein Hase! — Aber der gnädige Herr gibt seinem Rappen116 den Sporn und galoppiert weich über der weiland117 Ernte.

Armer Hase! Es ist doch eine jämmerliche Rolle, der Hase sein müssen auf dieser Welt — Aber der gnädige Herr braucht Hasen!

Also frisch drüber hinweg! Wer nichts fürchtet, ist nicht weniger mächtig als der, den alles fürchtet.118 Es ist itzo119 die Mode, Schnallen an den Beinkleidern zu tragen, womit man sie nach Belieben weiter und enger schnürt. Wir wollen uns ein Gewissen nach der neuesten Façon120 anmessen lassen, um es hübsch weiter aufzuschnallen, wie wir zulegen121. Was können wir dafür? Geht zum Schneider! Ich habe Langes und Breites von einer sogenannten Blutliebe schwatzen gehört, das einem ordentlichen Hausmann122 den Kopf heiß machen könnte — Das ist dein Bruder! — das ist verdolmetscht: Er ist aus eben dem Ofen geschossen worden, aus dem du geschossen bist — also sei er dir heilig! — Merkt doch einmal diese verzwickte Konsequenz, diesen possierlichen Schluß von der Nachbarschaft der Leiber auf die Harmonie der Geister, von ebenderselben Heimat zu ebenderselben Empfindung, von einerlei Kost zu einerlei Neigung. Aber weiter — es ist dein Vater! Er hat dir das Leben gegeben, du bist sein Fleisch, sein Blut — also sei er dir heilig. Wiederum eine schlaue Konsequenz! Ich möchte doch fragen, warum hat er mich gemacht? doch wohl nicht gar aus Liebe zu mir, der erst ein Ich werden sollte? Hat er mich gekannt, ehe er mich machte? Oder hat er mich gedacht, wie er mich machte? Oder hat er mich gewünscht da er mich machte? Wußte er was ich werden würde? Das wollt ich ihm nicht raten, sonst möcht ich ihn dafür strafen, daß er mich doch gemacht hat! Kann ichs ihm Dank wissen, daß ich ein Mann wurde? So wenig, als ich ihn verklagen könnte, wenn er ein Weib aus mir gemacht hätte. Kann ich eine Liebe erkennen123, die sich nicht auf Achtung gegen mein Selbst gründet? Konnte Achtung gegen mein Selbst vorhanden sein, das erst dardurch entstehen sollte, davon es die Voraussetzung sein muß? Wo stickt124 dann nun das Heilige? Etwa im Aktus125 selber, durch den ich entstund126? — Als wenn dieser etwas mehr wäre als viehischer Prozeß zur Stillung viehischer Begierden! Oder stickt es vielleicht im Resultat dieses Aktus, der noch nichts ist127 als eiserne Notwendigkeit, die man so gern wegwünschte, wenns nicht auf Unkosten von Fleisch und Blut geschehn müßte? Soll ich ihm etwa darum gute Worte geben, daß er mich liebt? Das ist eine Eitelkeit von ihm, die Schoßsünde128 aller Künstler, die sich in ihrem Werk kokettieren, wär es auch noch so häßlich. — Sehet also, das ist die ganze Hexerei, die ihr in einen heiligen Nebel verschleiert, unsre Furchtsamkeit zu mißbrauchen. Soll auch ich mich dadurch gängeln lassen wie einen Knaben?

Frisch also! mutig ans Werk! — Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich sein, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht. Ab.

Zweite Szene

Schenke an den Grenzen von Sachsen. Karl von Moor in ein Buch vertieft. Spiegelberg trinkend am Tisch.

KARL VON MOORlegt das Buch weg. Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum129, wenn ich in meinem Plutarch130 lese von großen Menschen.

SPIEGELBERGstellt ihm ein Glas hin und trinkt. Den Josephus131 mußt du lesen.

MOOR. Der lohe132 Lichtfunke Prometheus133‘ ist ausgebrannt, dafür nimmt man itzt die Flamme von Bärlappenmehl134 — Theaterfeuer, das keine Pfeife Tabak anzündet. Da krabbeln sie nun wie die Ratten auf die Keule des Herkules135, und studieren sich das Mark aus dem Schädel, was das für ein Ding sei, das er in seinen Hoden geführt hat? Ein französischer Abbé136 doziert, Alexander137 sei ein Hasenfuß138 gewesen, ein schwindsüchtiger Professor hält sich bei jedem Wort ein Fläschchen Salmiakgeist139 vor die Nase und liest ein Kollegium140 über die Kraft. Kerls, die in Ohnmacht fallen, wenn sie einen Buben gemacht haben, kritteln141 über die Taktik des Hannibals142 — feuchtohrige Buben143 fischen Phrases144 aus der Schlacht bei Cannä145, und greinen146 über die Siege des Scipio147, weil sie sie exponieren148 müssen.

SPIEGELBERG. Das ist ja recht alexandrinisch geflennt149.

MOOR. Schöner Preis für euren150 Schweiß in der Feldschlacht, daß ihr jetzt in Gymnasien lebet und eure Unsterblichkeit in einem Bücherriemen151 mühsam fortgeschleppt wird. Kostbarer Ersatz eures verpraßten152 Blutes, von einem Nürnberger Krämer um Lebkuchen gewickelt — oder, wenns glücklich geht, von einem französischen Tragödienschreiber auf Stelzen geschraubt, und mit Drahtfäden gezogen zu werden153! Hahaha!

SPIEGELBERGtrinkt. Lies den Josephus, ich bitte dich drum.

MOOR. Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert154, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen155 zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen156, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.

SPIEGELBERG. Tee, Bruder, Tee!

MOOR. Da verrammeln sie sich die gesunde Natur mit abgeschmackten157 Konventionen, haben das Herz nicht, ein Glas zu leeren, weil sie Gesundheit dazu trinken müssen — belecken den Schuhputzer, daß er sie vertrete bei Ihro Gnaden, und hudeln158 den armen Schelm, den sie nicht fürchten. — Vergöttern sich um ein Mittagessen und möchten einander vergiften um ein Unterbett, das ihnen beim Aufstreich159 überboten wird. — Verdammen den Sadduzäer160, der nicht fleißig genug in die Kirche kommt, und berechnen ihren Judenzins161 am Altare — fallen auf die Knie, damit sie ja ihren Schlamp162 ausbreiten können — wenden kein Aug von dem Pfarrer, damit sie sehen, wie seine Perücke frisiert ist. — Fallen in Ohnmacht, wenn sie eine Gans bluten sehen, und klatschen in die Hände, wenn ihr Nebenbuhler bankerott von der Börse geht. — — So warm ich ihnen die Hand drückte: — Nur noch einen Tag! — Umsonst! — Ins Loch163 mit dem Hund! — Bitten! Schwüre! Tränen! Auf den Boden stampfend. Hölle und Teufel!

SPIEGELBERG. Und um so ein paar tausend lausige Dukaten —

MOOR. Nein, ich mag nicht daran denken. Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust164 und meinen Willen schnüren in Gesetze. Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug165 geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten166 aus. Sie verpalisadieren sich167 ins Bauchfell eines Tyrannen, hofieren der Laune seines Magens und lassen sich klemmen von seinen Winden. — Ah! daß der Geist Hermanns168 noch in der Asche glimmte! — Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik169 werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen. Er wirft den Degen auf den Tisch und steht auf.

SPIEGELBERGaufspringend. Bravo! Bravissimo! Du bringst mich eben recht auf das Chapitre170. Ich will dir was ins Ohr sagen, Moor, das schon lang mit mir umgeht, und du bist der Mann dazu — sauf, Bruder, sauf — wie wärs, wenn wir Juden würden und das Königreich wieder aufs Tapet171 brächten?

MOORlacht aus vollem Halse. Ah! nun merk ich — nun merk ich — du willst die Vorhaut aus der Mode bringen, weil der Barbier172 die deinige schon hat?