DIE REGELN DER RACHE (Black Shuck 2) - Ian Graham - E-Book

DIE REGELN DER RACHE (Black Shuck 2) E-Book

Ian Graham

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Beschreibung

Intrigen, Machtspiele, der Kampf um die nackte Existenz … eine explosive Mischung, die spannende Lesestunden verspricht. Nachdem der ehemalige IRA-Anhänger Declan McIver bei dem Versuch, einen der schlimmsten Terrorakte seit dem 11. September zu verhindern, beinahe ums Leben kam, hat er sich ins ländliche Idyll Irlands zurückgezogen und erwartet die Geburt seines ersten Kindes. Um seinen Namen endgültig reinzuwaschen, erklärt er sich zu einem Treffen in der Schweiz mit amerikanischen und britischen Würdenträgern bereit, obwohl er weiß, dass er damit sein Leben und das seiner Frau aufs Spiel setzt. Doch dann wird der Norden Englands von mehreren Bombenattentaten heimgesucht und ein alter Freund und MI5-Offizier verschwindet spurlos. Die Anschläge sind nur der Beginn eines undurchsichtigen Plans, in den auch Declan McIver verstrickt zu sein scheint. Zögerlich, aber ohne eine echte Alternative, schließt McIver ein Bündnis mit dem MI6, um gemeinsam die Drahtzieher hinter den Anschlägen aufzuspüren und seine Freiheit wiederzuerlangen.

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Black Shuck 2: Die Regeln der Rache

Ian Graham

Für Dennis – jeder Kämpfer hat jemanden, der ihm den Rücken freihält, und bei mir bist definitiv du das gewesen.

This Translation is published by arrangement with Ian Graham Title: RULES FOR REVENGE. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

überarbeitete Ausgabe Originaltitel: RULES FOR REVENGE Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-296-4

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Black Shuck 2: Die Regeln der Rache
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
Kapitel 95
Kapitel 96
Kapitel 97
Kapitel 98
Kapitel 99
Kapitel 100
Über den Autor

Kapitel 1

Eine Woche zuvor

10:03 Uhr Ortszeit, Carlisle, im Nordosten Englands

»Ich bin noch nicht fertig, Junge.« Der Ire kaute auf einem Zahnstocher herum und grinste dabei schief. Beim Höhepunkt eines gründlich geplanten Anschlags musste er immer schmunzeln. Mit dem Gefühl, deine Gegner zum Kampf zu nötigen und sie dann fallen zu sehen, ließ sich kaum etwas auf dieser Welt vergleichen.

Der Barkeeper legte jetzt die Rechnung für das Pint des Iren, das noch halbvoll war, auf den Tisch. »Die Kerle da hinten in der Ecke hauen dir gleich die Hucke voll, Sportsfreund. Seit du hier bist, hast du nichts anderes getan, als dir das Maul über sie zu zerreißen. Verlass dich lieber auf mich. Wenn du weißt, was gut für dich ist, machst du jetzt 'nen Abgang.«

Der Ire schaute über die Schulter zurück und lachte. »Aye, in Ordnung.« Er zog einen Zehn-Pfund-Schein aus der Tasche. »Der Rest ist Trinkgeld.«

Nachdem der Barkeeper den Schein grunzend eingesteckt hatte, ging er wieder. Keine Frage, er war genauso ungehalten wegen der Bemerkungen des Iren wie seine Stammkundschaft. Der Mann grinste weiterhin, während er aufstand und seine Jacke glattstrich, wobei er den Blick durch das größtenteils leere Lokal schweifen ließ. Er konnte sich das Lachen kaum verkneifen, als er in die hintere Ecke schaute, wo die sechs Männer mit hochgezogenen Schultern vor ihren Bierkrügen hockten. »Schönen Abend noch, ihr Fatzkes. Ich mach mich dann wohl mal auf die Socken nach Middlesbrough. Hab gehört, deren Mannschaft soll nicht nur aus Nulpen bestehen.«

»Mir reicht dieser Linkswichser jetzt langsam.« Der größte Mann verschüttete Bier aus seinem Krug, weil er diesen so abrupt auf den Tisch knallte, und stand auf. Die Gemüter in Carlisle waren nach einer brutalen Fußballsaison, in welcher das städtische Team nur knapp gegen die Hauptrivalen verloren hatte, weshalb es jetzt abstieg, sowieso schon erhitzt genug.

Der Barkeeper fluchte leise vor sich hin. »Mensch, Clem, hört auf, Jungs. Lasst ihn einfach gehen. Ich erlaube keine Schlägereien hier drin.«

»Halt den Rand, Rodney.«

Der Ire strahlte erfreut und ging rückwärts zur Tür. Das war er! Der berühmte Moment, in dem es kein Zurück mehr gab. Beim Verlassen der Kneipe setzte er automatisch eine Kette von Ereignissen in Gang, die sich seinem Einflussbereich entzogen, und diese Vorstellung erregte ihn. Er drehte sich um und stieß die Tür mit einem Arm auf, ohne die Männer dabei aus den Augen zu lassen, die alle nacheinander aufstanden und ihm folgten.

Draußen zog er eine Skimaske unter seiner Jacke hervor, setzte sie auf seinen Kopf und zog sie sich über das Gesicht wie eine Damenstrumpfhose. Nachdem er den von einem Eisenzaun umgebenen Hof verlassen hatte, überquerte er die Straße und versteckte sich in einer schmalen Einfahrt zwischen zwei Reihenhäusern aus Ziegelsteinen.

»Hast du ihnen ordentlich ans Bein gepisst?«

»Aber hallo, war echt kinderleicht. Die sind doch alle hohl wie Brot da drin.« Er wandte sich dem Mann zu, der mit einer grünen Skimaske und einer Kalaschnikow hinter ihm stand. »Da kommen sie.«

Der Mann lud durch und legte auf die Kneipe an. »Wunderbar.«

Die sechs Gäste traten jetzt einer nach dem anderen aus dem Hof und schauten sich auf der Straße in beiden Richtungen nach dem vermeintlich flüchtigen Iren um.

»Hier drüben, ihr Wichser« Er ließ jetzt von der Seite des einen Hauses ab und zeigte sich. Als der Anführer der Männer losstürmte, bemerkte er die Maske im Gesicht seines Gegners aber noch nicht. Mit einem Mal veränderte sich die bis dahin ruhige Geräuschkulisse, und Schüsse aus dem Automatikgewehr ertönten auf der Straße, auf der sich überwiegend Wohngebäude befanden.

Die bisher dicht gedrängte Gruppe fiel sofort. Der Ire grinste, während sein Landsmann nachlud und weiter feuerte, zunächst noch einmal auf die Toten und dann auf die Backsteinmauer und die Fenster der Kneipe, wobei die Scheiben zerbrachen und Ziegelsplitter von der Fassade spritzten. Einige Schüsse prallten auch von dem verschnörkelten Eisenzaun vor dem Eingang ab, Querschläger gingen ins Dunkel der Nacht. Als schließlich auch sein zweites Magazin leer war, klinkte der Schütze es aus und nahm ein neues aus einer seiner Taschen. Nachdem er es eingesetzt hatte, lud er abermals durch und schwenkte den Lauf vor sich hin und her, während aufgebrachte Stimmen aus den Häusern in der Umgebung laut wurden.

»Ist sie scharf?«, blaffte er jetzt.

»Aye, sie liegt im Kofferraum.« Er wies mit einem Nicken auf das Heck eines Kompaktwagens, der am Straßenrand vor dem Lokal geparkt war.

»Dann mal los!« Der Schütze hob seine Waffe erneut und gab eine willkürliche Salve über die Fahrbahn ab, sodass sich die wenigen Anlieger, die einen Blick nach draußen gewagt hatten, schnell wieder verzogen.

Der Ire befolgte die Aufforderung und lief los, während er den nächsten Feuerstoß seines Komplizen vernahm. In der Ferne heulten Sirenen. Die Polizei war bereits unterwegs.

»Beeilung!«, rief der Schütze. Er holte seinen Mitstreiter ein, als sich dieser gerade der schulterhohen Backsteinmauer näherte, die das Wohngebiet vom Gelände des örtlichen Fußballstadions Brunton Park trennte.

Der schmächtige Ire zog sich mit den Händen an der Mauer hoch und sprang dann ins nasse Gras auf der anderen Seite. Anschließend drehte er sich um und wartete auf seinen Gefährten, der ihm zuerst die Kalaschnikow hinüberwarf, bevor er selbst hochkletterte. Er grinste beim Blick über die Mauer, da er sah, wie sich ein paar Mutige aus ihren Häusern trauten und zaghaft auf die Kneipe zugingen.

»Verschwinden wir von hier, schnell!« Der Schütze landete neben ihm im Gras, und sie eilten weiter.

Kapitel 2

Vor zwei Tagen

21:16 Uhr Ortszeit, Friedhof Dryfesdale – Lockerbie, Schottland

Shane O'Reilly musste seine Augen anstrengen und einen Gang herunterschalten, während die Scheibenwischer seines olivgrünen Range Rover schon auf die schnellste Stufe eingestellt waren. Vor dem Wagen konnte er gerade noch so eben das Ende einer hohen Hecke erkennen, wo der Eisenzaun anfing, der den Friedhof umgab. Er kam sechzehn Minuten zu spät. Das notorisch stürmische Wetter Schottlands hatte die Fahrt auf den Schnell- und Nebenstraßen im Süden zu einem richtigen Krampf gemacht.

Als Sicherheitsbeamter des britischen Innengeheimdiensts oder landläufig MI5 genannt, bestand seine Aufgabe im Erkennen und Rekrutieren potenzieller Informanten mit Kontakten zu Einzelpersonen und Körperschaften, welche die Regierung des Vereinigten Königreichs auf dem Schirm behalten wollte.

Dieser Tage konnte er als Mitglied des irischen und inländischen Terrorismusschutzes von seinem Schreibtisch im sechsten Stock des Londoner Thames House aus, arbeiten. Wie ein altgedienter Kaufmann, der sich auf seine Rotationskartei verließ, machte sich Shane gerne im Laufe zweier Jahrzehnte geknüpfte Beziehungen zunutze, die ihm pflichtbewusst alles über die Geschehnisse in Nordirland und dessen Schwester, der Republik Irland, respektive die Umtriebe der wenigen übrigen Dissidenten auf der Hauptinsel berichteten.

Nur selten reiste er noch selbst, um Informationsgeber aufzusuchen, deren Sicherheit immer noch so weit gefährdet war, dass man sich im Geheimen treffen musste, anstatt Telefongespräche hinter vorgehaltener Hand zu führen. Hierbei handelte es sich um einen solchen Anlass. Ein langjähriger Helfer mit Verbindungen zu mehreren Gruppen von Aufrührern hatte einen Mann gefunden, der angeblich etwas über zwei erst kürzlich erfolgten Bombenattentate im Nordosten Englands wusste. Deshalb wollte dieser sich gemeinsam mit Shane kurzschließen.

Da hier so spät abends gar kein Verkehr herrschte, hielt er mitten auf der Straße an und schaute durch die beschlagene Scheibe seiner Tür auf das einstöckige Ziegelhaus gleich hinter dem Friedhofstor. Drinnen brannte kein Licht, und nur eine Seite des Tors, das auf das Gelände führte, stand offen. Zum Durchfahren war es allerdings zu eng.

Er blieb mehrere Sekunden lang sitzen und starrte in diese Richtung, während sein warmer Atem das Hartglas wenige Zoll vor seinem Gesicht beschlug. Ihm ging es dabei darum, etwaige Zeichen dafür zu erkennen, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Gar nichts zu sehen, war aber vielleicht auch genau so seltsam.

Obwohl es nur einen Zeugen gab, der die beiden Explosionen miterlebt hatte, war das Wort »Ire« in seiner qualvollen Aussage trotz schrecklicher Verletzungen immer wieder gefallen. Außerdem hatten beide Sprengsätze auf das Werk irischer Radikaler anstatt wie momentan eher üblich islamischer Terroristen hingedeutet. Dies machte Shane in den Augen seiner Vorgesetzten zum Fachmann für den Umgang mit dem neuen Informanten und die Beschaffung jeglicher Fakten, die dieser ihnen bieten konnte.

Als ehemaliger Angehöriger der Irisch-Republikanischen Armee, der selbst zu einem mitteilsamen Überläufer geworden war, hatte Shane eine Vereinbarung mit der britischen Regierung getroffen, die ihm ungeachtet seiner früheren Fehltritte stets sichere Arbeit gewährleistete. Es gab falls überhaupt nur Wenige, die so viel über den irischen Republikanismus und dessen unterschiedliche terroristische Fraktionen wussten wie er. An dieser Situation jetzt störte ihn jedoch etwas Entscheidendes. Dies war seit einem Jahrzehnt der erste Übergriff irischer Aufwiegler gegen das Königreich. Dass eine solche Gruppe auf einmal gleich zwei Städte angegriffen haben sollte, deren Bevölkerung vorwiegend der Arbeiterschicht angehörte und die international nur wenig geläufig bis nahezu vollkommen unbekannt waren, geschweige denn historische Bezüge zum Konflikt zwischen Großbritannien und Irland hatten, passte überhaupt nicht ins Bild, denn ideologische Motive waren damit auszuschließen.

Shane schaltete wieder in den ersten Gang und lenkte hart ein, um sich auf den engen Platz zwischen Fahrbahnrand und Zaun stellen zu können. Nachdem er ausgestiegen war, zog er die Schultern unter seinem Trenchcoat so hoch wie nur möglich und trat dann von der Geländelimousine weg, die ihm mehr oder weniger sicheren Schutz bieten würde. Seine ergrauenden roten Haare wurden im Regen schnell nass, und er fluchte leise, weil ihm Wasser ins Gesicht tropfte. Sich an einem solchen Ort treffen zu wollen, sah Rory Blaney ähnlich. Shane bezweifelte sehr, dass der Mann je einem Stubenhocker-Job nachgegangen war.

Er näherte sich dem Tor mit Bedacht. Das dunkle Gebäude dahinter war das Haus des Friedhofswärters, und daran vorbei führte eine lange, gepflasterte Einfahrt zwischen den Grabsteinreihen. Einige davon hatten mit der Zeit Risse bekommen, wohingegen die neueren noch vom harten schottischen Wetter unberührt geblieben waren.

Er hatte bald zehn Yard auf dem Gelände zurückgelegt und immer noch niemanden gesehen. War sein Informant wegen seiner Verspätung verschwunden? Rory sollte doch Verständnis dafür haben, wie lange die Fahrt von London aus hierher dauerte, dieses Mal sogar noch länger in Anbetracht der Witterung. Shane ging zur Hintertür des Hauses und stellte sich unter einen Säulenvorbau, wo es trocken war. Dann hob er den Arm, um anzuklopfen.

»Der Garten der Erinnerung«, sprach ein Mann mit heiserer Stimme, während er an der Seite des Gebäudes vortrat. Shane drehte sich zu ihm um. »Angelegt zum Gedenken an die Opfer des Lockerbie-Anschlags 1988«, fuhr er fort, während er zum hinteren Ende der Anlage schaute. »In Hinblick auf den Grund für unser Treffen fand ich dieses Fleckchen irgendwie angemessen.«

Shane starrte ihn an. Ihm war diese Sache ganz und gar nicht geheuer. Er ließ sich nur sehr ungern überraschen, doch ausgerechnet dies hatte der Mann soeben getan. Er war ungefähr so groß wie er, sein braunes Haar war kurz geschnitten. Außerdem hatte er einen Dreitagebart und kaute auf einem Zahnstocher herum, während seine Hände in den Taschen eines grünen Kolanis steckten. Shane wunderte sich allerdings weniger über dessen Äußeres als über seinen Akzent. Unabhängig von seiner Heiserkeit, die gewiss von jahrelangem Tabakkonsum herrührte, würde er diesen speziellen Zungenschlag West Belfast zuordnen, ein stark katholisch geprägtes Viertel in Nordirlands größter Stadt, wo es bekanntermaßen vor Sympathisanten der Republikaner nur so strotzte.

»Wer sind Sie? Und wo ist Frankie?«, fragte Shane, während er bewusst einen falschen Namen für seinen Agenten benutzte.

»Ich kenne keinen Frankie, aber Rory kommt gleich.«

Nun entspannte sich Shane ein wenig. »Sie sind also derjenige, der sich darüber unterhalten will, was in Penrith und Carlisle geschehen ist?«

»Darüber will sich niemand unterhalten, Kumpel. Genauso wenig, wie man sich um all die armen Schweine schert, denen man da hinten die Ehre erwiesen hat. Aber jemand muss es tun, und ich bin offenbar der einzige Pechvogel, der alles darüber weiß.«

Shane blieb weiterhin misstrauisch. Denn nichts an dem Kerl entsprach einem gewöhnlichen Informanten. Wer so etwas zum ersten Mal tat, war meistens extrem nervös und im übertriebenen Maße paranoid. Denn bei denjenigen, die sie verraten wollten, handelte es sich niemals um wohlgesonnene Menschen, die Kätzchen kraulten und mit Kindern spielten, sondern um grausame Typen, deren Taten noch gemeiner waren und die eine äußerst kurze Geduldspanne hatten – solche, die es nicht gut aufnahmen, wenn jemand bei den Bullen vorstellig wurde, um Geschichten über sie auszuplaudern.

»Sie kommen aus West Belfast, oder? Haben Sie auch einen Namen?«

»Aidan, und jawohl ich stamme aus West Belfast.«

Shane kannte diese Gegend hinlänglich, denn er war dort aufgewachsen und während der ersten siebzehn Jahre seines Lebens oft in den verschiedenen Pubs entlang der Falls Road aufgeschlagen. »Dann kann man wohl davon ausgehen, dass Sie eine ganze Weile für die Spezialeinheit der Royal Ulster Constabulary gearbeitet haben, richtig?«

Aidan verzog sein Gesicht. »Aye. Damals war ich ein paar Jahre lang ihr Tippgeber. Woher wissen Sie das denn?« Wegen seiner eigenen Frage rümpfte er abfällig die Nase. »Ich war ein elender Spion, ja das stimmt.«

»Nun da wir das Eis gebrochen haben, würde ich vorschlagen, wir warten auf Rory und halten anschließend irgendwo ein Schwätzchen, wo wir nicht komplett durchweichen; dieses Wetter ist echt furchtbar.« Shane gefielen die Umstände immer noch nicht. Falls dieses Gespräch wirklich zustande kommen sollte, musste er Aidan an einen Ort bringen, wo er ihn besser unter Kontrolle hatte.

»Oh nein, ich gehe nicht von hier weg, nicht mit Ihnen. Ausgeschlossen! Nicht, wenn ich dabei an die Sorte Mensch denke, mit der ich es zu tun habe.«

»Und welche Sorte ist das? Jemand von den Reals? Den Contos?«

»Weder noch«, antwortete eine schroffe Stimme, kurz bevor Shane die Tür des Wohnhauses aufgehen hörte. Prompt spürte er den Lauf einer Waffe in seinem Kreuz.

Er hob die Hände mit gespreizten Fingern bis zu seinen Schultern hoch und trat dann unter dem Säulenvorbau hervor. Sofort rann Regen an seinen Armen hinunter und tränkte die Ärmel des Hemdes, das er unter seinem Mantel trug.

»Hände hoch und mit dem Gesicht an die Wand!«, knurrte der Mann, während er aus dem Gebäude trat.

Shane gehorchte sofort, drehte sich aber so, dass er einen kurzen Blick auf ihn werfen konnte. Der Kerl trug eine schwarze Jacke mit Kapuze, die seinen Kopf komplett bedeckte, doch sein Gesicht konnte man trotzdem erkennen – Falten, ein kantiges Kinn und graumelierte Bartstoppeln. Die Waffe war eine Kalaschnikow.

Shane verfluchte sich selbst, weil er nicht auf seinen Instinkt gehört hatte. Wenn ihm mal etwas nicht koscher vorkam, lag er in der Regel richtig damit. Er schaute zwischen den zwei Männern hin und her. Sich mit allen beiden anzulegen würde er garantiert nicht überleben. In seinen jüngeren Jahren hätte er es eventuell geschafft, doch selbst dann wäre es eher unwahrscheinlich gewesen.

»Denk gar nicht erst daran«, drohte ihn der Bewaffnete. Er hielt sich sein Gewehr vor die Augen und visierte genau Shanes Brust an. »Ich knall dir ein Loch mitten in den Leib, das so groß ist, dass wir bequem durchfahren könnten.«

Der andere, der sich als Aidan ausgegeben hatte, kam jetzt unter dem Dach hervor und tastete Shane sorgfältig ab. »Tut mir leid, Kumpel.«

»Wo ist Rory? Was wollen Sie von mir?«

»Rory ist tot. Und du spielst jetzt die Hauptrolle in einem kleinen Filmchen.«

Kapitel 3

Gegenwart, Samstag

16:46 Uhr Ortszeit, Hafen Rosslare im Südosten Irlands

Declan McIver drehte sich auf der Rückbank des Mercedes Vito Minivan um, als sie an einem Schild vorbeifuhren, das Reisende darauf hinwies, dass sie jetzt in den Europort fuhren, einen Sektor des Rosslare Harbour für den Personen- und Frachtverkehr. Während er einen Arm über den Rücken seiner Frau ausstreckte, vollzog er mit, wie sich das Umgebungsbild langsam wandelte. Die Geschäfte und Hotels der Hafengegend wichen nun Betonabsperrungen, Metallzäunen und grauen Schiffen voller Gütercontainer.

»Hattest du einen angenehmen Nachmittag?«

Constance McIver lächelte verhalten, aber ohne zu antworten. Als sie so neben ihrem Mann saß – im sechsten Monat schwanger – schien ihr unwohl zu sein, während der Wagen über Bodenwellen holperte, bis sich ihr Fahrer in einen Kreisverkehr einordnete und der Beschilderung zum Terminal folgte.

»Wir sind gleich da, Sir«, sagte Alan Hogan, der Mann hinter dem Lenkrad mit einem Blick in den Rückspiegel. Declan lächelte ebenfalls und schaute wieder geradeaus. Hundert Yards vor ihnen führte der St.-Georgs-Kanal durch die Irische See, und das Gegenufer gehörte der britischen Hauptinsel. In der Ferne konnte er Fähren erkennen, die Kurs zu ihren jeweiligen Zielhäfen in Irland, England und Frankreich nahmen. Die McIvers würden eines der einlaufenden Schiffe besteigen.

»Setzen Sie uns einfach irgendwo im hinteren Teil ab. Dort drüben nahe des Ufers, das reicht vollkommen.« Declan zeigte zu einer Ecke. »Fahren Sie rückwärts hinein, stellen Sie den Motor aber nicht ab.«

»Verstanden, Sir.«

Er schaute sich kurz um, während Hogan den Van abseits der anderen Autos parkte, die dichter am Hafendamm standen. Wenngleich sich Declan vorgenommen hatte, den Tag seiner Frau zuliebe relaxt mit Einkaufen und Besichtigungen zuzubringen, wollte er dennoch keinerlei Risiken eingehen. Momentan bestand nämlich eine hohe Wahrscheinlichkeit, entdeckt und verfolgt zu werden.

Im Laufe der Monate, seit er in den Brennpunkt einer Regierungsverschwörung geraten war und einen geplanten Terroranschlag auf amerikanischem Boden vereitelt hatte, waren ihrer beider Leben erheblichen Umwälzungen unterworfen worden. Sie konnten nicht mehr jene unbeschwerten und umtriebigen Amerikaner bleiben, die sie bisher zu sein gewohnt gewesen waren. Jetzt, während die Obrigkeiten auf beiden Seiten des Atlantiks und die Nachrichtenmedien weltweit herauszufinden versuchten, was sich genau zugetragen hatte, dominierte zwangsläufig das Versteckspiel ihr Dasein.

Erschwerend kam noch die Offenbarung von Declans früherer Mitgliedschaft in einer hervorragend ausgebildeten IRA-Terrorzelle mit dem Codenamen Black Shuck hinzu. Die international verstreuten Verbindungspersonen, auf welche die Planung dieses Anschlags und die Gründung der Einheit zurückgeführt worden waren, hatte genügt, um journalistische Spürhunde und Fernsehexperten zu vielfältigen Spekulationen anzuregen. Im Laufe der letzten paar Monate war der Rummel zwar wieder merklich abgeflaut, doch alles konnte sofort von Neuem beginnen, wenn ein findiger Reporter oder ein Sensationsgieriger mit Smartphone Declans Verbleib publik machte, sodass sein Konterfei plötzlich im Internet kursierte.

Endlich schaute Constance hoch. »Wieso sind wir hier?«, fragte sie verwirrt.

»Ist 'ne Überraschung, Liebling.«

Sie runzelte die Stirn, denn dieser Begriff verhieß schon seit einiger Zeit nichts Gutes mehr.

»Es ist eine angenehme Überraschung«, fügte Declan schüchtern lächelnd hinzu. Dies stimmte auch; das hoffte er zumindest. Constance und auch ihre Ehe waren nicht unberührt davon geblieben, dass sie nicht mehr in ihr Eigenheim an der US-Ostküste zurückkehren konnten, und gezwungen waren, Verwandten und Freunden fernzubleiben und stattdessen nur per Telefon oder E-Mail mit ihnen kommunizieren konnten. Wohingegen er froh darum war, dass sie überhaupt noch lebten und zusammen sein konnten, hatte Constance großes Heimweh und wünschte sich den normalen Alltag wieder. Mit jedem weiteren Monat, der ins Land zog, schienen ihre Chancen auf eine dauerhafte Rückkehr zwar geringfügig zu steigen, aber Declan sorgte sich nicht nur um Bürokraten und Medienmacher. Er könnte eine Liste über mutmaßliche Gegner aus seiner Zeit in der IRA führen, die sich lesen würde wie ein Who is Who von Halsabschneidern aus aller Herren Länder. Sich an einem im Mittelpunkt der Öffentlichkeit stehenden Ort niederzulassen – und dies war ihre alte Adresse in den Staaten – könnte deshalb durchaus noch gefährlicheren Ärger nach sich ziehen. Also hatte Declan kurzerhand eingefädelt, dass ein Stück Heimat nun zu ihnen kam.

Das Funkgerät im Van piepte mehrmals, bevor eine Stimme vom Band ihnen mitteilte, dass ein Anruf einging. Alan Hogan drückte eine Taste am Armaturenbrett, um ihn entgegenzunehmen. »Hallo?«

»Ich bin's. Bin gerade gelandet«, sagte eine Frau mit heiterem Tonfall.

»Bestens, meine Teure. Halt dich einfach geradeaus, wenn du das Terminal verlässt, und geh bis zur hintersten Parkreihe. Wir warten dort in einem Van auf dich.«

»Wunderbar, ich bin gleich da. Krieg schon ganz feuchte Hände.«

Hogan trennte die Verbindung im selben Moment, als Declan seine Tür aufstieß. Nachdem er ausgestiegen war, schaute er sich in der Umgebung um und streckte seiner Frau dann eine Hand entgegen. Sie ließ sich von ihm langsam aus dem Wagen helfen.

Zwischen zwei anderen, die auf dem Platz parkten, kam jetzt eine korpulente Frau hervor, gezogen von einem kräftigen Hund, der seine Schnauze dicht am Boden hielt und den Schwanz senkrecht nach oben streckte.

»Shelby!« Constances offenkundiges Unbehagen verflog, als sie den Beagle sah … ihr Haustier. Sie grinste voller Begeisterung. Auch Declan strahlte, als sich die Hündin näherte, wobei sie ihre Freude zeigte, indem sie mit den Vorderpfoten in die Höhe sprang und mit dem Schwanz wedelte. Ihre Lefzen waren zurückgezogen, weshalb man durchaus von einem schlabbrigen Lächeln sprechen konnte.

Constance bückte sich vorsichtig und streichelte die Hündin, ehe sie zu ihrem Mann zurückschaute. »Wie hast du das denn bloß hinbekommen?«

»Sachte, Schatz.« Er hatte seinen Kopf nach vorne gebeugt, als würde er seine Frau ansehen, behielt aber in Wirklichkeit genau im Auge, was rings um sie herum vor sich ging. Bislang deutete nichts darauf hin, dass jemand Nicola Hogan – ihrer Haushälterin, die Shelby in den USA abgeholt hatte – gefolgt war. Obwohl auch noch andere Passagiere mit ihr aus der Ankunftshalle gekommen waren, hatten sie sich allesamt schnurstracks zu ihren Fahrzeugen begeben und den Hafen zügig verlassen.

»Wie geht's dir, meine Teuerste?«, fragte Alan, als er ausstieg, und seiner Ehefrau einen Kuss auf die Wange gab.

»Großartig.« Nicola beugte sich ihm entgegen. »Shelby ist wirklich eine Wucht.«

»Keine Schwierigkeiten mit den Behörden gehabt?«, wollte Declan wissen.

»Überhaupt nicht, Sir. Sie haben die Papiere nur überflogen, und dann durften wir auch schon sofort an Bord gehen.«

»Feine Sache.« Um Shelby aus den Staaten nach Großbritannien zu holen, hatte es mehrerer mittelgroßer Wunder bedurft. Sie war für gesundheitliche Untersuchungen kurz in Quarantäne gehalten worden, hatte aber schließlich die Erlaubnis erhalten, ungehindert auf Reisen zu gehen. Da im Königreich viel strengere Gesetze bezüglich der Einfuhr von Tieren aus dem Ausland galten als in Irland, war es ein Leichtes gewesen, das Weibchen dorthin zu bringen, und Declan hatte dafür gesorgt, dass sich das Ganze möglichst schwer zurückverfolgen ließ. »Machen wir uns auf die Socken. Auf Shelby wartet immerhin ein vollkommen neues Land zum Beschnüffeln.«

Er half Constance beim Aufstehen und legte dann liebevoll eine Hand auf ihren Bauch. »Alles Okay bei dir?«

»Ja, alles prima.« Sie wandte sich ab und stieg wieder in den Wagen. Ihr bisherige Freude verschwand, und ihre kühle Reserviertheit kehrte wieder zurück. Declan schüttelte seinen Kopf. Er versuchte doch lediglich, sie und ihr ungeborenes Kind zu beschützen, kam sich aber bisweilen selbst wie ihr schlimmster Feind vor.

Als sei das alles noch nicht genug, war Constance auch noch unzufrieden, weil er in wenigen Tagen in die Schweiz verreisen musste, um sich dort mit zwei Politveteranen zu treffen; einem Amerikaner und einem Briten. Die beiden leiteten die offiziellen Ermittlungen ihres Landes zu den Ereignissen, die auf der Welt als Victoria-School-Krise bekanntgeworden waren. Bei dieser Gelegenheit würde sich Declan zum ersten Mal öffentlich bei laufender Aufnahme zu seiner Verstrickung in die Affäre äußern und seine frühere Rolle bei Terrorakten erörtern. Von einfacher Nervosität zu sprechen wäre stark untertrieben gewesen. Von den Männern, mit denen er sich auszutauschen gedachte, hing stark ab, wie sich sein Leben in Zukunft gestalten würde.

»Wohin darf's denn jetzt gehen?«, fragte Alan, während Declan die Klappe des Laderaums schloss. Mit geschlossenen Türen und dank der getönten Scheiben unterschied sich der Mercedes Vito nicht mehr von den zahllosen ähnlichen Modellen, die in Irland als Lieferwagen Verwendung fanden. Aus genau diesem Grund hatte er ihn auch gekauft.

»Nach Hause.«

»Aye, Sir.«

Zu Hause, dies war seit den Vorfällen das Landgut von Declans Freund Fintan McGuire, dem Sohn eines ehemaligen IRA-Kommandanten.

Bei ihrer Abfahrt vom Hafen spürte Declan auf einmal, wie das Handy in einer seiner Taschen vibrierte. Er blickte zu seiner Frau hinüber und schmunzelte, weil diese gerade in Babysprache flüsterte, um dem Ungeborenen Shelby vorzustellen. Kaum, dass er mit einem Daumen über den Touchscreen gefahren war und die SMS gelesen hatte, die gerade eingegangen war, verging ihm das Lächeln allerdings abrupt.

Wir müssen reden. Bald. – A

Kapitel 4

17:02 Uhr Ortszeit, Gutshaus – The Droveway St. Margaret's Bay im Südosten von England

Lord Dennis Allardyce steckte das Krypto-Mobiltelefon wieder ein, und erhob sich aus dem neueren schwarzen Range Rover, nachdem ihm sein Chauffeur die Tür geöffnet hatte. Er atmete tief die salzige Luft ein, während der Wind, der vom Ärmelkanal her wehte, sein schütteres, grauer werdendes Haar zerzauste. Obwohl das Haus, vor dem er gerade angekommen war, inmitten hoher Bäume stand, drehte er sich jetzt in Richtung Kanal um und rückte seine lohfarbene Sportjacke aus gerippter Baumwolle zurecht. Jetzt am späten Nachmittag wirkte das hellgrüne Laub im Licht der Sonne sogar noch farbenfroher, und obwohl er nicht hindurchschauen konnte, wusste er genau, dass die Meerenge und die berühmten weißen Klippen von Dover nicht mehr als eine halbe Meile entfernt waren. Er strich sich die Haare mit einer Hand zur Seite und wandte sich dem Eleanor Estate zu, dem prachtvollen Wohnsitz der britischen Innenministerin Meg Unruh.

Als Generaldirektor des Security Service war er ihr direkt unterstellt und musste regelmäßig Bericht an sie erstatten. Während seiner kurzen Amtszeit als Spionagechef des Landes hatte es bis zum heutigen Abend allerdings niemals einen Anlass gegeben, Unruh in ihrer Hauptwohnung aufzusuchen. Er blickte hinauf zu der stattlichen Eingangstür des Hauses, als sie geöffnet wurde und ein Bediensteter in Schwarzweiß zur Seite trat, um Allardyce hineinzulassen.

Dieser drehte sich zu seinem Fahrer um, der ihm einen Koffer reichte, und stieg dann die Betontreppe hinauf. Beim Eintreten schaute er in das Gebäude hinein. Das Interieur sah fast genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Aufwändige Holzvertäflungen, bunte Teppiche und breite Bögen über den Durchgängen zwischen den einzelnen Räumen. Altertümliche Lampen und Vasen voller blühender Blumen standen auf handgefertigten Tischen, und stilvolle Porträts von Personen, bei denen es sich vermutlich um Familienmitglieder handelte, hingen nebeneinander an den Wänden.

»Die Ministerin widmet sich Ihnen in Kürze, Sir. Kann ich Ihnen in der Zwischenzeit etwas Gutes tun?«

»Nein, danke.«

Der Angestellte wandte sich von ihm ab und zog sich aus dem Saal zurück. Nun stand Allardyce alleine da und wartete auf die Ministerin, während ihm das Bild einer Frau ins Auge fiel, das genau gegenüber vom Eingang hing. Ihre schulterlangen Haare waren goldbraun, die Falten in ihrem Gesicht zeugten von einem anmutigen Alter, und sie lächelte nachdenklich; gemalt in warmen und leuchtenden Farben, als scheine die Sonne auf ihre fahle Haut und lasse ihre blauen Augen funkeln. Das Gemälde wirkte in jeder Hinsicht detailliert, ein wahres Kunstwerk.

»Meine Mutter«, erklärte eine Frauenstimme irgendwo über Allardyce. »Eleanor Winwood.«

Er schaute hoch und sah Meg Unruh, die gerade am Ende der Galerie um die Ecke bog und die Treppe in der Mitte hinunterging. Anders als ihre Mutter hatte sie eine Kurzhaarfrisur und dunkelbraune Haare wie Mahagoni. Ihr Gesicht war faltenfrei, denn sie selbst war noch relativ jung, und anstatt gutmütig zu lächeln, zeigte sie überhaupt keine Gefühlsregung.

»Dann kann Ihr Anwesen ja nur aus diesem Grund Eleanor Estate heißen.«

Unruh zog ihre Augenbrauen zusammen. »Richtig. Dieses Haus wurde an derselben Stelle gebaut, wo früher der Bauernhof der Familie Winwood stand. Meine Großeltern tauften meine Mutter Eleanor, weil es Sonnenstrahl bedeutet, und von St. Margaret's Bay heißt es, es sei der erste Ort im Vereinigten Königreich, den die Sonne morgens küsse.«

»Interessant. Um das Haus meiner Familie in den Cairngorms ranken sich ähnliche Geschichten.«

»Genug der Vorrede, Dennis. Wenn Sie persönlich hier sind, müssen Sie ein äußerst wichtiges Anliegen haben. Warum sind Sie hergekommen?«

Allardyce langte in die Brusttasche seiner Sportjacke. »Deshalb.« Er hielt einen schwarzen USB-Stick in die Höhe. »Den hat das Glasgower Büro des MI5 heute erhalten.«

»Was ist das?«

»Darauf enthalten ist eine Videonachricht unseres vermissten Offiziers.«

»Hier entlang.« Er folgte ihr einen Flur hinunter, wo sie eine Tür für ihn aufhielt.

Sie führte ihn anschließend in ein geräumiges Arbeitszimmer mit einem breiten Eichenschreibtisch und zahlreichen Bücherregalen an den Wänden. Dahinter gelangte man durch eine Glasdoppeltür auf einen Balkon mit Ausblick auf den Garten. Farbloses Licht fiel durch die Scheiben ein.

Dennis stellte seinen Aktenkoffer auf den Schreibtisch und nahm einen Laptop heraus. Nachdem er ihn aufgeklappt hatte, steckte er den Stick in den USB-Anschluss und schaltete den Laptop an. Unruh setzte sich in einen von zwei Lehnsesseln vor dem Schreibtisch, während er mehrere Mausklicks machte. Dann rückte er das Gerät so zurecht, dass sie ebenfalls auf den Monitor schauen konnte. Wenige Augenblicke später wurde eine Kamera scharfgestellt, die vor einem dunklen Hintergrund auf ein zerschlagenes, blutverschmiertes Gesicht zeigte.

Die Ministerin rutschte unbehaglich in ihrem Sessel hin und her. »Oh mein Gott.«

Wie auf ein Zeichen desjenigen hin, der diese Aufzeichnung gemacht hatte, fuhr sich der Geschundene mit der Zunge über die Lippen und fing an zu sprechen. Seine Stimme klang dabei vollkommen niedergeschlagen und erschöpft. »Mein Name ist Shane O'Reilly. Ich bin Geheimagent des Security Service Ihrer Majestät und muss dieses Video unter Androhung meines To…«

»Halt dich ans Drehbuch, du Idiot«, fauchte jemand außerhalb des Bildes, und gleichzeitig wurde O'Reilly mit irgendeinem Gegenstand geschlagen. Dann fuhr er fort: »Ich möchte der Regierung Ihrer Majestät hiermit mitteilen, dass sie ihre Scheinuntersuchungen der Anschläge in Penrith und Carlisle abbrechen sowie umgehend alle miesen Tricks gegen die Kampagne für die Unabhängigkeit Schottlands unterlassen soll. Dass so viele Unschuldige gestorben sind, war vollkommen unnötig und ist nur geschehen, um zu verdeutlichen, mit welcher Geringschätzung die britische Obrigkeit auf ihre eigenen Bürger hinabsieht. Wenn genug Zeit verstrichen ist und diejenigen, die mich hier gefangen halten, davon überzeugt sind, dass sich der Staat ihren Forderungen gefügt hat, werde ich unversehrt freigelassen. Sollte sich der Staat allerdings weigern, dieser Aufforderung nachzukommen, wird man mich hinrichten und den Vorgang mitschneiden. Meine Leiche wird danach unauffällig verscharrt werden, wo niemand sie jemals findet. Sie wurden hiermit gewarnt.«

Daraufhin wackelte das Bild stark, ehe man nur noch ein Rauschen sah. Auf einen weiteren Mausklick hin erschien wieder Dennis' Desktop. Er entfernte den USB-Stick und schob ihn sorgfältig zurück in seine Brusttasche, während er der Innenministerin ins Gesicht schaute, um ihre Reaktion zu erfahren.

»Das war der schlimmste Wust aus dreisten Lügen, den ich mir je habe anhören müssen«, empörte sie sich mit noch schrillerer Stimme als üblich. »Die Schotten haben sich bereits per Wahl dafür entschieden, in der Union zu bleiben. Versuchen diese Leute tatsächlich, dem MI5 die beiden Attentate anzuhängen?«

Allardyce nickte. »Anscheinend hat jemand den Eindruck, der Innengeheimdienst betreibe Hetze, um weitere Bemühungen für die Unabhängigkeit Schottlands zu verhindern. Selbstverständlich könnte nichts davon mehr an der Wahrheit vorbeilaufen. Es gibt schließlich keine miesen Tricks, also können wir offensichtlich auch nichts unterlassen, was wir gar nicht tun. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich bei den Entführern, die dieses Video aufgenommen haben, auch um die Bombenleger.«

»Das ist nur zu typisch für die radikalen Gemüter unter uns. Sie unterliegen in einer freien und gerechten Wahl, gehen dann auf einmal hin und bezichtigen den Staat, ihre Anstrengungen sabotiert zu haben, indem sie es so darstellen, als ob sie um ihr erwünschtes Ergebnis beraubt worden seien. Was wird unternommen, um die Herkunft des Videos zu bestimmen?«

»Alles. Wir haben aktuell ein Team von Analytikern zusammengestellt, die den ganzen Tag daran arbeiten. Zum jetzigen Zeitpunkt sollte eigentlich bereits ein Ergebnis vorliegen.« Allardyce nahm sein Handy heraus und wählte eine Nummer. Es dauerte nicht lange, und ein Mann mit streng klingender Stimme meldete sich.

»Sam«, sagte Dennis – es war der Vizedirektor Samuel Reed – und drückte auf das Freisprechicon. »Ist das Team fertig?«

»Ich glaube schon, aber bevor ich Sie zu den Leuten durchstelle, gibt es noch etwas, das Sie unbedingt wissen müssen.«

»Und zwar?«

»Es gibt noch andere Videos, nicht nur dieses eine. Es wurden mehrere im Internet veröffentlicht, und darin behaupten die Entführer, dass unser Offizier bei einem versuchten Sprengstoffanschlag vor Ort gewesen ist.«

»Haben sich die Medien schon darauf gestürzt?«

»Nein, noch nicht, aber ich bin mir sicher, dass es nicht mehr lange dauern wird.«

»Sorgen Sie dafür, dass die Analysten Kopien davon bekommen, und ergreifen Sie alle notwendigen Maßnahmen, damit diese Videos sofort aus dem Netz genommen und von der Journaille ferngehalten werden. Sie könnten für uns immerhin wichtige Hinweise enthalten.«

»Die Analysten sind sie schon alle durchgegangen. Ich stelle Sie jetzt zu dem Leiter des Teams durch. Männer, frisch auf.« Reed nahm den Hörer von seinem Ohr, während er dies sagte, und erklärte: »In der Leitung ist der Generaldirektor mit der Innenministerin, Toby, und Sie haben das Wort. Beginnen Sie bitte mit Ihrem Namen und dem, was Sie tun.«

Allardyce beugte sich nach vorn und öffnete eine Software auf dem Laptop. Nach der Eingabe von Log-in-Informationen und einem Passwort lehnte er sich wieder zurück und wartete.

»Guten Nachmi… oder besser gesagt Abend, Madame Secretary und Direktor Allardyce«, stammelte ein junger Mann. »Mein Name ist Toby Price, und ich bin der leitende Auswertungstechniker der gemeinschaftlichen Terroranalysezentrale. Mein Team – neben mir Graham McCall, Sashi Patel und Peter Fuller – haben die Videos, die man uns zur Verfügung gestellt hat, ausgiebig untersucht und eine Reihe von Punkten zusammengestellt, die Sie bestimmt interessieren werden. Sind Sie gerade im System eingeloggt?«

»Ja. Sitzungsnummer 102956«, antwortete Allardyce, indem er die Zahlen in der Ecke des Bildschirms ablas.

»Sehr gut, Sir. Ich sehe Sie jetzt.«

Der Mauszeiger begann, sich ohne Dennis' Zutun zu bewegen, und nach ein paar Sekunden erschien der Desktop-Hintergrund von Prices PC im Untergeschoss des Thames House. »Also, fangen wir damit an, dass ich Ihnen kurz zusammenfasse, was wir bisher herausgefunden haben.«

»Wir möchten gerne etwas über die Stimme des Geiselnehmers wissen«, hob Unruh an. »Was gibt es dazu zu sagen?«

»Natürlich Ma'am. Gut … nun, seine Stimme deckt sich leider mit keiner aus unserer Datenbank, doch zwei Dinge ließen sich daran feststellen. Anscheinend benutzte er einen schottischen Jargon und versuchte auch, möglichst wie ein Schotte zu klingen. Unser Stimmerkennungsprogramm deutete allerdings auf etwas anderes hin. Es handelt sich mit weit höherer Wahrscheinlichkeit um einen Iren – einen Nordiren, um genau zu sein.«

»Einen Patrioten also«, warf die Ministerin trocken ein.

»Vermutlich, Ma'am.«

»Sonst noch etwas?«

»Das ist leider alles, was es über die Stimme zu sagen gibt, aber aus dem Bildmaterial haben wir erheblich mehr gewinnen können. Das Wichtigste ist, glaube ich, dass wir wissen, wo der erste Mitschnitt – das Forderungsvideo, wenn Sie es so nennen möchten – gemacht wurde.«

Allardyce setzte sich sofort aufrecht hin. »Sie konnten den Ort bestimmen?«

»Ja, Sir.«

»Wie das?«

»Indem wir die Umgebung aufgehellt haben, sowohl bei den Ausführungen der Geisel als auch danach, als die Kamera hektisch hin und her geschwenkt wurde, bevor jemand sie ganz ausschaltete. Das gab uns einigen Aufschluss.«

Durch das Telefon hörte man nun mehrere Mausklicks, woraufhin ein Foto auf dem Laptopmonitor erschien.

»Zunächst einmal«, fuhr Toby fort, während er durch mehrere Bilder blätterte, »ist ringsherum, während der Mann spricht, nicht mehr alles komplett dunkel. Man sieht Erdboden, eine alte Steinmauer, die niedrige Decke …«

»Er befindet sich also in einem Kellergewölbe«, unterbrach ihn Unruh ungeduldig. »Und wie hilft uns das weiter?«

Toby räusperte sich. Mit zwei so hohen Regierungstieren zu sprechen machte ihn offensichtlich nervös, weshalb sich Allardyce wünschte, die Ministerin würde ein bisschen Verständnis für den Kerl aufbringen, anstatt so ruppig wie immer zu sein.

Meg Unruh war nach einer langen Karriere im Unterhaus schließlich ins Innenministerium berufen worden, wo sie eines der vier wichtigsten Ämter des Königreichs bekleidete. In dieser Position betreute sie als Hauptverantwortliche alle inneren Angelegenheiten des Staates, darunter Einwanderung, Bürgerschaft, nationale Sicherheit und Überwachung.

In ihrem parlamentarischen Wahlkreis Dover an der Ostspitze des County Kent gab sie ein Inbild des Wohlstands ab. Sie und ihr Mann hatten ihr üppiges Familienvermögen in beträchtliche wirtschaftliche und politische Interessen investiert. Warmherzigkeit war hingegen eine Eigenschaft, die beiden vollkommen abging. Das Paar war hoffärtig und kinderlos geblieben – in dieser und auch in vorangegangenen Ehen – es zog die Gesellschaft preisgekrönter Cockerspaniel vor und verkehrte nur selten mit Personen, die weniger als eine Million Pfund schwer waren. Obgleich Allardyce die meisten von Unruhs politischen Ansichten teilte, und selbst mehrere Namenszusätze besaß, die ihn vom Durchschnittsbriten absetzten, verstand er sich von jeher als Diener des Volkes und meinte damit alle Bürger, sowohl die ärmsten als auch die reichsten.

»Hinaus läuft letzten Endes alles auf Folgendes«, fuhr Toby fort. »Nach Officer O'Reillys Schilderungen schaltete wie gesagt irgendwann jemand das Gerät ab und rüttelte dabei daran. Wir haben diesen Teil langsamer ablaufen lassen und das Bild bereinigt, um noch besser erkennen zu können, wie die Umgebung aussieht.«

Er hörte auf, sich durch die Schnappschüsse zu klicken, um eine Einstellung aufzurufen, die einen Haufen Holz am Boden des Kellers zeigte. Trotz des etwas schiefen Bildwinkels ließen sich mehrere Streifen weißes Vinyl erkennen, welche die Bretter zum Teil bedeckte. Eine grün-schwarze Schrift darauf war wegen der Knicke in der Plane allerdings nur schwer zu lesen.

»Was ist das?«, fragte Allardyce neugierig.

»Demonstrationsbanner, Sir«, antwortete Toby und wählte noch ein Foto aus. »Ausgehend von dem, was wir in Erfahrung bringen konnten, unternahmen wir eine Suche und fanden Spruchbänder, von denen wir ausgehen, dass sie bei der Unabhängigkeitskampagne Verwendung finden. In einem der anderen Videos taucht auch jemand auf, der ein T-Shirt mit dem gleichen Logo trägt.«

»Na so was.« Dennis verglich das Bild der Plane mit dem neuen, das eine Gruppe auf einer Straße zeigte. Die Personen darauf schwenkten Banner mit einem Symbol in Grün und Schwarz, dem Kürzel der Kampagne und ihr Motto »Schottland kann frei sein«.

»Nun sagt uns diese Verbindung aber allein immer noch nicht viel«, relativierte Toby, »doch ich möchte Sie vorübergehend auf den Keller selbst verweisen.« Er klang allmählich selbstbewusster und vergrößerte jetzt wieder das Standbild aus dem Gewölbe mit der Mauer hinter Shane O'Reilly. »Sehen Sie die rötlich-gelbe Farbe der Ziegel ungefähr ab dem oberen Drittel der Wand? Das ist typisch für eine Art von Sandstein, der während des Immobilienbooms in Glasgow Anfang des 20. Jahrhunderts häufig verbaut wurde und das Stadtbild stark geprägt hat.

Somit konnten wir den Ort auf Glasgow eingrenzen, und eingedenk der Gebäude im Zusammenhang mit der schottischen Unabhängigkeitsbewegung, sowie einer komplexen Reihe von Schlagwörtern, mit denen ich Sie jetzt nicht langweilen will, haben wir eine umfassende Bildsuche im Internet gestartet, unter anderem in den Dateien der städtischen Wohnungsbaugenossenschaft und mehreren weiteren mit historischen Bauwerken. Dabei sind wir hierauf gestoßen.« Ein lauter Klick ertönte, und ein Foto von einem leeren Raum erschien. Es war eindeutig derselbe, in dem Shane O'Reilly während der Aufzeichnung gestanden hatte.

»Brillant«, rief Allardyce, ohne einen Hehl daraus zu machen, dass ihm diese Fähigkeiten Respekt abverlangten.

»Danke, Sir. Das Gebäude mit diesem Keller steht im Norden von Glasgow, und wie Sie vielleicht schon geahnt haben, befindet sich im Erdgeschoss das Hauptbüro der Unabhängigkeitskampagne. Dokumente belegen deutlich, dass sie momentan der einzige Mieter unter dieser Adresse ist.«

»Absolut brillant.« Dennis stand auf, nahm das Telefon vom Schreibtisch und deaktivierte die Freisprechfunktion. »Sam, hören Sie mich?«

»Ja, ich bin noch da, Dennis.«

»Ich möchte, dass Sie diesen Standort sofort beobachten lassen.«

»Ich schicke gleich jemanden los.«

»Gut, und setzen Sie ein Analyseteam auf jeden Informationsschnipsel an, den wir über die Unabhängigkeitsbewegung und ähnliche Organisationen haben. Morgen früh erwarte ich dann einen ausführlichen Bericht.«

»Ich mache mich umgehend an die Arbeit.«

»Dann hören wir bald wieder voneinander.«

Nachdem Allardyce den Anruf beendet hatte, wandte er sich an Meg Unruh, die mit verschränkten Armen und strenger Miene neben ihm stand.

»Und wer steckt hinter dieser Unabhängigkeitskampagne?«

»Das weiß ich noch nicht genau, doch es ist einer der vielen Ableger der Scottish National Party, die sich für die Abspaltung des Landes von Großbritannien starkgemacht hat.«

»Befürwortet sie Gewalttaten?«

»Meines Wissens nach nicht. Unserer Pflicht gemäß überwacht der MI5 solche Vereinigungen schon sehr lange. Einige neigen zwar eher zu Protesten als andere, doch abgesehen von ihren Seilschaften zu den militanter ausgerichteten Gewerkschaften deutet nichts darauf hin, dass sie gewalttätige Absichten hegen. Bis heute wurden immer nur friedliche Aktionen lanciert.«

»Das scheint sich kürzlich aber wohl geändert zu haben.«

»Ja, das könnte sein. Wie Sie bereits sagten, geriet die Partei im Zuge ihrer Wahlniederlage ins Straucheln, und mich würde es nicht wundern, wenn sich ein paar Anhänger daraufhin ziemlich blumige Verschwörungstheorien ausgedacht haben, um sich selbst froh zu machen. Sie pochen bereits auf eine neue Abstimmung in ein paar Jahren.«

»Ich setze mich schnellstmöglich mit der Premierministerin in Verbindung«, versprach Unruh, »aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass sie nicht anders reagieren wird als ich. Unsere Regierung wird sich bestimmt nicht von einer Bande hinterhältiger, größenwahnsinniger Sozialisten einschüchtern lassen. Was brauchen Sie, um sichergehen zu können, dass diesen Aktionen schnell und ohne viel Aufhebens ein Riegel vorgeschoben wird?«

»Zunächst einmal Durchsuchungsbefehle und Polizeistreitkräfte«, begann Allardyce. »Mehrere Mannschaften am besten. Falls Officer O'Reilly wirklich in einem Gebäude festgehalten wird, das die Unabhängigkeitsbewegung gemietet hat, lautet unsere oberste Priorität natürlich, ihn zu befreien. Mit ihm wäre den Entführern nämlich automatisch jeglicher Verhandlungsspielraum genommen.«

»Abgemacht. Ich rufe gleich den schottischen Polizeipräsidenten an.«

Kapitel 5

Sonntag, 9:45 Uhr Ortszeit, Hauptbüro der Unabhängigkeitskampagne Newton Place, Glasgow, Schottland

Der leitende Polizeiinspektor Duncan Campbell beobachtete, wie die letzten Anlieger – es waren die wenigen, die sich an einem Sonntagmorgen an ihren Arbeitsplätzen aufgehalten hatten – in Sicherheit gebracht wurden, weg von den zu Büros umgebauten Reihenwohnhäusern aus der Viktorianischen Zeit, die nun mehr als ein Dutzend Unternehmen gemietet hatten. Eilig verschwanden die ängstlich ausschauenden Vertriebsangestellten, Therapeuten und Immobilienmakler, und näher rückte in geduckter Haltung eine Schlange schwerbewaffneter Polizeibeamter auf dem Betongehsteig. Ihr Ziel war das letzte Gebäude, an dessen Erdgeschossfenster eine Fahne in Grün und Schwarz auf weißem Untergrund mit der Abkürzung INC - Independence Now Campaign – neben der Eingangstür hing. Das Büro der Unabhängigkeitsbewegung. Einem Überwachungsteam des Innengeheimdiensts, das man am Vorabend auf dem Gelände postiert hatte, war es gelungen, die Anwesenheit einer Person in den ansonsten leeren Räumlichkeiten zu bestätigen. Ein blonder Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren hatte das Haus betreten, doch seit zwölf Stunden war soweit ersichtlich durch keine der beiden Türen irgendjemand ein- oder ausgegangen. Deshalb hatte Campbells Spezialeinheit die Erlaubnis zum Stürmen bekommen.

Er selbst war zwischen einer dichten Baumreihe auf der anderen Straßenseite des Gebäudes in Deckung gegangen und blickte gerade besorgt auf seine Armbanduhr. Hoffentlich dröhnte der Verkehr in den umgebenden Straßen laut genug, um den etwaigen Lärm zu übertönen, der bei der Evakuierung der Nachbarn und den Vorbereitungen zum Eindringen in das Büro aufkam. Die Operation lief bereits seit zwanzig Minuten, Zeit war also das A und O. Falls sich die zu rettende Person wirklich noch dort drinnen befand, könnte jeder Fehler, den sich die Beamten erlaubten, zu einer sofortigen Hinrichtung führen.

»Team Bravo in Stellung«, rief eine Männerstimme in Campbells Ohrknopf.

»Charlie fertig zum Losschlagen«, teilte ein zweiter Beamter mit.

Die zwei Mannschaften in der Gasse auf der anderen Seite des Gebäudes standen somit einsatzbereit in Position, eine am Hintereingang und die andere vor der Tür des Kellers, der separat zugänglich war. Fehlte also nur noch Team Alpha, das die Anweisung hatte, von vorn einzutreten, und momentan noch zehn Yards entfernt wartete.

»Auf Empfang bleiben«, flüsterte Campbell jetzt in sein Mikrofon, als die Mitglieder von Alpha anhielten, um behutsam eine Ramme aus Metall nach vorn durchzureichen. Dann gingen sie weiter. »Kontakt in zwanzig Sekunden … fünfzehn – zehn – fünf – Marsch, Marsch, Marsch!«

Er warf einen Blick auf zwei Anzugträger neben ihm, während die Mannschaft die Vordertür einrannte und mit vorgehaltenen Maschinenpistolen ins Erdgeschoss stürzte. Über den Knopf in seinem Ohr verfolgte er mit, wie die beiden anderen Eingänge am hinteren Teil des Gebäudes ebenfalls aufgestoßen wurden.

»Polizei! Wir sind bewaffnet! Polizei!«, schrien die Beamten beim Ausschwärmen in die Räume des wie eine Stadtwohnung angelegten Inneren. Nachdem auch die letzten Männer von Team Alpha eingedrungen waren, winkte Campbell den beiden Anzugträgern zu, damit diese ihm die Eingangstreppe hinauf folgten. Oben warteten sie, bis die ersten Polizisten herausrufen würden, dass sie die Lage im Griff hatten. Erst danach würden sie selbst eintreten.

»Rechter Flügel sauber«, bestätigte jemand per Funk. »Links ist auch alles sauber«, teilte der nächste Beamte mit.

Campbell sah von der Tür aus, wie drei seiner Männer um eine Ecke bogen und vorsichtig die Treppe in den ersten Stock betraten.

»Auf den Boden! Sofort! Arme ausstrecken!« Die Befehle ertönten, kurz, nachdem sie oben angelangt waren.

»Um Gottes willen!«, rief jemand mit schottischem Akzent. »Is' ja gut, is' ja gut!«

»Alpha fertig, nichts gefunden.«

»Bravo ist durch, eine Person festgenommen.«

»Charlie hier, niemanden gefunden.«

»Verdammt.« Campbell stampfte durch das Obergeschoss zum Hintereingang, wobei der alte Holzboden unter seinem nicht unerheblichen Gewicht knarrte. Nachdem er über verstreute Infobroschüren und Holzsplitter des Türrahmens getreten war, nahm er eine Betontreppe, die in die schmale, gepflasterte Gasse hinter den früheren Reihenwohnungen führte. Unten ging er weitere Stufen hinab in den Keller. Er musste den Kopf einziehen, als er das enge, muffige Gewölbe unter dem Hauptbüro der Unabhängigkeitsbewegung betrat.

»Hier gibt es nichts zu holen, Sir«, sagte einer der Beamten, die in dem Raum herumstanden.

Campbell brauchte sich nicht lange umzusehen, um zu wissen, dass der Mann recht hatte. Abgesehen von einem klapprigen Stuhl und einem Haufen verwitterter Holzstücke, der mit irgendwelchen alten Spruchbändern zugedeckt war, enthielt dieser Keller gar nichts. »Scheiße!«

Er verließ das Gebäude, ließ seinen Blick über mehrere Mülltonnen und den Belag der Gasse schweifen, aus dessen Rissen Grünzeug wuchs. Dass irgendeines der Autos kurz zuvor abgestellt worden war, ließ sich nicht erkennen, aber wie konnte er sich dessen schon sicher sein? So wie die Straße aussah, schien sie wochentags dauerhaft zugeparkt zu sein. »Team Bravo, bringen Sie den Festgenommenen sofort nach draußen hinter das Gebäude.«

»Verstanden, sind unterwegs, Sir.«

Wenige Augenblicke später traten die beiden Anzugträger, die Campbell begleiteten, beiseite, und drei der bewaffneten Beamten führten einen Mann in Handschellen durch die Hintertür hinaus. Der Inspektor musterte den ungepflegten Blondschopf, den seine Einheit anscheinend aufgeweckt hatte. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Pff, William Wallace, und lassen Sie mich raten: Sie sind Gas-Wasser-Scheiße und wollen nur die Heizung kontrollieren.«

Campbell schmunzelte und hielt einen gefalteten Durchsuchungsbefehl in die Höhe. »Nein, ich bin der Spielverderber, der Ihnen Krümel in den Käse streut. Jetzt sagen Sie schon, was Sie hier tun.«

Der Mann starrte ihm weiterhin unerschrocken in die Augen, schwieg jedoch. So, wie er neben den beiden schwerbewaffneten Polizisten in den dunkelblauen Sonderkommandouniformen stand, sah er in seinen weißen Boxershorts und einem Unterhemd aus wie ein verhärmter, bleicher Zwerg.

»Angesichts der Einrichtung oben würde ich vermuten, dass er hier wohnt, Sir. Dort liegen nämlich jede Menge Kleider auf dem Boden herum, und wir haben ihn auf einer Matratze in einem der Zimmer gefunden.«

»Also gut.« Campbell schaute dem Fahrer eines hellblauen BMW beim Zurücksetzen in die Gasse zu. »Falls Sie mir gegenüber nicht aussagen wollen, können Sie auch gerne beim Geheimdienst Rechenschaft ablegen.« Er öffnete die Hintertür der Limousine, woraufhin die beiden Beamten den ungepflegten Mann zum Einsteigen zwangen, wobei einer von ihnen dessen Kopf niederdrückte. Der Inspektor knallte die Tür wieder zu und drehte sich anschließend zu den beiden Anzugträgern um. »Er gehört jetzt ganz Ihnen.«

Kapitel 6

10:09 Uhr Ortszeit, verlassenes Hafenterminal – Pacific Quay Glasgow, Schottland

Lord Dennis Allardyce blickte in Richtung Süden am Flusshafen entlang, dessen Boden komplett überwuchert war, während er hörte, wie ein Auto vom Asphalt auf den Schotter rollte. Beim Näherkommen wirbelte es eine Staubwolke hinter sich auf. »Da ist unser Mann.« Als er sich umdrehte, stand in einiger Entfernung Harold Thom da.

Der Mann war untersetzt, hatte rote Haare mit grauen Strähnen und ein Gesicht, mit dem er Frischmilch hätte sauer machen können. »Pünktlich auf die Minute.« Er schaute auf seine Uhr und ging auf ein leer stehendes Backsteingebäude hinter ihnen beiden zu.

Allardyce konnte Thoms gegenwärtiges Befinden bestens nachvollziehen.

Beim Innengeheimdienst arbeitete der Mann als Leiter des Ressorts für Terrorbekämpfung in Irland und dem Inland. Shane O'Reilly war sein direkter Vorgesetzter. Er hatte erst eine Viertelstunde zuvor erfahren, dass sein Befehlsgeber nicht im Keller des INC-Hauptbüros gefunden worden war, wo man ihn zuletzt geortet hatte, und dies mit äußerstem Ärger zur Kenntnis genommen. Die Befürchtung, ihr Rettungsversuch habe vielleicht zu seiner Hinrichtung geführt, lastete schwer auf Thom.

Allardyce fuhr mit den Händen an seinem schwarzen Trenchcoat hinunter und überblickte den verlassenen Hafen einmal mehr. Möwen lachten über ihm am Himmel oder stürzten sich auf die Fische auf den Trockendocks, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden waren. Sturmwellen hatten sie vollkommen überflutet, und in dem grauen Wasser trieb eine Menge Müll. Östlich der pfeilförmigen Anlage sah man die riesigen Satellitenschüsseln von BBC Schottland und die Squinty Bridge, die über den River Clyde in den Glasgower Stadtkern führte. Als er sich nach Westen umdrehte – er machte sich fortwährend Sorgen wegen möglicher Beobachter dessen, was hier gleich geschehen würde – konnte er die Dächer der neuen Wohnhäuser am Südufer des Flusses und auf der Gegenseite das Riverside Museum mit seiner modernen Architektur erkennen, dessen kantiges Äußeres an die Oper in Sydney erinnerte. Dass die nächsten Gebäude so weit weg waren und hohes Gestrüpp den gesamten Hafen umwachsen hatte, beruhigte ihn. So konnte sie wenigstens niemand entdecken.

Ein hellblauer BMW bog jetzt auf den Sandplatz neben dem Backsteinbunker ein und hielt an. Zwei Männer in Anzügen stiegen aus und zogen einen dürren, schmuddelig wirkenden dritten in weißer Unterwäsche von der Rückbank der Limousine.

Dennis ging auf das Gebäude zu und begrüßte ihn. »Bringen Sie den Mann hinein, er soll sich setzen.«

»In Ordnung, Sir.«

»Was denn, Sie stülpen mir gar kein schwarzes Tuch über?«, höhnte der Fremde, der Handschellen trug. »Das ist aber sehr enttäuschend.«

»Halten Sie den Mund!«, verlangte einer der Agenten, während sie ihn hineinführten. Hinter ihm schlugen sie die verrostete Tür zu.

»Mit Ihnen habe ich hier nicht gerechnet, Direktor.«

Allardyce drehte sich zu dem obersten ihrer Glasgower Spitzel um. »Normalerweise wäre ich auch nicht gekommen, doch diese Sache betrifft die Staatssicherheit und genießt deshalb absoluten Vorrang. Ich nehme mal an, er war die einzige Person in dem Gebäude?«

»Richtig, Sir. So wie es aussah, wohnte er in den Zimmern im Obergeschoss. Seinen Namen will er uns aber nicht nennen.«

»Er ist uns bereits geläufig«, erwiderte Allardyce. »Alles Weitere übernehmen jetzt wir.«

»Selbstverständlich, Sir.« Der Mann kehrte zu dem Wagen zurück, mit dem er hergefahren war.

Dennis betrat daraufhin das Gebäude. Drinnen sah es genauso verwahrlost aus wie von außen. Das unwirtliche Klima Schottlands hatte längst sämtliche Gipskartonplatten an den Wänden aufgelöst, sodass die Mauersteine und das faule Sperrholz zu sehen waren. Im Dach klafften Löcher, durch die man die grauen Wolken sah, und auf dem Boden lag zwischen Kothäufchen der Möwen Müll, der wahrscheinlich von jemandem zurückgelassen worden war, der widerrechtlich hier gehaust hatte. Beim Anblick des stillgelegten Hafens würde wohl niemand ahnen, dass der MI5 ihn eines Tages als nördliche Zentrale zu nutzen beabsichtigte. Falls Schottland dem Königreich noch lange genug angehörte, würde die Govan Wharf – so der vorgeschlagene Name für den geplanten Neubau – dem Thames House in nichts nachstehen, weder äußerlich noch in puncto Funktionalität. Vorerst aber war das Gelände ein praktischer Ort für Vernehmungen unter Ausschluss aller, die das Ganze nichts anging.

»Macht er auch keine Dummheiten?«, fragte Allardyce Thom. Dieser stand neben der Tür zu einem der wenigen Räume des früheren Hafenterminals, dessen Wände noch intakt waren.

»Nein, denn er ist an einen Stuhl gefesselt, und es gibt keinen zweiten Ausgang. Er kann also nicht abhauen.«

»Gut. Dann geben wir ihm jetzt mal ein wenig Zeit, um über seine Situation nachzudenken, oder?«

»Ich würde sagen, wir nehmen ihn lieber sofort in die Mangel, und zwar ordentlich«, schlug Thom vor. »Shane war schließlich nicht mehr dort, wo das Video aufgenommen wurde, und indem wir in dem Laden eingefallen sind, haben wir vielleicht sein Schicksal besiegelt.«

»Hoffen wir mal, dass das nicht der Fall ist, Mr. Thom.«

»Sollte dieser Kerl irgendetwas wissen, müssen wir es herausfinden, aber schnell.«

»Ich verstehe, dass Officer O'Reilly und Sie schon lange zusammenarbeiten. Ihre Beziehung zu ihm reicht immerhin bis in die Zeit der Troubles zurück, also ist es bestimmt hart für Sie, ihn verloren zu haben.« Allardyce trat von der Tür weg und setzte sich auf eine lange Holzbank, wo garantiert einst die Hafenarbeiter gewartet hatten, um auf einem der vielen Frachter anheuern zu können, die hier früher gelandet waren. Wir tun gerade alles Menschenmögliche, um dafür zu sorgen, dass er unbescholten freikommt und die Verantwortlichen geschnappt werden, aber das hier muss unbedingt mit Umsicht erledigt werden.«

»Hmm«, brummte der Abteilungsleiter, zog seine Augenbrauen hoch und nahm widerwillig Platz. Allardyce wusste, dass dieser kein Mann vieler Worte war. Stirnrunzeln, ein Nicken oder eben hochgezogene Augenbrauen … was seine Emotionen betraf, hatte Harold Thom noch nie mehr durchblicken lassen.

Als er die Wartezeit für lange genug hielt, erhob sich Allardyce wieder von der altertümlichen Bank. »Ich denke, das genügt jetzt. Schauen wir mal nach, ob sich seine Einstellung zumindest ein wenig verbessert hat.«

Einer der beiden Agenten mit den dunklen Anzügen, der an der Tür Wache stand, öffnete sie nun für ihn und trat wieder zur Seite. Nachdem Dennis mit Thom eingetreten war, schloss er sie wieder sorgfältig, damit sich die beiden ungestört mit dem Gefangenen unterhalten konnten.

Der Mann hob jetzt seinen Kopf an und spuckte abfällig auf den Boden. »Ich verlange sofort ein Telefongespräch. Sie dürfen mich nicht einfach so hier festhalten. Ich habe schließlich nichts verbrochen.«

»Deshalb sind wir hier – um uns dessen zu vergewissern, nicht wahr?« Thom zog einen morschen Stuhl herüber, drehte ihn um und setzte sich genau vor den Verdächtigen. »Fangen wir doch mit Ihrem Namen an. Wie lautet der?«

»Robert the Bruce, du Wichser. Und jetzt geben Sie mir gefälligst ein Telefon.«

»Mir ist schon klar, dass Typen wie Sie, die Häuser besetzen, kleine dunkle Löcher gewohnt sind, aber sieht diese Hütte so aus, als gebe es hier einen Telefondienst für Sie?« Thom schaute sich spöttisch in dem heruntergekommenen Raum um. »Das ist schließlich nicht der Keller Ihrer Mama.«

»Sie können mich mal. Sie haben nicht das Recht, mich hier festzuhalten.«

»Ist auch egal. Wir kennen ihn sowieso schon.« Thom suchte Dennis' Blick.

»Ihre Identität ließ sich leicht in Erfahrung bringen.« Der Lord nahm einen Stoß gefalteter Papiere aus der Innentasche seines Mantels und sah sie kurz durch. »Hier steht, dass Sie Reece Findlay heißen, und auch alles Weitere, was wir über Sie wissen müssen, würde ich sagen. Ein unbedeutender Befürworter der Republikaner. In den letzten drei Jahren zwei Mal wegen Landfriedensbruch inhaftiert gewesen. Gesucht als Verdächtiger im Fall einer Vergewaltigung im Zuge der Ereignisse im Lager von Occupy Glasgow im Kelvingrove Park im vergangenen Jahr. Gegenwärtig als arbeitsloser Sozialhilfeempfänger registriert – da frage ich mich doch, weshalb man sie im Hauptbüro der Unabhängigkeitsbewegung aufgelesen hat. Eine so lautere Organisation wie diese würde doch bestimmt gerne wissen, wenn sich jemand in ihren Räumlichkeiten einnistet, oder? Und Einbruch als weiteres Vergehen neben ihren anderen?« Allardyce hob einen Zeigefinger und schnalzte mit der Zunge, als würde er ein kleines Kind rügen. »Ich schätze mal, das genügt, um Sie eine ganze Weile hinter Gittern zu bringen, Mr. Findlay.«

»Sie sind doch die Einbrecher. Ich gehöre zu den Organisatoren der Kampagne, verflucht noch mal. Demnach durfte ich auch dort sein. Ich habe die Erlaubnis dazu.«

Thom grinste abfällig. »Klar, und ich gehe stark davon aus, dass Sie auch die Erlaubnis des armen Mädchens im Kelvingrove Park hatten, oder war es ein Kerl?«

»Es handelte sich lediglich um ein Missver…«

»Dann mal los! Sie sagen mir einfach, was ich wissen will – alles, was ich wissen will – und wir alle hier vergessen einfach, Ihnen je begegnet zu sein.«

»Oder andernfalls? Buchten Sie mich dann ein? Dieses Mädchen würde mit seiner Aussage vor Gericht niemals durchkommen, ansonsten gäbe es schließlich schon ein Verfahren. Verpissen Sie sich! Soll ich's für Sie buchstabieren? V-E-R…«

Thom stand abrupt auf, wobei der Stuhl umkippte, und ohrfeigte Findlay.

Allardyce wartete schweigend, bis der junge Mann verunsichert aufschaute – sein Gesicht war rot, und er hatte feuchte Augen bekommen – ehe er vortrat und mehrere Fotos aus seinem Mantel zog. Er hielt sie ihm hin, um ihm eines nach dem anderen zu zeigen. »Erkennen Sie diesen Mann wieder?«

»Ich schaue mir Ihre beschissenen Bilder nicht an.« Findlay wandte den Blick ab. »Ich weiß nichts über wen auch immer und bin garantiert nicht daran interessiert, mich von Ihnen als Informationsgeber ausnutzen zu lassen. Falls Sie etwas über die Unabhängigkeitsbewegung erfahren wollen, müssen Sie wohl woanders suchen.«

»Denken Sie, darum geht es hier? Dass wir versuchen, Sie anzuwerben?« Allardyce lachte laut. »Dann darf ich Ihnen hiermit versichern, dass man so etwas eher nicht bei bewaffneten Razzien tut, und wie Sie sehen, haben wir bereits alle Fakten zu Ihrer Bewegung, die wir brauchen. Ich würde vielmehr gerne erfahren, wo dieser Mann steckt. Anscheinend ist er gestern oder vorgestern irgendwie im Keller Ihres Büros am Newton Place gelandet und lange genug geblieben, um sich dabei filmen zu lassen, wie er die Forderungen seiner Entführer darlegte.«