Die Reise des weißen Bären - Susan Fletcher - E-Book + Hörbuch

Die Reise des weißen Bären Hörbuch

Susan Fletcher

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Beschreibung

Norwegen, Anfang des 13. Jahrhunderts: Der 12-jährige Arthur ist von zu Hause weggelaufen. Durch Zufall erhält er in der Stadt Bergen einen besonderen Auftrag: Er soll sich um einen Eisbären kümmern, der auf einem Segelschiff nach London transportiert wird – und der als Geschenk des norwegischen Königs an den König von England gedacht ist. Arthur ahnt nicht, worauf er sich einlässt - es ist der Beginn einer Reise voller Abenteuer! Mitten auf der Nordsee wird das Schiff nicht nur von Piraten angegriffen, sondern es gerät auch in einen Sturm. Und immer ist es der weiße Bär, auf dessen Hilfe Arthur selbst in größter Gefahr zählen kann und dem er am liebsten die Freiheit schenken würde …

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Zeit:4 Std. 17 min

Sprecher:Julian Greis
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Susan Fletcher

Die Reise des weißen Bären

Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Münch

© der deutschsprachigen Ausgabe: WooW Books, ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich 2021

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Bettina Münch

Originaltitel: Journey of the Pale Bear

© Text: Susan Fletcher, 2018

© Cover: Shane Rebenschied, 2018

Published by arrangement with Margaret K. McElderry Books, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96177-531-6

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

 

 

 

Für Quince

Prolog

London 1272

Wenn sich abends die Dunkelheit herabsenkt, kehre ich in die Festung zurück. Ein Wachposten leuchtet mir mit der Laterne ins Gesicht, sodass ich von der auf mich einflutenden Helligkeit geblendet werde und blinzeln muss. Ein Kettenhemd rasselt, ein Schwert klirrt … Die Laterne schwenkt zur Seite, und die Dämmerung strömt zurück, bis auf ein paar winzige Lichtflecken, die noch durch mein Sichtfeld schwimmen. Ich höre das Kratzen der schweren Eisenriegel, die zurückfahren, höre das rostige Klong, mit dem sie aus der Führung gleiten. Dann schwingt das hohe Westtor knarrend auf, um mich einzulassen.

Einer der Wachmänner löst sich von den anderen, um mich zu begleiten; sie alle wissen, wohin ich gehe. Unsere Schritte dröhnen hohl auf der Holzbrücke, auf der wir den Festungsgraben überqueren. Ein zweites Tor öffnet sich schwerfällig, und wir betreten die Gänge des äußeren Festungsrings, waten durch die Pfützen aus Licht und Schatten, die die schwankende Laterne des Wachmanns auf den Boden wirft.

Ich spüre das vertraute Ledergeschirr in meiner Hand, das schwere Seil auf meiner Schulter; die dicken Stränge quietschen leise beim Gehen. Immer deutlicher nehme ich den Geruch staubiger Federn wahr, einen Hauch von verfilztem Fell und den erdigen Duft von Mist. Ich höre Hufe scharren, Schnaufen, Knurren, ein Gähnen … dann begrüßt mich ein tiefes, vertrautes Schnauben.

An die Gitterstäbe gepresst, erwartet mich die Bärin, ihre alte Nase zuckt. Sie wittert mein Kommen jedes Mal, auch wenn es mir ein Rätsel ist, wie sie das macht, denn ihr strenger, moschusartiger Gestank verdrängt alles und lässt keinen Platz für andere Gerüche. Der Schlüssel knirscht im Schloss; der Wachmann duckt sich hinter mir, und ich schlüpfe in den Käfig.

Die Bärin beschnuppert mich von oben bis unten, ehe sie mir ihren Kopf entgegenstreckt, damit ich ihn kraulen kann – das linke Ohr mit der Kerbe, die ihr der Pirat hineingeschlagen hat; die Schnauze mit der schartigen Narbe von dem Pfeil. Ich lege das Geschirr beiseite und grabe die Finger in ihr Fell, bis hinab auf die dunkle Haut, so wie sie es mag. Ihr Pelz ist rau und dicht. Ich presse das Gesicht hinein und atme ihren immer noch wilden Geruch ein. Sie stößt einen Laut aus: ein tiefes, grollendes Seufzen, das klingt, als käme es aus dem Herzen der Erde.

Ich streife ihr das Geschirr über den Kopf und schließe es vorn an der Brust. Dann nehme ich das Seil von der Schulter und befestige es am Ring des Halfters. Ich führe sie aus dem Käfig unter die Bäume des Towers und weiter in Richtung Wassertor.

Die Bärin ist jetzt alt. Ihr Fell ist matt, sie hat kaum noch Zähne, und ihre Hüftknochen ragen wie Flossen aus ihrem Rücken. Steif hinkt sie hinter mir her – fügsam wie ein Lamm auf dem Hof meines Stiefvaters. Sie verspürt nicht mehr den Drang, davonzulaufen; sie scheint endlich zufrieden zu sein.

Doch das war nicht immer so. Einst erfüllte sie die Herzen der hartgesottensten Seeleute mit Furcht, schwamm Meile um Meile, ohne anzuhalten, widerstand einem Hagel von Pfeilen, kämpfte gegen Piraten, rettete einen Jungen, der sie lieb gewonnen hatte, und wurde von Königen bestaunt und bewundert. Einst, vor langer Zeit … als sie und ich jung waren.

Erster TeilNorwegen

1. KapitelDieb

Bergen, Norwegen Frühling 1252

Es war der Geruch von gebratenem Fleisch, der mich aufweckte. Ein leichter Regen hatte eingesetzt, und obwohl ich mich unter dem Vordach eines Schusterladens zusammengerollt hatte, drang die Feuchtigkeit des Bodens durch meinen Umhang und die Tunika bis in mein Hemd. Ich hörte Gerede und Gelächter, doch ich wusste, dass es nicht das war, was mich geweckt hatte.

Nein, es war der Geruch.

Er neckte mich, wurde stärker und wieder schwächer – so schwach, dass ich einen Moment lang meinte, ich hätte ihn mir nur eingebildet. Dann war er wieder da: ein köstlicher, schwerer Fleischduft, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Ich stützte mich auf einen Ellbogen und sog den Duft ein. Ich stellte mir vor, wie ich ein Stück von einem gebratenen Hammel abriss, den meine Mutter zubereitet hatte, spürte, wie das warme Fleisch meine Kehle hinunterglitt, und fühlte die schwere, schläfrige Behaglichkeit eines gefüllten Magens.

Ich rückte meine Kappe zurecht, hängte mir meinen Knappsack um und kam unsicher auf die Beine. Vor zwei Tagen hatte ich meinen letzten Proviant aufgegessen, ich war ganz schwach vor Hunger.

Die Stimmen verebbten und schwollen wieder an. Es war dunkel; sogar die Sterne waren verschwunden. Die Straße hatte sich geleert, und die Männer, die nun an mir vorübergingen, wirkten finster, ihre Gesichter waren verzerrt von den Schatten der Laternen, die hier und da aufgeflammt waren. Hinter dem Kai standen die Läden und Häuser von Bergen dicht an dicht, aufwendig und massiv gebaut, ohne einen Platz für einen hungrigen, heimatlosen Strolch wie mich.

Ich schlich die Straße entlang und bog in eine kleine Gasse ab, in der ich eine Schenke mit hell erleuchteten Fenstern entdeckte. Der köstliche Fleischduft überfiel mich schlimmer als zuvor, er drang mir in Nase und Mund. Ich hielt mir vor Augen, dass es nutzlos sei, mich weiter mit quälenden Düften herumzuplagen. Dass ich an einem Ort wie diesem ohne Geld nicht willkommen sei, ja sogar in Gefahr geraten könnte.

Ich drückte die Tür auf und trat ein.

Die Schenke war düster und voller Menschen; es stank nach einem Gemisch aus Schweiß, saurem Bier, nasser Wolle und Schlamm. Doch all diese Gerüche wurden überlagert vom Duft des warmen Fleisches, der mich nicht aus seinen Fängen ließ.

Eine Magd drängte sich mit einem Tablett auf dem Kopf an mir vorbei und knallte es auf einen Tisch: ein gewaltiger Hasenbraten in einem See aus Soße und Blut. Männer in blauer Matrosenkluft scharten sich um ihn und langten mit Händen und Messern zu. Der Teller leerte sich schneller, als man gucken konnte, bis nur noch eine einzige einsame Keule übrig war.

Ich handelte, ohne nachzudenken.

Blitzschnell schlüpfte ich zwischen die beiden Seemänner, die gerade ihre Hand nach der Keule ausstreckten, schnappte sie mir und rannte zur Tür.

Ein Schrei ertönte: »He! Du!« Dann folgten weitere Rufe, Flüche, und hinter mir hörte ich das Kratzen von Bänken. »Haltet den Dieb!«

Jemand packte mich am Umhang und warf mich fast zu Boden. Ich wirbelte herum und sah einen kräftigen blonden Matrosen von vielleicht fünfzehn Jahren, etwa drei Jahre älter als ich selbst. Ich trat ihm gegen das Schienbein und riss mich los. Dann kletterte ich auf einen Tisch und lief ihn entlang, stieß dabei eine Reihe von Flaschen und einen Bierkrug um.

»Hiergeblieben!«

Hände griffen nach meinen Beinen. Ich wich ihnen aus und trat auf einen hölzernen Fleischteller, dann sprang ich vom Tisch und rannte zur Tür. Ich drückte sie auf. Prallte gegen einen hereinkommenden Mann. Rutschte aus und fiel zu Boden – und das alles, ohne die Hasenkeule loszulassen. Hastig rappelte ich mich wieder auf und stürzte in die Dunkelheit hinaus, wobei ich betete, dass die Seeleute hinter mir zu faul oder zu betrunken wären, um mir nachzusetzen.

2. KapitelWild

Ich stürmte die Straße entlang, schlitterte um die Ecke und bog in eine andere Gasse ab. Ich konnte sie hinter mir hören – schwere Schritte, das Klirren von Eisen. Als ich einen Blick über die Schulter warf, sah ich, dass einer von ihnen eine Laterne dabeihatte.

Ich überquerte einen grasbewachsenen Weg, bog um die nächste Ecke, gelangte an eine Abzweigung und huschte in eine weitere Gasse.

Vor mir stand eine Tür sperrangelweit offen. Ein Stück dahinter schmiegten sich ein blau gekleideter Seemann und eine Frau aneinander, der Mann beugte den Kopf über das Haar der Frau. Ich hörte sie kichern und verlangsamte mein Tempo, um sie nicht auf mich aufmerksam zu machen. Ich sah mich um. Die Schritte meiner Verfolger waren immer noch zu hören – doch jetzt waren sie schwächer. Ich konnte nicht sagen, woher sie kamen, und auch niemanden entdecken.

Ich schlüpfte durch die Tür.

Drinnen war es noch dunkler als draußen. Wahrscheinlich befand ich mich in einer Art Lagerhaus. Es roch stark nach Fisch, doch noch ein weiterer, merkwürdiger Tiergeruch schlug mir entgegen. Er gehörte nicht zu einem Pferd, einem Schaf oder einer Kuh, sondern … Ich stieß mit dem Zeh gegen etwas Hartes, streckte die Hand aus und ertastete die runde Oberfläche eines Fasses. Ich schob mich dahinter, damit ich von der Tür aus nicht sichtbar war.

Dann kauerte ich mich hin und begann zu essen. Riss mit den Zähnen das Fleisch vom Knochen, dass mir der Saft übers Kinn auf meine Tunika und das Hemd rann. Fleisch! Noch warm und …

Stimmen. Zwei Männer kamen von hinten auf mich zu. Ich kroch auf allen vieren vorwärts, um dem Dünnen mit der Laterne auszuweichen und prallte dabei geradewegs gegen den anderen: Es war der blonde junge Bursche aus der Schenke. Er packte mich am Kragen meines Umhangs.

»Dich werd’ ich lehren, mich zu bestehlen, du …« Ich spürte, wie er an meinem Knappsack zerrte. »Na, was haben wir denn da?«

Ein bestimmter Ton in seiner Stimme erinnerte mich an meinen ältesten Stiefbruder Edwin, wenn er etwas haben wollte, das mir gehörte. Ich versuchte mich loszureißen, doch der Matrose hielt mich fest.

Ein tiefes Knurren drang aus einer dunklen Ecke des Lagerhauses. Meine Nackenhaare sträubten sich; der Bursche, der mich festhielt, erstarrte.

»Was ist das?«, fragte der Dünne mit der Laterne. Er schien kaum älter zu sein als ich.

»Keine Ahnung«, sagte der Matrose und packte mich brutal am Handgelenk. »Warum finden wir es nicht heraus?«

»Lass uns von hier verschwinden, Hauk«, sagte der Laternenjunge. »Du kannst ihn draußen in der Gasse verdreschen.«

»Hör auf zu flennen«, sagte der Bursche namens Hauk. »Ich will wissen, was es damit auf sich hat.«

Wieder ertönte das Knurren, dann ein Kratzen und das Schlurfen schwerer Schritte. Die Aussicht, in einer Gasse verdroschen zu werden, begann sich allmählich gut anzuhören. Meine Stiefbrüder hatten mich ständig verdroschen. Ich war ein Experte im Verdroschenwerden. Ich trat Hauk gegen das Schienbein, doch beim zweiten Tritt versetzte er mir einen Schlag in die Magengrube, dass ich mich vor Schmerz zusammenkrümmte. Er ging tiefer in das Lagerhaus hinein und zerrte mich mit sich. Der Tiergeruch wurde stärker – wild und streng, moschusartig –, ein Geruch, der nichts Gutes verhieß.

Im trüben Schein der Laterne nahm ich einen großen, bleichen Umriss wahr. Ein Tier … in einem Käfig.

Ein Bär. Ein Eisbär aus dem Norden.

Er lief rastlos von einem Ende des Käfigs zum anderen und schüttelte, von einer nervösen Unruhe getrieben, den Kopf – einer Unruhe, die mir wohlvertraut war: Sie vibriert und schreit in einem, bis jede einzelne Sehne im Körper zum Zerreißen gespannt ist und man nur noch weit, weit weglaufen will.

»Hauk«, sagte der Laternenjunge. »Wir sollten wirklich von hier verschwinden.«

Doch Hauk zerrte mich weiter auf den Bären zu. Ich begriff, was er vorhatte, und setzte mich mit aller Kraft zur Wehr. Ich schrie, ich trat und schlug mit der Hasenkeule nach ihm. Er bog mir die Arme nach hinten und hielt sie hinter meinem Rücken fest.

Der Bär stieß einen tiefen Atemzug aus, als würde er stöhnen.

»Nein«, flehte ich. »Tut das nicht. Ich gebe Euch Euer Fleisch zurück, ich will …«

Aber Hauk stieß mich gegen den Käfig und schob mich durch die Gitterstäbe. Zuerst dachte ich, dass ich nicht hindurchpassen würde, doch dann glitt erst meine Schulter ein Stück hinein, danach mein Kopf und meine Hüfte. Schließlich fiel ich auf den Käfigboden und schlug mir die Knie auf.

Als ich den Kopf hob, war der Bär am anderen Ende des Käfigs ganz still geworden. Er starrte mich an.

3. KapitelDer Eisbär

Er wandte mir seinen riesigen Kopf zu. Die kleinen, dunklen Augen waren neugierig und aufmerksam. Ich sog seinen schweren, strengen Geruch ein, bis ich das Gefühl hatte, darin zu versinken. Irgendwo in weiter Ferne hörte ich Hauk und den Laternenjungen streiten, doch die Geräusche wurden überlagert vom wilden Pochen meines Blutes, das mir in den Ohren pulsierte, und dem summenden Drang meiner Glieder, zu laufen.

Ein tiefes Grollen drang aus der Kehle des Bären.

Ich rappelte mich auf, wich zurück und spürte, wie sich die kalten Eisenstäbe in meinen Rücken bohrten. Ich ließ das breite weiße Gesicht des Bären nicht aus den Augen, als könnte die Kraft meines Blickes ihn davon abhalten, mit seinem riesigen Maul auf mich loszugehen oder mich mit seinen Krallen umzuwerfen. Mit seinen gewaltigen Krallen wie aus einem Albtraum über Ungeheuer.

Sie zuckte. Die große schwarze Nase zuckte, schnupperte, suchte. Das Rauschen in meinen Ohren wurde zu einem Tosen, das mir bis ins Mark drang und dort weitersang. Ganz langsam kam der Bärenkopf näher. Auf den Schultern des Tieres sah ich etwas, das lose herunterhing – ein Geschirr. Dann ließen mich die dunklen Augen los und richteten sich auf meine Brust. Als ich dem Blick des Bären folgte, stellte ich fest, dass ich immer noch die Hasenkeule umklammert hielt. Sie hatte der Bär gewittert. Vorsichtig ließ ich die Hand sinken. Ich hätte sie einfach ausstrecken und dem Bären das Fleisch anbieten können, wie man seiner Mutter einen heruntergefallenen Fingerhut zurückgibt. Doch plötzlich machte der Bär einen Schritt auf mich zu, und ein panischer Schrecken durchzuckte mich. Ich schleuderte die Keule mit aller Kraft von mir. Sie prallte gegen eine Käfigstange und klatschte auf den Boden.

Für den Bruchteil eines Moments veränderte sich der Ausdruck des Bären. Er wandte den riesigen Schädel, um mir fast vorwurfsvoll in die Augen zu sehen – als wollte er sagen, dass es nicht nötig gewesen wäre, das Futter fortzuwerfen, dass das unter seiner und auch meiner Würde war.

Dann drehte er sich um, packte den Hasenschenkel mit seinem großen Maul und biss ihn entzwei.

Ich atmete aus und schob einen Fuß zwischen die Gitterstäbe hinter mir. Ich hörte Stimmen, aber niemand hielt mich auf. Der Bär veranstaltete ein fürchterliches Spektakel, er ließ Knochen knacken, knirschte und schmatzte. Von der Keule würde gleich nichts mehr übrig sein, und dann … Ganz langsam versuchte ich, mich wieder durch die Gitterstäbe zu schieben, bis meine Beine und Hüften tatsächlich durch einen Spalt glitten. Ich wollte gerade auch Brust und Schultern hindurchzwängen, als eine neue, noch tiefere Stimme rief: »He, du, Bürschchen!«

Der Bär hob den Kopf und brüllte. Sosehr ich mich bemühte, mich weiter durch die Gitterstäbe zu quetschen, es klappte nicht; ich steckte fest. Plötzlich packte jemand meine Hand und zerrte an mir. Ich schlug mit dem Kinn gegen eine Eisenstange, denn alles ging so schnell, dass ich den Kopf nicht rechtzeitig zur Seite drehte.

»Rasch!«, sagte die neue Stimme.

Im selben Moment, in dem mein Kopf zwischen den Stangen hindurchglitt, warf sich der Bär mit solcher Wucht gegen die Gitterwand, dass der Käfig erzitterte und der Boden unter meinen Füßen bebte.

Wieder brüllte das Tier, dass sämtliche Gedanken in meinem Kopf durcheinanderwirbelten. Ich spürte, wie ich losgelassen wurde, hörte ein Handgemenge hinter mir, Rufe.

Das Brüllen verebbte. Blinzelnd sah ich mich um und wollte gerade in Richtung Tür schleichen, als sich eine Hand um meinen Arm schloss und eine tiefe Stimme mir ins Ohr schrie: »Bist du noch ganz bei Sinnen? Was hattest du da drinnen verloren?«

4. KapitelDen behalten wir

Ich konnte ihn in der Dunkelheit kaum erkennen, dennoch sagte mir mein Instinkt, dass von diesem Mann eine gewisse Unbeirrbarkeit und Standhaftigkeit ausging. Sein eiserner Griff umschloss meinen Arm; jeder Fluchtversuch war zwecklos, das wusste ich.

»Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«, wollte er wissen.

Ich schaute mich um und entdeckte Hauk, dem man die Hände auf dem Rücken gefesselt hatte. Ein Ende des Seils führte von Hauks Handgelenken geradewegs in die geballte Faust des Seemanns, den ich draußen zusammen mit der Frau gesehen hatte. Er schien ein Wachmann zu sein – ein Wächter, der nicht ganz bei der Sache gewesen war.

»Er hat mich in den Käfig gesperrt«, sagte ich und wies auf Hauk. »Ich habe nichts getan, aber er …«

»Er hat mein Abendessen gestohlen!«, erklärte Hauk.

»Hab ich nicht!«

»Hast du wohl!«

»Hab ich nicht!«

»Hast du wohl! Ich habe Zeugen.«

Der Mann, der mich festhielt, wandte sich an Hauk. »Ich nehme an, Euer Zeuge ist der Bursche, der uns entkommen ist?«, fragte er.

»Er heißt Ottar«, sagte Hauk. »Geht zur Schenke Zum Messingzwerg. Dort weiß man, wo er zu finden ist. Andere haben auch gesehen, wie der Bursche das Fleisch gestohlen hat. Sie werden Euch das Gleiche sagen wie ich.«

Ich schluckte, als ich daran dachte, wie ich auf den Tisch gesprungen war, Flaschen umgeworfen und Essen zertrampelt hatte. Ja, Zeugen gab es dort in Hülle und Fülle.

»Gleichwohl«, sagte der Mann zu Hauk, »Ihr seid in das Lagerhaus eingedrungen, obwohl Ihr hier nichts zu schaffen hattet, und Ihr habt den Bären belästigt …«

Den Bären belästigt? Und was war mit mir?

»Ich bin nicht in das Lagerhaus eingedrungen«, verteidigte sich Hauk. »Die Tür stand offen. Und der da«, Hauk wies mit dem Kopf in meine Richtung, »ist zuerst hinein. Ich bin ihm nur gefolgt.«

»Deswegen habt Ihr ihn also in den Bärenkäfig gestoßen?«

Hauk zuckte mit den Achseln. »Ich habe ihn schließlich wieder rausgelassen, oder nicht?«

»Er hätte sterben können. Es fehlte nicht mehr viel«, – der Mann drehte sich um und betrachtete mich mit einer gewissen Neugierde –, »davon gehe ich jedenfalls aus.«

»Das stimmt. Ich wäre um ein Haar ums Leben gekommen«, bestätigte ich. »Außerdem hat er meinen Knappsack gestohlen!« Ich zeigte auf den Beutel am Boden. »Und er hat mich nicht rausgelassen, er …«

»Hast du sein Abendessen gestohlen?«

Hitze stieg mir ins Gesicht. Für einen kurzen Moment hatte es ausgesehen, als würde sich der Mann auf meine Seite schlagen. Was machten sie in dieser Stadt mit Dieben, fragte ich mich. Sie wegschließen? Verbannen? Ihnen die Hände abhacken?

Der Griff des Mannes wurde fester. »Hast du?«

»Ich wusste nicht, dass es seines ist«, murmelte ich.

»Aber gestohlen hast du es!«, sagte Hauk.

»Ich hatte Hunger. Jemand hat mich beraubt und mir mein ganzes Geld weggenommen!«

»Hmm.« Der Mann musterte mich, als überschlage er im Kopf, wie viel Seil er benötigen würde, um mich aufzuhängen.

»Was soll ich jetzt mit dem Kerl tun, Doktor?«, fragte der Wachmann und zerrte an Hauks Seil.

Doktor. Ich hatte gedacht, er sei ein Gendarm oder eine andere hochstehende Amtsperson.

»Ihr haltet Euch künftig von hier fern«, sagte der Doktor zu Hauk. »Was der Junge gestohlen hat, kümmert mich nicht. Aber wenn ich Euch noch einmal auch nur in der Nähe des Bären erwische, werdet Ihr es ganz gewiss bereuen.«

»Und was ist mit dem da?«, wollte Hauk wissen und bedachte mich mit einem bösen Blick.

»Das hat Euch nicht zu kümmern. Ihr haltet Euch fern. Verstanden?«

Hauk zuckte mit den Achseln.

»Ob Ihr mich verstanden habt?«

»Ja«, kam es widerwillig und mit zusammengebissenen Zähnen zurück.

»Wartet«, sagte der Doktor. »Ihr spracht von der Schenke Zum Messingzwerg. Seid Ihr ein Seemann?«

Wieder zuckte Hauk mit den Achseln.

Der Wachmann zog mit einem kräftigen Ruck an dem Seil, dass Hauk taumelte und rief: »Ja!«

»Was ist das Ziel Eures Schiffes?«

»Warum wollt Ihr das …«

Wieder ein Ruck.

»London.«

London. Ich hatte versucht, auf diesem Schiff anzuheuern, aber sie hatten mich nicht genommen.

Der Doktor schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Lasst ihn laufen.«

»Aber …«, widersprach der Wachmann.

»Ich bezweifle, dass er hier noch einmal auftaucht.«

Der Wachmann holte ein Messer heraus und durchtrennte Hauks Fesseln, dann verpasste er ihm einen Tritt in den Hintern. Hauk verschwand in der Dunkelheit.

»Und dieser Bursche?«, fragte der Wachmann mit einem Nicken in meine Richtung.

»Oh, diesen Burschen«, sagte der Doktor. »Den behalten wir.«

5. KapitelDie Schenke

Er brachte mich zum Messingzwerg, derselben Schenke wie zuvor, gab mir meinen Knappsack zurück und versprach mir eine Mahlzeit – er habe mit mir zu reden. Ich hatte Angst, der Doktor würde Hauks Zeugen zusammenrufen und mich dann den Gendarmen übergeben, damit sie … ja, was eigentlich? Damit sie mich an den Pranger stellten? Mich auf einem Auge blendeten? Ausweideten und vierteilten? Ich überlegte, ob ich ihm einen Stoß versetzen und mich losreißen sollte. Doch er verstärkte den Griff um meinen Arm, als erriete er meine Gedanken, und ich wusste, dass es im Augenblick kein Entrinnen gab.

Als wir eintraten, umfing uns gewaltiger Lärm. Bierdunst lag in der Luft, vermischt mit Gerüchen von Fleisch und Schweiß, und über allem schwebte eine dicke Rauchschicht. Die Getränke hatten offensichtlich Wirkung gezeigt, denn inzwischen wurde gesungen und getanzt und zu den Tönen eines fremden Dudelsackpfeifers im Takt gestampft. Zwei Matrosen rangelten zum Spaß auf dem Boden, und gar nicht weit entfernt lagen sich zwei andere tatsächlich in den Haaren. Sie bissen sich, stachen sich mit den Fingern in die Augen und griffen nach Haaren und Ohren. Das Licht war schummrig, und zu meiner Erleichterung schien mich niemand als den Hasendieb wiederzuerkennen. Ich hatte sogar das Gefühl, dass mich keiner in der Schenke auch nur eines Blickes würdigte.

Der Doktor bahnte sich einen Weg durch die dicht gedrängte Menge. Schließlich bedeutete er mir, mich an einen der hintersten Tische zu setzen, wo der Radau nicht ganz so laut war.

Er bestellte ein Mahl – einen dicken Wildeintopf samt einem Teller Gerstenbrot –, das er mir zuschob, sobald es gebracht wurde. Ich schüttelte meinen Knappsack ab, holte mein Messer heraus, nahm den Löffel aus seinem Kästchen und langte zu. Ich wollte so viel wie möglich in mich hineinstopfen, ehe man mir das Mahl vielleicht wieder wegnahm. Das Fleisch war zäh und hatte viele Knorpelstücke, doch mein Bauch begann sich schon bald warm und voll anzufühlen. Ich verschlang die letzten in Soße getränkten Brotstücke, und dann blieb mir nichts weiter übrig, als den Kopf zu heben und dem Blick des Doktors zu begegnen, der mir beim Essen zugesehen hatte.

Sein Gesicht war breit und kantig – nicht dick, sondern eher robust und grobknochig. Seine wachen, aufmerksamen Augen erinnerten mich an die des ausgedienten Kriegsrosses, das mein Stiefvater einmal besessen hatte: immer auf der Hut vor Gefahren, aber gleichzeitig ruhig und von der traurigen, müden Weisheit einer Kreatur erfüllt, die zu viel Leid und Tod gesehen hat. Im Licht des rauchenden Kerzenstumpfs auf unserem Tisch konnte ich die winzigen Löcher und Narben sehen, mit denen die Wangen des Doktors bedeckt waren, und die Falten, die sich von seinen Augenwinkeln ausbreiteten und seine Brauen in breiten Furchen durchzogen. Sein Blick war weder freundlich noch abweisend, vielmehr beäugte er mich, als wäre ich ein Rätsel, das es zu lösen galt.

»Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«, fragte er.

Ich zuckte mit den Achseln.

»Wo ist dein Vater?«

Die Frage rief mir seine Stimme in Erinnerung – den warmen, rauchigen Klang meines Vaters. Es war sechs Jahre her, dass er dem Fieber erlegen war, ich war damals sechs gewesen.

Wieder zuckte ich mit den Achseln.

»Nun gut, und deine Mutter? Wo ist die?«

Mutter … Sie würde sich die Haare raufen vor Sorge. Weil sie nicht wusste, ob ich am Leben oder tot war.

»Dann bist du also ein Ausreißer?«

Ich spürte, wie sich in meinen Beinen die rastlose Energie aufbaute, die ich so gut kannte, spürte ihr Pochen in meinem Blut. Ich stemmte eine Hand fluchtbereit am Tisch ab und einen Fuß auf den mit Binsen übersäten Boden. Was machten sie mit Ausreißern in dieser Stadt? Schnitt man ihnen die Zehen ab? Hielt man sie als Sklaven? Oder siedete man sie in Öl?

Doch als ich zu dem Doktor aufsah, ließ etwas an der Art, wie er mich anschaute … mich nicht mehr los. So betrachtete man keinen nutzlosen, mickrigen Jungen, der wieder einmal von zu Hause fortgelaufen war. So betrachtet man eher einen Hammer, wenn man feststellen will, ob er auch anständig geschmiedet ist, bevor man gutes Geld für ihn auf den Tisch legt.

»Nun«, sagte der Doktor im nächsten Moment, »dann frage ich dich etwas anderes. Kannst du gut mit Tieren umgehen? Mit Pferden, Hunden, Kühen oder … mit was du sonst bisher zu tun hattest?«

Der Bär. Es ging um den Bären.

»Nein«, sagte ich hastig, während die Angst tief in meiner Magengrube aufzusteigen begann. Auf dem Hof wussten wir über Eisbären Bescheid. Dort kamen Jäger vorbei und erzählten Geschichten … Wir fürchteten Eisbären mehr als Wölfe und Luchse – mehr als alle anderen Tiere.

Der Doktor ließ mich nicht aus den Augen. »Denn mir schien es«, fuhr er unbeirrt fort, »dass du mit der Bärin umzugehen wusstest. Als ich ins Lagerhaus kam, hat sie nichts weiter getan, als dich anzuschauen. Sie hat dich lediglich beschnuppert. Wie lange warst du in dem Käfig? Bisher hat sie jeden angegriffen, der auch nur versucht hat, sie zu füttern oder ihren Käfig sauber zu machen … jeden, bis auf dich.«

Sie. Der Gedanke, dass der Bär ein Weibchen sein könnte, war mir gar nicht gekommen, und doch …

»Ihr könnt mich nicht zwingen, dorthin zurückzukehren. Ich will nie wieder in diesen Käfig – nie!«

»Wenn irgendjemand zu ihr hineinmuss, bin ich das und nicht du. Aber wenn du sie mit deiner Gegenwart von außerhalb des Käfigs zu beruhigen vermagst, wäre das eine Wohltat für die Bärin. Sie wandert unentwegt auf und ab, wirft sich gegen die Gitterstäbe. Die Männer haben Angst, sich ihr zu nähern, und mich … Nun ja. Mich hat sie auch nicht gerade in ihr Herz geschlossen.«

Er schob seinen Hemdsärmel hoch, um mir einen tiefen Riss zu zeigen, der sich über seinen Unterarm zog. Die Wunde war verschorft, aber noch rot an den Rändern.

»Ich habe versucht, sie mit Schlafkräutern zu besänftigen, um an sie heranzukommen, aber die Kräuter haben keine Wirkung gezeigt. Und selbst wenn … Die Bärin frisst nicht genug, um am Leben zu bleiben. Jemand, den sie um sich duldet, der mit Tieren umzugehen weiß, könnte uns daher eine große Hilfe sein.«

»Warum?«, fragte ich. »Was kümmert Euch ein Bär?«

»Der Bär kümmert mich einen Dreck!« Der Doktor räusperte sich und schien sich zu sammeln, denn als er weitersprach, war die Verärgerung aus seiner Stimme gewichen. »Doch aus Gründen, die dich nichts angehen, bin ich verpflichtet, für ihr Wohlbefinden zu sorgen. Also … kannst du es, Junge? Kannst du mit Tieren umgehen? Denn wenn es so ist und du mir helfen willst, soll es dein Schaden nicht sein.«

Es war richtig, dass einige der Tiere auf dem Hof mir gegenüber sehr zutraulich waren. Die Katzen rieben den Kopf an meinen Beinen und schnurrten – selbst der alte Baldur, der alle anderen nur anfauchte. Wenn ich den Zaun reparierte, kamen die Schafe, um neben mir zu grasen. Und einmal, als die Kühe ausgebrochen waren und sich über unsere Felder hergemacht hatten, hatte ich sie ohne Mühe gerufen und sie dorthin zurückgeführt, wo sie hingehörten. Mein Vater hatte gut mit Pferden umgehen können, und auch ich wusste sie zu besänftigen.

Aber diese Bärin …

Ich erinnerte mich an den kraftvollen Drang, den sie ausgestrahlt hatte. Ein Echo der Rastlosigkeit, die ich selbst oft empfand. Und ich dachte an ihren Blick, als ich die Hasenkeule davongeschleudert hatte, ihren verächtlichen Ausdruck …

»Was wird aus ihr?«, fragte ich. »Wenn Ihr es auf ihr Fell abgesehen habt …«

»Habe ich nicht.«

»Was dann?«

»Sie gehört nicht mir. Sie ist … ein Geschenk. Von einem sehr mächtigen Mann für einen anderen.«

»Seid Ihr ein mächtiger Mann?«

»Nein. Ich diene einem mächtigen Mann.«

»Aber wer will schon einen lebenden Bären geschenkt bekommen?«

»Hör zu … Wie, sagtest du, lautet dein Name?«

Ich hatte ihm meinen Namen bisher nicht gesagt. Doch nun tat ich es. »Arthur.«

»Hör zu, Arthur. Die Mächtigen machen, was ihnen beliebt; es ist müßig für unseresgleichen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Aber von dir möchte ich zweierlei wissen: Was willst du? Und wie viel soll mir deine Hilfe wert sein?«

Ich sah ihn sprachlos an. Niemand hatte mir jemals solche Fragen gestellt.

»Willst du, dass ich dir einen Gönner und ein sicheres Heim verschaffe? Soll ich dich in einem Handwerk ausbilden? All das liegt in meiner Macht. Ich kann dich auch zu deiner Mutter und deinem Vater zurückbringen, wenn …«

»Mein Vater ist tot.«

Etwas huschte über das Gesicht des Doktors – ein winziges Zucken. Hinter mir hörte ich Geschirr klappern und plötzlich aufwallendes Gelächter.

»Was willst du?«, fragte der Doktor erneut, doch dieses Mal sanfter als zuvor.

Ich spürte ein Brennen in den Augen, zog die Brauen zusammen und presste die Zähne aufeinander.

Was wollte ich?

Mutter. Ich wollte nach Hause.

Oder, nein. Ich war vor der Tyrannei meines Stiefvaters davongerannt, vor den ständigen kleinen Gemeinheiten meiner Stiefbrüder. In Wahrheit lief ich schon seit Jahren vor ihnen davon. Die vertraute Rastlosigkeit breitete sich jedes Mal wie ein fieberhaftes Summen in meinem Innern aus, bis ich nicht länger still sitzen, still stehen oder meinen Pflichten nachkommen konnte. Bis mir nichts anderes übrig blieb, als loszulaufen, weit, weit fort. Zum Bootshaus am Fjord. Zu den Höhlen oben in den Hügeln. Dort harrte ich aus, solange ich konnte. Bis Hunger, Einsamkeit oder Kälte mich wieder zurücktrieben und ich mich geschlagen zurückschleppte, weil es in Wirklichkeit keinen Ort gab, wo ich hinkonnte.

Doch dann war der Brief gekommen. Der Brief von der Verwandtschaft meines Vaters.

Ich atmete tief durch und versank in meinen Erinnerungen, in denen ich ihn wiederfand – meinen Vater. Er roch nach Schweiß, Leder und Heu, setzte mich vor sich auf ein zotteliges Pony und lehrte mich das Reiten.

Du musst die Zügel so halten, mein Sohn. Sitz gerade und klammere dich mit den Beinen fest. Eines Tages werden wir beide, du und ich, mit dem Fürsten in die Schlacht reiten.

Ich spürte den Vertrauen einflößenden Körper meines Vaters hinter mir; spürte die raue Mähne des Ponys unter meinen Händen; spürte die Wärme und das Leben in ihnen.

»Wir brechen am Morgen nach London auf«, sagte der Doktor. »Wenn du mitkommst und dich bis zur Ankunft um die Bärin kümmerst, gebe ich dir, was du begehrst, sofern es in meiner Macht steht.«

London.

»Ihr fahrt nach London?«

Die Furchen auf der Stirn des Doktors glätteten sich; er beugte sich über den Tisch. »Willst du nach London?«

Ich legte die Hand auf meinen Knappsack, den ich immer noch auf meinem Schoß hatte, spürte das steife Pergament darin. Der Brief. Der Brief aus Wales.

»Nicht, um zu bleiben. Aber um von dort aus nach Wales weiterzureisen. Die Verwandten meines Vaters leben in Wales, sie wollen mich bei sich aufnehmen.«

6. KapitelDer Brief

Es war der Hufschmied, der meiner Mutter den Brief übergeben hatte. Er hatte ihn vom Kesselflicker bekommen und dieser wiederum von einem Fuhrmann, der ihn von einem Schiffskapitän erhalten hatte, der im letzten Herbst aus England herübergekommen war.

Der Hufschmied konnte ein wenig lesen. Er erkannte den Namen meiner Mutter außen auf dem Brief und den Namen der nächsten Stadt, die, wie er sagte, in zwei verschiedenen Handschriften notiert war.

»Soll ich versuchen, ihn zu entziffern?«, hatte er angeboten.