Florence Butterfield und die Nachtschwalbe - Susan Fletcher - E-Book
SONDERANGEBOT

Florence Butterfield und die Nachtschwalbe E-Book

Susan Fletcher

0,0
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Pleased to meet you, Mrs Butterfield! Ein altes Herrenhaus mit einem großen Garten, in dem Lavendel, Mohn und Kornblumen blühen. Morgens singt der Zaunkönig in den Büschen, abends lässt man den Tag bei einem Gin Tonic unter den Apfelbäumen ausklingen. Florence Butterfield, lebenserfahren, weitgereist und ausgestattet mit unerschütterlichem Optimismus, kann sich keinen schöneren Ort für den Lebensabend vorstellen als die Seniorenresidenz Babbington Hall. Bis Heimleiterin Renata in der Mittsommernacht aus dem Fenster springt. Nur einen Tag, nachdem sie Florrie anvertraute, sie sei frisch verliebt und träume von einer Reise nach Paris. Je mehr Florrie über ihr eigenes, bewegtes Leben nachdenkt, desto überzeugter ist sie, dass Renata Opfer eines Verbrechens wurde…

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 632

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Susan Fletcher

Florence Butterfield und die Nachtschwalbe

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus und Katharina Naumann

 

Über dieses Buch

Pleased to meet you, Mrs Butterfield!

 

Ein altes Herrenhaus mit einem großen Garten, in dem Lavendel, Mohn und Kornblumen blühen. Morgens singt der Zaunkönig in den Büschen, abends lässt man den Tag bei einem Gin Tonic unter den Apfelbäumen ausklingen. Florence Butterfield, lebenserfahren, weit gereist und ausgestattet mit unerschütterlichem Optimismus, kann sich keinen schöneren Ort für den Lebensabend vorstellen als die Seniorenresidenz Babbington Hall. Bis Heimleiterin Renata in der Mittsommernacht aus dem Fenster springt. Nur einen Tag nachdem sie Florrie anvertraute, sie sei frisch verliebt und träume von einer Reise nach Paris. Je mehr Florrie über ihr eigenes bewegtes Leben nachdenkt, desto überzeugter ist sie, dass Renata Opfer eines Verbrechens wurde …

Vita

Susan Fletcher, geboren in Birmingham, studierte Literaturwissenschaften in York und Kreatives Schreiben an der University of East Anglia. Sie hat mehrere preisgekrönte Romane geschrieben. Bereits für ihren Debütroman «Eve Green» erhielt sie 2004 den Whitbread First Novel Award, den Betty Trask Prize und den Author’s Club Best First Novel Award. Susan Fletcher lebt in Warwickshire.

 

Silke Jellinghaus, geboren 1975, ist Übersetzerin, Autorin und Lektorin und lebt in Hamburg. Unter anderem hat sie Jojo Moyes und Olivia Manning übersetzt.

 

Katharina Naumann ist Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Sie hat unter anderem Werke von Jojo Moyes, Anna McPartlin und Jeanine Cummins übersetzt.

Impressum

Die englische Originalausgabe erscheint 2024 unter dem Titel «The Night in Question» bei Transworld, UK.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Night in Question» Copyright © 2023 by Susan Fletcher

Redaktion Heike Brillmann-Ede

Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

Coverabbildung CSA Images/iStock

ISBN 978-3-644-01772-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Dieses Buch ist für meine Großeltern

Gerry und Celia

und Alastair und Claudia

und für meine Eltern

John und Jane.

In Liebe x

1Jemand weint

Vor vier Wochen starb ein Mann. Er stürzte – draußen im verwilderten Teil des Grundstücks, wo die Brennnesseln wachsen, wo Efeu und Zaunwinden den Sockel eines alten steinernen Cherubs umranken, sodass man den Cherub nicht mehr erkennen kann. Es ist eine überwucherte Stelle, an der es nach Fuchs riecht. Dorthin geht praktisch niemand. Aber an einem warmen Maiabend spazierte Arthur Potts genau an diese Stelle im Garten – wer weiß schon, warum? –, und er stolperte und schlug mit dem Kopf gegen den Sockel. Nur ein Mal, mit dem hellen, harten Kracks! einer Eierschale. Seine Pfeife und seine Brillengläser zerbrachen, und auch sein Handgelenk gab ein knackendes Geräusch von sich.

«Oh, Hilfe», rief die Person, die den Unfall beobachtete. «Zu Hilfe!»

Das Personal tat, was es konnte. Die Mitarbeiter rannten hinaus und knieten an seiner Seite, bis der Krankenwagen kam. «Arthur? Halte durch!» Aber Arthur Potts starb, während sie noch warteten: Die Wärme seines Lebens sickerte in die dunkle Oxfordshire-Erde, sein Mund blieb offen stehen, sein Blick wurde starr – und alle begriffen, dass sie neben Arthurs Überresten knieten und nicht mehr neben Arthur selbst. Stille legte sich wie Tau auf die Anwesenden. Sie hockten sich auf ihre Fersen und wechselten Blicke. Und er musste wohl plötzlich kleiner gewirkt haben – wie das bei Menschen eben ist, wenn sie sterben.

 

Florrie war nicht dort. Sie hat nicht gesehen, wie es geschah. Aber sie hat natürlich davon gehört, und seitdem hat sie oft darüber nachgedacht – über seinen Mund, über dieses Kracks!, die zerbrochene Brille. Sie hat sich gefragt, ob Arthur sich wohl kalt angefühlt hatte, als er dalag. Sie hat sich auch gefragt, ob er wohl wusste, dass das sein Ende war. Und falls ja, ob er dagegen ankämpfte? Ob er Angst hatte? Vielleicht hatte er auch, da er nun mal Arthur war, seinen Tod mit mildem, kindlichem Erstaunen akzeptiert: Ach, sieh an – so gehe ich also von dieser Welt.

Es ist schon beinahe Mitternacht. Alles ist still. Florence Butterfield setzt sich im Bett auf, sie trägt ihr geblümtes Nachthemd und starrt auf ihre Bücherregale, ohne sie wirklich zu sehen. Es hilft nicht zu grübeln, das weiß sie – aber sie kann nichts dagegen tun. Es ist nicht nur Arthurs Tod, der sie traurig macht: Florrie kann es kaum ertragen, wie er sterben musste. Denn obwohl der Tod in Babbington Hall kein Fremder ist, kommt er doch meist durch ein langsames Herz oder eine schwache Lunge; zumindest ereilt er die Kandidaten drinnen, im Haus. Wer hätte das hier gedacht? Das Brechen eines Schädels an einem mit Efeu bewachsenen Steinsockel? Und wie konnte das ausgerechnet Arthur passieren – der immer so lebhaft und umgänglich gewesen war, der so gern Nachtisch und Pferderennen und seine Tabakspfeife mochte, die immer ein leises Paff-Paff machte, wenn er sie rauchte? Außerdem war er recht jung gewesen – Mitte siebzig, wirklich gar kein Alter. Hier gibt es einige, die über hundert Jahre alt sind, und doch war es Arthur Potts, nicht sie, der mit einem Krankenwagen abtransportiert wurde und nicht mehr zurückkam.

Florrie schaut in ihren Schoß. Sie vermisst ihren Freund so sehr, gerade in diesem Augenblick, dass sie schon überlegt, es laut zu sagen: «Ich vermisse dich wirklich, weißt du?», als säße Arthur in seinen verschlissenen Cordhosen vor ihr. Was er vielleicht auch tut? Unsichtbar? Wenn, dann lächelt er sie bestimmt an. Florrie. Du dummes Ding.

Ach ja. Denn was kann man da jetzt noch tun? Arthur lebt nicht mehr – aber Florrie atmet immer noch ein und aus. Ihr Herz pocht noch, will immer noch weitermachen. Wie sehr sie sich jeden Morgen freut, wenn sie die Augen aufschlägt und die mit Strukturfarbe dekorierte Decke mit dem rosafarbenen Lampenschirm mit Fransen sieht. Wenn ihr einfällt, dass sie einen ganzen Tag vor sich hat, voller Wunder, denn jeder Tag ist ein solches – selbst jetzt noch, in ihrem Alter.

In diesem Moment schlagen die Kirchenglocken zur Mitternacht. Florrie zieht ihr Laken zurecht. Sie nimmt ihre Brille ab und legt sie auf den Nachttisch, neben ihren Roman und ein Sträußchen getrockneten Lavendel, dann zählt sie die zwölf volltönenden Glockenschläge von St. Mary mit. Sie lauscht auf die wunderbare, tiefe Stille, die ihnen folgt.

Aber heute Nacht kommt diese Stille nicht.

Stattdessen hört sie nach dem Verklingen des zwölften Glockenschlags ein neues Geräusch. Was ist …? Florrie hält den Atem an, um besser hören zu können. Es ist ein zitterndes, seltsames Geräusch – wie der Wind an einem Drahtzaun oder die Saite eines Cellos. Oder ist es der einsame Ruf der gelbbraunen Eule, die im Buchenwald wohnt? Florrie greift nach ihrer Hörhilfe und dreht die Lautstärke auf, damit sie die Eule besser hören kann – denn sie schwärmt seit ihrer Kindheit für Eulen.

Aber es ist weder die Eule noch Cellomusik.

Es ist ein Weinen, da gibt es keinen Zweifel. Jemand weint unter ihrem Schlafzimmerfenster. Und es ist ein zartes, privates Weinen – als hielte dieser Mensch ein verletztes Lebewesen in den Armen. Das Geräusch dringt zwischen den Vorhängen hinein, weht in Florries Zimmer, und sie starrt mit aufgerissenen Augen und fragt sich, wer um alles in der Welt kann das sein? Wer sitzt da um Mitternacht auf der weiß lackierten Bank draußen vor ihrem Fenster und weint?

Aber Florrie kennt die Antwort schon.

Denn es ist nicht nur Florrie, die Arthur Potts vermisst.

Renata. Wie sie in dieser nächtlichen Stunde leuchten muss – mit ihrem weißblonden Haar und ihrer blassen Haut. Wie winzig sie auf der Bank aussehen muss – zusammengesunken, eckig, nur aus Handgelenken und Schlüsselbeinen bestehend; denn sie war zwar schon immer klein, aber seit Arthurs Tod wirkt sie noch kleiner. Tatsächlich ist so viel Traurigkeit in Renata, in letzter Zeit, dass Florrie sie zu gern auseinandernehmen würde, um diese Traurigkeit aus ihr herauszuholen, als wäre sie etwas Anfassbares wie ein verschluckter Knopf oder ein Nierenstein. Denn sie trauern zwar alle um Arthur, Renata jedoch gibt sich selbst die Schuld an seinem Tod. Florrie weiß das nur, weil sie es zufällig gehört hat, wie sie vor sich hinmurmelte: «Ich hätte doch.» Oder: «Wenn ich doch nur …» Bei seiner Beerdigung hatte Renata sich die Faust an die Brust gepresst, als schmerzte es sie körperlich.

Niemand sonst denkt, dass sie Schuld an Arthurs Tod haben könnte. Und doch scheint es, dass sie als Leiterin von Babbington Hall das Gefühl hat, sie hätte seinen Sturz vorhersehen und ihn verhindern müssen, dass sie den Sockel von den Zaunwinden befreien oder ein Schild an den schiefen Torpfosten hätte nageln müssen, auf dem steht Betreten verboten oder Vorsicht, oder den überwucherten Winkel hätte absperren sollen. Aber was hätte das gebracht? Arthur starb nicht wegen der Zaunwinde oder wegen eines baufälligen Mauerwerks. Ein Schnürsenkel war die Ursache gewesen: Arthur starb, weil er keinen festen Doppelknoten in die Schnürsenkel seines linken Schuhs geknüpft hatte. Also war Arthur letztlich selbst schuld an seinem Tod.

Arme Renata. Das liebe kleine Ding.

Was ist jetzt zu tun? Florrie will helfen. Sie will Renatas Hand nehmen und sie trösten. Sie würde gern diese weinenden Augen mit einem kühlen Taschentuch abtupfen und dabei murmeln: «Na, na», wie eine Mutter. Vielleicht sollte sie einfach aus dem Fenster rufen? Oder sie könnte die Notrufleine ziehen, die in der Zimmerecke hängt, und das Nachtpersonal herbeirufen, damit die Pfleger zu Renata eilen und sie hereinführen. Kurz denkt Florrie ernsthaft über die Idee nach. Dann wiederum weint Renata hier, ausgerechnet in der dunkelsten Ecke des Hofs, neben den Töpfen mit den Herzblattlilien und der verfallenen Mauer, in der Zaunkönige nisten. Niemand wohnt hier außer Florrie, die siebenundachtzig, einbeinig und ohne ihre Hörgeräte stocktaub ist. Daher nimmt sie an, dass Renata vielleicht gar keine Hilfe will.

Also zieht Florrie nicht an der Notrufleine. Stattdessen nimmt sie die Hörgeräte wieder heraus, legt sie weg und trinkt einen Schluck Wasser. Sie zieht ihr Laken zurecht, bis sie zufrieden ist – und schaltet ihre Nachttischlampe aus.

 

Sie beschließt, Blumen zu schenken, um zu helfen. Morgen wird Florrie im Rollstuhl auf das Gelände der Babbington Hall Seniorenresidenz und Betreutes Wohnen fahren und ein paar Blumen für Renata Green pflücken. Das ist nur eine kleine Geste, aber wem erwärmt eine Blume – oder auch zwei – nicht das Herz? Außerdem: Ist Ende Juni nicht die beste Blütezeit im Jahr? Die Gärten hier sind nicht perfekt gepflegt, das stimmt. Aber dadurch wachsen hier dicht an dicht Butterblumen und Margeriten, Lavendel und Rittersporn, Kornblumen und Klatschmohn, die sich selbst von den Rändern der benachbarten Äcker aussäen, ganze Heckenrosenbüsche wachsen hier, und außerdem gibt es ein dichtes, hübsches Beet Borretsch neben dem Kirchentor, das vor Hummeln nur so bebt und summt. Und all diese Blüten würden bestimmt ganz wunderbar in dem alten Chutney-Glas vom Dorffest aussehen, das Florrie genau für derartige Zwecke aufbewahrt hat.

Ja. Sie ist begeistert von der Idee. Sie dreht sich auf die linke Seite und erinnert sich, dass morgen der Tag der Sommersonnenwende ist – der längste Tag des Jahres, voller Wärme und Sonnenlicht. Es kann ja wohl keinen besseren Tag für ihre kleine Blumengabe geben.

Mit diesem Gedanken schläft Florrie ein. Sie träumt von ihrer Vergangenheit – vom Garten ihrer Kindheit, von Regen, der an ein Fenster prasselt, von Arthur, der genüsslich seine Pfeife pafft. Aber da ist noch etwas anderes in ihrem Traum. Eine Person? Es scheint so, obwohl Florrie nicht sagen könne, um wen es sich handelt, sie ist zu weit entfernt. Da ist auch Nebel, leicht, herbstlich, sodass sie sich gar nicht mehr sicher ist, ob sie auf eine Gestalt oder einen Torpfosten blickt …

«Hallo, ist da jemand?»

Keine Antwort. Aber dann lichtet sich der Nebel, und Pinky Underwood kommt zum Vorschein, was überraschend ist, aber in Träumen passieren oftmals überraschende Dinge.

Pinky (Ist es tatsächlich Pinky?) lächelt nur, dann sagt sie: «Das ist der Anfang.»

Florrie runzelt die Brauen. Der Anfang wovon? Denn selbst im Traum kennt sie ihr Alter und ihre Lebensumstände: So viele Anfänge wird es in Florence Butterfields Leben nicht mehr geben. Aber Pinky (denn Ja, es handelt sich zweifelsohne um Pinky mit ihrem struppigen Pony, dem abgebrochenen Schneidezahn und dieser weisen, liebevollen Ausstrahlung, die sie immer hatte) scheint sich da ganz sicher zu sein.

«Ein Anfang, Pinky? Wirklich?»

«Du wirst schon sehen, Butters, du wirst schon sehen.»

2Das Blumenpflücken

Bis vor sechzehn Monaten hatte Florrie keinerlei Pflege bedurft. Sie hatte allein in einem Cottage namens Far End gelebt – mit einer frei stehenden Badewanne und Hortensien und einem Igel im Garten. Zudem bot sich vom Bad im oberen Stockwerk ein Blick auf die Malvern Hills in der Ferne. Jeden Tag ging Florrie, auf ihren Stock gestützt, in die Stadt. Sie trank im Coffee Pot einen Kaffee, flirtete ein wenig mit dem Gemüsehändler und winkte Bekannten auf der anderen Straßenseite zu.

Aber dann, an Weihnachten, stürzte Florrie. Es war ganz allein ihre Schuld. Sie war barfuß und trug noch ihren Morgenmantel. Weil die Weihnachtssänger klingelten, eilte sie zur Tür und stolperte über ihre eigenen Füße. Im Fallen riss sie einen Topf mit Glühwein herunter – mitsamt Gewürznelken und Zimtstangen. Der Inhalt schwappte auf ihr linkes Schienbein und verbrannte sie so schlimm, dass irgendwann der Knochen zu sehen war. Die Verbrennung entzündete sich, die Infektion wurde immer schlimmer. Keine Spritzen oder Pillen konnten dagegen etwas ausrichten. Schließlich nahmen die Chirurgen Florrie das linke Bein ab, zumindest die untere Hälfte, und zwar am Valentinstag, was doch ein recht unglückliches Datum für die Auflösung einer Partnerschaft war, die über achtzig Jahre lang größtenteils ganz gut funktioniert hatte. Danach weinte sie vor Schmerzen, vor Schock, vor Angst, abhängig zu werden – ein Wort, das sie so furchtbar und dunkel fand. Sie trauerte auch um ihr linkes Bein. (Ich konnte mich gar nicht bei ihm bedanken, dachte sie. Ich habe mich gar nicht verabschiedet.) Aber mit der Zeit riss sich Florrie wieder zusammen. Denn hatte sie nicht noch ihr rechtes Bein? Das, ganz ehrlich, ohnehin immer das etwas bessere gewesen war? Und außerdem war es vielleicht ganz nett, eine Haushaltshilfe zu haben.

Die Hilfe hieß Vera. Sie war heiter, tratschte gern und roch nach Talkumpuder. Sie kochte auch guten Tee – losen, keine Teebeutel. Aber Vera hatte am Ende nicht mehr gereicht: Das Cottage hatte immer noch seine Treppen und engen Türrahmen, ein Bad zu nehmen war zu einer Unmöglichkeit geworden. («Haben Sie denn keine Verwandten?», hatte Vera sie sanft gefragt. Aber nein, sie hatte keine.)

Daher begannen Florrie und Vera im Frühling, nach Altenheimen zu suchen. Das war zum größten Teil eine ziemlich entmutigende Angelegenheit gewesen: Sehr wenige Heime akzeptierten Bewohner in Rollstühlen, und die Heime, die es taten, neigten dazu, direkt neben hohen Parkhäusern oder Tankstellen zu liegen. Und dort lag oft ein seltsamer Geruch wie nach Frühstücksfleisch in der Luft. Florrie, wie sie nun einmal war, versuchte, das Gute darin zu sehen: wie freundlich das Personal zu sein schien, wie fröhlich die Kunstblumen auf dem Empfangstresen wirkten. Aber in Wirklichkeit halfen all diese Versuche nicht gegen ihre tiefe Mutlosigkeit. Sie hinderten sie nicht daran, im Auto darüber nachzugrübeln, wie zum Teufel es dazu gekommen war. Wieso sie nach Pflegeheimen für alte Leute suchte, obwohl sie sich innerlich noch wie zwanzig fühlte und immer noch glaubte, sie könne einen Kopfstand machen. Und es sowieso noch so viel gab, was sie in ihrem Leben tun wollte. Zum Beispiel den Ärmelkanal durchschwimmen oder mit echten Cowboys durch die Prärie reiten, Trompete spielen lernen oder den Camino de Santiago mit all ihren Habseligkeiten auf dem Rücken entlangwandern. Wie sollte sie das alles noch schaffen? Wo ist nur die Zeit geblieben? Was ist noch übrig von ihrem einzigen, kurzen Leben? An einem Nachmittag war sie so verzweifelt, dass Vera, die das spürte, auf die Bremse ihres rostigen Fiesta trat und mit Florrie in den Coffee Pot ging, wo sie zwei riesige Scones mit Sahne und Schwarze-Johannisbeeren-Marmelade bestellten, alles langsam aßen und dabei dem Regen hinter den Fenstern zuschauten.

In jener Nacht unterhielt sich Florrie mit ihrem Spiegelbild. Nicht den Mut verlieren, Florence. Na komm schon. Denn immerhin war sie noch am Leben; sie hatte immer noch ihren Humor, jedenfalls wenn sie ihn finden konnte. Sie würde aus dem, was noch vor ihr lang, alles herausholen – auch mit nur einem Bein und obwohl sie von ihrem Fenster aus auf ein Transformatorhäuschen schaute. Sie erinnerte sich an ihre vielen Familien-Mantren: Es gibt so viel Freude auf der Welt. Es wird noch so viel kommen! Die munterten sie auf, wie immer.

Ein paar Tage später – ganz zufällig – hörte Florrie von einem Seniorenheim im Dorf Temple Beeches auf dem Land in Oxfordshire; es war auch für Rollstuhlfahrer geeignet. Jemand erwähnte es ganz nebenbei in Mrs Pringle’s Book Bazaar, und der Name – Temple Beeches – gefiel Florrie sofort, sodass sie ihren Stift hervorholte und sich den Namen notierte. Sie stellte sich darunter tiefe herbstliche Buchenwälder vor. Sie hatte auch ihre Kindheit in Oxfordshire verbracht, daher fand sie die Vorstellung angenehm, dorthin zurückzukehren.

Aufregung begann in Florrie zu blubbern, wie Milch in einem Topf. Sie steckte sich für den Besuch ihre beste Brosche an. Sie machte Käse-und-Saure-Gurken-Sandwiches für Vera und sich selbst, die sie in einer Toreinfahrt aßen, wobei sie auf Schafe schauten. Und bei der Ankunft fragten sie sich, ob sie die falsche Adresse hatten oder ob sie das kleine sprechende Gerät an Veras Cockpit einfach in die falsche Richtung geleitet hatte. Denn dieses Gebäude war prachtvoll. Es sah mehr wie ein College in Oxford aus als wie ein Altenheim – mit tiefroten Ziegeln, Schiebefenstern und breiten Blumenrabatten. In der Nähe schlug eine Kirchenglocke zur Mittagsstunde. Und als Florrie zum Eingangstor rollte, kam eine Schildpattkatze aus dem Gebüsch, den Schwanz steil nach oben gestellt und maunzend. Sie rieb sich an Florries übrig gebliebenem Bein, und diese war plötzlich so dankbar für all das – die Katze, die Kirche, die Wetterfahne, die elegante Schrift auf dem goldumrandeten Schild über dem Eingang, die die Worte Babbington Hall bildete –, dass sie sich die Nase mit dem Taschentuch abtupfen musste. Besser ging es doch gar nicht … Es würde teuer werden, das wusste sie, aber Florrie würde Far End schnell verkaufen können. (Victor war außerdem so großzügig gewesen.) Und gab es einen besseren Grund, ihre Ersparnisse auszugeben, als für den Aufenthalt an einem Ort, an dem eine gesprächige Katze in den Büschen schlief? Hier, dachte sie. Dieser Ort ist es.

Florrie erinnert sich auch an Renata. Wie höflich sie war, als sie mit ausgestreckter Hand auf sie zukam, sich nach ihrer Anreise erkundigte, ihnen Tee anbot und von den Dohlen redete, die sich zwischen den Schornsteinen zankten. Wie zart sie gewirkt hatte, schon damals – strahlend, ätherisch, so adrett in ihrem Kostüm. Sie trug einen goldenen Anstecker, auf dem stand R. GREEN – HEIMLEITERIN. «Sie haben Glück, Ms Butterfield», hatte sie gesagt. «Gerade ist ein auch für Rollstuhlfahrer geeignetes Zimmer frei geworden. Und, um ehrlich zu sein, ist es das hübscheste Zimmer von allen.»

***

Am nächsten Morgen wacht Florrie auf und öffnet die Vorhänge, um einen warmen, strahlenden Morgen hereinzulassen. Der Zaunkönig stöbert in den Büschen, die weiß lackierte Bank sieht sie an. «Wunderbar», sagt sie zum erwachenden Zimmer.

Gemächlich wäscht sich Florrie und zieht sich an. All das war mit zwei Beinen deutlich einfacher, aber sie hat gelernt, Schwung einzusetzen, und weiß jetzt, wie nützlich Ellenbogen sein können. Außerdem reagiert sie recht gut auf ihre eigenen Kommandos: «Eins, zwei … drei!» Nichts kann sie mehr schnell oder elegant tun. Aber immerhin verrichtet sie all die Aufgaben selbst – sie öffnet ihre Vorhänge, wäscht sich, macht sich in der Kochecke Toast, wobei sie Radio hört, sodass beinahe alles so ist wie damals in ihrem eigenen kleinen Cottage mit den Fliesenböden und dem Blick auf die Malvern Hills.

Tatsächlich ist Florries Frühstücksroutine so ziemlich dieselbe wie immer. Sie wohnt im betreuten Wohnbereich, was bedeutet, dass sie ihren eigenen Wasserkessel hat und sich ein Ei kochen kann, wenn sie möchte. Und sie kann ihre Mahlzeiten von ihrem eigenen Geschirr essen, das nicht zueinander passt und vielleicht angeschlagen, aber immerhin ihres ist. In diesen Räumen darf man auch die eigenen Möbel nutzen, Florrie kann also immer noch an ihrem alten Rosenholzsekretär sitzen, mit Blick auf die nepalesischen Gebetsfahnen, mit denen sie ihr Bücherregal dekoriert hat. Außerdem kann sie in ihrer eigenen Leinenbettwäsche mit der Lochstickerei schlafen. Der einzige wirkliche Unterschied zu früher ist, dass sie jetzt Unterstützung hat – ein Wort, das seine Bedeutung mit dem Alter geändert hat. In ihrer Jugend hatte Unterstützung Geld von der Familie oder ein gut sitzender BH bedeutet. Heute bedeutet es eine Notrufleine, einen Plastik-Klappsitz in der Dusche, den Babbington-Hall-Minibus, der montags und donnerstags nach Oxford und wieder zurück fährt, einen Wäschedienst, verschiedene Gemeinschaftsräume und einmal wöchentlich einen Unterhaltungsabend. Es gibt einen Speisesaal, wenn sie abends einmal keine Lust zum Kochen hat. Und es gibt Pfleger – in blassgrünen Uniformen, frisch wie Pfefferminzbonbons –, die mit den Tabletten und Klemmbrettern herein- und wieder hinaushuschen. Florrie kennt sie alle beim Namen und mag sie alle. Trotzdem gibt es eine Pflegerin, die Florrie besonders ans Herz gewachsen ist.

In diesem Moment – als hätte sie sie kraft ihrer Gedanken herbeigerufen – erscheint ebendiese Pflegerin. Es klopft lässig an der Tür, und Florrie wird begrüßt mit «Miss Florrie?» und einem Akzent, der schwer wie Sirup ist. Und schon schlendert Magda herein. Was für ein außergewöhnliches Wesen sie doch ist – mit Kajal umrandeten Augen, Daumenringen und Haaren von der Farbe einer überreifen Pflaume. Sie hat außerdem tätowierte Sternchen auf der Innenseite der Handgelenke, Fingernägel, die mitternachtsblau lackiert sind, und in den Ohren stecken verschiedene Ringe und Stecker, die Florrie zu gern anfassen würde, um sie genauer zu untersuchen. Insgesamt wirkt Magda wie eine lässige Kriegerkönigin.

Sie stellt einen Pappbecher vor sie hin. «Ihre Tabletten.»

«Danke, liebe Magda. Wie geht es Ihnen heute Morgen?»

Die Pflegerin zuckt eine Schulter. «Ich mag diese Wetter nicht. Ist einfach zu heiß – zu heiß tagsüber und zu heiß in der Nacht. Und meine Haut … Sehen Sie nur! Ich werde sofort puterrot. Ich hole Ihnen Wasser.» Magda rauscht in die Küchenecke und kehrt mit einem Glas zurück, das sie ihr reicht. «Und es macht die Leute gereizt. Manche Menschen sind bei heiße Wetter einfach nicht nett. Ist Ihnen das auch schon mal aufgefallen? Heute Morgen war da eine Dame … ich sage Ihnen, die ist wirklich zu unhöflich. Ich sage ihr das auch ins Gesicht – ich sage zu ihr, Sie sind wirklich zu unhöflich –, aber sie gibt dann zurück nur böse Worte. Nee, ich mag sie nicht.»

Es wäre nicht höflich, findet Florrie, weiter nachzubohren. Aber in Wahrheit muss sie das auch nicht. Einige Bewohner sind für ihre trübe Stimmung bekannt, aber es gibt da speziell eine Dame, die so sauer wie eine Zitrone ist. Marcella Mistry kam im Dezember. Sie ignorierte es, wenn man sie grüßte; sie hasste die Malstunde; sie schob ihr Essen weg und behauptete, es sei reines Gift, das man nicht einmal seinem Hund geben würde, weshalb Clive der Koch sie nicht leiden kann. Marcella hat sich inzwischen etwas beruhigt, aber Magda vergisst so etwas nicht so bereitwillig.

«Ich frage mich, Magda», sagt Florrie, «ob Marcella nicht einfach nur traurig ist.» Immerhin brachte jeder kürzlich Verstorbene neue Traurigkeit auf die Stockwerke. Und alt zu werden ist (weiß Gott!) keine einfache Angelegenheit.

Aber die Pflegerin interessiert das nicht. «Traurig? Sie trauert um niemanden. Und überhaupt, eins sage ich Ihnen: Auch ein trauriger Mund kann sagen ‹Danke, Magda›.»

Dagegen kann Florrie nichts einwenden. Sie nimmt den Pappbecher mit den Tabletten.

«Außerdem ich habe Kopfschmerzen. Ich habe schlimme Kopfschmerzen genau in die Mitte meines Kopfes – hier –, und heute Morgen hat meine Nase geblutet. Wissen Sie, was das sein kann?»

Das weiß Florrie nicht. Sie schluckt eine Tablette und betrachtet fasziniert die silbernen Piercings.

«Gewitter. Es wird gewittern später, das weiß ich. Meine babcia nennt mich immer eine Hexe. Die Wolkendecke wird noch in diese Nacht aufbrechen. Sie werden schon sehen.»

 

Florrie denkt darüber nach. Regen ist nicht vorhergesagt worden. Sie späht durchs Fenster und überlegt: Das kann doch nicht sein? Aber dann rollt sie nach draußen – mit einem weichen Sonnenhut auf dem Kopf und einer rostigen Gartenschere im Schoß – und muss zugeben, dass da eine gewisse Spannung in der Luft liegt. Regen wäre jetzt wirklich mal wieder fällig. Fünf Wochen lang lastet die trockene Hitze anderer Länder schon auf ihnen, bei der man schon beim zweiten Frühstück schwitzt und die Vorhänge lieber geschlossen hält. Zuerst hatten sich die Bewohner der Anlage über die Sonne gefreut. Sie hatten an den warmen Südwänden gesessen und wie die Sonnenblumen ihre Gesichter nach dem Lauf der Sonne ausgerichtet. Unter den Bewohnern war eine ganz neue, gesellige Stimmung entstanden: Man spielte Bowling auf dem Rasen; Liegestühle wurden in den Obstgarten gestellt – und eines Nachmittags, auf einem der Liegestühle unter den Apfelbäumen, hatte Florrie mit Stanhope Jones geplaudert, bis die Schatten länger geworden waren, der erste Stern über der Kirche erschienen war, und sie beide fanden, dass es kalt und vielleicht doch langsam an der Zeit sei, wieder hineinzugehen – und dass es ein wunderbarer Nachmittag gewesen sei.

Aber jetzt wird der Regen gebraucht. Die paar Platscher (wie Prudence sie genannt hätte) hatten für die Babbington-Anlage nicht ausgereicht. Nichts ist wirklich tot, aber das meiste wirkt ausgedörrt, trocken – das Lavendelbeet, das Unkraut, das zwischen den Pflasterplatten wuchert, das Brennnesselgestrüpp, das am Rand des Babbington-Grundstücks wächst. Und würde der Regen nicht auch gut für die Bewohner sein? Diese Hitze hat das allgemeine Gemurre nur noch lauter werden lassen. Doch es gab Schlimmeres: erst einen Herzinfarkt, dann einen zornigen Schlagabtausch zwischen Babs Rosenthal und den Ellwoods wegen nichts Besonderem – und letzten Dienstag fiel Velma Rudge dramatisch in Ohnmacht, den Handrücken auf die Stirn gelegt, und krachte mit dem Ausruf «Ach, du lieber Himmel!» in den Bestecktisch.

Florrie ihrerseits macht die Hitze nichts aus. Sie kennt immerhin noch viel heißere Orte. Sie weiß, dass sie die Fenster bis zum Abend verschlossen halten, ein feuchtes Tuch im Gefrierfach aufbewahren und es dann abends auf ihren Körper legen muss. Sie hat auch gelernt, wie wichtig ein Sonnenhut ist. Florrie besitzt nämlich das, was man den Butterfield-Teint nennt – das bedeutet, sie hat die rosige, sommersprossige Haut ihres Vaters geerbt, dazu das rötliche Haar, das (in ihren jüngeren Tagen) im Sommer den Ton von Buttermilch annahm. Florries Kindheit voller Blasen und Calamine-Lotion ging in eine Erwachsenenzeit mit vernünftiger Sommerkleidung über: lange, weite Ärmel, Leinenkleider, Chiffon-Schals, um ihre décolletage zu schützen; zeitweise besaß sie sogar Sonnenschirme. Damals spazierte sie über Gewürzmärkte oder durch botanische Gärten und fühlte sich dabei wie eine Dame aus Viktorianischer Zeit, wenn auch mit einem ein wenig größeren Leibesumfang. In der Hitze wählt sie eher blasse Farben – Rosa- und Mauvetöne, Puderblau; aber dann wiederum waren das schon immer Florries Lieblingsfarben, ganz egal, welche Jahreszeit gerade herrscht, denn sie glaubt, durch deren Weiblichkeit und Eleganz den eigenen Mangel an ebendiesen Eigenschaften wettmachen zu können. Denn Florrie hat außerdem die Butterfield-Figur – was nett ausgedrückt bedeutet, dass sie klein und rund ist. Sie war schon immer so. Und während Florrie früher, in ihrer Jugend, gehofft hatte, die Adjektive zugeschrieben zu bekommen, die für kleine Frauen reserviert sind – zierlich, elfenhaft, anmutig –, hatte sie hauptsächlich andere über sich gehört: kurvig, üppig und – sogar – matronenhaft. (In Miss Catchpole’s School for Girls wurde sie sogar einmal «trampelig» genannt – ausgerechnet von Miss Catchpole selbst. Und wer vergisst je Ausdrücke wie «trampelig» oder «Florrie Butterball»?) Eine Zeit lang war Florrie deswegen verzweifelt gewesen. Oh, einmal eine große Schönheit sein! Keine Schenkel haben, die beim Rennen aneinanderklatschen! Hätte sie nicht stattdessen den Körperbau der Sitwells erben können? Denn ja, ihre Mutter war ungeschickt und vergesslich gewesen, und ja, manchmal hatte sie Mittwoch mit Donnerstag verwechselt – aber was für lange Glieder Prudence Butterfield, née Sitwell, doch gehabt hatte! Welche Körpergröße und wie hübsch sie gewesen war! Das Haar, so glänzend wie Kastanien! Und was für eine zarte Taille!

Aber egal. Was konnte man schon tun? Abgesehen davon, das plumpe Aussehen mit lieblichen Farben und einem vorteilhaften Ausschnitt abzumildern? Die Sorte Röcke zu tragen, die sich wie eine Glocke mit Luft füllen, wenn man sich dreht? Und so akzeptierte die junge Florrie irgendwann sowohl ihren Teint als auch ihre Statur. Sie freundete sich mit ihrer hängenden Brust an, mit ihrem Hintern, der die Stoffe derart dehnte, dass, wenn sie sich bückte, Blumenmuster ganz verzerrt und Tupfen riesig wirkten. Ich habe Glück. Sie sagte sich das und glaubte es auch: Klug zu sein war besser als niedlich oder jungenhaft. Zudem war ihr Körper immerhin einer, der all die Abenteuer überstehen konnte, auf die sie hoffte. Sie würde damit auf dem Rücken eines Kamels Wüsten durchqueren, sich mit der Machete einen Weg durch den Dschungel bahnen oder die Eigernordwand im Winter erklimmen. Es war ein Körper, der eines Tages auch Kinder austragen würde. Er war vielleicht nicht allzu hübsch und auch nicht besonders schnell, aber er würde seinen Dienst tun.

Und so war es auch gewesen. Er hatte ihr ganz außergewöhnlich gut gedient, alles in allem. Und zufällig ist dies auch ein Körperbau, der sehr gut in einen Rollstuhl passt. Florrie hat einen sicheren Schwerpunkt, sodass ein Umkippen unwahrscheinlich ist; die Oberarme, die damals (wieder war es Miss Catchpole) als «fleischig» bezeichnet wurden, sind gut darin, den Rest von ihr zu bewegen, sodass sie, wenn es nottut, recht schnell vorwärtskommt. Und so schiebt sich Florrie (zugegeben, «Marshmallow-Florrie», wie sie einige Wochen zuvor von Sybilla Farr der Mahjong-Gruppe vorgestellt wurde, die gleich hinter ihren Fingerspitzen anfing zu schnattern) mit ihrem Sonnenhut, ihren Sommersprossen und dem wogenden Busen voran, fort von den Erkerfenstern, an der griechischen Urne vorbei und zwischen den Buchsbaumhecken hindurch. Sie fährt geschickt um die Ecken und wendet, wenn es nötig ist.

Prudence. Während ihrer besseren Phasen konnte man Florries Mutter oft im Garten antreffen. Sie sprach mit allem: den Regenwürmern, den Ohrenkneifern, mit einer frisch aus der Erde gezogenen Karotte; sie lobte ein Geißblatt für besonders üppige Blüten. Es war Prudence, die ihrer Tochter die wahre kleine Freude von Blumen in einem Chutney-Glas nahebrachte, und so denkt Florrie an ihre Mutter – nicht an Sybilla –, während sie Butterblumen, Borretsch und Margeriten schneidet und tief den Duft einer aprikosenfarbenen Rose einatmet.

Sie schneidet, bis ihr ganzer Schoß mit Blüten bedeckt ist.

«Na, sieh mal einer an!»

Zufrieden mit sich dreht Florrie um und fährt auf Babbington Hall zu. Und als sie näher kommt, merkt sie, dass sie nicht mehr allein draußen ist. Das Frühstück ist vorbei; die anderen Bewohner kommen heraus, um sich die Füße zu vertreten, bevor die Sonne zu hoch steht oder das Gewitter kommt. Die Ellwood-Schwestern flanieren Arm in Arm und schnattern dabei wie die Elstern. Babs Rosenthal macht ihre übertriebenen Dehnübungen neben der Kastanie. Im Obstgarten erspäht Florrie Aubrey Horner, der seine Staffelei auf seine präzise, organisierte Art aufstellt und die Pinsel der Größe nach in einer Reihe hinlegt, um dann unternehmungslustig die Fingerknöchel knacken zu lassen. Marcella Mistry – Magdas Dorn im Auge – hat den Schatten der alten Pergola okkupiert und sitzt so still da, dass sie auch eine Skulptur sein könnte, mit ihrer goldgerahmten Sonnenbrille, einem Exemplar von Good Housekeeping im Schoß und ihrem ständig übertriebenen Schmollgesicht. Reuben – einer der Pfleger – unterhält sich mit den Lims. Florrie fällt auch auf, wer alles fehlt: Odelle Banks und Sybilla Farr befinden sich zurzeit auf einer Donaukreuzfahrt, was bedeutet, dass der Mahjong-Klub gerade nicht stattfinden kann. Bill Blewitt sieht sich ebenfalls gerade irgendetwas an. (Ein Eisenbahnmuseum? Florrie kann sich nicht genau erinnern.) Und besucht Stanhope Jones nicht gerade seinen Sohn in London? Aber da ist noch jemand, der fehlt, dessen Abwesenheit sie viel deutlicher spürt: Sie bleibt beinahe stehen, als sie an einem besonders leer wirkenden Stuhl vorbeirollt – schmiedeeisern, mit einem passenden schmiedeeisernen Tischchen dazu, beide stehen an der mit Efeu berankten Mauer. Denn dort saß immer Arthur. Auch jetzt sollte er dort sitzen mit einem schaumigen Kaffee und einer Ausgabe der Racing Post und sich die Stirn mit dem zerknitterten Karotaschentuch abtupfen, mit dem er sich auch die Nase schnäuzt, und zwar so laut und trompetend, dass Nancy Tapp einmal erschrocken aufquiekte.

Arthur. «So etwas passiert eben», sagten die Ellwoods, denen ohnehin nie viel an Arthur gelegen hatte. Aber passiert so etwas wirklich? In Florries ganzem Leben ist noch nie jemand an offenen Schnürsenkeln gestorben. Und was sie betrifft, so spürt sie Arthur immer noch genau wie vor einem Monat in den Lücken, die er hinterlassen hat. Sie hört immer noch die Pausen, in denen sonst sein dröhnendes Auflachen zu hören gewesen wäre (Ha!). Und weil sie an Arthur denkt (und den Ellwoods lieber ausweichen möchte), ändert Florrie plötzlich ihre Fahrtrichtung. Sie biegt scharf nach links ab, sodass ihr Rollstuhl kurz auf dem linken Rad schwankt, kehrt Babbington Hall den Rücken zu und fährt den engen Pfad unter der alten Sonnenuhr entlang, der sie zum am weitesten entfernten, wildesten und vergessenen Teil des Gartens führt. Hier gibt es weder Kies noch Ziegelmauerwerk, das der Rede wert wäre; es ist einfach nur ein Weg, das ist alles. Hüfthohes Gras peitscht gegen ihre Handrücken.

Am Ende des Pfades stellt Florrie die Bremsen fest. Sie verschnauft und betrachtet den Ort: Tannen ragen im Halbkreis um sie herum in den Himmel; der Cherub – zum größten Teil von Efeu und Zaunwinden verdeckt – steht mitten auf seinem gebrochenen Sockel. Aber Florrie interessiert sich vor allem für den Boden. Sie sucht nach den Mulden, die vielleicht von den Knien der Mitarbeiter hinterlassen wurden, während sie versuchten, ihrem Freund zu helfen – Magda, Georgette, Reverend Joe –, während sie immer wieder riefen: «Halten Sie durch, Arthur! Hören Sie?» Sie sucht nach diesen Spuren.

Aber es gibt keine Spuren. Da ist nur Moos und dieser Geruch nach Fuchs. An der Stelle, wo die Tannen ein wenig luftiger wachsen, kann man einen kleinen Ausschnitt von St. Mary sehen – ihre nordwestliche Ecke, die Tür zur Sakristei, das Fallrohr, das mit verzierten, grün angelaufenen Klammern an Ort und Stelle gehalten wird. Wenn Florrie sich in ihrem Rollstuhl aufrichtet, sieht sie den Pfad, der zur Kirche führt. Reverend Joe Poppleton steht gerade in diesem Augenblick dort – er starrt, die Hände in die Hüften gestemmt, ins Eibenwäldchen. Vermutlich bewundert er die Vogelhäuschen, die er in den Bäumen aufgehängt hat – mit Erdnüssen, Mehlwürmern und Sonnenblumenkernen darin.

Warum hier? Was um alles in der Welt hatte Arthur hier zu schaffen? Es gibt doch weit hübschere Orte im Park von Babbington, wo man sein Pfeifchen rauchen kann. Warum ausgerechnet diese Stelle? Florrie hat keine Ahnung. Nancy Tapp auch nicht, die Florrie hinterher beim Arm nahm und meinte: «Was hat er sich dabei bloß gedacht, Florrie? Ich bin vollkommen ratlos.» Arme Nancy, auf die das Wort «zierlich» genau passt. Sie hat Arthurs Sturz gesehen; sie hat um Hilfe gerufen wie ein Hirsch in der Falle.

Florrie wird vermutlich nie erfahren, warum Arthur Potts hierhergekommen ist, und dann auch noch mit offenen Schnürsenkeln – zumindest jetzt noch nicht.

Aber da gibt es noch eine andere Frage, die sie weit mehr beschäftigt. Seit er gestorben ist, schwebt diese Frage neben ihr wie eine Fliege, und das mit einer derartigen Hartnäckigkeit, dass sie schon ernsthaft darüber nachgedacht hat, sie wie eine solche wegzuschlagen. Die Frage lautet: «Was hat er damit gemeint?» Denn in den Stunden vor seinem Tod war Arthur im Speisesaal an ihr vorbeigegangen – ein Tablett mit Pfirsichkuchen und Vanillesoße in den Händen, weshalb er nicht lange stehen bleiben wollte – und hatte gesagt: «Florrie, ich habe etwas aufgedeckt. Es geht um jemanden von hier.»

Etwas aufgedeckt? Sie hatte ihm zugeblinzelt. «Was denn, Arthur?»

Doch er hatte nur den Kopf geschüttelt und sich hastig umgesehen. «Nicht hier, Florrie. Ich komme später zu dir.» Aber er war nicht gekommen.

Florrie schaut zum Kirchturm hinauf. Wie schön er aussieht, so vor dem blauen Himmel.

Auf einige Fragen wird es niemals Antworten geben, so viel hat Florrie in ihrem siebenundachtzigjährigen Leben gelernt. Dinge passieren. Man erlebt Verluste. Herzen hören auf zu lieben, Zellen teilen sich. Manchmal gibt es keine Erklärung, und doch wünscht sich Florrie – oh, wie sehr sie sich das wünscht –, dass sie noch gehört hätte, was Arthur ihr an jenem stickigen Mai-Abend so dringend hatte sagen wollen. Warum hatten seine Augen hinter den Brillengläsern wie Edelsteine geglitzert, nur wenige Stunden, bevor er starb?

3Miss Renata Green

Eine halbe Stunde später rollt Florrie an sonnenwarmen Ziegeln und Blumenkästen vorbei, ein Chutney-Glas mit Blumen zwischen die Schenkel geklemmt. Und dabei wird ihr – wieder einmal – klar, wie dankbar sie dem Fremden in Mrs Pringle’s Book Bazaar ist, der vor vierzehn Monaten dieses Altenheim erwähnte, während er in der Abteilung für historische Romane stöberte. Babbington Hall ist viel besser, als Florrie sich je hätte erträumen können in jenen frühen einbeinigen Tagen.

Es ist im Kern ein kleiner Herrensitz. Der älteste Teil, auf den sie jetzt zurollt, ist fast dreihundert Jahre alt. Hier sind die Flure mit Holz ausgekleidet. Es gibt Wandteppiche und Marmorkamine. Und in einigen Zimmern riecht es wunderbar schwer und etwas modrig wie in einer Kirche oder den unteren Schubladen einer Kommode. Hier hängen außerdem Porträts verschiedener Babbingtons mit steifen Krägen, die beinahe drei Jahrhunderte hier gewohnt haben und unter deren dunklen Blicken Florrie nun durch die Empfangshalle rollt. Das Vermögen dieser Familie stammt wohl von der Erfindung eines bestimmten Kolbens, der die Belüftung von Bergwerken verbessert hat. Aber er, der Erfinder, war nicht der einzige berühmte Babbington. Es gab in der Familie außerdem einen Schauspieler, einen Betrüger, der am Galgen in Tyburn endete, eine Geliebte von König Edward VII. und (Florries persönlicher Liebling) einen Schweinezüchter.

Und doch hatte es auch einen Babbington-Glücksspieler gegeben – und so musste der Familiensitz schließlich verkauft werden. In den letzten Monaten des alten Jahrtausends wurde das Gebäude zu einem Altenheim. Der älteste Teil – sein Eingang, das verzierte Treppenhaus und der größte Teil des Erdgeschosses – ist exakt so geblieben, wie er einst war. In den anderen Teilen gab es jedoch Veränderungen: Alte Zimmer wurden ausgeräumt und umgestaltet, und die ungenutzten Nebengebäude – ein Stall, ein Kutschenschuppen, jede Menge riesiger Schweineställe («Wie groß waren diese Schweine eigentlich?», fragte Vera einmal.) – wurden in etwa ein Dutzend kleiner Wohnungen umgewandelt. In einer dieser Wohnungen lebt Florrie. Sie diente vor Jahren als der Apfelspeicher von Babbington und war kleiner als die anderen Gebäude, aber mit Fenstern ausgestattet, die groß genug waren, um Luft hineinzulassen, damit die Äpfel knackig und trocken blieben. Diese Äpfel gibt es schon lange nicht mehr. Stattdessen hat die Wohnung eine kleine Küchenecke, eine Dusche und ein Wohnzimmer (was so viel heißt wie Wohnzimmer und Schlafzimmer zusammen), die alle auf Florries neue Maße zugeschnitten sind. Sie kann hier von Zimmer zu Zimmer rollen, ohne dass sie sich die Fingerknöchel an den Türrahmen aufschürft. Die Waschbecken haben die perfekte Höhe.

Kurz gesagt, während Babbington sein historisches Flair erhalten hat, ist es dennoch modern gestaltet. Es gibt Knöpfe zum Türöffnen, Aufzüge mit Glastüren, Rampen, deren Neigung man elektronisch verstellen kann, und kleine weiße Kästen, die per Sensor Handdesinfektionsmittel spenden; man muss nur die Hand darunterhalten, dann surrt er und spuckt einen durchsichtigen Klecks in die Handfläche. Für Florrie sind derlei Dinge bemerkenswert. (Woher um alles in der Welt weiß so ein kleiner Kasten, was man gerade braucht?) Und jedes Mal, wenn sie einen Knopf drückt, um eine Tür zu öffnen, schüttelt sie vor Bewunderung über diese Erfindung den Kopf.

Sie ist wirklich außergewöhnlich – diese Technik. Florrie hat gehört, dass die oberen Stockwerke sogar noch besser ausgerüstet sind. Denn Babbington Hall ist zweigeteilt. Das Erdgeschoss und die Nebengebäude sind den Bewohnern vorbehalten (es sind sechzehn bei Vollbelegung). Einige dieser umgebauten Gebäude sind Paaren vorbehalten (in einem Fall zwei geschwätzigen Schwägerinnen), die meisten werden jedoch von Einzelpersonen bewohnt. Die Bewohner im Erdgeschoss haben körperliche Beeinträchtigungen wie Arthrose in den Hüften oder ein fehlendes linkes Bein, sind ansonsten aber vollkommen beieinander. Im ersten und zweiten Stock des Haupthauses wohnen diejenigen, denen es nicht mehr so gut geht. Ihnen stehen Pfleger und qualifizierte Krankenschwestern zur Seite. Die Bewohner haben Demenz in unterschiedlichen Stadien. Sie sind innerlich noch sie selbst, ihre Herzen schlagen, und ihr Brustkorb hebt und senkt sich noch, doch ihr Verstand ist verschlissen wie ein alter Baumwollstoff, sodass sie blicklos in den Raum starren oder die Namen der Menschen nicht mehr kennen, die sie lieben. Florrie sieht sie manchmal, wie sie von ihren Ehepartnern oder Kindern am Ellenbogen in einen ruhigeren Winkel der Anlage geführt werden. Einige von ihnen strahlen merkwürdigerweise richtig. Andere wirken so leer, dass sie glaubt, sie würden ein zittriges Geräusch von sich geben, wenn der Wind über sie hinwegwehen würde – so wie er manchmal an einem Strand bei Ebbe über eine weggeworfene Flasche weht.

Florrie wird jetzt langsamer. Sie schaut hinauf zu den oberen Stockwerken, so wie man hinauf zu einem Buntglasfenster schaut: mit großen Augen, Ehrfurcht und mit ungeheuer viel Zuneigung. Denn obwohl Florrie viele, viele Dinge mag – wie Eulen und gute Metaphern und kandierten Ingwer, das Stillleben einer Obstschale mit Zitronen darin, das über ihrem Regal hängt, die französische Sprache (die, wie sie findet, les mots justes besitzt), pastellfarbene Kleidung und echten losen Tee –, hegt sie doch eine besondere Zuneigung für diejenigen, die den ersten und den zweiten Stock bewohnen. Sie fühlt sich ganz weich, wenn sie nur an sie denkt. Ihr Herz schmerzt förmlich vor Liebe. Wie kann sie da ihr Bein vermissen? Oder sich darum Gedanken machen, dass sie nicht mehr gut hört? Oder sich darüber ärgern, dass ihr Zahnfleisch zurückgeht, dass die Haut ihrer Handrücken apfelbraun geworden ist? Wie kann sie sich da überhaupt noch einsam fühlen? Es ist reiner Zufall, sonst nichts, dass sie in der Lage ist, im Erdgeschoss zu wohnen. Es ist reiner Zufall, dass die Erinnerung noch bei ihr geblieben ist wie ein treuer Hund. Und manchmal, in der Nacht, stellt Florrie sich vor, wie sie ihre Zuneigung in ein Paket legt, es in braunes Packpapier hüllt und in den ersten und zweiten Stock schickt, wo es sich wie von Zauberhand öffnet und der Inhalt in die Gedanken und Träume der Bewohner schlüpft.

Es gibt auch noch ein drittes Stockwerk. Dort wohnt allerdings nur eine einzige Person – die alten Dienstbotenkammern unterm Dach dienen als Unterkunft für die Leiterin der Residenz. Renata wacht hier morgens auf und zieht sich am Ende des Tages hierhin zurück. Sie verlässt kaum ihre Wohnung im dritten Stock, nicht einmal am Wochenende, sodass die Ellwoods schon flüsterten: «Was um alles in der Welt macht sie da oben eigentlich? Und wie ist es da oben wohl? Was um alles in der Welt ist mit ihr los?»

Florrie schaut jetzt dorthin. Das Dachfenster ist geschlossen, und die Vorhänge sind wegen der Hitze zugezogen. Ganz so, wie es Florrie früher immer gehalten hatte, als sie in ihren Dreißigern und Vierzigern in verschiedenen Ländern in der Nähe des Äquators lebte, was ihr in diesem Moment wie ein ganzes Leben und gleichzeitig wie fünf Minuten vorkommt.

 

Im Gebäude fährt Florrie eine mit Teppich belegte Rampe hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, drückt auf verschiedene Türöffner-Knöpfe und klopft endlich an die polierte Eichentür. HEIMLEITERIN steht auf dem Messingschild. Die Tür öffnet sich vorsichtig – ein paar Zentimeter, nicht mehr, und ein einzelnes blaues Auge erscheint. Als es Florrie erkennt, öffnet sich das Auge ganz weit.

«Florrie?» Renata macht einen Schritt zurück und öffnet die Tür. «Kommen Sie herein.»

Auf den ersten Blick wirkt die Heimleiterin wie immer. Das bedeutet, sie wirkt derart beherrscht und adrett in ihrem marineblauen Kleid und mit dem zurückgesteckten Haar, dass Florrie sich kurz fragt, ob sie sich das gequälte Schluchzen um Mitternacht auf der weiß lackierten Bank nur eingebildet hat. Aber beim zweiten Hinsehen sieht Florrie die geröteten Lider. Sie erkennt die leichte Schlaffheit in Renatas Haltung, als wären ihre Muskeln zu müde, um sie ganz gerade zu halten. Also nein, sie hat es sich nicht eingebildet. Florrie streckt ihr die Blumen hin. «Für Sie. Eine kleine Aufmunterung.»

Zuerst starrt Renata Florrie mit der blassen, ausdruckslosen Schönheit einer florentinischen Skulptur an, und Florrie fragt sich schon, ob Renata sie überhaupt gehört hat. Dann blinzeln die blauen Augen, bemerken die Margeriten. «Du meine Güte. Blumen? Für mich?»

«Für Sie. Aus dem Garten. Hauptsächlich vom südlichen Rand des Grundstückes. Die Butterblumen – ich finde sie immer so heiter, wie kleine Laternen sehen sie aus – stammen vom Rand des Ackers.»

«Es gibt so viele davon …»

«Ich weiß, das Wetter hilft natürlich. Der Sonnenschein! Und es hört einfach nicht auf, nicht wahr? Immerhin sagt Magda, dass es womöglich bald gewittert.»

«Tatsächlich? Das glaube ich. Die Luft ist so …» Renata lässt den Satz unvollendet stehen. Ihre Aufmerksamkeit wird ganz von dem Chutney-Glas und seinem frischen, duftenden Inhalt gefangen genommen. «Margeriten. Eine Rose. Und das da ist eine Petunie, oder? Was für eine Farbe! Sie ist zu pink, um einfach pink zu sein, finden Sie nicht auch? Wie schön es wäre, ein Kleidungsstück in dieser Farbe zu haben … ein Kleid vielleicht.» Sie sagt das mit trauriger Verwunderung, als wäre der Besitz eines knallpinkfarbenen Kleides für Renata ungefähr so unwahrscheinlich wie eine Reise zum Mond. Die Heimleiterin schaut auf. «Aufmunterung … Sie glauben, ich brauche Aufmunterung?»

«Vielleicht brauchen wir die alle ein wenig. Nach Arthurs Tod.»

«Vielleicht. Danke jedenfalls, Florrie, die Blumen sind wunderschön. Eigentlich zu schön, um sie hier zu haben.»

Florrie schaut sich um: Die Heimleiterin hat recht. Ihr Büro wirkt, wie bei ihr nicht anders zu erwarten, makellos. Kein Stäubchen gibt es hier, nichts fliegt herum. Doch es ist auch ziemlich düster. Die Holzpaneele sind der Grund dafür, zudem hängen hier dunkle Wandteppiche, und vor dem Fenster gibt es schwere rote Vorhänge, die mit gelblichen Kordeln locker zusammengerafft sind. Das Fenster selbst ist außen halb bedeckt von wildem Wein, sodass das gelbe Licht des späten Juni-Tages nicht hereinfallen kann. Und die Möbel tragen wenig Ermutigendes bei: Aktenschränke voller Pappschachteln und ein schwarzer Lederstuhl auf Rollen. Der einzige Teil des Zimmers mit irgendeiner Art von Ausstrahlung ist Renatas Schreibtisch selbst, der zu Florries Linken steht. Hier liegen verschiedene Papiere, alles methodisch geordnet: Briefe, Mahnungen und Broschüren, To-do-Listen und Dankesbriefe. Florries Blick fällt auf den Weiden-Papierkorb, und sie sieht einen magentafarbenen Umschlag, leuchtend wie die Petunie, auf dem in dramatischer Frakturschrift Für Renata Green steht. Über dem Schreibtisch hängt eine Pinnwand, an der ein Fluchtplan befestigt ist für den Fall, dass ein Feuer ausbricht, daneben hängen ein paar Notfallnummern und ein Kalender, auf dem Daten mit Leuchtmarker markiert oder von Post-it-Zetteln verdeckt oder mit Filzstift umkringelt sind. Dieser Kalender, das sieht Florrie jetzt, zeigt Pariser Szenen; das Juni-Blatt ist ein Foto des Jardin du Luxembourg, von Süden aus aufgenommen. Florrie entfährt ein kleines privates Oh!, als sie das Motiv erkennt. Renata schaut von ihren Blumen auf und folgt Florries Blick.

«Paris? Ich war noch nie da, können Sie das glauben? Seit ich klein war, träume ich davon, an der Seine entlangzuspazieren, Kaffee und zartes Gebäck in einem Café in der Nähe von Notre-Dame zu essen. La Vie en Rose auf einem Akkordeon gespielt. La Rive Gauche mit einem gut aussehenden Mann an meinem Arm … Klischees, ich weiß. Und dennoch … Wir alle haben Träume, oder? Sogar ich.»

Das hat Florrie nicht erwartet. Renata gibt sonst so wenig von sich preis. Jeder Blick, den man auf die Frau hinter der Heimleiterin erhascht, ist selten und so flüchtig, wie bei einer Maus, die die Wand entlanghuscht. Und doch sitzt sie hier, spricht von Kindheitsträumen und gut aussehenden Männern, sodass Florrie Renata jetzt genauer betrachtet, als wolle sie sichergehen, dass sie wirklich Renata Green ist. Sie bemerkt das weißblonde Haar, die hübsche Nase; sie mustert die zart nachgemalten Augenbrauen, die zu ordentlichen, identischen Halbmonden gezupft sind, und die vertikalen Falten zwischen diesen Brauen, die darauf hinweisen, dass ihr Leben bisher mehr als genug Sorgen für sie bereitgehalten hat. Ist sie schon vierzig Jahre alt? Anfang vierzig? Sie ist jedenfalls nicht alt. Und doch hat Renata die müde, weise Ausstrahlung eines Menschen, der weit älter ist.

Selbst ich habe noch Träume. Dass sie das gesagt hat, kommt ihr komisch vor. Denn warum sollte Renata keine Träume haben? Jeder hat Hoffnungen und Ziele – oder zumindest ein Recht darauf. Und Florrie öffnet schon den Mund, um das auszusprechen, als Renata weiterspricht.

«Diese Gärten? Ich träume manchmal davon, in welchem Teil ich sitze – in genau diesem Stuhl dort, links. Und die Museen! Die Galerien … von denen träume ich auch manchmal. Aber in letzter Zeit habe ich mich gefragt, ob ich das mit den Tagträumen nicht endlich lassen und einfach dorthin reisen sollte – nach Paris. Um all das wirklich zu sehen, wirklich dort zu sein, nicht nur in Gedanken.» Sie sieht Florrie an. «Waren Sie schon mal dort?»

«In Paris? Ja. Ich habe dort eine Weile gelebt.»

«Wirklich? Wann denn?»

«Oh, vor langer Zeit. Ich war da noch ein junges Mädchen. Ich habe für die Britische Botschaft Briefe getippt, Protokoll geführt, so etwas. Ich habe in Montmartre gewohnt, in der Rue Seveste. Ich konnte Sacré-Cœur vom Badezimmerfenster aus sehen. Und ich habe mich verliebt –»

«In einen Mann, Florrie?»

«Nein, nein – jedenfalls nicht in Paris. Nein, ich habe mich in die Mandelcroissants verliebt. Ich sage Ihnen, es gibt nichts, was auch nur ansatzweise vergleichbar ist! Mit Puderzucker bestäubt, sind sie einfach …» – Florrie bewegt bei der Erinnerung genüsslich die Schultern – «délicieux.»

Sie möchte, dass Renata lächelt. Aber Renata lächelt nicht. Stattdessen steht sie regungslos da – die linke Hand gegen das Brustbein gepresst, als hätte sie zu schnell gegessen. Ihr Blick wirkt glasig – und Florrie fragt sich, ob sie vielleicht in diesem Moment gar nicht in Babbington Hall ist, sondern die Fensterläden einer Pariser Wohnung unter dem Dach öffnet oder ein Mandelcroissant isst, ganz so, wie sie es sich vorstellt. Bebt ihre rechte Hand ein wenig? Nicken die Butterblumen nicht mit ihren Köpfen?

«Paris ist doch gar nicht so weit weg», sagt Florrie. «Und dann gibt es ja neuerdings diesen Zug – unter dem Meer fährt er entlang! So ein tolles Ding. Man könnte nach London fahren, in St Pancras einsteigen – und …»

«Ach, Florrie.» Wie traurig sie aussieht! «Es ist nicht ganz so einfach.»

Florrie seufzt ein wenig, lehnt sich nach vorne und senkt die Stimme. «Miss Green? Renata? Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich nachfrage, meine Liebe, aber geht es Ihnen auch wirklich gut?»

Die Heimleiterin sieht sie erstaunt an. «Ob es mir gut geht? Es ist lange her, seit mir jemand diese Frage gestellt hat.»

«Ich will nicht indiskret sein, ehrlich. Es ist nur …» Florrie schleicht ein wenig um den heißen Brei herum. Soll sie die weiß lackierte Bank erwähnen? Das heimliche Weinen, das wie ein Cello klang? Die Traurigkeit, die Renata zu quälen scheint wie ein Nierenstein?

«Ich weiß. Ich weiß, dass Sie nicht indiskret sein wollen, Florrie – nicht wie die anderen. Ich weiß, was die Leute reden. Ein kalter Fisch … Ich habe gehört, wie Babs Rosenthal mich so genannt hat, und ich weiß, dass die Ellwoods auch kein gutes Haar an mir lassen. Geht es mir gut? Ich weiß es nicht genau. Ich schlafe nicht viel. Letzte Nacht bin ich noch um Mitternacht in der Anlage herumgewandert.»

«Die Hitze?»

«Ja, teilweise wegen der Hitze. Es ist so heiß, besonders hier oben unter dem Dach. Aber das ist es nicht allein. Ich fühle mich einfach so … voll. Voller Gedanken. Gedanken, die immer in meinem Kopf kreisen.»

«Was mit Arthur passiert ist», versucht es Florrie, «war nicht Ihre Schuld.»

«War es nicht? Ich hätte den Cherub mit Seilen absperren oder Franklin bitten sollen, die Zaunwinden und den Efeu herunterzuschneiden, Florrie. Wenn ich das getan hätte …»

«Wenn Sie das getan hätten, wäre Arthur einfach woanders gestürzt. Es war sein Schnürsenkel. Ein Schnürsenkel, ausgerechnet! Ich wünschte, er wäre nicht gestorben, aber es war nicht Ihre Schuld, und alle wissen das. Sogar die Ellwoods. Und der Mahjong-Kreis.»

Renatas Lächeln ist dünn, aber dankbar. «Sie haben ihn gemocht?»

«Arthur? Ja, sehr.» Wir waren, denkt sie, einander so ähnlich, beide sind wir ohne Freunde zurückgeblieben. Beide eher Zuschauer als Akteure.

«Sehen Sie, Florrie? Sie sind freundlich. So heiter, die ganze Zeit. Ich weiß noch, wie Sie zum ersten Mal hier auftauchten. Die meisten, die hier ankommen, sind bedrückt, denn sie haben das Gefühl, ihre Freiheiten aufgeben zu müssen. Sie spüren, dass sie alt werden. Aber Sie? Sie haben sich so gefreut hierherzukommen. Wir haben über die Dohlen geplaudert, erinnern Sie sich? Und Sie trugen so ein hübsches Kleid.»

Florrie erinnert sich. Sie haben sich damals über die Intelligenz von Rabenvögeln unterhalten und darüber, dass Florrie eine Frau mit Namen Middle Morag kannte, die eine Nebelkrähe gezähmt hatte, indem sie Kuchenkrümel auf die Fensterbank streute – und ja, sie hatte sich wirklich gefreut, nach Babbington Hall zu kommen, so sehr sogar, dass sie ihre fünf übrig gebliebenen Zehen vor Glück gekrümmt hatte (was übrigens auch eine Butterfield-Angewohnheit ist).

«Es ist aber mehr als Arthur. Wissen Sie, was heute ist? Sommersonnenwende. Das ist für mich immer ein schwerer Tag. Und es ist hier. Es ist dies» – sie schaut zur Decke hinauf, sodass Florrie kurz denkt, Renata spreche von der Strukturfarbe und der Stuckrosette, und sie fragt sich, was genau daran so schlimm sein soll. Aber dann versteht sie es: Renata meint den allgemeinen Umstand, dass sie hier ist, hier in Babbington Hall. «Ich fühle mich … wach? Ja, so fühle ich mich: Ich schlafe noch nicht und fühle mich, als wäre ich gerade aufgewacht – als sehe und höre ich Dinge zum ersten Mal. Ich bin hier schon seit vier Jahren, Florrie – schon lange, bevor Sie kamen –, und am Anfang glaubte ich, wenn ich nur hart genug arbeite, wenn ich mich in diese sinnvolle Arbeit stürze, die Menschen hilft, dann wäre das schon genug. Und es war auch genug, glaube ich. Ich lebe ein ruhiges Leben, das weiß ich; ich habe mich in diesen Winkel der Welt verzogen, und das war ganz allein meine Entscheidung. Ich habe die Stille gemocht. Aber in letzter Zeit … Oh, in letzter Zeit war es ganz und gar nicht mehr genug. Und ich habe mich dabei ertappt, wie ich darüber nachdenke, was da draußen wohl noch so alles ist. Denn da draußen ist wirklich noch so viel, nicht wahr? Es gibt so viel mehr als den dritten Stock von Babbington, so viel mehr als Oxfordshire. Und warum sollte ich all das nicht sehen? Warum sollte ich nicht nach Paris fahren? Ich will meinen Job nicht aufgeben – zumindest glaube ich, dass ich das nicht will. Doch ich will mehr, Florrie – mehr Abenteuer, mehr Leben. Bevor es zu spät ist.»

Oh, du liebes kleines Ding, denkt Florrie, denn sie versteht. Sie kennt diese Gefühle ganz genau. Sie hatte sie in dem Haus in der Vicarage Lane. Sie hatte sie in Soho in einer Cocktailbar. In ihrer Kindheit, als man Abenteuer noch als Vorrecht von Männern begriff, hatte die sechsjährige Florrie mit dem Fuß aufgestampft und nachdrücklich klargemacht, dass sie ebenfalls ein Flugzeug fliegen, mit Walen schwimmen oder Premierminister werden würde. (Selbst mit sechs dachte sie, dass es so viel zu tun gebe.) Und plötzlich hat sie den starken Drang, die Hand nach Renata auszustrecken, diese knotige, fleckige Hand mit den hervorstehenden Knöcheln und erbsengrünen Adern, und sie um diese kleinere, zarte zu schließen und Renata zu sagen, dass man auf die Ellwoods und Farrs und Mistrys dieser Welt nicht hören darf. Dass Renata vielleicht von sich glaubt, sie sei merkwürdig oder klein oder in irgendeiner Form nicht genug, aber dass das nicht stimmt – kein bisschen. Und dass die Zeit, die einem auf der Welt bleibt, tatsächlich so erstaunlich kurz ist, dass sie so schnell vorbeisaust, dass wir die Augen in unseren Zwanzigern schließen, und wenn wir sie wieder öffnen, sind wir sechzig oder siebzig oder achtzig, mit rheumatischer Arthritis oder einem fehlenden Körperteil, Krampfadern, die man mit den Fingerspitzen nach rechts oder links verschieben kann, und dass Renata alles jetzt genießen muss, wo sie es noch kann. Sie muss feiern und rennen und ein Rad schlagen, solange es noch geht. Weine nicht auf einer weiß lackierten Bank. Vor allem muss Renata sich selbst für Arthur vergeben. Sie muss nach vorn schauen und die Schuldgefühle hinter sich lassen. Lass dich nicht davon heimsuchen. Aber wer ist Florrie, ihr das alles zu sagen?

Renata schaut die Blumen an. Sie dreht langsam den Kopf und bewundert jede einzelne. Aber dann fängt sie Florries Blick auf, und sie lächelt schüchtern. «Nicht in Paris, haben Sie gesagt. Als ich Sie gefragt habe, ob Sie sich in einen Mann verliebt haben, haben Sie gesagt, nicht dort. Also haben Sie woanders geliebt, Florrie? Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich nachfrage?»

Verliebt. Dieses Wort weckt etwas in Florrie. Es hebt den Kopf wie ein schläfriges Pferd, wenn jemand pfeift oder seinen Namen ruft. «Ich? Oh, ein paarmal. Hier und da.»

«Wie war das? Oder wie ist es? Es tut mir leid, dass ich frage – das ist natürlich alles sehr persönlich.» Renata legt eine Hand an die Wange. «Wissen Sie, ich bin verliebt, Florrie, ich bin es wirklich. Ich! Deshalb frage ich Sie. Ich fühle mich so … anders. Ich bin verliebt, zum ersten Mal.»

«Oh, meine Liebe! Wie wunderbar!»

Mit blitzenden Augen legt Renata die Blumen ab. «Er ist wunderbar, Florrie, wirklich. Er ist so … Ach, ich finde dafür nicht die richtigen Worte. Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich weiß nicht, wie ich sein soll. Ich dachte immer, verliebt zu sein sei ganz einfach.»

«Oh, meine Liebe. Das ist es nie.»

Irgendwo weiter weg schließt sich eine Tür. In der Nähe ruft eine Ringeltaube. Und Florrie denkt, wie unterschiedlich müssen wir doch wirken: Die eine Frau ist Anfang vierzig, blond und zugeknöpft, mit durchsichtiger Haut. Die andere geht auf die neunzig zu, ist so weich wie Butter, ihr fehlen ein paar Backenzähne, sie trägt ein blassgelbes Kleid mit Gummizug in der Taille. Sie könnten kaum unterschiedlicher sein, da ist sie sich sicher. Und doch fühlt sich Florrie vollkommen mit Renata verbunden, in diesem Augenblick. Als wäre ein Band zwischen ihnen geknüpft worden, von Rippe zu Rippe, und als ob – weil sie über Paris gesprochen haben und über das Leben und verliebt zu sein – so heftig an diesem Band gezogen wurde, dass sich etwas in ihnen beiden gelöst hat. Und Renata muss dasselbe fühlen, denn jetzt, da sie Florrie direkt ansieht, tut sie es ohne jede Verlegenheit. Sie mustert Florries Gesicht, so wie Florrie ihres betrachtet. Dabei kann sich Florrie das Kind vorstellen, das Renata einst gewesen sein muss, ein Kind mit einem ernsten, etwas abwesenden Gesichtsausdruck. Vielleicht ein wenig einsam.

«Würde es Ihnen etwas ausmachen, Florrie, wenn ich mit Ihnen spräche?»

«Spräche?»

«Ja. Ich meine, ich spreche ja jetzt schon mit Ihnen, das weiß ich, aber – so richtig? Über … die Liebe? Über Männer?» Sie errötet. «Das klingt alles so pathetisch, oder? Aber es kommt mir so vor, als hätten Sie da einiges zu erzählen. Ich glaube, Sie würden mich verstehen.»

«Ich? Oh du meine Güte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür die Richtige bin. Haben Sie nicht jemanden, der näher an Ihrem Alter ist? Eine Freundin, die …»

«Nein. Ich habe niemanden, mit dem ich über diese Dinge sprechen könnte. Und es darf auch niemand wissen, noch nicht. Aber Florrie, allein die Tatsache, dass ich Ihnen schon so viel verraten habe, lässt mich glauben, dass Sie die Richtige sind. Sie haben mir Blumen gebracht. Sie kennen Paris. Sie spielen kein Mahjong.»

Über die letzte Bemerkung müssen beide lächeln.

«Würden Sie vielleicht? Mit mir über Ihre … Erfahrungen auf diesem Gebiet sprechen? Mir Rat geben? Ich wäre Ihnen so dankbar.»