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Zwei Geschwister in den Stürmen ihrer Zeit: Der Historienroman »Die Rheintal-Saga – Die Kinder des Bergmanns« von Heidrun Hurst als eBook bei dotbooks. Anfang des 17. Jahrhunderts: In einer Siedlung im Schwarzwald wachsen die junge Bärbel Selzer und ihr Bruder Jakob in bitterer Armut auf. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter muss das Mädchen die Verantwortung für die Familie übernehmen, während Jakob Pochjunge wird, um danach dem Vater zu folgen – tief hinunter zur Arbeit in den finsteren Bergstollen, wo Licht und Hoffnung auf ein besseres Leben bald zu fernen Erinnerungen werden … Jahre später zwingt ein Schicksalsschlag die Geschwister, ihre Heimat zu verlassen. Die einzige Hoffnung sind nun ihre Verwandten im fernen Rheintal. Doch die Schatten eines drohenden Krieges dämmern bereits blutrot über dem Land herauf – wird es den beiden gelingen, allen Gefahren zu trotzen und eine neue Heimat zu finden? Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Die Rheintal-Saga – Die Kinder des Bergmanns« von Heidrun Hurst ist der Auftakt ihrer historischen Familiensaga – atmosphärisch, detailreich und von eindringlicher Wucht. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 498
Über dieses Buch:
Anfang des 17. Jahrhunderts: In einer Siedlung im Schwarzwald wachsen die junge Bärbel Selzer und ihr Bruder Jakob in bitterer Armut auf. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter muss das Mädchen die Verantwortung für die Familie übernehmen, während Jakob Pochjunge wird, um danach dem Vater zu folgen – tief hinunter zur Arbeit in den finsteren Bergstollen, wo Licht und Hoffnung auf ein besseres Leben bald zu fernen Erinnerungen werden … Jahre später zwingt ein Schicksalsschlag die Geschwister, ihre Heimat zu verlassen. Die einzige Hoffnung sind nun ihre Verwandten im fernen Rheintal. Doch die Schatten eines drohenden Krieges dämmern bereits blutrot über dem Land herauf – wird es den beiden gelingen, allen Gefahren zu trotzen und eine neue Heimat zu finden?
Über die Autorin:
Heidrun Hurst, geboren 1966 in Kehl am Rhein, ging schon als Kind gerne mit Hilfe von Büchern auf Reisen in fremde Welten und ferne Zeiten. Ihr Hunger nach geschriebenen Abenteuern und Literatur wurde schließlich so groß, dass sie sich einige Jahre später selbst dem Schreiben widmete. Seitdem veröffentlicht sie historische Romane, für die sie mit Leidenschaft und Neugier tief in die Recherche längst vergangener Zeiten eintaucht.
Die Autorin im Internet:
www.heidrunhurst.de
www.facebook.com/heidrun.hurst
www.instagram.com/heidrunhurst/
Bei dotbooks veröffentlichte Heidrun Hurst ihre »Rheintal«-Saga:
»Die Rheintal-Saga – Die Kinder des Bergmanns«
»Die Rheintal-Saga – Im Feuer des Lebens«
»Die Rheintal-Saga – Der Beginn eines neuen Tages«
Auch bei dotbooks erscheint ihre »Straßburg«-Saga:»Der Teufel von Straßburg«
»Die Pestheilerin von Straßburg«
»Das Weib des Henkers«
Dabei ist »Der Teufel von Straßburg« als eBook, Hörbuch sowie Printausgabe erhältlich.
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Überarbeitete eBook-Neuausgabe August 2022
Dieses Buch erschien bereits 2013 unter dem Titel »Die Kinder des Bergmanns« bei mediaKern.
Copyright © der Originalausgabe 2013 mediaKern
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Diese Werk wurde vermittelt von der litmedia.agency, Mühlhausen-Ehingen.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98690-106-6
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Heidrun Hurst
Die Rheintal-Saga – Die Kinder des Bergmanns
Historischer Roman
dotbooks.
Nicht geliebt zu werden ist die schlimmste aller Krankheiten.
Mutter Teresa
Es war der 5. Dezember. Der Tag zwischen dem Fest der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, und dem Nikolaustag. Auf den sanft geschwungenen Linien des südlichen Schwarzwaldes lag Schnee. Noch war es nicht viel. Nicht mehr als ein Hauch, der sich in den Zweigen und Nadeln der Bäume festgesetzt hatte und den Boden mit einer weißen Kruste bedeckte.
Der Winter kam dieses Jahr spät. Doch bald würden die schindelgedeckten Dächer des Dorfes Hofsgrund eine schwere Last zu tragen haben.
Das Dorf war nicht groß. Es bestand aus einer verstreuten Ansammlung von Gehöften und ärmlichen Katen. Die prächtigeren Häuser erstreckten sich talwärts in südlicher Richtung über gerodete Flächen, etwas unterhalb vom Gipfel des Erzkastens, hoch über der Stadt Freiburg. In ihnen wohnten die Meierfamilien auf den Erbpachthöfen des hiesigen Wilhelmitenklosters, sowie der Müller, der Schmied, der Bergrichter und die Hutmänner, wie man die Aufseher der Bergwerke nannte. In den armseligen Katen, nicht weit von ihrer Grube entfernt, lebten die Bergmänner, nebst Weib und Kindern.
Ein eisiger Wind ließ die Zweige der knorrigen Rotbuchen erbeben, welche man zum Schutz des Viehs auf den Matten stehen gelassen hatte. Er säuselte flüsternd durch den Wald, vorbei an den im Winter verlassenen Kohlplätzen, der Mühle, dem Pochwerk und der Schmelzhütte. Das Licht begann bereits zu schwinden. Nicht mehr lange, und die Nacht würde sich wie eine schwarze Decke über den Berg legen. In Hofsgrund würde man zeitig zu Bett gehen, um Holz und Kerzen zu sparen.
In diesem kurzen Übergang, der das frühe Ende des Tages und den Beginn der Nacht verkündete, eilte ein junger Mann durch das Mundloch der Grube, in der er arbeitete. Seine schlanke Gestalt und das Gezähe auf seinem Rücken hoben sich noch deutlich von dem grauen Licht ab, das die Landschaft in triste Farben tauchte. Er nickte grüßend dem Schmied zu, der neben dem Eingang des Bergwerks eine kleine Werkstatt errichtet hatte und hämmernd einen neuen Schlägel herstellte.
Der Name des jungen Mannes war Johann Selzer. Er war auf dem Heimweg, doch heute ging er nicht gemütlich schwatzend neben seinen Kameraden her. Er lenkte seine Schritte, so schnell er konnte, den Berg hinunter. Er fröstelte. Sein Kittel aus ungebleichtem Leinen wärmte ihn nicht sonderlich. In den Stollen herrschte immer die gleiche Temperatur, was dazu führte, dass es im Winter angenehmer war als draußen, doch wenn man vor das Mundloch trat, musste man sich erst an die Kälte gewöhnen, die an der Oberfläche des Berges herrschte. Mit klammen Fingern zog Johann seinen Schachthut, eine schild- und krempenlose Kopfbedeckung in konischer Form, deren Inneres er mit Stroh ausgestopft hatte, fester über die Ohren.
Doch es war nicht die Kälte, die ihn nach Hause trieb. Vor ein paar Minuten hatte man einen Nachbarsjungen geschickt, um ihm ausrichten zu lassen, dass er rasch nach Hause eilen sollte, sobald der Hutmann es ihm gestattete. Anna, sein Weib, bekam ihr erstes Kind. Johanns graublaue Augen fixierten die ärmlichen Katen, die sich fast wie Ameisenhügel unter den hohen Tannen und verwachsenen Laubbäumen ausnahmen. Wenigstens hier hatte man die Bäume zum Schutz der Katen stehen gelassen. Das restliche Gelände an der Oberfläche der Stollen ragte wie der kahle Schädel eines alten Mannes aus dem Berg heraus.
Ein heißer Stich fuhr ihm in die Magengrube. Heute Morgen hatte Anna schon Wehen gehabt. Er wollte erst gar nicht zur Arbeit gehen, doch ihre Worte und ihre tapfere Haltung hatten ihn schließlich dazu bewogen, es dennoch zu tun. Sie sagte, dass es bestimmt mehrere Stunden dauern würde, bis das Kind geboren wurde. Überdies konnten sie es sich nicht leisten, dass Johann einen Tag der Arbeit fernblieb. Vielleicht war das Kind nun auf der Welt? Er hoffte es! Nicht auszudenken, wenn Anna noch immer leiden musste, oder – was noch schlimmer war – ihr etwas zustoßen würde! Erst vor ein paar Wochen war die Drexlerin bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Und dabei war es noch nicht einmal das erste gewesen. Fünf Kinder musste der Drexler nun allein versorgen. Johann graute schon bei der Vorstellung daran, denn die Zeiten waren schlecht. Schlechter, als er und Anna es sich ausgemalt hatten, als sie vor zwei Jahren beschlossen, in die Fremde zu ziehen. Der Grund dafür war sein Erbe gewesen. Es reichte nicht aus, um als Bauer zu überleben, nachdem der ohnehin schon kärgliche Besitz zwischen ihm und seinem Bruder aufgeteilt wurde. In seiner Heimat im Rheintal war der Hanfanbau ein gutes Geschäft – vorausgesetzt, man hatte genug Land, um ihn anzubauen. Da Johann über dieses Land nicht verfügte und Annas Mitgift alles andere als üppig war, blieb ihnen nichts weiter übrig, als das Leben ärmlicher Taglöhner zu führen. Doch er wollte nicht die billige Arbeitskraft derer sein, die es besser erwischt hatten als er, und sich unter ihren hochfahrenden Blicken arm und elend fühlen. Er wollte auch kein Bittsteller werden, der seinen Bruder um Almosen anbettelte, während dieser an einem reich gedeckten Tisch saß. – Kaspar hatte die einzige Tochter des Hanfbauern Diebold geheiratet und verfügte nun über einen großen Hof. Der Herrgott allein wusste, wie er das angestellt hatte! – Lieber wollte Johann in die Fremde gehen, um dort mit Anna sein Glück zu suchen.
So beschlossen sie, in die Nähe eines Bergwerks zu ziehen. Bergbau lohnte sich ebenfalls – zumindest hatte ihm das ein Fuhrmann erzählt, der weiter in der Welt herumgekommen war als er. Was kannte ein armer Taglöhner denn schon von der Welt? Doch im Nachhinein fragte sich Johann, ob der Fuhrmann wirklich so viel wusste, wie er vorgab. Die goldenen Zeiten des Bergbaus schienen längst vorüber. Monatelang waren sie von Bergwerk zu Bergwerk gezogen, von Haslach nach Oberwolfach und über Waldkirch zum Erzkasten. Nirgendwo fand er eine rechte Arbeit, und der Lohn war so niedrig, dass man kaum davon leben konnte. Hier oben endlich hatte er eine Anstellung als Huntestößer ergattert, die zwar ebenfalls schlecht bezahlt wurde, aber man gab ihnen ein Stück Land, auf dem sie einen Krautgarten anlegen konnten, zusammen mit der Aussicht, bald als Lehrhauer anfangen zu können. Noch ein oder zwei magere Jahre, dann konnte er die Prüfung ablegen und war anschließend ein richtiger Bergknappe, dem acht Schilling in der Woche zustanden. Diese Möglichkeit war verlockend, obwohl die Arbeit hart und kräftezehrend war und der Mut ihn in den letzten Jahren schon oft verlassen wollte. Doch der Herrgott hatte ihm Anna geschenkt. Sie verkörperte all das, was er nicht besaß. Anna war eine Kämpferin. Sie sprudelte über vor Temperament, Entschlossenheit, Zuversicht und Stärke. Ohne sie war er verloren. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Es durfte ihr einfach nichts geschehen!
Endlich erreichte er die ärmliche Kate, in der sie wohnten. Der Bergrichter hatte sie ihnen zugewiesen, nachdem ihre früheren Besitzer weitergezogen waren. Anna hatte das schmutzige Häuschen gründlich geputzt, die Ritzen mit frischem Moos verstopft und es mit wenigen Handgriffen etwas freundlicher gemacht.
Durch das Holz der Tür hörte er die Stimme eines älteren Weibes. Wahrscheinlich die Wehmutter, schoss es Johann durch den Kopf. Die Geburt musste schon weit fortgeschritten sein, wenn sie da war. Das Gefühl in seinem Magen verstärkte sich. Die Stimme im Innern der Kate sprach in einem eigentümlich gedämpften Ton, bevor sie erstarb. Nun war es still. Unnatürlich still, wie Johann fand. Weder das Schreien eines neugeborenen Säuglings noch die erleichterten Ausrufe der Mutter und ihrer Helferinnen drangen an sein Ohr. Plötzlich hatte er Angst hineinzugehen. Angst vor dem, was ihn hinter dieser schlichten Tür erwartete. Zögernd trat er von einem Fuß auf den anderen, doch dann siegte die Ungewissheit. Resolut schob er den Riegel zurück und hastete mit langen Schritten in den größeren der beiden Innenräume, der Küche, Stube und Schlafzimmer in einem war. Der andere Raum diente als Stall für die Ziege.
Feuchter Dampf, der von einem Topf kochenden Wassers herrührte, schlug ihm entgegen und nahm ihm fast den Atem. Er schnappte unbewusst nach Luft. Es war übermäßig warm im Innern der Kate, die außer dem gemauerten Herd ein Bett, eine frisch gezimmerte Wiege, einen Tisch mit Schemeln, einen Herrgottswinkel und eine Truhe beherbergte, in der ihre ganze Habe verstaut war. Der brennende Kienspan, der in einem hüfthohen Lichtstock aus Eisen klemmte, spendete nur dürftiges Licht. Kerzen konnten sie sich nicht leisten. Durch die düstere Feuchtigkeit hindurch entdeckte er drei Frauen, die sich um das Bett scharten. Die alte Wehmutter erkannte er an ihrer schwarzen Tracht und der leicht gebeugten Haltung, die ihr zu eigen war. Neben ihr stand Marie, eine Nachbarin. Sie betete voller Inbrunst: »O Mutter des Heiligsten der Heiligen, die seiner göttlichen Vollkommenheit am nächsten kam und so Mutter eines solchen Sohnes wurde, gewähre der Anna durch deine Gnade die Pein, die sie überwältigt hat, mit Geduld zu ertragen, und erlöse sie von diesem Übel. Erbarme dich ihrer. Amen.«
»Glück auf«, entfuhr es Johann, als sie geendet hatte. Es war der Gruß der Bergleute, doch schon als er ihn aussprach, wurde ihm bewusst, wie unpassend er war. Sein erster Eindruck draußen vor der Tür schien ihn nicht getäuscht zu haben. Die überwältigende Gebärde unterdrückter Verzweiflung lag in den Gesichtern der Frauen. Jäh richteten sich die feinen Haare in seinem Nacken auf. Seine Brauen schoben sich fragend in die Höhe, während drei Augenpaare den Eindringling mit einer Mischung aus Angst und Sorge betrachteten. Irgendetwas stimmte hier nicht! Er wusste, er hätte nicht so hereinpoltern sollen. Eine Geburt ging ihn nichts an. Sie war einzig und allein das Refugium der Frauen. Er hätte wieder gehen und draußen warten sollen, bis man ihn hereinrief, aber schließlich hatten sie ihn holen lassen. Und es war sein Weib, sein Kind, das hier geboren wurde, doch offensichtlich lief nicht alles nach Plan. Ein lang gezogenes Stöhnen drang aus dem Bett. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und räusperte sich.
»Was ist? Warum starrt ihr mich so an?« Seine Stimme klang rüder, als er es beabsichtigt hatte. Marie zuckte zusammen, und zu allem Überfluss fing Lisbeth, eine weitere Nachbarin, die ohnehin wie ein aufgescheuchtes Huhn wirkte und etwas jünger als Anna war, zu weinen an.
Die alte Wehmutter warf ihr einen alarmierenden Blick zu, fasste sich aber als Erste. »Das Kind kann nicht heraus. Wir haben alles versucht, aber es nützt nichts. Sie hat bereits ihre letzte Kommunion empfangen.«
Er öffnete entsetzt den Mund, doch nichts als ein heiseres Flüstern entrang sich seiner Kehle. »Nein!« Das durfte nicht wahr sein. Mit zwei langen Schritten stolperte er auf das Ehebett zu und beugte sich über seine Frau. »Sei stark, Anna«, flüsterte er. »Lass mich nicht allein.«
Der Ausdruck des Schmerzes in ihren dunklen Augen drang Johann bis ins Mark, doch ihr Blick glitt an ihm vorbei und traf ins Leere.
»Anna, hörst du mich?«
Sie murmelte etwas, aber er verstand es nicht.
»So helft ihr doch! Warum tut ihr denn nichts?«, presste er anklagend hervor. Zitternd strich er ihr volles, schwarzes Haar, das sich aus der Haube gelöst hatte, aus dem schweißnassen Gesicht. Tränen schossen ihm in die Augen. Es stand schlimm um sie. Das sah sogar er.
Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Ihre Haut war leichenblass, selbst ihre Lippen schienen keine Farbe mehr zu haben.
»Anna, verlass mich nicht!«, jammerte er. »Was soll ich denn ohne dich tun?«
Doch Anna gab keine Antwort.
Sein Blick glitt voller Verzweiflung über ihren Körper und den kugeligen Bauch, der ihm so gut gefallen hatte. Warum kam dieses verdammte Kind nur nicht heraus? Plötzlich sah er das Blut. Ein riesiger Fleck hatte sich in der Höhe ihres Unterleibs auf dem ungefärbten Leinenhemd ausgebreitet und war dann auf das Laken und das sich darunter befindende Bettstroh gesickert. Der Tod griff bereits mit langen Fingern nach ihr.
»Verabschiede dich«, sagte die Wehmutter leise. Ihr faltiges Gesicht wirkte bekümmert. »Es wird nicht mehr lange dauern.«
Die Frauen traten taktvoll zurück.
Johann nickte wie ein kleiner Junge, dem man etwas befohlen hatte. Seine schwieligen Hände liebkosten Annas schmales Gesicht. Sie war nicht bildschön, aber er liebte sie so, wie sie war. Tränen des Kummers tropften von seinem Kinn und vermischten sich mit ihrem kalten Schweiß. Er versuchte zu beten, doch er brachte es nicht fertig. Sie hatten so viele Träume gehabt. Zusammen wollten sie sich ein besseres Leben aufbauen. Und nun? Nun war alles dahin! Er würde wieder allein sein, ohne die Kraft und den Trost seines Weibes! Wie sollte nur alles werden? Und wo würde es enden?
Johann fühlte sich so unwirklich wie ein Schlafwandler, der haarscharf am Rand eines Abgrunds entlangtaumelte. Der Schmerz betäubte ihn und versetzte ihn in einen Zustand, der die Ungeheuerlichkeit vor seinen Augen nicht wahrhaben wollte. Marie hatte ihm einen Schemel gebracht und ihn mit sanfter Gewalt niedergedrückt. Hier saß er nun neben dem Bett und hielt Annas Hand, unfähig, sich auch nur zu rühren.
Die Wehmutter zog eine Taufspritze aus ihrem Bündel hervor. Ein großes metallisches Unikum mit einem langen Schnabel. Sie verfluchte ihr eigenes Pech. Dies war schon die vierte Frau, die ihr binnen weniger Wochen unter den Händen wegstarb. Selbst der Adlerstein, den sie Anna auf den Bauch gelegt hatte, tat nicht seine gewünschte Wirkung. Die Leute tuschelten schon über sie. Wenn sie nicht aufpasste, würde man Nachforschungen anstellen. Es war nur ein schmaler Grat, der eine Wehmutter zu einer Hexe machte. Sie war alt genug, um zu wissen, dass sich kaum jemand für sie einsetzen würde, falls dies passierte. Gedankenverloren betrachtete sie den zuckenden Bauch der Todgeweihten. Trotz der Kräuter, die sie Anna gegeben hatte, waren die Wehen immer schwächer geworden, doch das Kind in ihrem Innern wehrte sich. Es stieß und trat gegen die Bauchdecke seiner Mutter wie ein verzweifelter Gefangener gegen die Tür des Kerkers. Sie betrachtete die Taufspritze in ihrer Hand und überdachte die Möglichkeiten, die ihr blieben. Mit dieser Spritze konnte sie das Kind im Mutterleib nottaufen. Der Priester überließ ihr die Spendung dieses Sakraments, denn es brachte den Vorteil, dass er nicht länger als nötig anwesend sein musste, und man konnte Mutter und Kind zusammen in geweihter Erde begraben. Mit einem ungetauften Kind im Leib durfte dies nicht geschehen, es sei denn, man schnitt das Kind heraus und begrub die Mutter auf dem Kirchhof, während man den toten Säugling zwischen Mördern und anderen Missetätern im hintersten Eck des Gottesackers verscharrte. Bis jetzt musste sie diese Möglichkeit noch nie in Erwägung ziehen. Doch sie hatte auch noch nie gesehen, dass ein Kind so offensichtlich am Leben war, während seine Mutter im Sterben lag. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Er lief wie glühendes Eisen bis zu ihren Zehen hinab. Falls Anna starb und das Kind sich weiter tapfer wehrte, konnte sie den Säugling aus dem Mutterleib schneiden und so möglicherweise sein Leben retten. Wenn ihr das gelang, würde ihr Ruf als Wehmutter wieder hergestellt sein!
Sie packte Johann bei den Schultern. »Sieh mich an«, sagte sie in strengem Tonfall. »Der Herrgott hat dein Weib dem Tod überantwortet, aber das Kind in ihrem Bauch kann ich vielleicht noch retten.«
Johann blickte mit dumpfer Überraschung auf. »Wie soll das gehen?«
»Der Säugling hat sich eben noch bewegt. Es könnte sein, dass er auch nach Annas Tod noch am Leben ist. In diesem Fall kann ich ihn aus ihrem Bauch herausschneiden.«
Für einen Moment verlor sein Gesicht jeden Ausdruck, dann verzerrte es sich zu einer Grimasse, das die Abscheulichkeit dieses ungeheuerlichen Gedankens zum Ausdruck brachte. »Du willst meinem Weib den Bauch aufschneiden?« Angewidert wandte er sich von der Wehmutter ab. »Niemals!«
»Du begehst eine große Sünde, wenn du es nicht erlaubst«, beschwor die Wehmutter Johann eindringlich. Ihr besorgter Blick pendelte zwischen Anna und ihm hin und her. Viel Zeit blieb seiner Frau nicht mehr, ihr Atem wurde immer schwächer. Die Hebamme rüttelte ihn nun unsanft an seinen Schultern. »Willst du etwa, dass der Teufel sich der kleinen Seele bemächtigt?«
»Nein … nein«, Johann raufte sich das kurz geschnittene, hellbraune Haar.
Die Wehmutter hörte die leichte Unsicherheit in seiner Stimme und griff danach wie eine Ertrinkende nach einem Strohhalm. »Es gibt ein Gesetz, das verbietet, eine schwangere Frau zu bestatten, bevor die Leibesfrucht aus ihr herausgeschnitten wurde«, sie hob mahnend den Finger. »Hör gut zu: Dies soll geschehen, solange die Hoffnung besteht, dass das Kind noch lebendig ist. Wer dem zuwiderhandelt, setzt sich dem Vorwurf aus, ihre einzige Hoffnung auf Überleben getötet zu haben.« Erschöpft von ihrer kleinen Rede, ließ sie den Finger sinken. Die Wehmutter, bei der sie einst die Geburtshilfe erlernte, hatte größten Wert darauf gelegt, dass sie sich mit solchen Dingen auskannte. Nun war sie froh darum. »Willst du das?«, hakte sie noch einmal nach.
Johann schlug die Hände vor sein Gesicht. »Sei still!«, schrie er. »Ich will es nicht hören.«
Annas Atem ging in ein stoßweises Röcheln über. Die Wehmutter betrachtete voller Sorge ihre blutleeren Lippen. Plötzlich fühlte sie die Last des Alters auf ihren Schultern. Die langen Stunden der Geburt waren auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Sie war eine in die Jahre gekommene Frau, und wenn ihr nicht bald etwas Besseres einfiel, würde sie diesen Kampf verlieren! Mit dem Mut der Verzweifelten zerrte sie eine Hand von Johanns Gesicht und legte sie auf den Bauch seiner Frau. Johann zuckte zusammen, als ob ihn eine Ohrfeige getroffen hätte.
»Spürst du es?«, fragte sie leise. »Kannst du verantworten, dass dieses Kind, das noch dazu dein eigenes ist, sterben muss?«
Er sank in sich zusammen. »Dann tu, was du für richtig hältst«, stöhnte er.
Sie atmete erleichtert auf und legte tröstend eine Hand auf Johanns Schulter. »Gut so, mein Junge. So soll es geschehen.«
Etwa eine Stunde später entschwand Anna mit einem letzten Seufzer aus Johanns Leben. Es war ein leises Hinübergleiten, das seine aufgewühlte Seele kaum bemerkte. Nur den scharfen Augen der Wehmutter entging es nicht. Er küsste Anna noch einmal sanft, dann schloss er für immer ihre Lider.
»Geh hinaus«, sagte die Wehmutter knapp. »Du brauchst nicht zu sehen, was ich hier tue.«
Gehorsam ließ sich Johann von Marie nach draußen in die Dunkelheit führen. Die Luft vor der Kate war schneidend kalt und bildete im Lichtschein der halb geöffneten Tür kleine Atemwölkchen vor seinem Mund, doch Johann achtete nicht darauf. Er war taub vor Kummer und Leid. Eine bleierne Schwere legte sich auf seine Glieder. Die Versuchung, sich einfach auf den kalten Boden zu legen und wie Anna aus diesem Leben zu entschwinden, wurde beinahe übermächtig. Was wollte er noch hier? Ohne Anna fühlte er sich, als ob er selbst gestorben wäre, und er war grenzenlos allein. Selbst wenn das Kind in ihrem Bauch überleben sollte!
Marie ging wieder in die Kate hinein und kam mit einem brennenden Kienspan und einem Becher Obstbrand zurück. Letzteren drückte sie ihm in die Hand.
»Hier, den wirst du brauchen können.«
Mechanisch setzte er den Becher an die Lippen und nahm einen großen Schluck. Die klare Flüssigkeit rann ihm mit ungewohnter Schärfe die Kehle hinunter, doch sie tröstete ihn nicht.
»Es tut mir leid«, sagte Marie heiser. Marie war nicht nur eine Nachbarin, sondern auch Annas beste Freundin gewesen. Sie senkte schüchtern die Lider über ihre sanften, haselnussbraunen Augen. »Ich weiß, was du durchmachst.« Ihr schlichtes Gesicht leuchtete im Schein des Kienspans in ihrer Hand, der an der frischen Luft aufglühte. Es war vom Weinen gerötet. Das aschblonde Haar steckte sorgsam unter einer Haube, was ihre breiten Wangenknochen stark hervortreten ließ. Maries Mann war letztes Jahr bei einem Grubenunglück ums Leben gekommen. Kurz darauf hatte sie eine Fehlgeburt erlitten, und nun stand sie so allein da wie Johann selbst. Um sich über Wasser zu halten, arbeitete sie in der Scheidstube. Nur heute war sie früher nach Hause gegangen, um Anna bei der Geburt beizustehen. Sie blickte schüchtern zu Boden. »Falls du einmal Hilfe brauchst …«, der Rest des Satzes erstarb auf ihren Lippen.
Er wusste auch so, was sie sagen wollte. Sie würde kommen, wenn er sie brauchte.
»Ich geh wieder hinein. Vielleicht kann ich helfen.« Marie reichte ihm den Kienspan und wischte sich die Hand an ihrer Schürze ab. Dann kehrte sie ihm den Rücken zu und verschwand in der Tür.
Die Wehmutter sog scharf die Luft in ihre Lungen und stieß sie durch die gepressten Lippen wieder aus. In Augenblicken wie diesen pries sie Gott, dass sie zu alt war, um selbst noch ein Kind zu empfangen. Ihr graute vor dem blutigen Werk, das ihr nun bevorstand. Dennoch musste es getan werden, zum Wohl des Kindes – und zu ihrem eigenen. Sie warf einen letzten Blick auf die Taufspritze, die sie vorsichtshalber mit Weihwasser gefüllt und in Reichweite gelegt hatte. Falls es nötig sein sollte, konnte sie diese immer noch benutzen.
»Dann wollen wir mal«, sagte sie tapfer. Sie schob Annas Hemd in die Höhe und entblößte ihren gewölbten Bauch. Prüfend legte sie die Hände darauf. »Na also«, murmelte sie zufrieden. Das Kleine zappelte noch, wenn es auch dieses Mal mehr ein leises Zucken als ein richtiger Tritt gewesen war. Sie musste sich beeilen, wenn sie das Kind retten wollte. Sie schluckte nervös. Lisbeth beobachtete jeden ihrer Handgriffe. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen, sonst war sie verloren. Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn und sammelten sich zu kleinen Rinnsalen zwischen den Falten ihres Gesichts. Sie nahm ihr Messer und schnitt an der dunklen Linie auf Annas Bauch entlang, die sich vom Schambein bis zum Bauchnabel gebildet hatte. Von dort zog sie die Klinge noch ein Stück weiter nach oben, bis sie an das Brustbein stieß. Die Haut klaffte auseinander und gab den Blick auf etwas Blut und gelbe Fettkügelchen frei. Lisbeth würgte.
»Reiß dich zusammen«, die Stimme der Alten war streng. Der Schnitt war zu zaghaft gewesen, sie musste tiefer schneiden, um zu dem Kind zu gelangen. Dieses Mal schnitt sie durch dunkleres, festes Fleisch. Prüfend zog sie die klaffende Stelle auseinander, um besser sehen zu können, und stieß so auf die Hülle, die das Kind umgab. Marie, die eben zur Tür hereingekommen war, sog scharf die Luft ein.
»Sei ruhig«, die Hand der Wehmutter glitt in den Bauch hinein, wo sie die Konturen des Säuglings unter der gespannten Haut der Gebärmutter erfühlte. »Anna spürt es nicht mehr.«
»Das ist das einzig Beruhigende daran«, erwiderte Marie mit zitternder Stimme.
Die Alte setzte noch einmal ihr Messer an, während Lisbeth würgend nach draußen stürzte, um sich dort neben Johann zu übergeben. Konzentriert schob die Wehmutter ihre Zunge zwischen die Zähne. Der Schweiß begann, dunkle Flecken auf ihrem Kleid zu bilden. Es war nicht einfach, die letzte Schicht zu durchtrennen, ohne das direkt darunter liegende Kind zu verletzen. Endlich griff sie hinein und förderte ein schmieriges Bündel zutage, das starr in ihren Händen lag und mit einer bläulich verfärbten Nabelschnur verbunden war. »Schnell, hol eines der vorbereiteten Tücher«, die Wehmutter rieb den Säugling kräftig damit ab, und er holte angesichts der unsanften Behandlung empört Luft. Nur einen Atemzug später gab er einen zarten Ton von sich, der in entrüstetes Schreien überging.
»Gut so, mein Kleiner«, sagte die Alte zufrieden. »Schrei du nur. Das wird deine Lungen stärken.«
Trotz aller Vorsicht hatte sie ihn mit dem Messer an der Stirn erwischt. Eine Blutspur führte vom Haaransatz fast bis zur Nasenwurzel. Doch der Schnitt war nicht tief, und wahrscheinlich würde er ohne Komplikationen verheilen. Sie tupfte sorgsam darüber, trennte das Kind von der Nabelschnur und wickelte es fest in eine Windel. Dann gab sie das Bündel Marie.
»Hier, bring Johann seinen Sohn. Er ist gesund und kräftig. Das wird ihn ein wenig trösten. Er soll auf ihn aufpassen, bis wir hier fertig sind. – Und schick Lisbeth nach Hause.«
Marie tat, was ihr aufgetragen wurde, während die Wehmutter Annas Bauch mithilfe eines gewachsten Hanffadens wieder zusammennähte. Die Anspannung der letzten Stunden fiel dabei von der Alten ab, wie ein lästiges Kleid, das man vom Körper streifte. Sie konnte es kaum fassen, dass dieser unglückselige Tag nun doch ein gutes Ende genommen hatte. Wenn schon nicht für Johann und Anna, so wenigstens für sie. Der Kleine war am Leben, und selbst wenn er es sich noch anders überlegen sollte und seiner Mutter in den Tod folgte, so würde man ihr die Schuld dafür nicht mehr geben können. Zusammen mit Marie wusch sie die Tote und half ihr, sie für das Begräbnis herzurichten, jedoch nicht ohne zuvor den Fensterladen und die Tür einen Spaltbreit zu öffnen, damit Annas Seele nach draußen entweichen konnte. Anschließend empfing sie ihren Lohn und ging erleichtert und in der Vorfreude auf einen kräftigen Schluck Bier nach Hause.
Marie war in ihr eigenes Heim zurückgekehrt, nachdem sie die Kate gesäubert, sich um die Ziege gekümmert und einen frischen Kienspan in den eisernen Lichtstock geklemmt hatte. Kaum etwas erinnerte an den Kampf, der vor wenigen Stunden hier stattgefunden hatte, wäre da nicht Anna gewesen, die man auf einem Brett aufgebahrt hatte, das nun den freien Platz zwischen Tisch und Bett ausfüllte. Trostlos saß Johann auf einem Schemel, das Kinn in die Hände gestützt. Er war sterbensmüde, und doch waren seine Nerven so überreizt, dass an Schlaf nicht zu denken war. Er wollte sowieso nicht schlafen, er wollte Anna ein letztes Mal ganz nahe sein und über sie wachen, bis man sie fortschaffen würde, um sie für immer von ihm zu trennen. Er zwang sich, Anna anzusehen. Sich dieses letzte Bild von ihr einzuprägen, damit er es in Erinnerung behalten konnte, wie einen kostbaren Schatz, den er in seinem Herzen bewahren würde. Sie trug das einzige Kleid, das sie besaß, eine saubere Schürze, eine frische Haube und die Holzpantinen, die sie immer getragen hatte. Die makellose Haut an Gesicht und Händen schimmerte wächsern und kalt. Ihr frisch frisiertes Haar war unter der tadellos weißen Haube verborgen. Sie sah aus wie die hölzerne Marienstatue, die in der Kirche aufgestellt war.
Der Priester hatte eine Kerze dagelassen. Irgendjemand hatte sie auf einen Schemel gestellt und sie neben ihrem Kopf angezündet, als Gnadenlicht für die Tote. Plötzlich kam ihm etwas in den Sinn. Er sprang auf und schob vorsichtig die Haube von Annas Kopf. Dann nahm er ein Messer und entfernte an einer unauffälligen Stelle eine Locke ihres prächtigen schwarzen Haares. Zufrieden steckte er sie in seine Tasche. »Sie wird immer bei mir sein, genau wie mein Herz bei dir – bis in alle Ewigkeit. Das verspreche ich«, flüsterte er.
Ein heftiger Graupelschauer ging prasselnd auf das Dach nieder. Das Wetter schien sich seinem Gemüt anzupassen. Es wurde von Stunde zu Stunde schlechter.
Der Kleine in der Wiege greinte. Das Trommeln der Eiskörnchen störte für einen Moment seinen friedlichen Schlaf. Johann sah zu ihm hinüber. Unter einem wollenen Käppchen verbargen sich weiche, dunkle Haare. Ein Erbstück seiner Mutter. Ein Teil der Schnittwunde, die ihm die Wehmutter zugefügt hatte, ragte unter dem Rand des Käppchens hervor. Sie war mittlerweile mit einer bräunlichen Kruste überzogen. Dunkle Brauen und lange, dichte Wimpern umrahmten die geschlossenen Lider. Seine zarten Lippen zuckten im Schlaf. Darüber befand sich ein entzückendes Knollennäschen, das Johann unter anderen Umständen sicherlich berührt hätte, doch nun hatte er keinen Sinn dafür. Was soll ich nur mit dir anfangen?, dachte er verzweifelt. Bis jetzt hatte der Kleine nicht mehr geschrien, seit er in seinen Armen eingeschlafen war. Aber morgen würde er sich nach einer Amme umsehen müssen … Er schloss bekümmert die Augen. Die Aufgaben, die er zu bewältigen hatte, standen wie die Berge vor ihm, die draußen aus der Landschaft ragten. Wie sollte ihm das alles nur gelingen? Jetzt, da Anna nicht mehr da war und ihm dabei half. Wie einen Sohn großziehen, wenn er keine Mutter für ihn hatte?
Er schrak zusammen, als es zaghaft an der Tür klopfte. Er antwortete nicht, stattdessen schob er die Haube wieder an ihren Platz zurück, damit niemand bemerkte, was er getan hatte. Er war nicht in der Stimmung, zu dieser späten Stunde Besuch zu empfangen. Doch die Tür knarzte unbarmherzig unter der Bewegung ihrer Scharniere, ohne Rücksicht auf seine Gefühle.
Marie streckte schüchtern ihren Kopf herein. »Wie geht es dir?«
Noch während sie die Frage stellte, kam sie sich dumm und ungeschickt vor. Natürlich wusste sie, wie es ihm ging. Johann hatte sein Weib geliebt. Diese Tatsache war auch ihr nicht entgangen. Außerdem hatte Anna ihr oft erzählt, wie liebevoll er sich ihr gegenüber verhielt – und sie hatte sie darum beneidet, weil sie es nicht so gut wie Anna getroffen hatte. Ihre Ehe war arrangiert worden, und da sie aus armen Verhältnissen stammte, war die Auswahl der Bewerber nicht groß gewesen. Ihr Mann warb nicht um sie, weil er sie liebte, sondern weil sie gesund war und arbeiten konnte. Und ihre Eltern waren entzückt über die Aussicht, bald einen Esser weniger am Tisch zu haben. Es spielte keine Rolle, was sie über diese Ehe dachte. Für ihre Familie ging es ums nackte Überleben und nicht um das Beachten irgendwelcher Gefühle. Alles andere würde sich schon finden. Marie war kein Mensch, der aufbegehrte, und so willigte sie gehorsam in diese Heirat ein. Doch ihr Mann behandelte sie wie einen Hund, der zum Hof gehörte, und nicht wie ein geliebtes Eheweib. Sie war für ihn nicht viel mehr als eine Notwendigkeit, die das Essen zubereitete, das Haus sauber hielt und ihm nachts das Bett wärmte. Dennoch hatte er sie vor seinem Tod mit dem Nötigsten versorgt. Und das war schließlich das, was zählte, wenn man am Leben bleiben wollte. Von Liebe allein wurde man leider nicht satt.
Johann antwortete nicht auf ihre Frage, stattdessen starrte er düster vor sich hin. Er schien sie gar nicht zu bemerken, und so sprach sie weiter, um der peinlichen Situation ein Ende zu bereiten. »Du wirst eine Amme brauchen.«
Johann gab einen überdrüssigen Ton von sich. Als ob er das nicht schon wüsste!
»Die Harlacherin hat erst vor zwei Monaten ein Kind bekommen. Vielleicht legt sie deinen Sohn auch an ihre Brust?«
Zum ersten Mal sah er sie an.
»Soll ich sie fragen?«
Er nickte, froh, eine Sorge weniger zu haben.
»Wie soll er denn heißen?«
Johanns Brauen schossen in die Höhe. Seine Hand fuhr in die Hosentasche und liebkoste die schwarze Haarlocke, die sich darin befand.
»Jakob«, sagte er bestimmt. »Anna wollte, dass er Jakob heißen soll, falls es ein Junge ist. Nach ihrem Vater«, fügte er zögernd hinzu. Für einen kurzen Moment war ein verträumter Ausdruck in seine Augen getreten, doch nun verdunkelten sie sich wieder zu einem Blick voller Trauer und Schwermut.
Verstört sah Marie zu Boden. »Also Jakob«, wiederholte sie schüchtern. »Dann … dann gehe ich jetzt.«
»Gute Nacht«, vernahm Marie bevor sie leise die Tür schloss und davonging.
Die Jahre vergingen, und aus dem kleinen Jakob wurde ein feingliedriger Junge, der in seiner Statur und der geschmeidigen Art, mit der er sich bewegte, eher seinem Vater glich. Das rabenschwarze Haar und die dunklen Augen hingegen stammten von seiner Mutter, und auch sein Temperament schien mehr dem Annas zu gleichen als dem Johanns. Die Wunde an seiner Stirn hatte sich in eine schmale, silbrige Narbe verwandelt, die sich flammend rötete, sobald Aufregung und Ärger sein inneres Gleichgewicht störten.
Nach einer anfänglichen Zeit der Trauer hatte Johann Selzer die stille und zurückhaltende Marie geheiratet. Maries Hoffnung, dass sich aus dieser Verbindung mehr als eine bloße Zweckmäßigkeit entwickeln würde, erfüllte sich nicht. Trotz ihrer Bemühungen war sie für Johann nicht mehr als eine folgerichtige Lösung ihrer Probleme, denn er brauchte eine Mutter für sein Kind – und sie einen Mann, der sie versorgte. Johann war alles in allem kein übler Kerl. Er war freundlich und schlug sie nicht, doch sie bemerkte die lastende Schwere der Melancholie, die ihn niederdrückte. Oft griff er dann in seine Hosentasche. Sie wusste, was sich darin befand. Es war Annas schwarze Locke, die sie gefunden hatte, als sie eines Nachts heimlich seine Hose durchsuchte. Marie vermisste das liebevolle Werben, wie er es bei Anna getan und das sie auch für sich erhofft hatte. Oft kam es ihr so vor, als ob er sie und den Jungen gar nicht bemerkte. Dennoch schluckte sie ihren Ärger und ihre Enttäuschung darüber tapfer hinunter. Es gab viele Frauen, die es schlimmer traf als sie.
Als Jakob zwei Jahre alt war, bekam Marie eine kleine Tochter, mit heller, fast durchscheinender Haut und rötlichen Haaren. Sie wurde auf den Namen Barbara getauft, doch von Anfang an nannte jeder sie Bärbel. Die beiden Geschwister verlebten dank Marie eine glückliche Kindheit, obwohl es ein bescheidenes Leben war, das sie führten, und der Tod zu einem ständigen Begleiter der Familie wurde. Marie gebar noch weitere Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, von denen keines überlebte. Zwei starben schon kurz nach der Geburt, und ein weiteres raffte im Alter von zwei Jahren der gefürchtete Sommerdurchfall dahin, der jedes Jahr unter den kleinen Kindern grassierte. Der Tod seiner Geschwister gehörte zu den erschütternden Erfahrungen in Jakobs jungem Leben, doch er lernte, dass das Abschiednehmen so selbstverständlich dazugehörte wie Essen und Trinken. Die Umstände seiner Geburt hatten sich wie ein Lauffeuer in Hofsgrund verbreitet. Manche beobachteten seine Entwicklung mit Interesse. Vielleicht zeigten sich irgendwelche Anzeichen des Bösen an ihm, die das ungewöhnliche Ereignis verursacht hatte? Vielleicht wurde er ja auch ein Heiliger, wie es der Heilige Raimund Nonnatus gewesen war. Auch ihm sagte man nach, dass er aus dem Bauch seiner Mutter herausgeschnitten wurde, als diese bereits tot war. Er entwickelte sich jedoch, allen Spekulationen zum Trotz, wie ein ganz normaler Junge. Das Gerede über ihn tauchte langsam im Strudel der Neuigkeiten unter, und die Klatschmäuler wandten sich anderen wichtigen Ereignissen zu. Erst als er acht – fast neun Jahre alt war, ereignete sich etwas, das die Bewohner von Hofsgrund wieder an den erstaunlichen Anfang seines Lebens erinnerte.
Es war an einem schönen Abend mitten im Juli, als Jakob und seine etwa gleichaltrigen Freunde Gerg, Hans und Paule einen verhängnisvollen Plan ausheckten. Die Jungen lagen dösend unter dem ausladenden Blätterdach einer Weidbuche. Im Gras neben ihnen hatte es sich eine Herde Kühe gemütlich gemacht. Gerg, der Hirtenjunge, ließ sie nicht aus den Augen, doch die wiederkäuenden Tiere machten keine Anstalten, sich davonzuschleichen. Die Sonne schien in goldenen Strahlen auf ihre dicken Bäuche herab und wärmte ihnen angenehm das Fell. Sie waren ebenso faul wie die Jungen, die sie bewachten. Es war eine jener seltenen Stunden, in denen die Kinder nicht viel zu tun hatten. Alle vier stammten aus armen Bergarbeiterfamilien, die in den Katen in der Nähe der Grube wohnten. Da sie noch nicht mit ihren Vätern zur Arbeit gehen konnten, mussten sie sich in den umliegenden Gehöften ihr Brot verdienen. Die Arbeit dort hörte, vor allem im Sommer, niemals auf. So waren sie in dieser Jahreszeit eine willkommene Hilfe bei den Arbeiten, die auf einem Meierhof anfielen. Zum Lohn bekamen sie etwas zu essen, wofür ihre Eltern sehr dankbar waren.
»Was haltet ihr davon, wenn wir uns heute Nacht die Grube einmal genauer ansehen?«, fragte Hans plötzlich.
Die Grube des Erzkastens war kein Ort, an dem sich Kinder aufhalten durften. Die Schächte und Stollen bedeuteten eine zu große Gefahr für sie, doch wie so oft im Leben übten manche Dinge gerade deshalb eine magische Faszination aus, weil sie verboten waren.
»Meinst du wirklich?«, erwiderte Paule lahm. Schon eine ganze Weile träumten die Jungen von diesem Abenteuer. Ihre Väter erzählten nicht viel, wenn sie abends erschöpft und schmutzig nach Hause kamen, mit dreckigen Gesichtern und den blinzelnden Augen einer Eule, die man aus dem Schlaf gerissen hatte. Die Männer waren entweder zu erschöpft, um davon zu berichten, was sie im Bergwerk erlebt hatten – oder es steckte ein Geheimnis dahinter, von dem sie nichts wissen durften. Es war natürlich ein Wagnis, sich in die Stollen zu schleichen, vor allem, weil sie es nur nachts tun konnten, denn nur dann war außer einem Wächter niemand dort. Doch die Dunkelheit hatte auch etwas Unheimliches an sich.
»Warum denn nicht?«, fragte Hans. »Schließlich wollten wir schon lange mal wissen, was sich hinter dem Mundloch befindet.«
»Mein Vater sagt, die Grube ist für Kinder viel zu gefährlich«, warf Gerg ein.
»Der will dir bloß Angst machen, damit du nicht reingehst«, schnaubte Hans verächtlich. Er war einen halben Kopf größer und etwas älter als die anderen.
»Was ist mit dem Wächter? Wir werden eine ordentliche Tracht Prügel bekommen, wenn er uns erwischt«, gab Jakob zu bedenken.
Hans setzte sich auf. »Hast du etwa Angst, Nichtgeborener?«
Die Narbe auf Jakobs Stirn flammte auf. Diesen Namen hatten sie ihm gegeben, weil er nicht durch die natürliche Pforte seiner Mutter zur Welt gekommen war. Er hasste ihn. Er schwebte wie ein Dünkel über seinem Leben, zeigte er doch an, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Man hatte ihm gesagt, dass seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war, und dass man ihn aus ihrem toten Leib herausgeschnitten hatte, doch was konnte er denn dafür? »Hab ich nicht«, antwortete er schneidend.
Hans grinste. Er wusste, dass er Jakob an einer empfindlichen Stelle getroffen hatte. »Wegen der paar Schläge kneife ich jedenfalls nicht. Außerdem ist es nur der alte Lorentz, der heute Nacht Wache schiebt. Bestimmt schläft er irgendwann ein.«
Paule zuckte zweifelnd mit den Achseln. Er war sich da nicht so sicher.
»Also, was ist?«, fragte Hans in verächtlichem Tonfall. »Macht ihr mit, oder soll ich allein gehen?«
»Das traust du dich ja doch nicht«, gab Jakob zurück.
Hans prustete überheblich. »Wollen wir wetten?«
»Ist ja schon gut«, versuchte Gerg ihn zu besänftigen. »Wir gehen alle rein. Oder ist jemand dagegen?« Er warf einen prüfenden Blick in die Runde, bevor er sich wieder den Kühen zuwandte.
»Ich bin dabei«, erwiderte Jakob; wenn sie ihn schon einen Nichtgeborenen nannten, wollte er wenigstens kein Feigling sein.
Auch der ängstliche Paule nickte zögernd.
Gerg setzte sich mit einem Ruck auf. »Also gut. Treffen wir uns bei dem alten Baumstumpf, sobald alle schlafen. Doch jetzt muss ich dem Harlacher seine Kühe zurückbringen.«
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis es Zeit war, zu Bett zu gehen. Jakob konnte es kaum noch erwarten, obwohl er genug zu tun hatte. Er half Gerg, die Kühe in den Stall zu treiben. Anschließend gingen die beiden Buben den Milchmädchen zur Hand und streuten ein, bevor sie ein Butterbrot und etwas Milch für ihre Dienste erhielten.
Als Jakob nach Hause kam, waren Marie und Bärbel damit beschäftigt, weichen Ziegenkäse in kleine Spanschachteln zu füllen, um sie anschließend auf einem Holzgestell zu lagern, das unter der Decke hing. Dort konnte der Käse reifen, ohne dass er im Weg stand. Danach zeigte Marie der kleinen Bärbel, wie man flickte, während er seinem Vater helfen musste, ein Loch im Dach der Kate mit neuen Schindeln zu decken. Erst als die Dunkelheit jegliche Arbeit verhinderte, war es Zeit zu schlafen. Normalerweise liebte Jakob es, spät zu Bett zu gehen, doch heute war er mürbe, bis er endlich neben Bärbel unter der Decke lag. Ungeduldig wartete er darauf, dass in der kleinen Kate Ruhe einkehrte. Er strengte sich an, gleichmäßig zu atmen, und lauschte in die Dunkelheit des Raumes, bemüht, dabei die Schwere aus seinen eigenen Augen zu vertreiben. Hörte das Nesteln von der anderen Seite des Bettes, das sich die ganze Familie teilte. Endlich ertönte das geräuschvolle Schnarchen seines Vaters. Das wurde aber auch Zeit! Bärbel, die in der Mitte neben ihrer Mutter lag, atmete schon längst in tiefen Zügen. Nun musste er nur noch ein Weilchen warten, bis auch Marie fest schlief. Ihr entging sonst nicht das leiseste Geräusch.
Plötzlich drehte sich Bärbel unruhig zur Seite. Ihre kleine Stupsnase bohrte sich in seine Schulter. Leise begann sie zu murmeln. Jakob verdrehte die Augen. Seine Schwester hatte manchmal böse Träume und fing mitten in der Nacht an zu schreien. Nicht auszudenken, wenn dies nun geschah! Marie würde augenblicklich hellwach sein, und er würde niemals von hier wegkommen. Die Jungen würden ihn für einen Feigling halten! Das durfte unter gar keinen Umständen geschehen! Er strich Bärbel sacht über den Kopf.
»Scht! Ist schon gut«, flüsterte er. Und tatsächlich, sie beruhigte sich. Ein kurzer Seufzer, und ihr Atem wehte wieder ruhig und gleichmäßig über seinen Hals hinweg. Anscheinend hatten sich ihre Träume angenehmeren Dingen zugewandt. Vorsichtig hob er den Kopf und spähte zu Marie hinüber. Der volle Mond schien durch die Ritzen des Fensterladens. Seine offenen Augen hatten sich längst an das unwirkliche Licht gewöhnt, das den Raum ein klein wenig erhellte. Maries dunkler Umriss lag unbeweglich unter der Decke, nur die weiße Nachthaube blitzte daraus hervor. Behutsam setzte er sich auf und verharrte. Nichts rührte sich. Nun wurde er mutiger. Leise glitt Jakob aus dem Bett, schnappte sich seine Hose und schlich mit vorsichtigen Schritten zur Tür. Als er sie hinter sich zuzog, atmete er auf. So weit, so gut. Schnell schlüpfte er in die Hose, stopfte sein Hemd hinein und vergewisserte sich, dass der Kienspan immer noch in seiner Tasche steckte.
Die Nacht war unheimlich. Er war so spät noch nie allein draußen gewesen, und die großen Bäume um ihn herum erschienen ihm wie Riesen, deren Arme sich rauschend bewegten. Abertausende von Sternen leuchteten aus dem Dunkel des Himmels, kleine Lichtpunkte in einem großen schwarzen Meer, in dem der strahlende Vollmond seine Bahn zog. Trotz dieser Schönheit tat sich eine abweisende, fremde Welt vor ihm auf, die ihn ängstigte. Schon lange hatte er sich nicht mehr so klein und schutzbedürftig gefühlt. Das Herz sank ihm in die Hose, doch er zwang seine Beine nach vorne, Schritt für Schritt, um zum vereinbarten Treffpunkt zu gelangen. Er würde jetzt nicht mehr umkehren! Er würde kein Feigling sein, der in sein Bett zurückschlüpfte, auch wenn ihm diese Aussicht im Moment sehr verlockend erschien.
Er schrak zusammen, als das entfernte Heulen eines Wolfs ertönte. Ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, nachts zur Grube zu schleichen? Doch er gab nicht auf, und allmählich gewöhnte er sich an die fremden Geräusche, die Dunkelheit und die noch dunkleren Schatten der flatternden Fledermäuse, die von Zeit zu Zeit an ihm vorbeihuschten. Bald darauf hatte er sein Ziel erreicht: Ein alter Baumstumpf, nicht weit vom Mundloch entfernt. Seine drei Freunde erwarteten ihn bereits ungeduldig.
»Endlich«, flüsterte Hans vorwurfsvoll. »Wir dachten schon, du kommst nicht mehr.«
»Was soll ich machen, wenn Marie so lange braucht, bis sie schläft«, erwiderte Jakob beleidigt. »Oder hast du gedacht, ich trau mich nicht?«
»Fangt jetzt bloß nicht an zu streiten«, zischte Gerg leise. »Lasst uns lieber nachschauen, ob der alte Lorentz schon sein verdientes Schläfchen hält.«
Vorsichtig schlichen sie weiter. Der alte Lorentz schlief nicht. Er hockte auf einem flachen Stein, in der Nähe des Mundlochs, und pfiff leise vor sich hin.
»Da hast du es«, wisperte Jakob in Hans’ Richtung. »Und was machen wir jetzt?«
»Abwarten.«
Noch einmal wurde die Geduld der Jungen auf eine harte Probe gestellt. Doch dann beschloss Lorentz, dass es an der Zeit war, seine Blase zu entleeren, und er schlurfte ein Stück in den Wald hinein.
»Jetzt«, zischte Hans. Vier kleine, gebückte Gestalten schlichen auf die Öffnung im Berg zu. Ohne dass der Alte es bemerkte, schlüpften sie in das gähnende Loch, das aus nichts anderem als aus Dunkelheit zu bestehen schien, noch undurchdringlicher als die Nacht.
»Zünden wir unsere Kienspäne an«, flüsterte Paule, »damit wir wenigstens etwas sehen.«
»Jetzt nicht«, erwiderte Gerg, »sonst wird uns Lorentz entdecken. Wir müssen erst weiter in den Berg hinein.«
Die Finsternis des Stollens verschluckte sie wie ein gähnender Schlund. Jakob schluckte. Selbst das tröstliche Licht von Mond und Sternen war nun verschwunden. Ein beständiges Tröpfeln drang an seine Ohren, während er sich mit Händen und Füßen vortastete.
»Los jetzt! Her mit dem Licht!«, flüsterte Hans plötzlich. »Ich hoffe, wir sind weit genug vom Eingang entfernt.« Man hörte es seiner Stimme an, dass auch seine Tapferkeit mit jedem weiteren Schritt dahinschwand.
Paule hatte ein kleines Kohletöpfchen mitgebracht. Nun deckte er es ab, und die vier Jungen hielten das harzige Holz ihrer Kienspäne in die Glut, bis es sacht zu glühen begann.
»Gehen wir weiter«, sagte Hans angesichts des Lichts wieder etwas mutiger. Er übernahm die Führung der nicht mehr ganz so wackeren Gesellen.
Die glimmenden Späne in den zitternden Händen der Jungen erhellten nur dürftig den Weg. Jakob hielt seinen höher und entdeckte, dass sie sich in einem Gang befanden, der tief in den Berg hineinführte. Das Gestein an den Wänden war lehmbraun. An manchen Stellen quoll etwas Wasser daraus hervor und lief als Rinnsal über den Boden. – Daher stammte also das Tröpfeln. Die hölzernen Schienen, die sich durch den Gang schlängelten, waren die Führung für die Hunte; kleine Karren, die man mit ausgebrochenen Steinen füllen konnte, um sie nach draußen zu schaffen. Nun waren sie leer und standen nutzlos herum, als warteten sie darauf, wieder beladen zu werden. Je weiter sie vordrangen, desto öfter wurde das Gestein von glitzernden Bahnen durchzogen, die Jakob faszinierten. Ob das wohl das begehrte Silber war, das hier abgebaut wurde?
»Vielleicht finden wir einen Schatz«, flüsterte Gerg, der das Gleiche wie Jakob entdeckt hatte.
Plötzlich fing Paule zu jammern an. »Ich muss mal.«
»Dann verheb’s«, zischte Hans. »Hier wird nicht in die Ecke gepinkelt.«
»Warum nicht?«, jammerte Paule weiter, doch dann stieß sein Fuß an einen Kübel, der polternd in die Tiefe stürzte.
»Pass doch auf«, flüsterte Hans entrüstet. »Hoffentlich hat das der alte Lorentz nicht gehört.«
»Puh, das war knapp«, seufzte Gerg. Er hatte sich in die Hocke begeben und leuchtete in den Schacht, in den der Kübel gestürzt war. »Wenn du da hineingefallen wärst!«
»Hier steht eine Leiter«, sagte Jakob, der mit seinem Kienspan ebenfalls die Schachtöffnung auskundschaftete. »Lasst uns hinunterklettern, dann wird der Alte uns nicht finden.«
»Du hast recht«, erwiderte Hans, »verschwinden wir nach unten. So weit wird er uns nicht folgen.«
Einer nach dem anderen schwang sich auf den Sprossen der Leiter in die Tiefe. Als sie unten ankamen, breitete sich ein weitverzweigtes Netz aus Stollen vor ihnen aus, die kleiner und schmäler wurden, je weiter sie hineingingen. Manche waren so schief, dass man sich verrenken musste, um durch sie hindurchzugelangen. Es war unmöglich, dass ein erwachsener Mann hier noch aufrecht stehen konnte. Jakob wurde es eng um die Brust. Die Last des Berges schien ihn zu erdrücken. Hier unten also verbrachte sein Vater die längste Zeit des Tages. Dies war der Grund, warum er abends müde und gebeugt nach Hause kam. Solange er denken konnte, wollte er ein Bergmann werden, wie alle Männer, die hier lebten. Doch nun graute ihm davor, bald selbst in einem dieser Stollen zu hocken, um mit Schlägel und Eisen das Gestein aus den Wänden zu brechen. Es musste schrecklich sein, den Himmel nicht zu sehen und die wärmenden Strahlen der Sonne auf der Haut zu vermissen. Nicht einmal der frische Duft einer Heuwiese drang in diese Tiefe hinab, genauso wenig wie der würzige Duft des Waldes. Hier unten war nichts als Dunkelheit, Kälte und ein seltsames Gefühl der Geruchlosigkeit.
Panik ergriff ihn. Hinaus! Er musste fort von dieser Enge. Fort von dem Gefühl, lebendig begraben zu sein. Er konnte die Bedrohung, die von den felsigen Wänden ausging, förmlich spüren. Was, wenn sie nicht hielten? Wenn sie zusammenbrechen und ihn unter sich begraben würden? Er fing an zu rennen und riss dabei einen halb gefüllten Karren mit sich, dessen Inhalt sich scheppernd und polternd entleerte.
»Jakob, was ist?«, rief Paule ängstlich, doch Jakob hörte ihn nicht mehr. Er rannte und rannte, zwängte sich durch die Engpässe und stieß sich den Kopf. Ein kleines Rinnsal aus Blut lief an seiner Stirn herunter, doch er spürte keinen Schmerz. Er wollte nur fort von diesem grässlichen Ort. Es war ihm egal, ob sie ihn für mutig hielten oder nicht. Er brauchte den Schacht, der ihn nach oben führte. Selbst der alte Lorentz und die damit verbundenen Prügel waren ihm gleichgültig. Doch wo war der Schacht nur? Er konnte sich nicht mehr erinnern! Nach einer Weile blieb er schwer atmend stehen. Die Lichter seiner Freunde waren verschwunden. »Hans, Gerg, Paule!«, rief er. »Wo seid ihr?« Sein Ruf verhallte ungehört und erschreckte stattdessen eine Schar Fledermäuse. Die Tierchen schossen aus ihrer schützenden Spalte und flogen wie kleine schwarze Dämonen um seinen Kopf, bevor sie im Dunkel des Ganges verschwanden. Jakob erstarrte vor Schreck, dann drang endlich ein menschliches Geräusch an seine Ohren. Die Stimmen der drei Jungen schallten aus der Ferne, doch er sah nicht über den kleinen Lichtkreis des Kienspans hinaus, der ihm den Weg leuchtete. Nun begann er, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Wie konnte er nur so dumm sein und davonrennen! Ohne seine Freunde hatte er viel weniger Licht, und wenn er sich hier unten verirrte, war er verloren! Plötzlich verbrannte er sich die Finger. Auch das noch! Sein Kienspan war fast heruntergebrannt. Kurz darauf ging ihm das Licht aus, ohne dass er es verhindern konnte.
»Jakob! Wo bist du?« Die ferne Stimme Gergs hallte seltsam hohl durch das weitverzweigte Gangsystem, doch er sah nichts mehr und konnte sich nur noch tastend fortbewegen.
»Ich bin hier!«, rief er verzweifelt. Kalter Schweiß brach ihm aus. »Heilige Barbara, hilf mir«, murmelte er leise vor sich hin, während er vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte. Doch er fühlte sich grenzenlos allein.
Plötzlich stieß sein Fuß an etwas, das ihm sonderbar weich und nachgiebig den Weg versperrte. Fast wäre er darüber gestolpert, doch da er sich nur noch langsam fortbewegte, fing er den Schwung ab und prallte stattdessen mit der Schulter gegen die Felswand. Seltsam, dachte er, während er über die schmerzende Stelle rieb. Als er vorhin durch den Stollen gerannt war, war ihm nichts dergleichen aufgefallen. Aber womöglich war er ja aus Versehen in einen anderen geraten? Vorsichtig stieß er noch einmal mit dem Fuß gegen das Hindernis. Vielleicht ein mit Lumpen gefüllter Sack?, vermutete er, obwohl ihn irgendetwas an dieser Vorstellung störte. Er hatte immer noch Angst, doch das sonderbare Bündel weckte trotz allem seine Neugierde. Er musste wissen, was da auf dem Boden lag!
Mit klopfendem Herzen ging er in die Hocke und streckte seine Hände aus, um den unsichtbaren Gegenstand zu betasten. Ein merkwürdiger Geruch drang in seine Nasenlöcher, süßlich und schwer. Er stutzte. Es war das erste Mal, dass er das Gefühl hatte, im Innern dieses Berges etwas zu riechen! Seine Finger glitten über grob gewebtes Tuch. Vielleicht war es doch nur ein gefüllter Sack? Doch was befand sich darin? Seine Finger glitten weiter und berührten eine glatte, kühle Oberfläche. Sie war nachgiebiger als Holz, aber so kalt wie der Fels unter seinen Füßen. Langsam strich er darüber. Versuchte, mit den Händen zu erfühlen, was seine Augen nicht sehen konnten, bis er verdutzt innehielt. Er riss vor Schreck die Lider weit auf, obwohl er immer noch nichts sehen konnte. Eine Gänsehaut überzog seine Unterarme und raste von dort über seinen ganzen Körper. Jakobs Hände fuhren zurück, als ob er sich verbrannt hätte. Er wusste plötzlich, was vor ihm lag. Es war ein Mensch! Ein Kind noch. Nur dass es so kalt war wie Stein! Er fuhr auf, als ob ihn eine Hornisse gestochen hätte. Abrupt drehte er sich um und schoss in der Dunkelheit davon. Das Grauen, das ihn umgab, ließ ihn jede Vorsicht vergessen. Fort! Er musste fort! Weg von diesem entsetzlichen Ort, dessen Geheimnisse ihn zu Tode erschreckten!
Jakobs hastige Flucht wurde bald darauf von einem Tritt ins Leere gestoppt. Er ruderte mit den Armen, konnte sich dieses Mal aber nicht mehr fangen und geriet vollkommen aus dem Gleichgewicht. Noch im Fallen erwischte er das Seil einer Haspel, die über dem Schacht aufgehängt war, um Körbe mit Steinen nach oben zu ziehen. Doch seine Hände waren zu fahrig, um es richtig zu greifen. Sie glitten davon, hinab in eine unergründliche Tiefe, die ihn immer weiter nach unten zog. Er fiel und fiel … Ein harter Aufprall bremste ihn jäh ab. Jakob spürte einen stechenden Schmerz in seinem Rücken. Bunte Lichtpunkte funkelten vor seinen weit aufgerissenen Augen, er wunderte sich, woher sie so plötzlich kamen, und dachte kurz darüber nach, wie traurig Marie sein würde, wenn er jetzt starb. Dann schwanden ihm die Sinne.
Jakob hörte nicht, wie Gerg, Hans und Paule schreiend aus der Grube rannten und dabei den alten Lorentz fast zu Tode erschreckten, der nun doch eingeschlafen war und bis dahin gar nichts mitbekommen hatte. Jakob merkte nicht einmal, wie er von seinem Vater und drei anderen Bergmännern aus der Grube geborgen und in sein Bett gelegt wurde. Wie Marie ihn pflegte und Bärbel heulend an seiner Seite saß, während Vater stumm zur Arbeit ging. Es dauerte Tage, bis er aus den Tiefen der Bewusstlosigkeit emportauchte, und fühlte, wie ihn das Bettstroh durch das Laken hindurch in die Haut stach. Dieser Zustand verwunderte ihn doch sehr, denn er war immer noch der Meinung, dass er tot sei. Aber wie passten die herrlichen Erzählungen über den Himmel und dieser alltägliche Zustand zusammen? Vorsichtig öffnete er ein Auge und blickte geradewegs in Maries schlichtes, gutmütiges Gesicht. Dies erstaunte ihn noch mehr, und er schlug auch das andere auf, um sicherzugehen, dass er sich nicht täuschte.
»Jakob!«, ihre Stimme zitterte vor Überraschung und Freude. Erleichtert bekreuzigte sie sich. »Dem Herrgott sei Dank! Du bist wieder bei uns.«
Das Lächeln seiner Stiefmutter und ein Floh, der seelenruhig über seine Wange spazierte, während er reglos im Bett lag, brachten ihn vollends zu der Überzeugung, dass er doch nicht gestorben war. Was er nur einen Moment lang bedauerte, dann siegte die Freude darüber, dass er weiterleben durfte. Maries Hand schwebte plötzlich über seiner Wange, zerquetschte den Floh und legte sich ihm anschließend kühl auf die feuchte Stirn. Er spürte die Schwielen ihrer abgearbeiteten Hände auf seiner weichen Haut.
Ihre Berührung rief ihm noch etwas anderes in den Sinn. Irgendetwas war in der Dunkelheit der Stollen geschehen. Etwas Befremdliches! Doch so krampfhaft er auch überlegte, in seiner Erinnerung befand sich an dieser Stelle nur ein großes schwarzes Loch. So dunkel wie die Stollen selbst, in denen er sich aufgehalten hatte.
Bärbels Kopf erschien neben dem von Marie, um das Wunder seiner Auferstehung zu bestaunen. Ihre zarte Haut war vom Weinen gerötet. Die wasserblauen Augen fixierten übergroß und forschend sein Gesicht. – Plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Er hatte ein Kind in den Stollen gefunden. Ein Kind, das bereits tot war!
»Wer?«, krächzte er mühsam.
»Du weißt es also noch?«
Er hörte die Traurigkeit in Maries Stimme. Verlegen schob sie eine nicht vorhandene Haarsträhne unter ihre Haube. Ihre Miene hatte jeden Ausdruck von Freude verloren. »Es war der kleine Martin. Man hat schlimme Dinge mit ihm angestellt, bevor er ermordet wurde.« Sie brach ab und schluckte, bevor sie weitersprach. »Sein Anblick muss dich so erschreckt haben, dass du geradewegs auf eine Schachtöffnung zugerannt bist.«
Jakobs Brauen schossen erstaunt in die Höhe. Seine Pupillen weiteten sich und ließen die dunklen Augen fast schwarz erscheinen. Ermordet? Er war davon ausgegangen, dass der kleine Junge einem Unfall zum Opfer gefallen war. Vielleicht hatte er sich ebenso in den Stollen herumgetrieben wie Gerg, Hans, Paule und er? Solch eine Abscheulichkeit wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen.
Marie drückte tröstend seine Hand, ihr Mund verformte sich zu einem dünnen, geraden Strich. »Es war sicher nicht schön, was du gesehen hast.«
»Ich … habe … nichts«, die Erwiderung blieb ihm förmlich im Hals stecken. Sein Rachen war wund und ausgetrocknet, und seine Zunge klebte immer wieder am Gaumen fest und reizte ihn zum Husten. Doch die Erschütterung löste einen heftigen Schmerz in seinem Rücken aus. Er keuchte entsetzt auf.
Marie gab ihm einen Schluck Wasser, den Bärbel eiligst herbeigeschafft hatte.
»Berta sagt, du hast dir die Rippen gebrochen«, fügte sie erklärend hinzu. »Wirst wohl noch eine Weile liegen müssen, bis alles wieder verheilt ist. – Trotzdem hast du außerordentliches Glück gehabt. Einen Sturz in eine solche Tiefe überlebt man normalerweise nicht.«