Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wie schmerzhaft sind Lügen? Was, wenn du sie fühlen könntest? Von ihnen umringt wärst? Die 16-jährige Emony verfügt über eine Gabe: Sie kann Lügen erkennen. Doch diese Fähigkeit bringt sie in Gefahr, als sie ihre Heimat, die lebensfeindliche Rauring-Wüste, verlässt. Denn es gibt nur eine Möglichkeit, der mörderischen Hitze und dem quälenden Durst zu entkommen – Emony muss eine Ausbildung bei dem Unternehmen beginnen, das die weltweite Wasserversorgung kontrolliert. Rasch kommt sie dahinter, dass ihr Arbeitgeber die Wüstenbewohner betrügt. Der einzig ehrliche Mensch scheint ihr Ausbilder Kohen zu sein, für den sie bald mehr empfindet. Kann sie ihm im Kampf gegen den übermächtigen Gegner vertrauen? Und sind die Lügen noch viel größer als vermutet?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 519
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jessica Strang
Stapenhorststraße 15
33615 Bielefeld
www.tagtraeumer-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Text: Erin Lenaris
Lektorat: Mareike Müller
Buchsatz: Laura Nickel
Umschlaggestaltung: Anna Hein
https://anna-fuchsia.de
Bildmaterial: © Shutterstock.com
© Canstockphoto.de
Illustrationen: www.dreamstime.com
ISBN: 978-3-946843-89-4
Alle Rechte vorbehalten
© Tagträumer Verlag 2020
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur CastleGate Agency, Eichenweg 21a, 69198 Schriesheim/ Heidelberg
Erin Lenaris
Die Ring
Chroniken
Begabt
1. Kapitel
Wer will schon durstig seinem Schicksal gegenübertreten? Ich jedenfalls nicht. Deshalb schüttle ich den erschreckend leichten Wasserkanister noch mal. Kein Schwappen, kein Plätschern, nichts. Ich schraube den Deckel auf. Am Boden glitzert nur eine kleine Pfütze. Zu wenig für meine trockene Kehle, aber genug für mein Chamäleon Emil.
Vorsichtig lasse ich die letzten Tropfen in ein Glas kullern und greife nach der Pipette in dem Schubfach vor mir. Verdammt! Nun bin ich schon wieder an diesem blöden Rauring hängen geblieben. Der treibt mich noch in den Wahnsinn. Früher hat er wenigstens geglänzt, doch mit den Jahren ist der dicke Kupferring trüb und fleckig geworden. Oft habe ich versucht, diese lästige Armfessel loszuwerden – die Kratzer und Kerben darin zeugen davon. Unzählige Quetschungen später habe ich aufgegeben. Das Ding ist schließlich festgeschweißt. Mittlerweile ist es auch viel zu eng. Um die Metallkanten an meinem rechten Handgelenk ist die Haut schon richtig aufgescheuert.
Und zu allem Überfluss blutet es jetzt. Schnell presse ich die Lippen auf die Verletzung und sauge das Blut weg. Emony, schnell, das Wunddesinfektionsspray! Obwohl meine Mutter nicht da ist, hallt mir ihre mahnende Stimme förmlich in den Ohren. Ihr Sauberkeitsfimmel geht mir auf den Geist. Gut, dass sie als Desinfektorin so viele Überstunden macht. Die meiste Arbeit fällt auf der Krankenstation und im Kinderzentrum an, meine Mutter allerdings ist in der ganzen Siedlung unterwegs. Ihrer Ansicht nach muss alles regelmäßig von Keimen befreit werden, da wir mangels Waschmöglichkeiten sonst schnell die Pest am Hals hätten. Oder zumindest die Grippe. Ich halte das für Panikmache, aber ein Gutes hat Mutters Gründlichkeit wenigstens: So habe ich immerhin meine Ruhe. Mein Chamäleon reicht mir als Gesellschaft vollkommen.
Meistens sitzt Emil in seinem würfelförmigen Plexiglas-Terrarium, das ich immer dann mit der Sprühflasche befeuchte, wenn ich etwas Wasser dafür abzweigen kann. Am liebsten hängt er an dem Klettergerüst, für das ich ein Lüftungsgitter zweckentfremdet habe, oder er hockt auf den dürren Pflanzen, die sich unter seinem Gewicht biegen. Nun hat ihn der Hunger herausgetrieben. Er klammert sich an das Abluftrohr über unserer schmalen Küchenzeile und beobachtet mich mit einem Auge. Mit dem anderen fixiert er den Wassertropfen an der Pipette, den ich ihm anbiete. Bevor er herunterfällt, schiebt Emil seine lilafarbene Zunge hervor und fängt ihn auf. Beim Warten auf den nächsten Tropfen wandert sein Blick zu meinem Handgelenk.
Der Rauring juckt höllisch und verschmiert das frische Blut. Heute allerdings könnte meine Chance gekommen sein, mich von dem verhassten Teil zu befreien. Der Register-Chip darin bestimmt uns von der Geburt bis zum Tod – außer WERT „adoptiert“ uns für das Nachwuchsprogramm in den Gaskraftwerken. Dann wird uns der Ring abgenommen, und wir werden neu bestimmt.
Die Firma versorgt uns nicht nur mit Wasser, Energie und revolutionärer Technologie, sondern ermöglicht uns auch ein besseres Leben. In einer halben Stunde erfahre ich, ob ich die Theorieprüfung bestanden und mich für den praktischen Aufnahmetest des WERT-Adoptenprogramms qualifiziert habe. Ich muss es unbedingt schaffen, nicht nur, um den lästigen Ring loszuwerden.
Mein Blick schweift über unseren kleinen Wohnraum, die rauen Betonwände mit den Schmirgelspuren, die beim Entfernen meiner Kinderkritzeleien entstanden sind, die unzerstörbaren Möbel aus graugrünem Plastik und das abgewetzte Sofa mit der Delle an meinem Lieblingsplatz. Ich horche auf das leise Surren der Leuchtstoffröhren, die wir zum Stromsparen gedimmt haben, höre dem rhythmischen Tropfen des Recyclingwassers zu, dem vertrauten Gluckern in den Rohrbögen, den dumpfen Vibrationen im Inneren des Lüftungssystems. Eigentlich lebt es sich hier unten ganz passabel, mal davon abgesehen, dass unsere Wohneinheiten wie Waben in einem Bienenstock aneinandergequetscht sind. Doch besser neugierige Nachbarn im Untergrund als die Gluthitze in der Staubwüste da oben. Das Problem ist, dass wir die Miete nicht mehr lange zahlen können. Es sei denn, ich werde Adoptin.
Emils vorwurfsvoller Blick holt mich aus meinen Gedanken. Rasch nehme ich ein Einmachglas vom Regal und begebe mich nebenan in Mutters Hydrokulturanlage auf Nachtkäfersuche. Dort herrscht penibelste Ordnung. Jede der akkurat aufgereihten und einzeln beleuchteten Pflanzen erhält die passende Bewässerung, die aus halbtransparenten Plastikschläuchen an ihre Wurzeln tropft. Plop-plop-plop – bei den Tomaten tropft es langsam. Plopplopplop, bei den Gurken schneller. Summende Kühlaggregate gewinnen die verdunstete Feuchtigkeit in Trinkqualität zurück.
Beim Anblick der kleinen, leuchtend roten Paprika läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Wenn man reinbeißt, explodiert der Geschmack förmlich auf der Zunge. Doch seitdem das Geld so knapp ist, müssen wir unsere Ernte verkaufen und kriegen selbst nur synthetischen Fraß auf den Tisch. Der farblose Bohnenbrei klebt am Gaumen wie Schleim und schmeckt selbst mit viel Süßstoff noch unerträglich. Wir löffeln ihn aus bräunlichen Esspapier-Schalen, die uns angeblich mit Kohlenhydraten und Ballaststoffen versorgen. Sie sehen nicht nur aus wie Recyclingkarton, sie schmecken auch genauso – aber Geschirrspülen wäre unbezahlbar.
Emil rollt mit seinen Kugelaugen,als ich mit meiner Beute in unser Wohnzimmer zurückkehre. Na endlich, scheint er zu sagen. Ich hole den ersten Käfer aus dem Glas. Mit seinen schwirrenden Flügeln und hilflos rudernden Beinen ist er genau das richtige Ziel für Emils lange Zunge, die mir den fetten Happen mit einem schmatzenden Geräusch aus der Hand pflückt. Es knirscht zweimal, und das Insekt ist zerkaut, bevor es ein weiteres Mal zappeln kann. Beim nächsten Mal passiert alles noch schneller. Nach der dritten Lieferung klettert Emil in sein Terrarium auf dem Beistelltisch neben der Küchenzeile zurück, kringelt sich dort zusammen und schließt müde erst ein Auge, dann das andere. Nun bin ich wieder allein. Ich würde auch gerne weiterschlafen wie er. Daran ist allerdings nicht zu denken. Mir graut es vor der Verkündung der Testergebnisse.
Ob das Äußere bei WERT eine Rolle spielt? Große, unsichere Augen starren mich aus der spiegelnden Scheibe unseres Zimmermonitors an. „Zu blass“, meint der Doktor bei jeder Jahresuntersuchung. Fahle Haut, stellenweise gerötet, Abschuppungen, steht in meinem Gesundheitspass. Als würde man das nicht auf den ersten Blick erkennen.
Da kein Wasser für die Morgenwäsche da ist, gehe ich noch mal in die Hydrokulturanlage und befeuchte einen Waschlappen mit Kondenswasser. Damit tupfe ich die rauen Stellen an meinen Schultern und Armen ab, einmal und schließlich ein zweites Mal, weil es so guttut. Meine dünnen und glanzlosen Haare hätten schon längst gewaschen werden müssen, allerdings muss erneut eine Katzenwäsche reichen. Mir fällt das luxuriöse Geschenk zu meinem fünfzehnten Geburtstag ein – ein Bad in einem Bottich mit Frischwasser, nur für mich! Vorsichtig stieg ich hinein. Das kühle Nass streichelte meine Haut überall gleichzeitig. Ich tauchte unter, wollte nie mehr hochkommen, hatte jedoch keine andere Wahl, prustete und schaute in das lachende Gesicht meines Vaters.
Kurz danach war er tot.
Es passierte bei den Wartungsarbeiten an den Pipelines, die das kostbare Wasser aus dem Norden zu uns ins Kontinentalland bringen. Mein Vater und seine Kollegen hatten gerade die Schweißnähte eines Segments geprüft. Todmüde stiegen sie zu Schichtende in ihr Shuttle, zogen den Anlasser – und wurden von einer Fahrzeugbombe in tausend Stücke gerissen. Terroristen. Nur ein Splitter vom Rauring meines Vaters war noch zu finden.
Die Nachricht von seinem Tod hat meine Mutter förmlich versteinert. Nicht bloß innerlich, auch ihrem Äußeren merkt man das an. Ihre Gesichtszüge wurden hart und ihre Stimme spröde. Früher, als sich lebhafte Lachfältchen statt scharfer Sorgenfurchen in ihrem Gesicht abzeichneten, wollte ich so elegant und schön sein wie sie. „Du siehst deiner Mutter immer ähnlicher“ war das ultimative Kompliment für mich. Jetzt jagen mir solche Sprüche eine Heidenangst ein. Meine Mutter will keine Musik mehr hören, keine Geschichten, einfach gar nichts mehr. Der Psychologe gab ihr zur Trauerbewältigung ein Notizbuch, in das sie schöne Erinnerungen an den Verstorbenen schreiben sollte. Meine Mutter fand das absurd, deshalb habe ich das Buch an ihrer Stelle vollgeschrieben.
Ich verdränge die bedrückenden Gedanken und setze mich vor den gläsernen Zimmermonitor, der an der Wand gegenüber vom Esstisch hängt. Die Ergebnisse der Theorieprüfung müssten jeden Moment da sein. Dann erfahre ich, ob ich die erste Runde des WERT-Aufnahmetests geschafft habe. Unruhig klopfe ich mit dem Rauring auf die Tischplatte, bis sich der Bildschirm mit einem lauten Summen einschaltet und die offizielle Sprecherin der Nordregierung erscheint.
Silvy Gold macht ihrem Namen alle Ehre. Sie trägt ihr goldblondes Haar aufwendig hochgesteckt, eine schimmernde Strähne quer über die Stirn gekämmt. Wahrscheinlich braucht sie literweise Haarspray, um den Schwung jedes Mal so perfekt hinzukriegen. Und erst das Make-up! Ihr kohlschwarzer Lidstrich ist ein kleines Kunstwerk, ihr makelloses Gesicht einfach beneidenswert. Dennoch ist sie mir irgendwie unheimlich. Sie spricht die Nachrichten schon, solange ich denken kann, allerdings scheint sie nie zu altern.
Silvy lächelt. „Guten Morgen und herzliche Grüße von WERT. Bitte identifiziere dich“, ertönt es aus ihrem vollkommenen Mund.
Ich klacke meinen Rauring gegen das Lesegerät neben dem Bildschirm.
„Vielen Dank. Wir haben dich identifiziert. Emony Keller, Siedlung 4823, Registernummer 4823371. Die Ergebnisse deiner Theorieprüfung liegen vor.“
Mein Puls hämmert.
An Silvys Miene ist nicht abzulesen, wie der Test für mich gelaufen ist. Diese Frau befasst sich nicht näher mit dem, was sie sagt. Sie leiert jeden Satz im gleichen Tonfall und mit ihrem Einheitslächeln herunter, egal, ob es sich um die Ehrung eines verdienten Bürgers oder um eine Katastrophe handelt. Man hat keinen Schimmer, was einen erwartet.
„Liebe Emony, ich habe gute Nachrichten für dich. Mit deinem Ergebnis von siebenundachtzig von hundert möglichen Punkten bist du zum praktischen Test zugelassen.“
Erleichtert atme ich aus. Mein Kopf fühlt sich seltsam leicht an.
„Herzlichen Glückwunsch im Namen der WERT-Gesellschaft. Bitte warte auf weitere Anweisungen.“ Silvy lächelt noch einmal, bevor ihr Bild verschwindet. Wer sonst noch bestanden hat, verrät sie natürlich nicht. Das ist typisch. Über die offiziellen Nachrichten erfahren wir Siedlungsbewohner kaum etwas voneinander. Klatsch und Gerüchte verbreiten sich dagegen wie ein Lauffeuer, trotz der vielen Spitzel, die Unruhestifter anschwärzen.
Also warten. Warten, warten.
Meine Fingerspitzen klopfen einen Zweivierteltakt, der bald in wildes Trommeln übergeht. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Der Theorieteil war machbar. Tektonik, Bodenphysik, Kontrolltechnik. Nicht, dass mich das interessiert hätte, doch Zahlen und Fakten kann ich mir einbläuen. Die praktischen Prüfungen sind was ganz anderes. Da geht es richtig zur Sache. Wer es schafft, weiß vorher keiner. Letztes Jahr wurde Borg abgelehnt. Borg, der einarmige Klimmzüge machen konnte oder im Handstand die Treppen runterlief. Durchtrainiert und siegessicher trat er an, am Boden zerstört kehrte er zurück. Seitdem ist er nicht mehr der Gleiche. Maya haben sie erstaunlicherweise genommen. Sie, die beim Laufen über ihre eigenen Füße fällt, stolperte geradewegs ins Adoptenprogramm. Angeblich wegen ihrer psychischen Qualitäten. Gehorsam, Linientreue und absolute Zuverlässigkeit. Alles Eigenschaften, die mir komplett fehlen.
Die Fanfare für politische Eilmeldungen reißt mich aus der Grübelei. Das allgegenwärtige WERT-Emblem mit der Nordhalbkugel, aus der unten Steckerkontakte wachsen, taucht auf dem Bildschirm auf. Dann wird der Monitor schwarz, und aus der Dunkelheit erscheint das fleischige Gesicht von Santos Sark. Die Kamera fährt langsam zurück, um den Energie-Senator und WERT-Direktor in ganzer Größe zu zeigen. Wie immer steht der mächtigste Mann der Welt, das spärliche steingraue Haar schnurgerade über den Kopf gebürstet, hinter einem Rednerpult und schaut staatstragend in die Kamera.
„Liebe Bürgerinnen und Bürger. Heute wende ich mich mit einer wichtigen und besorgniserregenden Mitteilung an Sie. Letzte Nacht wurde erneut ein Anschlag auf die Wasserversorgung im Kontinentalland verübt. Die Nord-Süd-Pipeline Nummer zweiundvierzig wurde dabei schwer beschädigt, zwanzigtausend Kubikmeter Wasser gingen verloren.“
Neben Sark erscheinen Fotos der beschädigten Pipeline, auf der die Terroristen ihr Erkennungszeichen hinterlassen haben. Sie machen aus dem Stecker-Symbol von WERT einen furchterregenden Schlangenkopf, verwandeln seine gelben Kontinente in stechende Augen und seine Metallkontakte in blitzende Giftzähne. Das Bild sprühen sie auf Wasserleitungen, Schleusentüren und Lüftungsaggregate. Wir waren da, sagen sie damit. Ihr seid nirgends sicher.
„Solche Anschläge führen zu Wasserknappheit, daher ist die Erhöhung der Literpreise unumgänglich“, erklärt der Senator. Ich mag seine Stimme nicht. Sie klingt irgendwie glitschig, wie der giftige Schleim, den ich jede Woche aus den Leitungen der Hydrokulturanlage herauskratzen muss. Als Sarks schmierige Worte in mein Bewusstsein kriechen, beginnen meine Ohren unangenehm zu kribbeln. Es ist, als würden mir Ameisen in die Gehörgänge kriechen. Ich balle die Fäuste zur Verteidigung gegen die fiktiven Krabbeltiere.
„Die bestmögliche Versorgung des Kontinentallands ist bei WERT unsere absolute Priorität, deshalb trifft uns dieser perfide Anschlag zutiefst.“ Mich dagegen treffen Sarks Worte wie eine neue Ameisenattacke. Die imaginären Insekten beißen sich an meinen Ohrläppchen fest, versenken ihre Zangen in meiner Haut, spritzen ihr brennendes Gift in die Wunden und hinterlassen rote Flecken.
„Aber – wir – sehen – nicht – tatenlos zu“, spricht Sark weiter. Seine Stimme jagt die Ameisen von meinem Hals über die Schultern bis zu meinen Händen hinunter. Es sticht und juckt zum Verrücktwerden.
„Der Mensch kommt bei uns immer zuerst, daher werden wir alle verfügbaren Ressourcen einsetzen, um die Versorgungslücke zu schließen“, verkündet der Senator. Sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln, das allerdings nur die untere Gesichtshälfte erreicht. Sarks Augen strahlen Kälte aus und übermitteln eine andere Botschaft: Überheblichkeit, Verachtung, Bedrohung. So empfinde ich es zumindest.
„Unsere Tankwagen sind bereits zu den Siedlungen 4800 bis 4900 unterwegs. Bis Ihre Wohnungen wieder direkt beliefert werden können, erhalten Sie Ihre Tagesrationen bei den Sammelpunkten an der Oberfläche.“
Stocksteif sitze ich da. Der Juckreiz und Kratzzwang wird unerträglich. Doch ich darf mich nicht kratzen. Nicht kratzen. Nicht. Kratzen. Nicht … Ich reibe über die wunden Stellen an meinem Hals.
So ergeht es mir immer, wenn ich Lügen höre.
Das war früher brandgefährlich für mich und meine Eltern. Schon am ersten Schultag habe ich der scheinheiligen Lehrerin auf den Kopf zugesagt, dass sie lügt. Als sie mich mit zuckersüßen Belehrungen ruhigstellen wollte, brach mein Jähzorn durch. Schreiend stampfte ich mit den Füßen auf und wurde vorzeitig heimgeschickt. Am nächsten Tag musste ich zum Psychotest. Beim Gedanken daran rast mein Puls heute noch. Mein Vater hat dafür mit mir geübt und geübt, bis ich die richtigen Antworten ruhig aufsagen konnte. Zumindest daheim in der Wohnung hat es geklappt. Beim Test lief es trotzdem nur mäßig. Der Sondertrakt für Verrückte blieb mir erspart, doch der Schulleiter empfahl Heimunterricht. Das war eine schwere Aufgabe für meinen Vater, der nach seinen Nachtschichten als Schweißer an der Pipeline immer völlig erschöpft war. Manchmal ist er vor den Lehrbüchern eingeschlafen.
Ich betrachte meine Fingernägel. Die sind die größte Gefahr, wenn mich der Kratzzwang überfällt. Sie müssen immer schön rund und glatt gefeilt sein. Dennoch ist die Haut an meinem Hals schuppig und rau, an den frischen Kratzwunden schmerzhaft entzündet.
Der Arzt diagnostizierte Ignigitis, die „Feuerkrankheit“. Daraufhin folgten endlose Allergietests, die allesamt kein Ergebnis brachten. Ich hätte denen schon erzählen können, was mir fehlt: Ich bin allergisch gegen Lügen.
Oder ich bin wirklich verrückt.
2. Kapitel
Beim Blick auf die Uhr schrecke ich auf. Schon so spät! Ich muss noch am Sammelpunkt Wasser holen. Schnell halte ich meinen Rauring an das Lesegerät neben unserem Nachrichtenschirm, um unseren Kontostand aufzurufen. Er ist auf dreißig Liqui gefallen. Ich lade den ganzen Betrag auf meinen Ring.
Danach nehme ich Mutters rostbraunen Schutzoverall vom Haken. Der steife Kunststoffanzug widersetzt sich hartnäckig, als ich meine Beine hineinzwänge und die Arme in die engen Ärmelschläuche winde. Ich ruckle an dem verrosteten Reißverschluss, bis er sich knirschend bewegt. Die klobigen Stiefel reichen mir bis zum Knie. Sie miefen ekelhaft, aber sie sind notwendig. Ich könnte schließlich auf eine Sandviper treten. Früher, als es hier noch geregnet hat, lebten diese Giftschlangen in Büschen und Wäldern. Heute dagegen verhalten sich sie entsprechend ihrem Namen. Sie graben sich in den Sand ein, um auf Springmäuse zu lauern. So sind sie praktisch unsichtbar, können jedoch pfeilschnell zubeißen. Ihre Opfer sterben binnen weniger Minuten.
Aufmerksam klappe ich die Knieverstärkung des Anzugs über die Stiefelschäfte, klette sie fest und ziehe die Handschuhe an. Jetzt ist das Ganze auch skorpiondicht. Fehlt nur noch die Schutzbrille. Zum Schluss klappe ich die Kapuze hoch und zurre sie am Kinn zusammen. Das hasse ich, weil ich durch die dicke Plastikplane kaum etwas höre. Ich fühle mich taub, wie unter einer Taucherglocke. Aber ohne Kopfbedeckung verfilzen meine Haare komplett.
Mit dem Wasserkanister stapfe ich zur nächsten Schleuse, die an die Oberfläche führt. Ich lasse die Innentür hinter mir zugleiten und passe auf, dass sie dicht abschließt. Danach betätige ich den Öffner für das schwere Außentor. Sofort fährt mir heißer Staub in die Lunge.
Trocken huste ich. Ein Staubsturm! Das hat mir gerade noch gefehlt. Hastig krame ich in der Tasche des Anzugs nach dem Atemschutz. Ich drücke ihn auf meinen Mund und binde ihn mit zitternden Fingern fest, bevor mir die Luft ganz wegbleibt.
Der Tag hat kaum begonnen, aber die Kälte der Nacht ist bereits verpufft. In einer halben Stunde wird die Hitze unerträglich sein. Wir leben schließlich im Kontinentalland mit seiner Steppenwüste, die sich vom dreißigsten bis zum sechzigsten nördlichen Breitengrad rund um den Globus zieht. Dieser Wüstenring ist so lebensfeindlich, dass wir ihn Rauring nennen, wie unseren Registerarmreif. Raues Klima, raues Leben.
Der böige Westwind heult mir um die vermummten Ohren. Mit aller Kraft stemme ich mich dagegen und schwanke dennoch wie eine Betrunkene. An der Oberfläche ist es hier echt nicht auszuhalten. Weiter südlich, in der Region, die wir Unland nennen, soll es noch schlimmer sein. Dort kann man selbst unter der Erde nicht mehr wohnen.
Mit meinen schweren Stiefeln stampfe ich in die Richtung, wo der Tankwagen sein muss. Normalerweise könnte man am Ende des Tals den Kraftwerksturm 48Delta erspähen, wo sie rund um die Uhr nach Gas bohren, heute allerdings kann man bloß ein paar Meter weit schauen. Staub, Sand und Erde prasseln gegen den Synthetikstoff meiner Kapuze.
Der Staub ist eine echte Plage.
Er ist einfach überall. Er kriecht durch die trübe Schutzbrille meiner Mutter, die bei mir nicht richtig sitzt. Schleicht sich unter die Kapuze, egal, wie eng ich sie festknote. Krallt sich in die Haare und schleift jeden Glanz heraus, bis sie matt und strohig sind. Und alles knackt und knirscht.
Vor dem Tankwagen stehen die Wasserholer bereits Schlange. Als ich dran bin, öffne ich den Klettverschluss am rechten Handgelenk, schiebe den Stoff zurück, bis mein Rauring freiliegt, und halte den Register-Chip zum Bezahlen an den Scanner. Was, zwanzig Liqui? Gestern hat die Ration noch achtzehn gekostet. Da wurde Sarks Preiserhöhung blitzschnell umgesetzt. Noch mehr Ärger steigt in mir hoch, sobald ich bemerke, dass der Kanister nicht ganz bis zum Strich aufgefüllt ist. Aber Reklamieren bringt nichts. Schlecht eingeschenkt wurde hier schon immer.
Auf dem Rückweg spüre ich plötzlich eine Hand auf der Schulter. Eine vermummte Gestalt winkt mit ihren Händen vor meinem Gesicht herum. An der plattgedrückten blonden Strähne, die aus der Kapuze lugt, und dem fröhlichen Funkeln in den Augen, die unter der Schutzbrille herausblitzen, erkenne ich Felix Omen, meinen besten Freund aus dem Nachbartrakt. Er ruft irgendetwas, doch wegen des fauchenden Sturms kommen bei mir nur dumpfe Laute an.
„Was?“ Ich deute auf meine verdeckten Ohren.
Felix lehnt sich ganz nahe zu mir und schreit gegen den Wind an. „Der – Theorietest. – Hast – du – auch – bestanden?“
Ich nicke und hebe einen behandschuhten Daumen hoch. Felix ballt eine Siegerfaust und streckt mir die Hand entgegen. Als ich einschlage, kann ich mir das breite Grinsen unter den Lamellen seines Mundschutzes lebhaft vorstellen.
Gemeinsam laufen wir weiter. Der Wasserkanister hat meinen rechten Arm schon so lang gezogen, dass ich die Seite wechseln muss. Felix lässt sich von der Anstrengung nichts anmerken und nutzt seine freie Hand für allerlei pantomimische Darstellungen. Er kann einfach nie den Mund halten. Wenn er wie jetzt mal für kurze Zeit nicht quatschen kann, ist das eine richtige Qual für ihn. Also redet er sozusagen mit den Händen. Er deutet einen schwirrenden Kopf und ein explodierendes Gehirn für den Theorietest an und streckt sich zu einer Heldenpose, vermutlich im Takt der WERT-Fanfare.
„Ziemlich überdreht“, stoße ich seufzend hervor. Er kann mich ja nicht hören.
Überaktiv steht in seinem Gesundheitspass.Die Ärzte empfehlen Medikamente, aber die nimmt Felix nicht, denn seine Eltern stehen voll und ganz hinter ihm. „Unser Felix ist schon richtig, so wie er ist“, sagt seine Mutter immer, wenn sich jemand über ihn beschwert.
Jetzt stellt sich Felix auf die Zehenspitzen und reckt das Kinn. Ich erkenne die gestelzte Gestik von Senator Sark. Felix beugt sich zu mir, seine Finger krabbeln von meinen Ohren über meine Arme herunter. Er spielt damit auf das Lügenfeuer an und fragt, ob es bei Sarks Auftritt erneut entflammt ist. Ich nicke.
Wenigstens einer versteht mich.
Endlich taucht die Silhouette unseres Siedlungshügels im Staubwirbel auf. Wir marschieren auf das Tor in seinem Nordhang zu und betreten zusammen mit drei anderen die Schleuse. Nachdem sich die schwere Tür geschlossen hat, bläst uns der Reinigungsföhn an. Wie schwerfällige Tänzer drehen wir uns vor dem kräftigen Luftstrom, klopfen den Staub aus unseren Schutzanzügen und trampeln den Sand aus dem Profil unserer Stiefel.
Kaum stoppt der Föhn, reißt sich Felix den Mundschutz vom Gesicht. „Bah, was für ein Dreck“, bricht es aus ihm heraus. „Wir haben mehr Wüste mitgebracht als Wasser.“ Niemand antwortet ihm. Öffentliche Beschwerden über die Zustände im Rauring sind wirklich nicht ratsam.
Ich suche jede Falte meiner Schutzkleidung nach Skorpionen ab. Die giftigen Viecher werden höchstens fünf Zentimeter lang und nehmen von glasig-transparent über beige, braun und rot alle Farben der Wüste an. Mit ihrer perfekten Tarnung sind sie leicht zu übersehen.
„Na, alles krabbelfrei?“, fragt Felix und wuschelt sich den Staub aus den widerspenstig abstehenden Haaren. Als ich niesen muss, lacht er und lässt seinen Talisman vor meiner Nase baumeln. Den glitzernden Weltkugel-Anhänger von der Größe eines Tischtennisballs hat er immer dabei. Er benutzt ihn als Glücksbringer, rubbelt daran und küsst ihn, wenn er ein Spiel gewinnen will, oder flüstert ihm zu, was er sich wünscht. Ziemlich schrullig, doch irgendwie auch süß.
Jetzt reflektiert der glänzende Miniatur-Globus das Neonlicht der Schleuse. Er zeigt erstaunlich grüne Kontinente, wie sie in meinem Geschichtsbuch abgebildet sind. Vor zweihundert Jahren war in unserer Heimat nördlich der Alpen wirklich noch alles grün. Es gab schattige Wälder, Flüsse mit Schiffen darauf, sogar Seen zum Baden. Heute sind da nur noch Sand und Steine, soweit das Auge reicht. Nicht zu vergessen natürlich die Skorpione und Schlangen. Die einzige gute Klimazone, die wir heimlich Regenring nennen, war früher komplett mit Eis bedeckt. Die weiße Polkappe glitzert auf dem Erdball in Felix‘ Hand. Unvorstellbar.
Zurück in der Wohnung begrüßt mich meine Mutter mit den neuesten Nachrichten. „Dein Termin für die praktische Prüfung ist gekommen. Du bist Punkt zehn Uhr dran, sollst dich an der Pforte des Verwaltungstrakts melden.“
„Danke, ich werde mich beeilen.“ Das muss ich wirklich, denn ich habe nur noch zwanzig Minuten.
Meine Mutter wiederholt die offizielle Ansage in bemüht ruhigem Ton. „Wenn du bestehst, holt dich gleich im Anschluss ein Schnelltransporter ab und bringt dich ins Trainingszentrum nach Polaris. Du sollst keine persönlichen Gegenstände mitbringen, WERT wird dich rundum versorgen.“
Mir wird die Kehle eng. Falls ich den Test schaffe, kehre ich lange nicht mehr zurück. Ich spüre einen Kloß im Hals und heißen Druck auf den Augen. Bloß nicht weinen. Ich schlucke und versuche, meine zitternde Stimme zu kontrollieren. „Danke, Mama“, ist alles, was ich herausbringe, bevor ich mich an unseren kantigen Esstisch setze.
Meine Mutter füllt eine Schale mit Bohnenbrei und nimmt mir gegenüber Platz. Neben meine Esspappschachtel legt sie mir die Tagesration Vitaminpillen. Unsere frischen Paprika müssen wir verscherbeln, dafür pumpen wir uns mit billiger, von WERT gesponserter Vitamin-Chemie voll.
Anstatt die Tabletten einzuwerfen, ordne ich sie nach der Farbe. Gelb. Orange. Rot. Violett. Die ganze Zeit lastet der Blick meiner Mutter auf mir. Sorge, Wehmut und ein Schimmer Hoffnung spiegeln sich darin wider. Immer wieder holt sie Luft, als wollte sie etwas sagen, schweigt dann aber doch.
Um der drückenden Stimmung zu entfliehen, stehe ich auf und wende mich meinem Chamäleon zu. Ich öffne die Abdeckung des Terrariums, und Emil greift mit seinen Klammerzehen nach meiner Hand. Flink klettert er auf meinen Arm. Emil dreht ein Auge zu mir und das andere zu meiner Mutter, fast so, als wüsste er, wer ihn ab sofort füttert. Zum Abschied lässt er sich sogar über den stacheligen Rückenkamm streicheln, wobei sich die Schuppen unter meinen Fingern verfärben. Seine Seitenstreifen werden erst gelb, dann orange und nehmen schließlich ein leuchtendes Rot an. Als er mich aus seinen Kugelaugen anschaut, spüre ich neue Kraft. Ich schaffe das.
Ich schaffe das. Ich schaffe das.
Draußen vor der Tür höre ich Felix pfeifen. Schon fünf vor zehn! Hastig lasse ich Emil runter, umarme meine Mutter und drücke sie. Sie wendet sich ab, damit ich ihre Tränen nicht sehe.
Ich spurte hinter Felix her. Auf dem Weg zum Verwaltungstrakt laufe ich schnaufend neben ihm, während er über die möglichen Prüfungen spekuliert. „Vor ein paar Jahren haben sie Altrussisches Roulette nachgestellt“, behauptet er, „mit elektromagnetischen Pistolen. Die Chancen stehen eins zu sechs, dass die Waffe scharf ist.“
„So ein Quatsch. Das glaubt doch niemand.“
„Dann glaubst du es halt nicht. Aber gefährlich sind die Prüfungen immer.“
Mein Magen zieht sich zusammen. Da hat er recht. Das erzählt jeder.
„Wir müssen uns zusammentun“, meint Felix. „Als Team sind wir unschlagbar.“ Seinen Optimismus möchte ich haben.
Felix schlägt Pfeifzeichen zur geheimen Verständigung vor. Eine ansteigende Tonleiter gilt als Hilferuf, eine fallende bedeutet „Mach‘s wie ich“, und drei konstante Pfiffe heißen „Keine Ahnung“. Bittend blickt er mich von der Seite an.
„Okay, okay“, stimme ich seufzend zu. Irgendeinen Plan sollten wir haben. Dummerweise weist uns ein Angestellter des Testbüros sofort in getrennte Warteräume ein. Wir können nur noch schnell unsere Rauringe aneinanderklicken. „Das bringt Glück“, erklärt Felix noch schnell, bevor uns die Testleiter in unsere Kabinen bugsieren.
So viel zu unserem fantastischen Plan.
Während ich allein in dem kleinen Raum sitze, schaue ich mich aufmerksam um. Ein Regal mit diversen Gerätschaften füllt die gegenüberliegende Wand des schmalen Zimmers. Neben gläsernen Scanner-Röhren in unterschiedlichen Größen, den dazugehörigen Stativen, Ladestationen und Eingabepads liegen auch Integralhelme verschiedener Größen darin aufgereiht. In dem schummrigen Licht sehen sie aus wie eine Armada von Geisterkriegern, die nur darauf warten, zum Leben erweckt zu werden. Mein Gesicht spiegelt sich grotesk verzerrt in den Visieren der Helme.
Energische Schritte schrecken mich auf. Sie gehören zu einem athletischen Mann, der mit seinem dünnen schwarzen Overall aus dem Regenring stammen muss. So etwas Schickes trägt hier niemand.
„Emony Keller?“ Er spricht, wie er geht, schnell und zackig.
„Ja.“
Nach einem kurzen Blick auf seine Liste tritt er zum Regal und reicht mir einen Helm.
„Was ist das?“
„Ein Gehirnstrommesser. Aufsetzen.“
Ich hebe den erstaunlich leichten Helm hoch und senke ihn mit zittrigen Fingern über meine heiß glühenden Ohren. Sofort beschlägt mein Atem die Innenseite des Visiers. Das Zimmer um mich herum erscheint verzerrt. Ich kneife die Augen zusammen und kämpfe gegen ein aufsteigendes Schwindelgefühl an.
„Ich kann so schlecht sehen.“ Meine Stimme hallt dumpf in dem engen Helm wider.
„Das kommt von der Wölbung des Glases“, erwidert der Overallträger mit blecherner Stimme. Meine Haut juckt unter dem Helm, und sein Metallverschluss drückt mir an den Kehlkopf. Mir ist schlecht. Hoffentlich muss ich nicht gleich kotzen.
Der Testleiter bedeutet mir, vor die Tür an der Stirnseite der Wartekammer zu treten. Plötzlich öffnet sie sich, und ich kippe vor Schreck fast um.
Vor mir klafft ein quadratischer Betonschacht. Er ist so dunkel und tief, dass man den Boden kaum erkennt. Ich wusste nicht, dass unterhalb unserer Wohnetagen noch so weit hinuntergegraben wurde. Den Schacht überbrückt ein schmaler, rostiger Gittersteg.
„Auf den Steg treten.“
Das hatte ich befürchtet. Vorsichtig setze ich einen Fuß darauf. Das Metall quietscht und gibt nach. Ich atme tief ein und ziehe das zweite Bein nach.
Nur nicht runterschauen, ermahne ich mich.
Am anderen Ende der schmalen Brücke öffnet sich eine zweite Tür. Eine Gestalt, die ebenfalls einen Helm trägt, zuckt vor dem Abgrund zurück, blickt sich noch einmal um und betritt zögerlich den Steg. Mein Gegenüber ist genauso angezogen wie ich, allerdings größer, kräftiger, männlicher. Er guckt in die Tiefe und schwankt leicht. Unsicher bewegt er sich auf mich zu. Während er näher kommt, atme ich erleichtert auf, denn hinter dem spiegelnden Visier erkenne ich Felix.
Ich pfeife drei monotone Töne, die unter der Kopfbedeckung widerhallen, doch Felix reagiert nicht. Vorsichtig winke ich ihm zu. Anstatt auf unseren Geheimcode zu reagieren, starrt er mich nur ausdruckslos an. Ihm ist noch übler als mir, schätze ich.
„Der Auftrag lautet: den Gegner vom Steg werfen“, verkündet der Testleiter.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Wie bitte? Was???
Ich kann Felix doch nicht in den Abgrund werfen! Diesen Sturz überlebt niemand. Wollen sie uns etwa zu Mördern ausbilden? Wir bewerben uns als Kraftwerksarbeiter, nicht als Auftragskiller. Ich schaue mich nach dem Overallträger um, allerdings ist der nicht mehr da und hat die Tür hinter mir schon geschlossen.
Felix ist wie versteinert. Das Kinn vorgereckt, horcht er auf weitere Erklärungen. Bestimmt denkt er das Gleiche wie ich: Das können die nicht ernst meinen. Da dürfen wir nicht mitmachen! Er wird mir nichts tun, ich ihm auch nicht. So gibt es keine Verletzten, keine Verlierer. Und auch keinen Sieger. Damit sind wir durchgefallen. Beide.
Felix tritt einen Schritt auf mich zu und hebt die Hände. Mein Kopf ruckt hoch. Was soll das werden? Ich kann mich auf ihn verlassen – oder? Er wird doch nicht …
Sein harter Stoß gegen meine Brust trifft mich völlig unvorbereitet. Panisch schreie ich auf. Kralle mich reflexartig an ihm fest. Verliere das Gleichgewicht, reiße ihn fast mit mir, lasse allerdings nicht los. Wir schwanken gemeinsam auf dem schmalen Steg. Mein Griff ist fast wie eine Umarmung. Ich will meinen Kopf drehen, um ihm in die Augen zu schauen. Vergebens. Er weicht meinem Blick aus. Stattdessen spüre ich, wie sich seine Muskeln verkrampfen.
„Felix!“, schreie ich. „Bitte! Tu das nicht!“
Mit einer schnellen Armdrehung hebelt er meinen Griff aus und kickt mir die Beine weg. Angst schießt wie ein brennender Pfeil durch meinen Körper, bevor ich krachend auf dem Rücken lande. Der Aufprall auf dem harten Gitter presst mir die Luft aus der Lunge. Ein unkontrolliertes Rasseln kommt aus meinem Hals.
„Felix, bitte!“ Mein jämmerliches Krächzen würde einen Stein erweichen. Aber nicht meinen besten Freund. Der starrt nur mit leerem Blick auf mich herunter. Ein stummer Fremder.
Stumm? Da ist doch was faul. Keine Pfeifzeichen. Keine Reaktion. Der Angriff. Das Brennen in meinen Ohren. Ich schnappe nach Luft. Nichts hier ist real! Weder Felix noch der Schacht. Die Testleiter verarschen uns. Sie täuschen uns vor, unsere Freunde würden uns angreifen. Hetzen uns gegeneinander. Lügen uns an, treiben perverse Psychospiele mit uns. Die verfluchten Schweine!
Als ich dem falschen Felix in sein wächsernes Gesicht schaue, kocht die Wut in mir hoch. Zornig trete ich meinem Kontrahenten gegen das Schienbein. Der fliegt mit einem dumpfen Brüllen vom Steg. Ich rapple mich auf, mein Atem geht stoßweise.
„Hinterherspringen“, befiehlt der Testleiter.
Ohne zu zögern, mache ich einen Schritt ins Leere.
3. Kapitel
Ich lande mit den Füßen voran, kippe auf die Knie und fange mich mit den Händen ab. Meine Handballen versinken in einer weichen Matte. Ich lasse mich auf die Seite fallen und bleibe keuchend liegen.
Mein rasender Puls beruhigt sich nur langsam. Sie wollten nie, dass wir uns gegenseitig umbringen. Wir sollten das nur glauben, um den ultimativen Gehorsam zu beweisen. Wenn WERT uns befiehlt zu springen, springen wir. Wenn sie uns befehlen, den besten Freund in einen Schacht zu stoßen, tun wir das. Darum geht es hier also. Diese Erkenntnis hinterlässt einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.
„Helme abnehmen“, verlangt der Testleiter.
Ich hatte recht. Der bodenlose Schacht war ein Trugbild. Wir sind bloß eineinhalb Meter tief gefallen. Lediglich der Steg war echt.
Stöhnend reibt sich mein Gegner das Schienbein. Der rundköpfige Junge mit den schwarzen Stoppelhaaren muss aus einem anderen Trakt kommen, denn ich kenne ihn nur flüchtig vom Sehen.
„Tray Banner, nach links zu den Verlierern. Emony Keller, nach rechts zu den Siegern“, tönt es aus dem Lautsprecher. Feindselig starrt Tray mich an. Ich strecke meinen schmerzenden Rücken durch und folge dem Testleiter, der bereits im rechten Korridor verschwunden ist.
Dort wartet schon Felix. „Emo, du hast es geschafft!“ Freudestrahlend rennt er auf mich zu und umarmt mich ungestüm. Er drückt mich so fest an sich, dass mir ein gepresstes „Uff“ entweicht. Als er mich auf die Wange küsst, streifen seine Lippen plötzlich meinen Mundwinkel. Das überrumpelt mich fast noch mehr. Überrascht lache ich auf, schnell lässt Felix mich los und zieht verschämt grinsend den Kopf ein. Seine Wangen laufen knallrot an. Ich lache noch mal, um die peinliche Situation zu überspielen, und strecke ihm die erhobene Handfläche entgegen. Dankbar schlägt er ein.
Das ungeduldige Winken des Testleiters kommt uns jetzt gerade recht. Wir folgen ihm eilig. Nach ein paar Schritten hat sich Felix schon wieder gefangen. „Bei dem Test warst du klar im Vorteil, oder?“, sagt er, womit er mein Lügenfeuer meint.
„Zuerst war ich zu langsam. Fast hättest du mich runtergeworfen – oder zumindest der Typ, dem sie dein Gesicht aufgesetzt haben. Gegen wen bist du eigentlich angetreten?“
„Gegen dich natürlich.“ Felix schaut mich von der Seite an.
Verwirrt runzle ich die Stirn. „Und wie hast du bestanden?“
„Na das war doch klar. Ich pfeife, und du spurst nicht? Da war ich gleich fertig mit dir“, erwidert Felix provokant grinsend.
Ich starre ihn ungläubig an.
„Nur Spaß“, schiebt er nach und knufft mich in die Seite. „Mir war sofort klar, dass du das nicht sein kannst. Die Tussi auf dem Steg hat gar nicht auf mich reagiert. So ein Pokerface hast du nicht drauf. Dir sieht man sofort an, was dir durch den Kopf schießt.“
Dass das mal nützlich sein wird, hätte ich nie gedacht.
Der Testleiter bringt uns zur Transportschleuse. Während wir ihm hinterherlaufen, überfällt mich plötzlich so etwas wie Heimweh. Was natürlich absurd ist, schließlich habe ich meine Siedlung noch nicht einmal verlassen. Aber in wenigen Minuten muss ich es tun. Ich lasse meine Finger an der rauen Betonwand des Korridors, an den fleckigen, mit abgewetzten WERT-Werbestickern beklebten Abluftrohren und den vibrierenden, heißen Generatorkästen entlanggleiten. Ich horche auf das Rauschen der Klimaanlage und blinzle in die gelbstichigen, von toten Insekten gesprenkelten Lichtschienen. Meine Mutter nimmt die trüben Plastikverkleidungen der Neonröhren alle drei Monate ab, dabei hat sie nicht die geringste Chance gegen die Selbstmordmücken.
Beim Anblick der Röhren wird mir seltsam zumute. Wann komme ich wieder hierher zurück? Wenn ich aus dem Adoptenprogramm rausfliege, dann schon ganz bald. Aber das darf nicht passieren.
Unter der Schleuse wartet ein kleines schwarz-weißes Flugzeug auf uns. Mit seinem glänzenden Äußeren und den schnittig-fließenden Formen wirkt der Jet zwischen dem klobigen Sichtbeton unserer Siedlung wie ein Fremdkörper. Wie ein elegantes, exotisches Tier, das gefangen und in einen Käfig eingesperrt wurde. Mein Vater hat mir einmal ein Foto von den schwarz-weißen Killerwalen gezeigt, die vor etwa hundertfünfzig Jahren ausgestorben sind. Diese Maschine sieht aus wie ein metallener Orca mit weißem Bauch und schwarzen Stummelflügeln. „Wow“, stößt Felix hervor und pfeift beeindruckt. Während wir die Gangway hinaufsteigen, streiche ich andächtig an dem mattschwarzen Geländer entlang. Das gebürstete Metall fühlt sich kühl und glatt unter meiner Handfläche an.
In dem taghell erleuchteten Innenraum des Fliegers warten schon die anderen Kandidaten. Zusammen mit uns fliegen sie zum Regenring. Felix berührt mit der rechten Hand seine Brust dort, wo das Herz schlägt, und klopft mit der linken auf seinen Rauring. Das ist die offizielle Begrüßung in unseren Siedlungen. Felix vollführt den Gruß mit feierlicher Miene, aber nur vereinzelt kommen reservierte Gesten zurück. Manche der anderen Adoptenanwärter starren uns richtig feindselig an – Konkurrenz liegt in der Luft. In dieser angespannten Atmosphäre fällt das schüchterne Lächeln eines rothaarigen Mädchens in der zweiten Sitzreihe besonders auf. Links und rechts von ihr sind noch Plätze frei, also nehmen wir sie in die Mitte. Ich ergattere den Fensterplatz.
In letzter Minute läuft schnaufend ein kleiner, pickliger Junge die Treppe hoch und bleibt unsicher im Gang stehen. „Hallo, ich bin Morry“, bringt er keuchend hervor. Weil keiner antwortet, schluckt er und fügt hinzu: „Morry Klein.“
„Das sehen wir“, ruft einer von hinten.
„Platz nehmen, anschnallen“, ertönt es aus dem Lautsprecher, und Morry sinkt in den letzten leeren Sitz.
Die Einstiegstür des Transporters schließt sich mit einem leisen Klicken, metallische Anschnallbügel senken sich über uns und fixieren uns auf den glatten Sesseln. Ich wage es kaum, mich in den schicken Sitzen zurückzulehnen. Unsere Polstermöbel zu Hause sind rissig und verschlissen. Diese riechen nach Lederimprägnierung und glänzen, als hätte noch nie jemand drauf gesessen.
Gedämpft hören wir das Schleifen der stählernen Schleusendecke, die sich langsam über uns öffnet. Der Antrieb des Transporters startet mit einem vibrierenden Summen. Als der Flieger senkrecht in den Himmel schießt, kribbelt es in meinem Magen.
„Wow, ultra-frisch!“, entfährt es Felix beim Start der Maschine. Niemand antwortet, und er behält weitere Kommentare für sich.
Nachdem wir die Flughöhe erreicht haben, geht das Brausen des Motors in ein sanftes Schnurren über. Ich schaue aus dem kugelrunden Fenster und sehe meine Heimat zum ersten Mal von oben. Dunkle, zerklüftete Hügelketten ragen wie langgezogene Inseln aus den rötlich-weichen Sanddünen. Immer wieder erkenne ich schwarz-graue Erhebungen mit bunten Flecken, die rundum von Förderbändern umgeben sind – gigantische Müllkippen für den Sonderabfall des Regenrings. Weiter hinten funkelt in der Sonne die schnurgerade stählerne Pipeline. Auf der plattgewalzten Piste daneben bewegt sich ein Pipeline-Shuttle im Schneckentempo voran und wirbelt Wolken von Wüstenstaub auf. Von hier oben wirkt das massive Panzerfahrzeug wie ein Spielzeugauto.
Unser Flieger beschleunigt und jagt entlang der Pipeline nach Norden. Die Fensterblenden schließen sich, sodass ich mir die verdorrte Welt unter uns nur noch vorstellen kann. Der Bau und die Wartung der Pipelines sind Arbeiten „erster Gefahrenordnung“. Mörderische Hitze, schädliche Sonnenstrahlung und immer häufigere Anschläge: Mein Vater war nicht der Erste und nicht der Letzte, der dabei ums Leben kam. Behutsam greife ich nach seinem Rauringsplitter an meiner Halskette. WERT hat uns zwar verboten, Privatgegenstände mitzunehmen, doch von dem Erinnerungsstück kann ich mich unmöglich trennen, sei es auch nur für eine Weile. Das kantige Metallstück ist das Einzige, was mir von meinem Vater geblieben ist. Warum gerade er? Wieso nur? Die Welt ist so ungerecht, schießt es mir durch den Kopf. Ich presse die Lippen zusammen, wie so oft in letzter Zeit.
Das Mädchen neben mir streckt sich in ihrem Sitz. Ich habe noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt, ganz im Gegensatz zu Felix, der sie offensichtlich sofort angesprochen hat. Gerade lässt er seinen Talisman vor ihren Augen baumeln, die sie vor Erstaunen weit aufgerissen hat. Mich wundert es nicht, dass auch er sich über das Privatsachen-Verbot hinweggesetzt hat. Ich kann ihn verstehen. Wer lässt schon freiwillig sein Glück zurück?
Vorsichtig, fast ehrfürchtig greift die Rothaarige nach dem Schmuckstück und betastet es mit ihren schlanken Fingern. Der kleine Globus fasziniert jeden, der ihn zum ersten Mal sieht. Sonnyboy Felix mit seinen schrägen Sprüchen ist ebenfalls allseits beliebt. Mit ihm gibt es immer etwas zu lachen. Dennoch verbringt er seine Zeit am liebsten mit mir, seiner alten Sandkastenfreundin. Ich bin froh darüber, denn ein Kumpel wie er ist unersetzlich. Mit Felix kann ich über alles reden, ohne dass ich je Angst haben müsste, er könnte das gegen mich verwenden. Seine Beinahe-Knutschattacke von vorhin hat mich schon verwirrt und war auch ein bisschen daneben, aber was soll’s – war bestimmt ein Versehen.
„Hallo, ich bin Emony“, mische ich mich in sein Gespräch ein.
„Hallo, Emony“, antwortet das Mädchen unsicher und schaut mich an. Ihr Kopf mit den dichten roten Locken und den riesigen grünen Augen scheint nicht zu ihrer schmalen Statur zu passen. Wie konnte so eine zarte Person nur diesen fiesen Aufnahmetest bestehen, frage ich mich.
„Mila weiß alles über Klimageschichte“, informiert mich Felix und schwenkt seinen Talisman hin und her, bevor er ihn wieder wegpackt. „Und über Petrografie, du weißt schon, Felsenkunde. Sie hat die Lerndateien komplett inhaliert.“
Verlegen lächelt Mila. „Petrografie ist mein Lieblingsfach. Die Erde hat so viele verschiedene Gesteine, und wir wohnen mittendrin. Ihr seid bestimmt auch neugierig, was hinter eurer Zimmerwand kommt, oder?“
„Nur der Technikraum, wir wohnen in der hintersten Ecke“, antwortet Felix. „Petrografie ist mir zu hoch. Schiefer, Schluff, Schlacke … die ganzen Feinheiten merkt sich kein Mensch! Im Test war ich nur bei den Kontrollkommandos gut.“
„Die muss man einfach nur auswendig lernen“, erwidere ich.
„Ein Hoch auf die Rumkommandier-Kunde“, sagt Felix. Die Anweisungskürzel der WERT-Zentrale für Gasbohrungen zu pauken, ist ziemlich stumpfsinnig, da hat er recht, aber das waren geschenkte Punkte.
„Emony war im Theorietest übrigens richtig gut“, redet Felix weiter. „Sie hat siebenundachtzig Punkte erzielt. Bei mir hat es nur für fünfundsiebzig gereicht, so dass ich mit Ach und Krach ins Programm reingerutscht bin.“ Seine Offenheit überrascht mich immer wieder.
„Was war denn deine Punktzahl?“, fragt er Mila.
Die duckt sich zwischen ihre Anschnallbügel.
„Spuck es schon aus!“, drängt Felix sie.
Mila rutscht noch tiefer in ihren Sitz.
„Wir verraten es auch niemandem.“ Felix beugt sich verschwörerisch zu ihr und flüstert: „Das bleibt unter uns. Versprochen!“
„Achtundneunzig Punkte“, meint Mila.
„Achtundneunzig Punkte??“, schreit Felix durch das Flugzeug und starrt sie an, als wäre sie das achte Weltwunder. Der halbe Flieger dreht sich zu uns um, und Mila verschwindet fast komplett hinter den Anschnallbügeln.
„Das ist der helle Wahnsinn“, fügt Felix etwas leiser hinzu. „Damit hast du die Adoptenstelle fast schon in der Tasche!“ Felix grinst über das ganze sommersprossige Gesicht. „Dich brauchen wir für unser Team. Bist du dabei?“ Er legt den Kopf schief und streckt ihr die Hand entgegen. Schüchtern lächelnd schlägt sie ein.
Plötzlich bemerke ich, wie sich etwas unter Milas Kleidung bewegt. Unter ihrem viel zu großen Hemd lebt irgendetwas. Neugierig schiele ich rüber.
„Irri, du brauchst doch keine Angst haben“, meint Mila leise und zupft vorsichtig an ihrem Reißverschluss. Ein schuppiges gelbes Bein mit Klammerzehen kommt zum Vorschein.
„Ein Chamäleon! Du hast ein Chamäleon mitgebracht“, platze ich heraus. Schnell halte ich mir den Mund zu. Hoffentlich hat mich niemand gehört, denn das ist höchstwahrscheinlich auch verboten.
Mila zuckt entschuldigend mit den Schultern. „Ich konnte meine Irri doch nicht zu Hause lassen. Sie braucht alle vier Stunden Wasser aus der Pipette, das würde mein Vater bestimmt oft vergessen.“ Mir braucht sie das nicht zu erklären. Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie es Emil bei meiner Mutter wohl geht. Gibt sie ihm oft genug zu trinken, und sprüht sie seine Pflanzen oft genug mit Wasser ein? Eins steht jedenfalls fest: Sein Terrarium ist sicher blitzblank.
Irri lugt verschüchtert aus den Falten von Milas Brusttasche, lässt die Augäpfel ruckelnd kreisen und stellt ihren gelbgrünen Kopfschild auf.
„Ein Weibchen. Ein besonders schönes“, meine ich und erhalte für mein Lob ein dankbares Kopfnicken von Mila. Sie formt mit ihren Händen ein warmes Nest für das Chamäleon. Während sie dem Tier leise zuredet, lasse ich mich von ihrer weichen Stimme einhüllen und rolle mich auf meinem Sitz zusammen wie ein Chamäleon.
4. Kapitel
Als die Transportmaschine nach vier Stunden brummend in den Sinkflug geht, öffnen sich die Fensterblenden. „Ooooh“,raunt es vielstimmig durch das Flugzeug. Die Aussicht kommt mir unwirklich vor, wie ein Foto aus einem Bildband, bei dem Kontrast und Farben verstärkt wurden. Die Werbefilme für die Adoptenausbildung haben nicht übertrieben.
Wir nähern uns einer Bergkette mit felsigen Gipfeln und üppigem Bewuchs weiter unten. Die Farben sind so satt und grell, dass es beinahe in den Augen schmerzt – Gelbgrün, Blaugrün, Schwarzgrün, Grün in allen Schattierungen. Polaris, die Hauptstadt des Regenrings, liegt am Fuß einer Bucht, umgeben von bewaldeten Hängen. Die Vegetation erstreckt sich über die Vorgärten bis zum Dach der bläulich schimmernden Türme und sprießt sogar zwischen den spiegelnden Glasflächen heraus.
Felix stößt einen Pfeifton aus. „Magnetautobahnen! Reee-gen-frisch!“ Er reckt den Hals und stemmt sich gegen die Haltebügel, um von seinem Innensitz einen besseren Blick nach draußen zu erhaschen. „Seht ihr die Selbstfahrspur? Die Powerschlitten müssen Energie für drei Pipeline-Shuttles haben!“ Wild fuchtelt er mit seiner Hand vor Milas Gesicht herum. „Schaut mal da, auf dem Dach! Das blaue Becken! Das muss ein Swimmingpool sein! Der fasst mindestens vierhundert Kubikmeter Wasser.“
In meinem Hirn rattert es. Vierhundert Kubikmeter, vierhunderttausend Liter. Das entspricht achtzigtausend Tagesrationen für meine Mutter und mich. Beim aktuellen Preis von zwanzig Liqui pro Zuteilung ist die Poolfüllung eins Komma sechs Millionen Liqui wert. Das sind tausendsechshundert Monatslöhne für eine Desinfektorin wie meine Mutter. Bei diesem Gedanken wird mir ganz schwindelig. Felix dagegen scheint das alles gar nicht zu belasten, stattdessen kommentiert er munter weiter, was er alles sieht. Von Mila höre ich kein Wort.
Wir haben Polaris überflogen und nehmen Kurs auf eine Anhöhe hinter der Stadt. Der Boden rast so schnell auf uns zu, dass ich Druck auf den Ohren spüre. Wir sinken und tauchen in die grüne Landschaft ein, bis das Transportflugzeug abrupt abbremst. Einen Moment lang rebelliert mein Magen, dann landen wir mit einem scharfen Ruck auf der Plattform direkt hinter einer glasgedeckten Halle.
Alle recken neugierig die Köpfe. Kaum dass unsere Haltebügel nachgeben und die Türen aufgehen, drängen wir sofort hinaus. Felix lässt Mila und mir mit einer eleganten Verbeugung den Vortritt in die kühle Luft des Regenrings.
Frisch riecht es hier, nach feuchter Erde und saftigem Grasschnitt. Gierig sauge ich den Sauerstoff ein, denn so klare Luft habe ich noch nie eingeatmet. Und alles ist so groß hier draußen, so weit! Der höchste Raum in unserer Siedlung ist der zweistöckige Aufgang zur Transportschleuse. Sonst gibt es nur kleine Kammern mit dicken Betonwänden. Wenn ich mich in unserer Wohnung eingeengt fühle, setze ich meinen Kopfhörer auf und tauche ein in die langsame Musik mit sphärischen Halleffekten. Dabei schließe ich die Augen und stelle mir vor, die Töne flögen durch einen hohen und luftigen Raum. Doch was ich hier erblicke, übertrifft alles, was ich mir je ausmalen konnte.
Der Pilot steigt als Letzter aus der Transportmaschine und bedeutet uns wortlos, ihm in das gigantische Gebäude zu folgen. An der Pforte nehmen wir uns von einem Tisch unsere Namensschilder, bevor wir in eine helle Galerie mit glänzend weißem Boden einbiegen. Filigrane Treppen schwingen sich zu einem zweiten Rundlauf hinauf, grüne Schalensessel mit fast unsichtbaren Füßen scheinen über dem Boden zu schweben. Die bogenförmige Glasfront bietet einen spektakulären Blick auf Polaris und lässt die Sonnenstrahlen ungehindert herein.
Zu Hause müssen wir uns vor der aggressiven Strahlung verstecken; hier fühlt sich das milde Sonnenlicht auf meinem Gesicht fast wie ein Streicheln an. Es ist schon nach neun Uhr abends, aber im August dämmert es so weit nördlich des Polarkreises nur für wenige Stunden, bevor die Sonne wieder aufgeht. Ganz nah stelle ich mich an die Scheibe, schließe die Augen und genieße die wohlige Wärme, die pure Energie. Es ist kein Vergleich mit dem mickrigen „Sonnensaal“ in unserer Siedlung. Das ist ein stolzer Name für den winzigen Raum, in dem sich die Leute rund um die Uhr auf ansteigenden Plastikbänken vor kühlen Tageslichtlampen aneinanderquetschen. WERT hat diesen Raum als „Gruß aus dem Norden“ gestiftet, damit wir Rauringbewohner unser Vitamin-D-Defizit wenigstens ein bisschen lindern können. Die Lichtzeit war immer eine schöne Abwechslung zu den Vitaminpillen, im Vergleich zur echten Sonne jedoch erscheint sie mir nun dürftig und blass.
Als ich die Lider hebe, sind die anderen schon um die Ecke verschwunden. Ich folge Felix‘ Pfeifen. Heute klingt es schräger als sonst.
„Der ist ja voll aus der Spur“, sagt ein Typ mit kantigen Schultern und erntet für seinen Kommentar Gelächter. „Hat wohl Schiss!“
„Mächtig Schiss“, mischt sich ein ebenso klotziger Kerl hinter ihm ein. Obwohl sich seine Stimme höher anhört, klingt er genauso aggressiv. Äußerlich gleichen sich die beiden bis aufs Haar. Na ja, bis aufs Haar nicht gerade: Der eine hat sich die linke Kopfhälfte kurz rasiert, während rechts blonde Gelstacheln in alle Richtungen abstehen, der andere trägt die gleiche Frisur spiegelverkehrt. Linkskahl und Rechtskahl halten sich für die Größten und finden auch gleich eine Fangemeinde. Unauffällig schiele ich auf ihre Namensschilder. Dart Ambos, Bolt Ambos. Brüder also.
Der Pilot führt uns in eine lichtdurchflutete Halle. „Das ist der Appellraum für die Sektorengruppe A. Wartet hier“, erklärt er und verschwindet.
Unruhig tritt Felix von einem Fuß auf den anderen. Ich schaue mir die Mädchen an, die sich um eine große Blondine geschart haben. „Olya Olienova“ steht auf ihrem Namensschild. Offensichtlich ist sie es gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen, und hat bereits einen Hofstaat um sich versammelt. Kein Wunder bei dem Puppengesicht und dem Selbstvertrauen, das sie ausstrahlt. Sie wirkt irgendwie reifer als die anderen, erwachsener, als sei sie ein oder zwei Jahre älter als wir. Ist sie wahrscheinlich sogar, denke ich. Bestimmt ist sie ein paarmal sitzen geblieben. Sie sieht nicht wie die hellste Kerze auf der Torte aus.
Sei nicht so gehässig, würde meine Mutter sagen und hinzufügen: Jetzt guck nicht so schamlos!
Also lasse ich den Blick durch den Raum schweifen, über die bodentiefen Fenster an seiner Westseite und die mit sattgrünen Farnen bepflanzte Wand gegenüber. Neben der Tür entdecke ich eine silbrige Säule mit einem Becken, in dem frische Tropfen glänzen. Ist das ein Wasserspender? Felix hat ihn auch schon erspäht. Als er näher tritt, springt eine Fontäne aus der Mitte der Schale. Lachend verrenkt er seinen Hals, damit er das Wasser mit dem offenen Mund auffangen kann. Seine Fröhlichkeit ist ansteckend. Die Mädchen kichern über seine Faxen, drängen sich zu ihm um den Brunnen und schubsen sich gegenseitig, um an den Wasserstrahl ranzukommen. Nach und nach folgen ihnen auch die Jungs.
Ich halte mich raus. Mir macht der Luxus Angst, denn den gibt es bestimmt nicht umsonst.
Erst jetzt fällt mir der große Glaskasten an der Stirnseite des Raums auf. Darin bewegt sich etwas. Eine Schlange, mindestens zwei Meter lang. Den spitzen Hornschuppen an ihrer Stirn zufolge muss es eine Sandviper sein. Ihre Schuppen sind rot wie frisches Blut. Sie hebt ihren dreieckigen Kopf und beobachtet uns mit ihren kalten Augen.
Langsam dreht sie ihren Kopf hin und her, als wollte sie sich jeden Einzelnen von uns einprägen. Dann bleibt ihr Blick an mir hängen. Offenbar fühlt sich auch Felix angesprochen, denn er fuchtelt wild mit den Armen vor dem Terrarium herum, wobei er eine fröhlich-freche Melodie pfeift. Ohne das dicke Panzerglas zwischen ihm und der Viper klänge das bestimmt anders.
Mit einem Mal öffnet sich die Tür hinter uns. Ein kräftiger Typ um die zwanzig mit kahl rasiertem, kantigem Schädel schreitet an uns vorbei und steigt auf ein kleines Podest neben dem Schlangenterrarium. Der Glatzkopf ist ein Stück kleiner als Felix, aber ein richtiges Muskelpaket. Er trägt einen dunkelroten Overall mit schwarz glänzenden Einsätzen und einem WERT-Logo auf der Brust. So wie er dasteht, breitbeinig und mit verschränkten Armen, und auf uns herunterschaut, zeigt er ganz eindeutig: Ich bin der Boss.
„Aaah, die neue Delegation aus Sektorengruppe A! Willkommen in Polaris“, begrüßt er uns und grinst. Irgendwie wirkt das süffisant. „Ich bin Tarmo, Cheftrainer in dieser ehrwürdigen Institution. Was gibt uns wohl die Ehre eures Besuchs?“
Wir wechseln verwirrte Blicke, denn der Spott in seiner Stimme ist unverkennbar.
„Ich glaube, ich erinnere mich.“ Er steigt von dem Podest und tritt auf uns zu. „Ihr wollt raus aus euren schäbigen Wüstenlöchern!“
Ich zucke zusammen. Das Mädchen vor mir starrt den Glatzkopf ungläubig an. Wie kann der sich so was erlauben?
Er redet ungerührt weiter. „WERT bietet euch die Chance dazu. Eure einzige Chance. Aber wenn ich euch so angucke …“ Er mustert uns aus zusammengekniffenen Augen, und viele der Anwesenden schrumpfen in sich zusammen. „Wenn ich euch so sehe, bezweifle ich, dass ihr mehr draufhabt als der letzte Wurf, den sie mir geschickt haben.“
Selten habe ich so eine unsympathische Stimme gehört. Dieser Tarmo spricht laut und abgehackt, jeder Satz klingt wie ein Angriff. Warum ist er so fies? Er kennt uns doch gar nicht.
„Immerhin habt ihr beim Praxistest das einzig Richtige getan“, fährt er fort. „Ihr habt die Anweisungen befolgt.“ Er legt eine bedeutungsvolle Pause ein. „Es gibt hier zwei eiserne Regeln. Regel Nummer eins: Ihr befolgt die Befehle. Regel Nummer zwei: Ihr. Befolgt. Die. Befehle.“
Quälend langsam fixiert er jeden Kandidaten, einen nach dem anderen. Ich halte seinem Blick stand. Irgendwie kommt mir sein Gesicht bekannt vor, allerdings habe ich keine Ahnung, woher.
„Und dann hofft ihr, dass die anderen noch schwächer sind als ihr. Ihr tretet hier nämlich gegeneinander an.“ Mit einer Handbewegung ruft Tarmo einen holografischen Bildschirm auf, der aus dem Nichts neben ihm aufleuchtet. Dort sind unsere Namen und unsere Testergebnisse aufgelistet. Mila Kern steht ganz oben. Ich entdecke meinen Namen im oberen Mittelfeld.
„Hier seht ihr euren aktuellen Punktestand. Nur die Besten werden übernommen. Versager werden nach Hause zu Mami zurückgeschickt. Erste Klasse beim Hinflug – Rückfahrt im Dritte-Klasse-Container-Shuttle!“ Tarmo lächelt, als würde er sich auf diesen Moment freuen. Er meint jedes Wort ernst. Das spüre ich genau.
„Diese Liste zeigt eure Theorie-Ergebnisse, aber das heißt noch gar nichts. Wir werden bald herausfinden, was ihr wirklich draufhabt. Bei den praktischen Prüfungen könnt ihr Pluspunkte erwerben, wenn ihr dort allerdings schlecht abschneidet, gibt es Minuspunkte. Und dann ist da noch die B-Note. B für Benehmen, für eure psychologische Eignung zum Adopten. Diese Wertung beeinflusst das Endergebnis genauso stark wie die Theorie. Sie zeigt, ob ihr wirklich in das WERT-Programm reinpasst.“
Ich schnaufe tief. Das sind ja glänzende Aussichten. Wirklich reingepasst habe ich bisher schließlich noch nirgends.
Tarmos Blick bleibt an Mila hängen. Oder besser gesagt an dem Chamäleon, das sich unter Milas Kleidung bewegt und plötzlich hervorlugt. „Ja, was haben wir denn da?“ Ein zynisches Grinsen breitet sich auf seinem kantigen Gesicht aus. „Wie lauteten die Anweisungen?“
Mila erstarrt und bringt kein Wort heraus.
„Keine persönlichen Gegenstände mitbringen!“, beantwortet Tarmo seine Frage selbst und zeigt auf das kleine Tier.
Mila drückt das Chamäleon schützend an ihre Brust. „Irri i… ist kein Gegenstand“, stammelt sie.
Anstelle einer Antwort greift Tarmo nach dem Tier und windet es ihr aus den Händen. Vor Angst rollt Irri wild mit ihren Kugelaugen. Hilflos strampelt sie in Tarmos brutalem Griff. Der hält das panisch zischende Reptil hoch und verkündet: „Jetzt werdet ihr erleben, was passiert, wenn ihr die Anweisungen nicht befolgt!“
Mit herrischen Schritten marschiert er zu dem Schlangenterrarium. Er schlägt gegen die glatte Wand neben dem Glaskasten, woraufhin diese zur Seite fährt und ein Schaltpult freilegt. Tarmo drückt einen Knopf und öffnet damit den Deckel des Terrariums einen Spalt breit. Er grinst sadistisch und entblößt sein rotes Zahnfleisch, während er das zappelnde Chamäleon über den Spalt hält.
„Nein!“, ruft Mila.
Triumphierend schaut Tarmo sie an und lässt das Chamäleon fallen. „Da, Sonora, ein Appetithappen für dich“, sagt er in die atemlose Stille.
Keiner von uns rührt sich, nur er selbst geht dichter an die Glasscheibe. Sein Blick ist starr, sein Atem beschleunigt sich. Dieser Mann ist verrückt. Völlig weggetreten. Und wir sind ihm ausgeliefert.
Die Schlange hat sich aufgerichtet und fixiert ihr Opfer aus ihren Schlitzpupillen. Sie weiß, wie der Kampf enden wird, das Chamäleon auch. In einer verzweifelten Abwehrgeste faucht es die riesige Gegnerin an und wird blitzschnell gebissen.
„Irri, nein!“ Milas Verzweiflung schneidet mir ins Herz.
Das Chamäleon will vor der Schlange fliehen, kann sich allerdings nur noch in Zeitlupe bewegen. Das hochkonzentrierte Nervengift lähmt seinen kleinen Körper rasend schnell. Irris Augen zucken, panisch sucht sie nach Hilfe, die wir ihr nicht bieten können, nach einem Ausweg, der nicht existiert. An ihrem Bauch erscheint ein schwarzer Fleck, der sich rasch ausbreitet.
Wie gelähmt beobachten wir diese Horrorszene, nur Dart und Bolt brummen enttäuscht, als sich die Schlange zurückzieht.
„Sonora kann ganz ruhig abwarten“, informiert uns Tarmo.
Jetzt hat er bemerkt, dass Mila sich abwendet und ihr Gesicht in den Händen verbirgt. Mit brutalem Griff zieht er sie an das Terrarium und zwingt sie zuzuschauen, wie die Schlange auf ihr Chamäleon zukriecht. Sich langsam aufrichtet. Das Maul mit den dolchförmigen Giftzähnen weit aufreißt und es über ihr erstarrtes Opfer stülpt. Sonoras Kopf scheint sich auszudehnen, während sie das Chamäleon mit ruckartigen Bewegungen herunterschlingt. Irri zappelt noch einmal schwach, doch sie verschwindet stückweise und unaufhaltsam in Sonoras Schlund.
Unsere Gesichter spiegeln Entsetzen und ungläubiges Staunen wider. Ich vergesse zu blinzeln. Warum tut denn keiner was? Das kann doch nicht erlaubt sein! Meine Finger zucken, und ich verspüre eine ohnmächtige Wut.
Nachdem Sonora endlich aufgehört hat zu würgen, macht sich Leere in mir breit. Meine Beine sind taub, und Tarmos Stimme dringt nur aus der Ferne an mein Ohr. Gedämpft höre ich, wie Tarmo von der Viper als „Herrscherin der Wüste“ spricht und ihre Opfer mit dem „Bunkerpack“ aus dem Rauring vergleicht. Damit meint er wohl uns.
Er entlässt uns mit der Botschaft des Tages: „Fressen oder gefressen werden. Das war die erste Lektion. Morgen folgt die zweite!“
5. Kapitel
Wie ferngesteuert marschiere ich hinter den anderen her. Heißer Zorn tobt in meinem Bauch und mischt sich mit Furcht. Wo bin ich hier hingeraten? Wenn dieser Wahnsinnige unser Training leitet, dann komme ich bestimmt nicht weit.
Die uns zugewiesene Wohneinheit ist zweigeteilt – links der Schlafsaal für uns Mädchen, rechts führt eine Tür zu dem der Jungs. Überall stehen silbern glänzende Wasserspender, an denen wir uns bedienen können. Die großen Glaswände werden sich zur Schlafenszeit verdunkeln, doch jetzt taucht die tief stehende Nachtsonne unsere neue Bleibe in goldenes Licht.
Der friedliche Eindruck täuscht, da bin ich mir sicher.
Zum Wohlfühlen einladen sollen auch die fünf strahlend weißen Betten an der Innenwand unseres Schlafsaals. In ihre glänzenden Kopfteile sind Displays eingelassen, die je einen Namen anzeigen. Olya Olienova, Taiga Merlo … Da! Mein Bett steht zwischen den Schlafstätten von Mila und einem sportlichen, rotwangigen Mädchen namens Anna. Diese stürmt begeistert quietschend auf ihr Bett zu, hebt ihr voluminöses Daunenkissen hoch und drückt es an sich wie ein gigantisches Stofftier. Auch ich klopfe erstaunt auf meine flauschige Decke. Zu Hause wickeln wir uns nur in dünne Tücher ein, alles andere wäre in der stickigen Untergrundsiedlung unerträglich. Wie kalt muss es hier werden, dass man solche Daunenberge braucht?
Über jedem Bett hängt ein Regalfach mit zwei dünnen Schlaftuniken, zwei leichten Hemden aus schimmerndem hellgrauem Stoff mit passenden Hosen sowie Wasch- und Schminkutensilien.
Durch die gläserne Außenwand können wir einen Blick auf die nächste Wohneinheit erhaschen, in der Mädchen aus einer anderen Klasse aufgeregt herumlaufen. Am Ende unseres Schlafraums führt eine Tür auf einen kleinen Balkon. Neugierig gehen wir hinaus und beugen uns über das durchsichtige Geländer. Unser Gebäude steht über einem Abhang auf Stelzen, die weiter vorne immer höher werden. Zehn Meter unter uns wachsen saftiges Moos und dunkelgrüne Farne auf einer von Eichen begrenzten Lichtung. Im Gegenlicht werfen die schwarzen Silhouetten der knorrigen Baumriesen lange Schatten.
„Bitte findet euch im Speisesaal zum Essen ein“, ertönt eine Durchsage. Auf dem Weg dorthin treffen wir die Jungs, die ebenfalls ihre Unterkunft bezogen haben. „Meee-ga-frisch“, murmelt Felix immer wieder, als sich aus der südlichen Glasfront atemberaubende Blicke auf die Skyline von Polaris bieten und wir im Norden zu schroffen Bergkämmen aufschauen. Die moosbepflanzten Wände, auf denen automatische Sprühanlagen regelmäßig feine Tropfen zerstäuben, die elegant geschwungenen Pausenbänke mit eingelassenen Lichtstreifen und die kleinen Tische, deren von innen beleuchtete Oberflächen wechselnde Naturmotive zeigen – Felix muss im Vorbeigehen alles anfassen. Dabei brabbelt er ständig vor sich hin. Während ich wortlos staune, schnieft Mila leise neben mir. Sie hat die Kehrseite von diesem Luxus schon hautnah erlebt.
Im Speisesaal scharen sich die Neuankömmlinge um das prächtige, von Leuchtwänden erhellte Buffet. Über hundert Adoptenanwärter hantieren mit dem glänzenden Servierbesteck oder greifen gleich mit den Fingern zu, laden ihre Teller voll, bekleckern sich beim Wegtragen mit Suppe und plappern dabei unaufhörlich. Aus den Gesprächsfetzen höre ich die unterschiedlichen Akzente heraus. Ich erkenne den kehlig-weichen Einschlag aus dem nahen Westen, den gedehnten Tonfall des fernen Westens und die hüpfende Sprachmelodie des Ostens. Jeder der zehn Rauringsektoren stellt einen Ausbildungstrupp für die eigenen Kraftwerke.